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Erkenntnisse

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«Das Erfolgsrezept besteht aus einer Menge Kreativität, einer ordentlichen Portion Handwerkskunst und einer Prise Besessenheit»


Auf der Heimfahrt schossen Bommelmütz die wildesten Gedanken durch den Kopf. Inzwischen war er gedanklich längst schon mit der Lösung seines alten Falles beschäftigt.

Bildsequenzen vom Leichenfundort sowie Eindrücke und Gerüche aus der Gerichtsmedizin, all das vermischte sich jetzt in Bommelmütz’ Gehirn mit potenziellen Kochrezepten und Aromen der Zutaten für das Menü, das er für den Abend zubereiten würde. Vor seinem inneren Auge spielten sich skurrile Szenen ab wie in einem Stephen-King-Horrorfilm. Er war insgeheim wirklich froh darüber, dass niemand seine Gedanken lesen konnte. Hätte Sophie nämlich den Film sehen können, der sich in seinem Kopf-Kino abspielte, hätte sie ihn für einen auferstandenen Doktor Mabuse gehalten und ihr hätte beim Abendessen gewiss vor ihm und seinem Menü gegraust.

Nach einer schier endlosen Zeit des Müßiggangs war Bommelmütz wieder in seinem Element. Er hatte endlich wieder einen Fall zu lösen. Und noch dazu den grausamsten und gleichzeitig undurchsichtigsten Kriminalfall, mit dem er es in seiner ganzen Laufbahn jemals zu tun gehabt hatte. Außerdem hatte er Sophie wiedergefunden oder besser sie ihn, und er würde heute Abend ein phantastisches Menü für sie zubereiten und mit ihr zusammen sein.

Bommelmütz war beseelt wie seit Langem nicht mehr.

Hätte er es nur vorher gewusst, hätte er ein ganz besonderes Menü vorbereitet. Sein Boeuf Bourguignon fiel ihm als Hauptgang dazu ein. Das war ein Gedicht, und wäre ein dem Anlass angemessenes Gericht. Aber dazu brauchte er viele spezielle Zutaten und eine ganz besondere Sorte Fleisch, und er musste die Sauce zwei Tage vorher ansetzen. Also keine Chance für ein Boeuf Bourguignon.

Aber was für ein beeindruckendes Menü konnte er spontan für diesen speziellen Abend für Sophie zubereiten?

Völlig absorbiert von diesen Gedanken steuerte er den Metzgerladen an.

In seiner Stadt gab es nur einen einzigen Metzger, der ausschließlich einheimisches Fleisch von bester Qualität verarbeitete. Bommelmütz kaufte fast nur bei ihm. Die beiden Männer schätzten einander und nannten sich beim Vornamen. Bommelmütz hatte bei Eduard auf seinen speziellen Wunsch stets besondere Stücke bekommen. Aber ausgerechnet heute musste Eduard passen. Bommelmütz fragte erst nach Wachteln, dann nach extra mürben Rinderfilets, und auch mit einem feingemaserten Tafelspitz konnte Eduard heute nicht dienen. Die beiden diskutierten eingehend verschiedene Optionen und mögliche Zubereitungen. Bommelmütz verwarf aber jeden von Eduards Vorschlägen. Nach einer schier endlosen Diskussion entschuldigte sich Eduard, verschwand dann kurz nach hinten und tauchte letztlich mit einem vorzüglich gemaserten und gut abgereiften knapp kiloschweren Stück Rinderfilet sowie einem breiten Grinsen im Gesicht wieder auf: «Das hat die Frau Richterin bei mir bestellt. Aber die Alte kann sowieso nicht mit Fleisch umgehen. Die brät es zu Schuhsohlen. Schade um das gute Stück. Da gebe ich es lieber dir!» Bommelmütz war gerührt von so viel Anerkennung. «Das vergesse ich dir niemals, Eduard. Du hast mich gerettet und du hast wirklich was gut bei mir!»

«Mach mich zu deinem Trauzeugen, wenn sie «Ja» sagt. Das muss eine ganz besondere Frau sein, für die du dir so viel Mühe gibst», scherzte er mit einem Augenzwinkern. Winfried lächelte verlegen und verabschiedete sich beim Gehen mit einem breiten Grinsen und einem langen Händedruck. Eduard schaute ihm lachend nach. Er hatte seinen Freund Winfried schon lange nicht mehr so gutgelaunt und euphorisch erlebt. «Wer weiß, vielleicht liege ich ja gar nicht mal so falsch. Ich fresse einen Besen, wenn das nichts zu bedeuten hat», sagte er zu seiner Frau, die im Nebenraum Würste abgepackt und die Unterhaltung mitbekommen hatte.

Beim Feinkosthändler erstand Bommelmütz ein Pfund junge Pflückbohnen, einen Strauß aromatisches Bohnenkraut, Schnittsalat, Frühlingszwiebeln und neue Kartoffeln. Schon beim Anblick der einfachen, aber vorzüglichen Zutaten lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Heute war wirklich sein Glückstag!

Zuhause angekommen verfrachtete er das Fleisch und den Salat in den Kühlschrank. Das Gemüse und die Kartoffeln brachte er fürsorglich in den Keller. Auch wenn es nur wenige Stunden bis zum Abend waren, so wollte er die Zutaten optimal gelagert wissen. Das Haus seiner Großeltern hatte noch einen dieser riesigen, alten Original-Naturkeller mit Lehmboden, und der war zur Gemüselagerung viel besser geeignet als ein moderner Kühlschrank. In seinem reich bestückten Weinkeller suchte er mit viel Sachverstand einen fünfzehn Jahre alten Château Lafite Rothschild Grand Cru heraus, den er sich für eine ganz besondere Gelegenheit aufgespart hatte. Er trug die Flasche behutsam und ohne große Erschütterungen nach oben und deponierte sie in der Küche. Mit einem Blick auf das Thermometer versicherte er sich, dass die Raumtemperatur dem Wein zuträglich war. Er hatte bei einer anderen Gelegenheit schon eine Flasche davon getrunken und erinnerte sich noch allerbestens an den unvergleichlich eleganten Geschmack aus einer Kombination von Veilchen, Mandeln, reifen dunklen Beeren, viel Tanninen sowie einer ganz dezenten Nuance von Leder. Er war überzeugt, dass dieser Wein mit seiner vorzüglichen Säure wunderbar mit seinem Menü harmonieren würde. Sein Herz raste vor Glück. Er freute sich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen, das den Abend mit der bevorstehenden Bescherung kaum erwarten konnte. Hatte er jetzt alles? Er ging nochmals in Gedanken die Speisenfolge und Zutatenliste durch. Er hatte an alles gedacht und war perfekt vorbereitet.

Winni war mit sich zufrieden. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er noch etwas Zeit hatte, ehe er den Tisch decken und mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnen musste. Er setzte sich an den Rüsttisch und nahm nochmals die Akte hervor, die Sophie ihm beim Gehen zugesteckt hatte.

Sophie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Bommelmütz hatte den Köder begierig und tief geschluckt. Er steckte bereits wieder ganz tief im Fall «Betty».

Seite um Seite studierte Bommelmütz die Akte. Er betrachtete lange und intensiv die alten Fotos. Viele der Details waren ihm ins Gedächtnis gebrannt. Dennoch entdeckte er beim Studium der Akte Neues. Manchmal waren es nur Nuancen in Zeugenaussagen, manchmal waren es aber auch wichtige Details, die er seither vergessen hatte oder denen er damals keine große Bedeutung geschenkt hatte und die ihm plötzlich eigenartig vorkamen.

Ihn beschlich dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Steppenwolf nach vielen Jahren ein zweites Mal gelesen hatte. Seit der ersten Lektüre hatte er viele neue Erfahrungen gemacht und manches Erlebte oder Gesehene erschien ihm jetzt in einem völlig anderen Licht.

Der Mensch ist ein «Erfahrungstier» und interpretiert seine Umgebung nach eben diesen eigenen Erfahrungen. Bommelmütz hatte als Kriminalist stets versucht, sich von vorgefertigten Haltungen und Meinungen freizumachen. Möglichst ohne Vorurteile an einen Fall heranzugehen, darin gründete sein beruflicher Erfolg. Aber was, wenn er genau in seinem wichtigsten Fall in eben diesem Punkt versagt hatte? Der Mord an Betty hatte sich in seinem privaten Umfeld abgespielt. Was wäre, wenn er damals nur versagt hatte, weil er nicht unbefangen an die Sache herangegangen war? Was wenn er Dinge einfach hineininterpretiert hatte, anstatt ihnen wirklich auf den Grund zu gehen, und dadurch voreilige Schlüsse gezogen hatte?

Nach einem Blick auf die Uhr, schlug Bommelmütz energisch den Aktendeckel zu und verstaute das Dossier dann in seinem Schreibtisch. Er wusste jetzt genau, wie er den Fall neu angehen würde. Gleichzeitig war er schockiert von der Möglichkeit, dass er beim ersten Mal wichtige Details übersehen und Fehler gemacht haben könnte.

Mit gemischten Gefühlen widmete er sich dem Menü. Zum Glück verfügte er über die nötige Routine, sonst hätte Eduard ihm das vorzügliche Fleisch ganz umsonst anvertraut, und er selbst hätte es, anstatt der Frau Landrätin, zu Schuhsohlen gebraten.

Aber Bommelmütz hatte die Abfolge des Menüs Schritt für Schritt im Kopf und wusste zu jeder Zeit, haargenau, was zu tun war, obwohl er mit seinen Gedanken oft gänzlich vom Kochen abschweifte. Er holte das Filet rechtzeitig aus dem Kühlschrank, damit es sich der Raumtemperatur angleichen konnte, ehe er das Fleisch gleichmäßig mit einer hausgemachten Kräuter-Senf-Paste sanft massierte und danach von allen Seiten gleichmäßig scharf anbriet. Das Stück war eigentlich viel zu groß für ein Dinner zu zweit, aber das machte nichts. Auch kalt, in dünne Scheiben geschnitten würde das Fleisch köstlich schmecken. Vielleicht konnte er Sophie dazu überreden, am nächsten Tag noch einmal mit ihm zu essen? Sie könnte auch ihre Kinder mitbringen, damit er sie kennenlernen konnte. Wenn das nicht ginge, würde er ihr die Reste mit nach Hause geben. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie er selbst als Teenager pausenlos Essen in sich hineingestopft hatte, ohne zuzunehmen. Die beiden halbwüchsigen Kinder von Sophie waren da sicher nicht anders. Eigentlich beneidenswert. Heute haderte er ständig mit seinem Gewicht und musste aufpassen nicht zuzunehmen.

Für die Salatsauce verwendete er ein französisches Rezept mit einem Bouquet aus weißem Balsamico, frischem Dill, einem Hauch Knoblauch, Dijon-Senf und Basilikum, das er vor Jahren einem Sternekoch unter der Bedingung abgerungen hatte, es nur für den Eigengebrauch zu verwenden und an niemanden sonst weiterzugeben.

Bohnensäubern und Salatwaschen sind langwierige Tätigkeiten. Dafür aber extrem gut geeignet, die Gedanken kreisen zu lassen, fast wie bei einer Meditation.

Während er den Salat Blatt für Blatt wusch und von schlechten Stellen befreite und später auch noch die Bohnen zupfte, ordnete Bommelmütz in Gedanken nochmals alle Bilder und Aussagen in seinem Kopf und listete alle auch nur im Entferntesten in dem Fall beteiligten Personen auf.

Er fasste zusammen: Da war zunächst Betty. Ein Mädchen, das aussah, als wäre sie gerade aus einem Modejournal entstiegen. Auf dem Foto, das Bettys Eltern für die Suche nach ihrer Tochter abgegeben hatten, sah sie mit ihren blonden Locken, dem unschuldigen Gesicht, dem Kussmund und den strahlend grünen Augen aus wie ein Engel. Doch der äußere Eindruck täuschte. Das Mädchen war nach Aussage ihrer Klassenkameraden keineswegs ein Unschuldsengel. Viele ihrer Schulkameraden beschrieben sie als luxusverliebt und sehr berechnend. Betty war zwanzig Jahre alt, als sie verschwand und ihre Leiche dann zwei Monate später, am 15. April, tot aufgefunden wurde. Zuletzt war sie auf dem Hofgut der Hagedonks lebend gesehen worden. Oskar Hagedonk, der Sohn des Hauses, war im selben Alter wie Betty und beide waren zusammen zur Schule gegangen und locker befreundet gewesen. Oskar war in Bommelmütz’ Augen ein verwöhnter Schnösel. Bei der Befragung der Mitschüler und Lehrer hatte sich herausgestellt, dass Oskar bei seinen Mitschülern im Grunde ziemlich unbeliebt war und in der Schule eigentlich keine richtigen Freunde hatte. Seine Noten waren mittelmäßig. Oskar ließ bei jeder Gelegenheit heraushängen, dass er aus reichem Hause kam. Um anzugeben sowie um seine Mitschüler gefügig zu machen, richtete er von Zeit zu Zeit großzügige Partys aus, bei denen der Alkohol in Strömen floss und sowohl Essen als auch Getränke und gelegentlich sogar Joints für alle geladenen Gäste gratis waren. Einschließlich Annehmlichkeiten wie die Benutzung des Swimmingpools und der Sauna. Bommelmütz hatte die Aussagen von Bettys Mitschülern in der Polizeiakte nochmals genauestens studiert. Nur wenige Wochen nach dem Mord an Betty starb überraschend auch Benedikt Hagedonk, Oskars Vater. Benedikt Hagedonk war bei seinem Ableben knapp sechzig Jahre alt und schien in sehr guter körperlicher Verfassung. Er ging regelmäßig ins Fitnessstudio, joggte zweimal wöchentlich rund 10 Kilometer und sofern es seine beruflichen Aktivitäten zuließen, absolvierte er mehrmals in der Woche ein- bis zweistündige Ausritte mit seinem Araber Hengst im Gelände. An einem Samstagabend kam der gesattelte Hengst alleine in den Stall zurückgetrottet.

Benedikts Auto stand auf dem Parkplatz, aber niemand hatte den alten Hagedonk zuvor in den Stall kommen oder wegreiten gesehen. So wusste auch niemand, wie lange er schon überfällig war.

Im Stall war man davon ausgegangen, dass das Pferd gescheut und seinen Reiter abgeworfen hatte. Der Stalljunge und zwei der Pensionäre schwärmten aus, um Benedikt Hagedonk zu suchen. Man kannte ungefähr die Route, die der alte Hagedonk gewöhnlich für seine Ausritte wählte. Ein Stallbursche fand Benedikt Hagedonk schließlich auf einer Galoppbahn nur etwa 500 Meter vom Hofgut entfernt. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Er musste demnach schon vor mindestens drei bis vier Stunden verstorben sein. Aufgrund der speziellen Umstände hatten Bommelmütz und Vidal auf einer Obduktion bestanden. Der Gerichtsmediziner hatte bei der Untersuchung dann aber nichts Auffälliges feststellen können und bescheinigte «Tod infolge eines plötzlichen Herzstillstands ohne äußere Einwirkung» auf dem Totenschein. Doch Bommelmütz hatte irgendwie ein ungutes Bauchgefühl bei der Sache gehabt, und Vidal war es genauso gegangen. Sein Bauchgefühl ließ Bommelmütz ganz selten im Stich und jedes Mal, wenn er die Akte durchging, fühlte Bommelmütz auch heute immer noch Zweifel aufsteigen, ob der alte Hagedonk damals wirklich eines natürlichen Todes gestorben war?

Und dann war da noch Oskars Mutter, Hanna Hagedonk, die mit Mädchennamen «von Münchenstein» hieß. Als Bommelmütz noch ein Kind war, hatte er Hannas Vater, Alexander von Münchenstein, oft im Haus seines Großvaters angetroffen. Von seinem Großvater wusste Bommelmütz, dass die Familie von Münchenstein früher sehr einflussreich, aber auch ständig in Geldnöten gewesen war. Bommelmütz nahm an, dass Alexander von Münchenstein und sein Großvater geschäftlich miteinander zu tun gehabt hatten. Was genau die beiden miteinander zu schaffen hatten, darauf hatte er vom Großvater aber nie eine zufriedenstellende Antwort erhalten.

Alexander von Münchenstein machte keinen Hehl daraus, dass seine Tochter, Hanna, Benedikt Hagedonk, der im Übrigen nicht unattraktiv war, nur wegen seines Vermögens geheiratet hatte. Darüber hinaus deutete er an, dass Benedikt früher ein lüsterner Weiberheld gewesen sein musste. So oder so waren die beiden ein ganz spezielles Paar. Wenn man sie zusammen sah, und das konnte man oft in der Lokalpresse, drückten sie eine gewisse Noblesse aus. Die verwöhnte, arrogante Adlige und ihr hemdsärmeliger, extrovertierter Sugarboy, wie man sie unschmeichelhaft hinter ihrem Rücken nannte, wurden oft und gerne von der örtlichen Prominenz eingeladen. Sie machten etwas her und verliehen jeder faden Provinz-Veranstaltung einen gewissen Glamour. Hanna liebte den großen Auftritt in exklusiven Designerroben, und wo Benedikt auftauchte, floss der Champagner in Strömen.

«Hanna», so drückte ihr Vater es einmal stolz aus, «hat ihre Ehe aufs Beste arrangiert. Sie bringt mit unserem uralten Stammbaum Aristokratie in die Ehe mit diesem No-Name und er bedankt sich dafür bei ihr mit einem Haufen Geld. So bekommt jeder vom anderen genau das, was ihm fehlt. Eine romantische Liebesbeziehung haben beide weder gesucht noch erwartet.»

Seit den Vernehmungen der Hanna Hagedonk hatte sich bei Bommelmütz der Eindruck eingeschlichen, dass sie, nachdem sie ihrem Mann einen männlichen Erben geboren hatte, glaubte ihre Pflicht erfüllt und sich ein sorgloses Leben verdient zu haben. Etwa in der Art jedenfalls hatte sie es Bommelmütz gegenüber formuliert. Er erinnerte sich noch genau an die Vernehmungen der Hanna Hagedonk. In seinen Augen war sie die arroganteste Person, die ihm jemals untergekommen war. «Der Stammbaum meiner Familie ist älter als der so mancher Person aus dem europäischen Hochadel», ließ sie ihn gleich zu Beginn des Verhörs wissen. An die darauffolgende Bemerkung erinnerte er sich auch heute noch ganz genau, weil sie aufzeigte, wie diese Frau tickt: «Normalerweise sollte ich darauf bestehen, dass ich das Gespräch zumindest mit Ihrem Vorgesetzten führe. Sie sind nur ein gewöhnlicher Kommissar. Aber weil mein Vater Ihren Großvater gut kannte, mache ich bei Ihnen eine Ausnahme. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen und verhalten sich entsprechend. Ansonsten breche ich das Gespräch nämlich sofort ab.»

Bei den Befragungen stellte sich Hanna Hagedonk immer wieder quer und sie verhielt sich extrem unkooperativ. Nachdem sie am frühen Abend auf dem Hagedonkschen Hofgut gewesen war, war Betty von niemandem mehr lebend gesehen worden. Als Bommelmütz Hanna Hagedonk damals noch einmal befragen wollte und sie eines Tages gegen halb zwölf mittags in ihrem Haus aufsuchte, wies sie ihm mit einer abschätzigen Handbewegung die Tür. Er erinnerte sich noch sehr genau an die Szene. Angeblich hatte sie keine Zeit, weil sie am Abend eingeladen war und sich dafür zurechtmachen musste. Bommelmütz dachte an die vielen Frauen in seinem Umfeld, die Kinder, einen Beruf, ihren Haushalt und wer weiß noch was alles managten. Entweder verfügte Hanna Hagedonk wirklich über ein extrem schlechtes Zeitmanagement oder sie demonstrierte auf diese Weise, dass sich alle nach ihr zu richten hatten und es keinesfalls umgekehrt war. Bommelmütz tippte auf Letzteres. Diese Frau schien davon auszugehen, dass es das natürliche Recht von ihr und ihrer Familie war, andere nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Ein gewisser Narzissmus ist bei Machtmenschen weit verbreitet. Er hatte dies in seinen Berufsjahren immer wieder erlebt. Die Grenzen sind allerdings fließend und es ist oft nur ein schmaler Pfad, ab dem Narzissmus gefährlich krankhaft wird. Auch dies hatte Bommelmütz während seiner Zeit bei der Polizei mehrmals erfahren müssen. Von daher stand Hanna Hagedonk ganz weit vorne in der Reihe seiner Verdächtigen, und er widmete dem Studium ihrer Person bei seinen Ermittlungen ganz besondere Aufmerksamkeit. Die Hagedonk kannte das Opfer, war nachweislich eine der letzten, die Betty lebend gesehen hatte, und sie wäre seines Erachtens sowohl intellektuell als auch handwerklich durchaus fähig gewesen zu dieser Tat. Einzig das Motiv wollte sich ihm nicht erschließen, und ohne ein solches war ihr der Mord nicht nachzuweisen.

Und noch ein weiterer Umstand rückte die alte Hagedonk in den Kreis der Verdächtigen. Wenige Wochen nach dem Tod von Benedikt Hagedonk und etwa drei Monate nachdem die tote Betty gefunden worden war, reiste Hanna mit ihrem Sohn Oskar zur Erholung in das Ferienhaus der Familie an den Gardasee. Bommelmütz holte nochmals kurz die Polizeiakte und studierte eine Stelle daraus, um die Details aufzufrischen: «Die Familie Hagedonk besaß seinerzeit ein Segelboot. Benedikt hatte es nur wenige Monate vor seinem Tod erworben. Das nigelnagelneue Segelboot mit dem Namen ‹Coniglietta› lag in Sirmione. Am Morgen des 19. Juli liefen Hanna, Oskar und ein Bekannter der Familie namens Flavio Moretti mit dem Boot trotz Sturmwarnung aus dem Hafen aus. Sie wollten auf eine nahe gelegene kleine Insel segeln, um dort zu Mittag zu essen. Es war gegen 11:00 Uhr vormittags, als der Sturm etwa die Stärke 8 erreicht hatte. Der Wind peitschte ihnen Wasser ins Gesicht und das Boot wurde wie eine Nussschale von den Wellen hin- und hergeworfen, aber zum Umkehren war es da schon zu spät gewesen. Nahe der Insel, die sie ansteuern wollten, war ihr Boot von einer Böe erfasst worden. Hanna Hagedonk und Moretti sagten unabhängig voneinander aus, dass die Wellen etwa meterhoch gegen die Seite des Bootes schlugen. Oskar versuchte das Boot aus dem Wind zu drehen. Bei diesem Manöver wurde es von einer besonders hohen Welle getroffen. Oskar, der als einziger keine Schwimmweste trug, stolperte über ein Tau, schlug mit dem Kopf gegen die Bordwand. Besinnungslos blieb er auf dem Deck liegen. Hanna Hagedonk und auch Moretti schilderten, dass sie sich wegen des Wellengangs selbst kaum halten und ihm nicht helfen konnten. Im nächsten Augenblick katapultierte eine hohe Welle Oskar förmlich über Bord. Hanna Hagedonk und Moretti sagten aus, im Gegensatz zu Oskar relativ unerfahrene Segler gewesen zu sein. Sie warfen ihm noch einen Rettungsring nach, aber im nächsten Augenblick war sein Körper bereits von der Wasseroberfläche verschwunden und nicht mehr zu sehen gewesen. Es dauerte gemäß ihren übereinstimmenden Angaben rund fünfzehn Minuten, ehe sie das Boot gewendet hatten und an etwa der Stelle zurückwaren, wo das Unglück passiert war. Der Rettungsring trieb auf der Gischt, aber von Oskar fehlte jede Spur. Die alarmierte Wasserschutzpolizei suchte die Stelle bis zum Einbruch der Dunkelheit akribisch ab. Hanna Hagedonk sagte aus: «Mein Sohn ist sportlich durchtrainiert und ein ausgezeichneter Schwimmer. Er ist Wettkämpfe geschwommen und hat viele Preise gewonnen.»

Da sowohl Hanna Hagedonk als auch Moretti ausgesagt hatten, dass Oskar, ehe er vom Boot gespült wurde, mit dem Kopf gegen die Bordwand geschlagen war, ging die Polizei davon aus, dass er zu dem Zeitpunkt, als er ins Wasser fiel, immer noch ohnmächtig gewesen war. Trotzdem klammerte sich Hanna Hagedonk an die Hoffnung, dass ihr Sohn sich schwimmend ans Ufer gerettet haben könnte. Die Suchaktion der Seerettung wurde am folgenden Tag auch auf die Uferbereiche ausgedehnt, blieb jedoch ebenfalls erfolglos. Zwei Tage später wurde auf der Insel, auf der sie zu Mittag essen wollten, der rechte Schuh von Oskar gefunden. Dieser rechte Schuh blieb alles, was man je von Oskar fand. Auch ein Tauchereinsatz blieb erfolglos. Der See ist an der Unglücksstelle etwa 150 Meter tief und von starken Strömungen durchzogen. Die italienische Polizei legte den Fall nach zwei Monaten zu den Akten. Zumal an fast genau derselben Stelle schon zwei ähnliche Unfälle passiert waren. Auch in diesen beiden Fällen hatte der See seine Opfer in seinem dunkelblauen Schlund verschluckt und nie mehr herausgegeben.

Bommelmütz seufzte tief, schlug die Akte zu, legte sie auf einen Stuhl und deckte sie noch mit der Tageszeitung ab, sodass sie keine Spritzer abbekommen sollte.

Es wurde jetzt wirklich höchste Zeit, dass er sich um sein Festmahl kümmerte.

Während Bommelmütz das Gemüse für den Fleischfond vorbereitete und das Baguette auf ein Schneidbrett legte, kam ihm ein weiterer Akteur in den Sinn: «Boone».

«Boone» hieß mit bürgerlichem Namen Peter Hufschmid. Aber Peter Hufschmid war ein ziemlich banaler Name für einen ausgesprochen exzentrischen Zweiundzwanzigjährigen, der vom Tod, dem Sterben und der Vorstellung vom Leben nach dem Tod gleichsam besessen war. Als Peter zwölf Jahre alt war, starb seine Großmutter. Weil seine Mutter psychisch labil und alleinerziehend war, war Peter zuvor hauptsächlich bei der Großmutter aufgewachsen. Nach dem Tod seiner geliebten Oma schien Peter irgendwie verloren. Er sonderte sich ab und war oft allein auf dem Friedhof am Grab seiner Großmutter anzutreffen. In dieser Zeit fing er an, Knochen zu sammeln. Er besaß eine ganze Kiste voll davon. Viele davon waren menschlichen Ursprungs und stammten wohl vom Friedhof, auf dem seit hunderten von Jahren unzählige Tote bestattet worden waren, deren Knochen bei Starkregen zuweilen aus der Erde freigespült wurden. Die Schulkameraden gruselten sich ein wenig vor Peter, nachdem seine Obsession bekannt geworden war.

Aber Peter hatte eine charismatische Ausstrahlung und war bei Lehrern und Mitschülern ob seiner großen Hilfsbereitschaft, Kreativität und Spontanität sehr beliebt.

Peter bekam von seinen Mitschülern bald den Spitznamen «Boone». Er mochte den Namen so sehr, dass er mit «Peter» abschloss und sich bald nur noch mit «Boone» vorstellte. Boone kleidete sich ausschließlich in Schwarz und gab vor, mit dem Jenseits in Kontakt zu stehen. Es war eine schrullige Spinnerei von ihm, gewiss. Er kiffte viel. Wer weiß, vielleicht kam er nach einem seiner Drogentrips einfach nicht mehr herunter, und die Phantastereien waren eine Folge. Tatsache war, Boone spinnte ein wenig, war aber auf seine ihm ureigene Art ein wirklich netter Kerl. Bommelmütz erinnerte sich noch gut, als er ihn eines Abends nach einem Konzert völlig zugedröhnt in einer Bar getroffen hatte. Boone versuchte den ganzen Abend, ihn davon zu überzeugen, dass der Tod die eigentliche Bestimmung des Menschen sei.

Boone redete allerlei wirres Zeug, das niemand so richtig verstand, und produzierte auf dem Synthesizer eine extrem exzentrische Musik. Er war so abgedreht, dass einige Leute aus der Musikszene auf ihn aufmerksam geworden waren. Ein Musikproduzent bot ihm sogar einen Plattenvertrag an. Boone zeigte sich überglücklich und posaunte die Geschichte von seinem Vertrag überall herum, ohne dass diesen wirklich jemand zu sehen gekriegt hätte. Er redete davon, dass er eine völlig neuartige Komposition im Kopf habe, die alles je Dagewesene in der Musikszene völlig auf den Kopf stellen würde. Für die anstehenden Aufnahmen seiner Komposition fehlte ihm neues Musik-Equipment, das er vom Vorschuss des Plattenvertrags bezahlen würde. Am Abend hing er die letzten Wochen vor seinem Verschwinden meist in der einzigen Diskothek des Ortes ab, rauchte selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich viele Joints und redete noch mehr wirres Zeug als sonst. Boone verschwand ungefähr zur selben Zeit wie Betty, ohne, dass ein Zusammenhang zwischen seinem Verschwinden und dem Mord an Betty ersichtlich gewesen war. Jedenfalls hatte es seit über zehn Jahren von Boone nie mehr ein Lebenszeichen gegeben.

Bommelmütz sah auf die Uhr. Bereits 7:00 Uhr. Höchste Zeit, den Wein zu entkorken, dachte er. Er schnitt mit dem Kellnermesser die Folie an und entfernte diese. Dann positionierte er die Spirale des Flaschenöffners vorsichtig in der Mitte des Korkens, drehte ihn langsam ein, hielt dann die Flasche mit der einen Hand und zog mit der anderen gleichmäßig den Korken aus der Flasche. Der Korken verließ die Flasche widerwillig quietschend und zum Schluss mit einem lauten Plopp. Bommelmütz begutachtete den Zapfen. Er war tiefrot gefärbt und zum Glück gänzlich schimmelfrei. Zur Sicherheit führte er den Korken an seine Nase und sog den Duft tief durch seine Nasenflügel. Das feine Aroma von Kirschen, Vanille, dunklen Brombeeren mit einem Hauch von gegerbtem Leder entfaltete sich in seinen Nasenflügeln. Bommelmütz war sehr zufrieden. Fachmännisch, probierte er einen Schluck, ehe er den Château Lafite Rothschild vorsichtig in die Dekantierkaraffe hineingleiten ließ. Er achtete streng darauf, dass das Depot in der Flasche blieb. Der Wein hatte eine herrliche dunkelrote Farbe. Ihm lachte das Herz und er freute sich, diesen eleganten Tropfen mit Sophie zu teilen. In dieser Hochstimmung schweiften seine Gedanken wiederum zu Boone. Wenn er genau darüber nachdachte, hatte er diesen mageren, blondgelockten und völlig abgedrehten Jungen sehr gemocht; den eigenartigen Jungen samt seiner Spinnereien und seiner exzentrischen Musik.

«Boone war etwas ganz Besonderes; aus dem hätte echt noch etwas werden können», kommentierte er wehmütig zu sich selbst.

Dann nahm er die Kräuterbutter aus dem Kühlschrank. «Sie entfaltet ihr Aroma am besten, wenn sie nicht ganz kalt ist», dachte Winni. Er griff zum Brotmesser und schnitt vier nicht zu dicke Scheiben Baguette ab. Die Baguette-Stange war herrlich cross und die Kruste barst beim Schneiden wie Glas. Die verführerisch duftenden Brotscheiben drapierte er feinsäuberlich in das aus Silberdraht geflochtene Brotkörbchen, das noch aus dem Haushalt seiner Großmutter stammte, und etwas altmodisch, aber sehr stilvoll wirkte. Das Körbchen hatte er vorher mit einer schneeweißen, leicht angestärkten Damast-Serviette ausgeschlagen: «Ich lege lieber später noch Brot nach. So sieht es appetitlicher aus», wieder einmal hatte er sich bei einem Selbstgespräch ertappt: «Das bleibt nicht aus, wenn man alleine lebt», sagte er diesmal ganz bewusst und laut zu sich selbst. Er platzierte das Körbchen auf dem gedeckten Tisch. So einfach sein Zuhause sonst auch war, er legte großen Wert auf die Ausstattung seiner Küche, gutes Geschirr und auf die Sanitärräume. In diesen Bereichen duldete er absolut keine Nachlässigkeit. Die Küche und die zwei Bäder des Hauses hatte er aufwändig und mit größter Sorgfalt renoviert, und auch sein Geschirr und die Kücheneinrichtung waren besonders hochwertig. Bommelmütz ließ seinen Blick prüfend über die Tafel schweifen. So wie sich sein Tisch jetzt präsentierte, war er sehr mit sich zufrieden.

Er war in Gedanken gerade wieder bei Boone, als das helle «Ding Dong» seiner Türglocke ertönte. «Ach herrje, schon so spät!» Beim Weg zur Tür kam er am Garderobenspiegel vorbei. Er warf noch schnell einen prüfenden Blick in den Spiegel, kämmte mit den Fingern die kurz geschnittenen widerspenstigen Haare nach hinten. Seine blauen Augen strahlten wie lange nicht mehr, während er schwungvoll die Tür öffnete.

Ihm stockte der Atem. Sophie sah einfach umwerfend aus.

Sie trug eine rote Bluse und einen schwarzen enganliegenden Rock, der kurz vor dem Knie endete. Dazu mit Strasssteinchen besetzte Sandalen an den gebräunten schlanken Beinen mit den makellos manikürten hochrotgelackten Fußnägeln. Bommelmütz war einen kurzen Moment wie benommen. Er suchte nach Worten und starrte sie nur an. Sie streckte ihm eine Flasche Amarone entgegen – «Zur Feier des Tages. Ist doch einer deiner Lieblingsweine oder?» Dabei funkelten ihre großen dunklen Augen mit den Strasssteinchen ihrer Sandalen um die Wette.

Bommelmütz war unfähig zu sprechen. Er schloss sie sehr viel länger, als es üblich war, in seine Arme und drückte ihr dann links und rechts einen dicken Kuss auf die Wangen. Mehr getraute er sich nicht. Ihr Parfum war jetzt ein anderes als am Morgen. Da hatte sie noch nach Lavendel gerochen. Jetzt duftete ihre Haut hingegen aufregend nach Vanille und einem Akkord aus warmen orientalischen Gewürzen: «Wenn mir gestern jemand gesagt hätte, dass du heute beim Abendessen mein Gast sein würdest, dann hätte ich denjenigen für total verrückt erklärt», strahlte er: «Schön, dass das Leben immer wieder solch freudige Überraschungen bereithält!»

Sophie drückte Bommelmütz die mitgebrachte Weinflasche in die Hand und sah sich neugierig in der Eingangshalle um. «Das letzte Mal, als ich hier war, hat deine Großmutter uns Kakao gekocht und Butterbrote geschmiert. Seitdem hast du an der Einrichtung und dem Haus nicht sehr viel verändert, oder? Der Garten und die Diele sehen jedenfalls noch genauso aus wie früher».

Bommelmütz wusste nicht, wie er ihre Aussage deuten sollte.

«Komm doch erst mal herein, dann kannst du selbst urteilen, ob sich etwas verändert hat». Er führte sie ins Wohnzimmer. Dort hatte er vor dem Kamin eine Flasche Champagner kaltgestellt und ein Tablett mit Lachskanapees für den Aperitif. «Alles genau gleich wie damals», urteilte Sophie.

Und so, wie sie es diesmal sagte, klang es nicht sehr vorteilhaft.

Bommelmütz fühlte sich unangenehm berührt: «Hast du etwas dagegen, mir in die Küche zu folgen? Ich muss noch das Fleisch zubereiten».

Sophie willigte nur zu gerne ein. Das große Wohnzimmer mit den Gründerzeitmöbeln und dem wuchtigen, kalten Kamin deprimierte sie, und sie wollte das Zimmer nur zu gerne verlassen. Sie nahm die Champagnergläser und folgte ihm in die Küche.

«Wow!» lobte sie, «hier hat sich aber alles gehörig verändert; deine Küche ist phantastisch! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut!» Ehrlich staunend, bewunderte sie den Herd, den Steamer, das Foodcenter, die chromblitzende, superstylische italienische Espressomaschine und all die High-Tech-Gerätschaften, die kupfernen Pfannen und Töpfe, die ringsherum wie in einer Show-Küche dekoriert waren. Das hatte gesessen. Bommelmütz war höchst amüsiert und fühlte sich geschmeichelt.

Er ließ Sophie am Rüsttisch Platz nehmen, während er die letzten Handgriffe für das Abendessen ausführte. «Hast du dir die Akte nochmals angesehen?», investigierte sie, während sie ihm beim Vorbereiten des Fleisches zusah.

Bommelmütz hatte die Frage längst erwartet.

«Ich glaube, dass ich ein Riesenidiot war!», gab er ehrlich zu.

Sophie sah ihn irritiert an.

«Auf der Polizeischule lernen sie dich, immer zuerst nach dem Motiv zu fragen. Was ist aber, wenn es gar kein Motiv gibt oder sich das Motiv dir nicht ohne Weiteres erschließt?»

«Der Fall Betty war mein erster Mordfall und ich steckte selbst einfach viel zu tief drin, weil ich das Opfer und sein Umfeld gut kannte. Somit war ich voreingenommen».

Sophie verstand nicht: «Heißt das, dass du mir nicht hilfst?», fragte sie konsterniert.

«Das heißt es nicht. Aber ich weiß jetzt, dass ich den Fall völlig anders angehen muss. Unvoreingenommen, wie ein völlig Fremder. Ich werde alle Fakten noch einmal genauestens durchgehen. Aus der Distanz, und ohne mir ein Urteil zu bilden. Dann werde ich das, was ich weiß, in einen logischen Zusammenhang bringen. Die Tat war ein Beziehungsdelikt. Da bin ich mir absolut sicher. Ich glaube nicht an den großen Unbekannten. Der Mörder, das Motiv, es liegt alles vor unseren Augen. Wir müssen die Fakten bloß richtig deuten.»

Sophie sprang auf und umarmte ihn. «Dann sind wir wieder ein Team? Du ahnst nicht, wie glücklich mich das macht!» Sophie reichte ihm sein Champagnerglas und sie stießen auf gutes Gelingen an.

Nachdem das Fleisch angebraten und im Ofen verstaut war, führte er Sophie in sein Esszimmer. Bommelmütz servierte den Salat als Türmchen mit einem Topping aus Kernen und Kräutern und auf einem zarten Kristallglasteller angerichtet. Die Salatsauce sowie Kürbiskernöl reichte er separat in zwei zierlichen Saucieren aus dem gleichen Glas wie die Teller. Dazu gab es Baguette mit selbstgemachter Kräuterbutter, die ihm vorzüglich gelungen war.

Sophie lobte alles in den höchsten Tönen. Er war selbst sehr zufrieden mit der Qualität seiner Speisen. Als Begleitung zur Vorspeise hatte er einen leichten Chablis vorgesehen, aber Sophie lehnte ab, weil sie noch Auto fahren musste.

Während des Essens erzählte Sophie von ihrer kürzlichen Begegnung mit Hanna Hagedonk.

«Die Frau war völlig neben sich! Ich denke, dass sie Geldprobleme hat!», spekulierte Sophie.

Bommelmütz schien das abwegig. Der alte Hagedonk war wirklich sehr vermögend und hatte bestens für das Alter vorgesorgt. Das hatte der alte Hagedonk ihm selbst bei einer seiner letzten Unterredungen offenbart. Und die Urteilsfähigkeit des alten Hagedonk in finanziellen Dingen stand völlig außer Zweifel. Der Alte war ein gerissener Fuchs und machte mehr Geld, als er und seine Familie jemals unter normalen Umständen zum Leben ausgeben konnten. So verwöhnt und versnobt seine Frau und sein Sohn auch waren.

«Und dennoch», insistierte Sophie, «die Frau hat Geldprobleme. Sie fuhr immer teure Autos und wechselte sie jährlich. Jetzt fährt sie schon acht Jahre denselben alten Jaguar. Vor drei Monaten hat sie beim Parken ihren Kotflügel angefahren, und sie hat das Auto seither nicht reparieren lassen. Von der Bäckerin weiß ich auch, dass die Hagedonk ihrer Putzfrau die Festanstellung gekündigt hat und sie nur noch stundenweise kommen lässt. Dabei hat die Hagedonk starkes Rheuma. Ist doch komisch oder?»

«Das ist allerdings sehr seltsam. Das muss aber nichts mit unserem Fall zu tun haben. Am besten, wir legen diese Information zu den anderen Puzzleteilchen und machen nicht wieder denselben Fehler, vorzeitige Schlüsse daraus zu ziehen.»

Bommelmütz servierte das Rinderfilet am Stück gebraten und tranchierte es fachmännisch vor Sophies Augen. Das machte ihr großen Eindruck. Zum Fleisch reichte er die frischen Bohnen, mit einem Hauch von Knoblauch verfeinert, sowie Gratin von neuen Kartoffeln mit sämigem Greyerzer Käse. Das Essen duftete herrlich.

Der fünfzehnjährige Château Lafite Rothschild Grand Cru mit seinen feinen Taminen war eine gute Wahl gewesen; er harmonierte wirklich vorzüglich zu den Speisen. Bommelmütz hatte auch darauf geachtet, ihn nicht zu früh zu dekantieren. Weine diesen Kalibers konnten schnell umschlagen.

Sophie lobte das feine Essen und den vorzüglichen Wein über die maßen. Sie übertrieb nicht. Das Fleisch war hellrosa auf den Punkt gebraten; die Bohnen waren zart, hatten aber noch genug Biss und durch das frische Bohnenkraut wunderbar aromatisiert. Und sein Kartoffelgratin setzte allem die Krone auf. Vom Wein mit seinem eleganten Körper und seiner hochfeinen Eleganz im Abgang gar nicht zu sprechen.

Bommelmütz war sich seit jeher selbst stets der ärgste Kritiker; aber er musste zugeben, dass er sich wieder einmal selbst übertroffen hatte. Dieses Menü war wirklich köstlich!

Während des Mahls erzählte Sophie ihm, was sie in den letzten Wochen recherchiert hatte. Sie hatte sich alles feinsäuberlich aufgeschrieben und zog diese Notizen immer wieder zu Rate. Bommelmütz lauschte aufmerksam ihren Ausführungen. Als Sophie ihn fragte, ob sie ihm die Notizen kopieren sollte, verneinte er. Er zeigte auf seine Stirn «Ist alles dort gespeichert», versicherte er ihr.

«Wie du meinst, du bist der Boss!»

«He, he», witzelte er, «ich dachte, wir sind ein Team».

Als Dessert hatte Bommelmütz ein Sorbet aus frischen Waldbeeren vorbereitet. Sophie probierte nur aus Anstand davon und verabschiedete sich zeitig, weil sie am nächsten Morgen sehr früh die Kinder zur Schule bringen und danach zu einer Redaktionssitzung hetzen musste. Bommelmütz wollte nicht aufdringlich sein und fragte erst gar nicht, ob Sophie am nächsten Tag nochmals mit den Kindern zu ihm kommen wollte. Er bot ihr aber an, die Reste des Menüs für ihre Kids einzupacken, mit einem herzlichen Gruß von ihm. Sophie nahm das Angebot ohne Zögern an. «Liebend gerne, ich habe morgen ohnehin keine Zeit zu kochen.» Ein Küsschen zum Abschied, dann war sie bereits aus der Türe und brauste wenige Augenblicke später mit ihrem alten roten Alfa aus der Einfahrt. Bommelmütz winkte zum Abschied und blickte ihr gedankenversunken nach, bis ihr Wagen nicht mehr zu sehen war.

Er ging an diesem Abend entgegen seiner Gewohnheit sehr spät zu Bett. Der Nachbarkater, Tiger, war wie so oft zu Besuch gekommen und bekam von ihm zur Feier des Tages ein kleines Häppchen von dem restlichen Rinderfilet serviert, das er eigens für den Kater zurückbehalten hatte. Während Bommelmütz die Küche aufräumte und alles, was nicht in den Geschirrspüler sollte, von Hand spülte, hatte er die Polizeiakte auf dem Rüsttisch liegen. Gelegentlich warf er während des Abtrocknens oder während er die Gegenstände wieder an ihre angestammten Plätze zurückräumte einen Blick in die Akte.

Er kannte das Dossier mittlerweile so genau, dass er nicht lange suchen musste und die gewünschten Stellen auf Anhieb fand.

Gemäß den Unterlagen war Oskar Hagedonk der letzte Zeuge gewesen, der Betty vor ihrem Verschwinden lebend gesehen hatte. Wirklich seltsam. Oskar und Boone gelten beide seit langem als verschollen. «Gab es da einen Zusammenhang, und könnten die beiden mit Bettys Tod etwas zu tun gehabt haben?»

Bommelmütz resümierte: «Waren Oskar oder Boone entweder selbst die Täter und waren abgetaucht, weil ihnen der Boden zu heiß geworden war?» «Oder hat man sie verschwinden lassen?»

«Aber vielleicht ist das alles nur Humbug und die beiden hatten nichts, aber auch gar nichts mit dem Mord an Betty zu tun.» Diese dritte Option gefiel Bommelmütz gar nicht, weil sie ihn nicht weiterbringen würde. Aber nachdem, was er heute erkannt hatte, musste er auch diese Option ins Kalkül ziehen. Die Möglichkeit bestand durchaus, dass Oskars und Boones Verschwinden überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hatten und purer Zufall waren. Boone war ein schräger Vogel. Durchaus möglich, dass ihm die Sache mit dem Plattenvertrag zu verbindlich geworden war und er deshalb einfach das Weite gesucht hatte.

Vielleicht lebte er heute völlig zugekifft auf Ibiza oder in Meditation versunken in irgendeinem Kloster in Hinterindien. Bommelmütz hatte von Fällen gelesen, bei denen sich Leute eine Pille eingeschmissen haben und hinterher nicht einmal mehr ihren Namen wussten, geschweige denn, wo sie herkamen oder was sie vorher gemacht hatten. Bei Boone war alles denkbar. Und dem halbseidenen Oskar hatte man unter vorgehaltener Hand krumme Geschäfte mit zwielichtigen Partnern nachgesagt. Wenn das stimmte, war er vielleicht vor seinen Geschäftspartnern abgetaucht oder war gar von ihnen beseitigt worden? Der angebliche Unfall passierte in Italien. Womöglich steckte die Mafia dahinter? Wer weiß.

Was Bommelmütz am Fall Betty besonders belastete war neben der Tatsache, dass sich der Mord in seinem direkten Umfeld abgespielt hatte noch ein weiterer Umstand. Es war die perfide Art, wie die Leiche damals entsorgt wurde, oder besser gesagt, wie sie quasi öffentlich zur Schau gestellt worden war.

Nach Bettys Verschwinden hatte eine Polizeihundertschaft samt Hunden mehrere Tage lang akribisch einige Quadratkilometer der näheren Umgebung abgesucht. Ohne jeglichen Erfolg.

Auf der sogenannten «Krähenhöhe», einem kleinen Berg nahe einer stark frequentierten Zufahrtsstraße in die Stadt und von Weitem gut sichtbar, stehen drei große Eichen. Die Ortsjugend stellte traditionell jedes Jahr am Wochenende um den Martinitag eine Strohpuppe, quasi wie eine Vogelscheuche, auf die Krähenhöhe bei den drei Eichen. Diese Tradition besteht nachweislich schon seit Jahrhunderten. Niemand konnte genau sagen, wie und wann der Brauch entstanden war. Auch bei den drei Eichen war in der Woche nach Bettys unerklärlichem Verschwinden, und zwar exakt am 24. Februar, erfolglos gesucht worden.

Doch zwei Monate nach Bettys Verschwinden, genau am 15. April, war ein Jäger dann durch das seltsame Verhalten seines Weimeraners namens Tell nahe der drei Eichen irritiert worden. Der Hund steckte seinen Kopf in den Wind und schnüffelte. Der Jäger gab später zu Protokoll, ihm war klar, der Hund musste eine Spur in der Nase haben. Plötzlich zog und zerrte sein Hund an der Leine, während er Spurlaut gab. Dem Jäger war mulmig zumute gewesen, als ihn sein Hund zur Krähenhöhe und dort direkt in Richtung der Vogelscheuche führte. Weil er Tell kaum mehr halten konnte, nahm der die Leine sehr kurz und hielt den Hund ganz nahe bei Fuß. Schon als er sich den drei Eichen näherte, war dem Jäger ein Aasgeruch in die Nase gestiegen, der schier unerträglich wurde, je mehr er sich der Vogelscheuche näherte. Der Hund musste den Verwesungsgeruch natürlich schon sehr viel früher wahrgenommen haben und hatte ihn deswegen hergeführt. Auf dem Plateau angekommen, präsentierte sich dem Jäger ein grauenhafter Anblick. Etwa ein Dutzend Krähen flogen wilde Kapriolen zur Strohpuppe und zurück in die Zweige der drei Eichen, auf denen sie ihre Nester hatten. Dabei stießen sie fortwährend ohrenbetäubende Kreischlaute aus.

Eine grauschwarze, sehr große Krähe saß auf der rechten Schulter der Vogelscheuche, eine andere auf ihrem Kopf. Zwei weitere zankten sich flügelschlagend und hackten mit den Schnäbeln gegen ihre Brust. Sie waren eifrig dabei, die Strohverkleidung wegzureißen. Die war jedoch mit Garn stark festgezurrt. Immer wieder attackierten sich die schwarzen Rabenvögel gegenseitig und hackten mit ihren Schnäbeln aufeinander ein, während sie sich ganz offensichtlich um Fleischfetzen zankten. Der Jäger hatte schon sehr viele Kadaver aufgespürt und wusste instinktiv, womit er es zu tun hatte. Aber er konnte auch eins und eins zusammenzählen.

Seitdem Betty verschwunden war, war er stets mit mulmigem Gefühl durch den Wald gestreift. Er kam an Orte, die sonst nie jemand betrat, und daher war er stets darauf gefasst gewesen, das tote Mädchen irgendwo in einem abgelegenen Winkel des Waldes von Wildschweinen aufgegraben oder unter einem Haufen Äste zu entdecken.

Dass er sie jetzt aber quasi vor jedermanns Augen ausgestellt finden würde, damit hätte er niemals gerechnet. Das war in der Tat abscheulich. Der Jäger alarmierte mit seinem Mobiltelefon die Polizei und versuchte bis zu deren Eintreffen, so gut es ging, die grässlichen Vögel zu verscheuchen. Er hielt die Luft an und näherte sich bis auf wenige Schritte. Am Kopf hatten die schrecklichen Vögel die Strohummantelung fast gänzlich weggerissen und dadurch das Gesicht, oder besser das, was davon noch übrig war, freigelegt. Aus zwei leeren Augenhöhlen starrte ihn die Tote entsetzt an und schien zu fragen, warum ihr niemand zu Hilfe gekommen war? Dem Jäger, der ein hartgesottener Bursche war, wurde schlecht von dem Anblick und mehr noch vom Aasgestank. Er musste sich ins Gras übergeben und war froh, als schließlich die Beamten eintrafen und ihn von der ungesuchten Totenwache erlösten.

Bommelmütz war erst Tage nach Auffinden der Leiche zu dem Fall hinzugezogen worden. Nach dem Sichten der Tatortfotos war er extrem dankbar für diesen Umstand sowie dafür, dass er nicht mit zur Obduktion in die Gerichtsmedizin gemusst hatte.

Allein bei dem Anblick der Fundortfotos und beim Lesen des Protokolls liefen ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunter.

Als ob der Mord an sich nicht schon schrecklich genug gewesen wäre, so war das Vorgehen des Täters bei der Entsorgung der Leiche ein Affront wider die guten Sitten und die Menschlichkeit selbst gewesen.

Das Bild des als Vogelscheuche getarnten, mit Stroh umwickelten und an einen Pfahl festgezurrten toten Mädchens vor Augen ließ ihn nach einem abartigen und psychisch kranken Monster als Mörder suchen.

Aber vielleicht war auch das wieder nur ein Trugschluss und er musste sich von all diesen vorgefertigten Meinungen freimachen. «Was, wenn der Täter keinen anderen Weg gewusst hatte, sich der Leiche zu entledigen? Wenn es für ihn ganz einfach der bequemste und der naheliegendste Weg gewesen war?»

Immerhin, als Betty umgebracht worden war, war es Winter, eisig kalt und der Boden gefroren. Ein Grab auszuheben, hätte viel Kraft erfordert und wäre schwierig gewesen. Die meisten Seen und Teiche in der Region waren während Wochen zugefroren gewesen. Eventuell war das der Grund, warum der Mörder diesen Weg gewählt hatte. Tatsache war, dass die Leiche irgendwo zwischengelagert worden sein musste. Der Mörder musste also einen Ort gehabt haben, der zumindest während der Frostzeit, eine sichere Zwischenlagerung der Leiche ermöglichte. Erst danach hatte er sie auf die Krähenhöhe zu den drei Eichen gebracht. Das setzte Ortskunde voraus.

Dieser Ansatz schien Bommelmütz vielversprechend. Er würde ihn weiterverfolgen. Es war ein langer, aufregender Tag gewesen. Bommelmütz überlegte. Seitdem er an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sein Leben eine komplette Wendung genommen. Und das war das Beste, was ihm seit Langem passiert war. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wann er ähnlich glücklich gewesen war, und strich aus purer Lebensfreude und Dankbarkeit Tiger noch einmal über das Fell, ehe er ihn hinausbugsierte. Aus lauter Müdigkeit hätte er fast vergessen, zu kontrollieren, ob er den Herd tatsächlich ausgeschaltet hatte. Er war schon im Bad und musste nochmals zurück nach unten in die Küche. Aber Bommelmütz war ein Kontrollfreak. Erst nachdem er sich rückversichert hatte, dass der Herd und alle anderen Geräte in der Küche abgestellt und die Türen und Fenster fest verschlossen waren, ging er zu Bett und versank sofort in einen tiefen, aber von intensiven Träumen durchsetzten Schlaf.

Am nächsten Morgen konnte er sich nur an einen Teil seiner Träume erinnern. Boone kam darin vor, Oskar, die alten Hagedonks und verschiedene Jungen und Mädchen aus Bettys und Oskars ehemaliger Clique, die er damals befragt hatte.

Bommelmütz war später aufgewacht, als er es sich vorgenommen hatte. Verschlafen rieb er sich die Augen. Er überlegte, ob es wirklich wahr oder nur ein Traum gewesen war, dass sich seine Lebenssituation seit dem letzten Morgen, als er die Zeitung aus dem Briefkasten geholt hatte, komplett verändert hatte.

Seine Zeit war seit gestern nicht mehr belanglos und beliebig. Er hatte vielmehr Angst, etwas zu verpassen, und sprang nach einem kurzen Blick auf seinen Wecker freudig aus dem Bett. Sein Morgenprogramm absolvierte er in der Hälfte der üblichen Zeit. Noch im Morgenmantel eilte er mit langen Schritten aus dem Haus. Sein Herz hüpfte vor Freude, während er im Eilschritt zum Briefkasten marschierte, um die Zeitung zu holen. Dies war kein guter, sondern ein sehr guter Tag. Bommelmütz hatte allen Grund, sehr glücklich zu sein!

Im Vorbeigehen schaltete er unten in der Küche seine Kaffeemaschine ein und huschte danach samt Zeitung ins Bad. Er duschte nur knapp zwei Minuten und überflog während des Rasierens und Zähneputzens den Lokalteil der Zeitung. Zum Fall Betty gab es einen Einspalter. Im Wesentlichen enthielt er aber nur Meinungen und auch diesmal wieder keine neuen Informationen. Es gab auch Leserzuschriften, die sich mit dem Fall beschäftigten. Eine Mutter von zwei halbwüchsigen Töchtern befürchtete, dass die neuerliche Berichterstattung Nachahmungstaten provozieren könnte. Zwei weitere Personen sprachen sich für die Neuaufnahme des Falles aus, um endlich Gerechtigkeit für das tote Mädchen zu erlangen. Dasselbe belanglose Wischiwaschi, das man aus Leserzuschriften bereits zur Genüge kannte und das ihn nicht weiterbrachte.

Obwohl an diesem Morgen alles rasend schnell ging, rasierte, frisierte und kleidete sich Bommelmütz noch sehr viel sorgfältiger als sonst üblich. Er blieb sogar extra vor dem großen Garderobenspiegel im oberen Gang stehen, drehte sich um seine eigene Achse und kontrollierte genauestens seine Frisur und den Sitz seiner Kleidung. Er würde für den nächsten Tag einen Termin bei seinem Frisör buchen. Das Haupthaar war für seinen Geschmack schon viel zu lang, und er würde sich auch seinen Nacken gründlich ausrasieren und die Nägel maniküren lassen. Er prüfte kritisch den Sitz seiner Kleidung.

Dann setzte er sich rittlings auf das schmiedeeiserne Geländer und rutschte wie ein Schuljunge grinsend über das ganze Gesicht darauf hinunter. Er strotzte von Tatendrang und Übermut und in diesem Zustand innerer Erregung schlüpfte er in seine Sneakers, stopfte sich eine Einkaufstasche aus Baumwollstoff in die Jackentasche sowie einen Geldschein, zog die Haustüre hinter sich zu und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg.

Was Sophie über die alte Hagedonk erzählt hatte, deckte sich überhaupt nicht mit seinem eigenen Bild und ließ ihm keine Ruhe. Er musste sich selbst überzeugen.

Die von Sophie bezeichnete Stamm-Bäckerei der Frau Hagedonk lag nur etwa 500 Meter von seinem Haus entfernt. Bommelmütz hatte dort seit Jahren kein Brot mehr gekauft, weil der Bäcker dafür bekannt war, dass er Industriebackmischungen verwendete. Die Bäckerin begrüßte Bommelmütz beim Eintreten mit Namen, gab sich ihm gegenüber ansonsten aber ziemlich reserviert, weil er so lange nicht bei ihr eingekauft hatte. Bommelmütz musste alle Register ziehen und seinen ganzen Charme spielen lassen, um sie freundlich zu stimmen. Erst als er ihr Vollkornbrot gekostet und über die maßen gelobt hatte, taute die Frau endlich auf. Das Brot war nicht halb so gut, wie er gesagt hatte. Aber die Lüge half. «Der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel», dachte sich Bommelmütz.

Schließlich erkundigte er sich wie beiläufig nach seiner alten Bekannten, Frau Hagedonk. Die Bäckerin war plötzlich überaus mitteilungsbedürftig und erzählte ihm, als sie endlich warm geworden war, ohne Argwohn alles, was er wissen wollte. Bommelmütz hatte die Zeit seines Besuchs in der Bäckerei sehr gut gewählt. Es waren keine weiteren Kunden da, die den schier unendlichen Redefluss der geschwätzigen Bäckersfrau unterbrechen konnten.

Die Aussagen der Bäckerin bestätigten Sophies Eindruck, dass Frau Hagedonk tatsächlich Geldprobleme haben musste. Er fand diese Erkenntnis ebenso erstaunlich wie aufschlussreich.

Mit einem großen Vollkornbrot in seiner Stofftasche und einer nahezu unerschöpflichen Menge an kleinstädtischem Klatsch und Tratsch im Gedächtnis machte sich Bommelmütz nach ca. einer Dreiviertelstunde zurück auf den Heimweg.

Während der Kaffee in die angewärmte Tasse strömte und seinen verführerischen Duft in der ganzen Küche verbreitete, schmierte er sich ein Stück Hefezopf, das er noch vom Vortag übrighatte, mit Butter und Marmelade. Er durfte nicht vergessen, das Vollkornbrot beim Bauern in der Nachbarschaft für die Hühner in die Tonne für das alte Brot zu werfen, ehe es schimmelig wurde. Essen würde er dieses Industriebrot nämlich nicht. Sein Kopf schwirrte noch immer vom Redefluss der Bäckerin. Sicherlich, es waren nur Klatsch und Tratsch, was sie erzählt hatte. Aber bestimmt lag auch Wahres darin. Um nichts Wichtiges zu übersehen, musste er die Aussagen detailliert zu Papier bringen.

Mit der Kaffeetasse in der Hand begab er sich in die Eingangshalle. Dort beim Telefon lag Schreibzeug, und das brauchte er jetzt dringend. Mit der Tasse in der einen und einem Stift und Block in der anderen Hand kehrte er an den Frühstückstisch zurück.

Es war längst an der Zeit, die vielen Details zu ordnen. Die Speicherkapazität seines Gehirns war an seinen Grenzen angelangt. Aussagen, Eindrücke und Textfragmente lagerten übereinander wie Kleidungsstücke in einem unaufgeräumten Schrank. Er musste wieder Ordnung in dieses Chaos bringen. Sonst war die Gefahr groß, wichtige Details zu vergessen, oder noch viel schlimmer, durcheinanderzubringen.

Er hatte sich doch geschworen, beim zweiten Anlauf völlig systematisch und vor allem unvoreingenommen an den Fall heranzugehen. Die beste Methode zur Erreichung dieses Zieles war ein «Brainstorming», bei dem er alles, woran er sich erinnerte und was ihm wichtig erschien, zunächst völlig ungeordnet zu Papier brachte. Bommelmütz verbrachte Stunden damit, alles, was irgendwie mit dem Fall Betty zu tun hatte, aufzuschreiben. Dabei ging er nach dem sogenannten Clustering-Verfahren vor. Er griff sich eine Person oder Begebenheit heraus und notierte alles, was ihm dazu spontan in den Sinn kam. Diese Methode hatte Bommelmütz auf der Polizeischule geübt, und sie lieferte manchmal ganz erstaunliche Ergebnisse.

Als ihm nichts Wichtiges mehr in den Sinn kam, betrachtete er sein Werk. Auf zwanzig dichtbeschriebenen A4-Seiten reihten sich Namen, Orte, Eindrücke, Zitate und ähnliches mehr. Teilweise waren Begriffe mit Pfeilen verbunden oder mit Anmerkungen ergänzt. Bommelmütz hatte quasi sein Gedächtnis auf dem Papier gespiegelt. Mehrmals hatte er die Kopie der alten Polizeiakte, die ihm Sophie überlassen hatte, zu Rate gezogen, um Fakten zu verifizieren.

Zufrieden betrachtete er den Stapel Papier. Dann faltete er die Seiten feinsäuberlich in der Mitte, um sie in der Depositentasche seines Blazers zu verstauen. Hier hätte er die Seiten immer griffbereit, falls er sie bräuchte.

Am späten Nachmittag telefonierte Bommelmütz mit Sophie. Er plante, am nächsten Morgen, einem Samstag, einen Spaziergang zum Fundort von Bettys Leiche bei den drei Eichen zu machen. Er schlug ihr vor, ihn dabei zu begleiten. Sophie war von der Idee begeistert und würde ihn gerne begleiten. Ihre Kinder würden ohnehin bei Freunden übernachten: «Kein Problem also, ich kann um 7:00 Uhr bei dir sein. Ich bringe frische Brötchen mit, dann können wir vorher zusammen frühstücken».

«Sehr gut. Dann bis morgen», freute sich Bommelmütz. Er hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass Sophie Kinder hatte und nicht willkürlich über ihre Zeit verfügen konnte. Er war froh, dass sie seine mangelnde Sozialkompetenz nicht registriert hatte. Er war eben ein unverbesserlicher Junggeselle. Von den Pflichten, die eine Familie mit sich bringt, hatte er so gar keine Ahnung.

Ein hoffnungsloser Fall

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