Читать книгу Sophienlust Staffel 14 – Familienroman - Elisabeth Swoboda - Страница 9

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Die junge Frau wirkte nervös. Immer wieder zog sie den kleinen Jungen auf ihrem Schoß zärtlich an sich. Immer wieder strich sie ihm mit der Hand über die dunkelblonden Locken.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Frau von Schoenecker, wenn Sie Uwe für einige Zeit behalten könnten. Selbstverständlich kommen wir für die Unkosten auf.« Die schönen dunklen Augen der jungen Mutter flehten.

Denise von Schoenecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete, nickte. »Gern. Uwe wird sich bestimmt wohlfühlen. Die Kleinen sind alle gern hier. Manchen von ihnen ist Sophienlust zur Heimat geworden.« Denise sah lächelnd auf den hübschen kleinen Kerl, der keine Ahnung davon zu haben schien, dass hier über ihn verhandelt wurde. Er lehnte das Köpfchen an den Oberkörper seiner Mama und strahlte sie aus dunklen Augen glücklich an.

»Man hört viel Gutes von Ihrem Heim. Deshalb hatte ich auch den Mut, hierherzukommen«, meinte Inge Hellbach leise. »Uwe soll nur vorübergehend bei Ihnen bleiben. Vielleicht für vier oder sechs Wochen. Genau weiß ich es noch nicht. Mein Mann ist Dirigent und tritt mit seinem Orchester eine Auslandstournee an. Er besteht darauf, dass ich ihn begleite. Und da er, wie vielleicht alle Künstler, sehr sensibel ist, möchte ich ihm diesen Wunsch nicht abschlagen. Uwe aber ist für derartige Strapazen noch zu klein. Er hätte auf dieser Reise keine Ruhe. Jeden Tag in einer anderen Stadt, jeden Abend in einem anderen Bettchen, das möchten wir ihm nicht zumuten.«

»Das verstehe ich sehr gut. Ich erinnere mich, kürzlich über Ihren Mann in der Zeitung gelesen zu haben. Norbert Hellbach, nicht wahr? Er soll sehr begabt sein. Man sagt ihm eine großartige Zukunft voraus.« Wieder fiel Denise auf, dass die Besucherin sehr unruhig war. Angst spiegelte sich in ihren schönen dunklen Augen. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich das lange blonde Haar aus der Stirn.

Inge Hellbach war hübsch. Aber ihr gekünsteltes Lächeln konnte Denise von Schoenecker nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie traurig und bedrückt war. Es musste etwas geben, das sie quälte. »Es muss schön für Sie sein, mit einem so berühmten Mann verheiratet zu sein«, meinte Denise vorsichtig.

Inge Hellbach wich Denises Blick aus. Sie fühlte genau, dass sie Vertrauen zu dieser Frau haben konnte. Doch auch sie konnte ihr nicht helfen. Niemand konnte es.

»Ich habe meinen Mann sehr lieb. Doch es ist oft nicht leicht mit ihm. Die vielen Konzerte fordern seine ganze Kraft. Da bleibt wenig Zeit für ein Privatleben.« Flüchtig streifte Inge mit der Wange das seidenweiche Haar ihres Kindes. Am liebsten hätte sie den kleinen Uwe stürmisch in die Arme gerissen, ihn krampfhaft festgehalten. »Deshalb …, deshalb fällt mir auch die Trennung von meinem Kind so schwer.« Tränen glänzten in ihren Augen.

»Das verstehe ich sehr gut. Jeder Mutter erginge es so. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Uwe Sie kaum vermissen wird. In diesem Alter gewöhnen sich Kinder sehr rasch an die neue Umgebung. Unsere fröhlichen Kleinen werden Uwe ablenken.«

Inge Hellbach nickte voll Dankbarkeit. »Ich bin sehr froh, dass Uwe bei Ihnen Aufnahme findet. Sophienlust ist wunderschön. Man sieht sofort, dass man die Kinder hier wirklich gernhat.«

»Wie alt ist Uwe?« Der kleine Kerl mit seinen dicken Bäckchen und dem drolligen Stupsnäschen hatte Denises Herz längst gewonnen, obwohl er nur Augen für seine Mama hatte.

»Zweieinhalb.«

»Das habe ich geschätzt. Damit ist er vorläufig unser jüngstes Kind. Ich fürchte fast, die Großen werden ihn sehr verwöhnen.«

»Sie haben auch große Kinder?«

»O ja! Da ist zum Beispiel Irmela. Sie ist schon fast erwachsen, besucht das Gymnasium und möchte später einmal Medizin studieren. Sie verlor sehr früh den Vater. Ihre Mutter hat wieder geheiratet und lebt in Mumbai. Irmela will hier das Abitur machen und studieren. Auch Angelina, die von allen nur Pünktchen gerufen wird, ist schon ein großes Mädchen. Sie hat ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und lebt seitdem hier.«

»Sie haben eine wundervolle Aufgabe, Frau von Schoenecker«, meinte Inge Hellbach begeistert. »Was sagt denn Ihr Mann dazu?«

»Er kümmert sich natürlich in erster Linie um Gut Schoeneich. Aber er nimmt auch regen Anteil an allem, was Sophienlust betrifft. Er hat die Kinder gern, und sie verehren ihn stürmisch. Wir haben eine große Stütze an ihm.« Flüchtig dachte Denise an jene Zeit, da sie mit ihrem Söhnchen Nick das Gut Sophienlust als Erbe von Nicks Urgroßmutter übernommen hatte. Sie war damals so vielen Anfeindungen ausgesetzt gewesen, dass sie fast aufgegeben hätte. Doch dann hatte sich Alexander von Schoenecker an ihre Seite gestellt, und alles war leichter geworden. Aus Freundschaft hatte sich Liebe entwickelt, man hatte geheiratet. Es war eine überaus glückliche Ehe geworden.

»Auch Nick, mein Sohn aus erster Ehe, kümmert sich eifrig um alles, was Sophienlust betrifft. Und Henrik, unser Nesthäkchen, will selbstverständlich nicht zurückstehen.«

»Eine große, fröhliche Gemeinschaft also. Das spürt man irgendwie sofort. Die Ruhe hier fiel mir sofort auf. Wie machen Sie das nur? In einem Haus, in dem so viele Kinder

leben?« Inge sah sich in dem elegant eingerichteten Biedermeierzimmer um. Es wirkte vornehm und gepflegt. Über dem offenen Kamin hing das Gemälde einer alten Dame. Es musste wohl Nicks Urgroßmutter, die Gründerin von Sophienlust, sein.

»Das ist durchaus nicht immer so.« Denise schüttelte lächelnd den Kopf. »Im Moment sind die größeren Kinder in der Schule, unsere Kleinen machen mit Schwester Regine einen Spaziergang. Deshalb diese Ruhe. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen gern das Haus.«

»Es würde mich sehr interessieren.«

»Dann kommen Sie bitte.« Denise lächelte charmant.

Die beiden Frauen traten in die Halle, gingen von dort weiter. Uwe trippelte artig an der Hand seiner Mutti.

»Hier kommen wir zum Musikzimmer, zum Zeichensaal und zu dem großen Aufenthaltsraum. Aber vielleicht sehen wir uns zuerst den Wintergarten an. An den Vögeln, die dort untergebracht sind, wird auch Uwe Spaß haben.«

Inge Hellbach blieb überrascht an der Tür zum Wintergarten stehen. »Das ist ja wunderbar!«, rief sie. Voll Bewunderung sah sie auf die prächtig gedeihenden exotischen Pflanzen. Viele von ihnen blühten in verschwenderischer Fülle. Durch ein riesiges Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, sah man in den gepflegten Park von Sophienlust. Weite grüne Rasenflächen und mächtige alte Bäume gab es hier. Auf dem silbrig glänzenden Weiher schwammen einige muntere Enten. Es war ein zauberhaftes Bild. Ein Bild, das jeden Betrachter in seinen Bann zog.

Klein Uwe entdeckte jedoch etwas ganz anderes. Er riss sich von der Hand seiner Mutti los und lief auf seinen kurzen dicken Beinchen zu dem bunten Papagei, der auf einer Stange saß und gelassen blinzelte.

»Piep-piep!«, quietschte Uwe voll Freude und klatschte in die Händchen.

»Das ist Habakuk, unser Papagei«, stellte Denise vor. Sie ging Uwe nach und nahm ihn auf den Arm, damit er den bunten Vogel besser sehen konnte.

Uwe ließ sich das gern gefallen. »Piep-piep, lieb!«, krähte er und streckte den Arm aus, um die schillernden Federn von Habakuk zu streicheln.

»Keine Angst, unser Habakuk ist an Zärtlichkeiten gewöhnt«, beruhigte Denise die besorgte junge Mutter. »Habakuk ist der Freund unserer Kinder. Er würde keinem etwas tun.«

Tatsächlich hielt der große Vogel ganz still und ließ sich streicheln.

Uwe quietschte vor Vergnügen. Nach Kleinkinderart fuhr er grob zwischen die leuchtenden Federn und patschte auf Habakuks Rücken. Doch auch das ließ sich das gutmütige Tier ruhig gefallen.

»Habakuk kann sogar sprechen«, erklärte Denise ihrem künftigen Pflegling. »Wenn du ihm etwas vorsagst, spricht er es nach.«

Uwe begriff sofort. »Mami!«, kreischte er und beugte sich dabei weit vor.

Habakuk legte den Kopf schief und äugte den Kleinen neugierig an.

»Sag Mami!«, forderte Uwe noch lauter.

Der Papagei schüttelte sich, dass die glänzenden Federn nur so raschelten. Dann öffnete er den Schnabel und krächzte schauerlich.

Erschrocken fuhr Uwe zurück. Enttäuschung spiegelte sich auf seinem hübschen Gesichtchen.

»Versuch’s noch einmal«, ermunterte Denise den kleinen Kerl. Dabei legte sie zärtlich den Arm um das Kind.

»Ich glaube, er würde es gar nicht merken, wenn ich jetzt gehe«, tuschelte Inge Hellbach. »Es wäre vielleicht für alle besser als ein großer Abschied.«

»Der Meinung bin ich auch. Alle Formalitäten wird Frau Rennert, unsere Heimleiterin, erledigen. Sie finden sie drüben in dem kleinen Büro.«

Uwe war von Habakuk so begeistert, dass er die leise geführte Unterhaltung nicht hörte. »Mami«, sagte er laut und deutlich.

»Ma-mi!«, wiederholte Habakuk jetzt ungeduldig. Er schaute ein bisschen gekränkt und ungnädig drein. Offenbar schien es ihn zu ärgern, dass man seine Fähigkeiten bezweifelte.

Uwe lachte so fröhlich, wie es nur ein Kind vermochte. Seine helle Stimme erfüllte den Wintergarten und drang hinaus in die Halle.

Inge Hellbach, die sie dort hörte, presste hart die Lippen aufeinander. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass heiße Tränen über ihre Wangen liefen.

*

Galant war Alexander von Schoenecker beim Ausladen der Einkaufstaschen behilflich. »Konntest du alles erledigen?«, fragte er seine Frau schmunzelnd. Natürlich wusste er, dass Denise, wie üblich, für alle etwas mitgebracht hatte. Vor allen Dingen aber ein hübsches Kleidungsstück oder ein Spielzeug für das Enkelkind Peterle. Seit Andrea, seine Tochter aus erster Ehe, mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war, hatte sich die Freundschaft zwischen Denise und ihrer großen Stieftochter noch vertieft. Kaum ein Tag verging, da Denise nicht zu einem kurzen Besuch ins Tierheim hinüberfuhr. Niemand war über dieses gute Verhältnis froher als Alexander. Denise verstand es, alles so geschickt zu arrangieren, dass es zwischen den Stiefgeschwistern niemals Schwierigkeiten gab. Sie verstanden sich ausgezeichnet.

»Weißt du, wen ich in der Stadt getroffen habe?«, fragte Denise, ohne auf die Anspielung ihres Mannes einzugehen.

»Keine Ahnung.« Alexander sah seine hübsche Frau bewundernd an. »Du warst beim Friseur. Gut siehst du aus, Denise. Ich frage mich, wie du es anstellst, immer jünger und immer hübscher zu werden.«

Denise überhörte das Kompliment. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. »Inge Hellbach«, sagte sie.

Alexander stellte die Taschen in der geräumigen Halle von Gut Schoeneich ab und öffnete die Tür zum kleinen Salon. Die Köchin Martha hatte dort bereits den Kaffeetisch gedeckt.

»Das ist doch nicht möglich. Hat sie nicht gesagt, dass ihr Mann mit seinem Orchester auf eine Tournee nach England geht?«

»Ja. Deshalb war ich auch so verblüfft. Die beiden müssten längst unterwegs sein. Übrigens ist mir Frau Hellbach ausgewichen. Sie muss mich erkannt haben, aber sie wollte nicht gesehen werden.«

»Aber wenn sie hiergeblieben ist, warum nimmt sie dann ihr Kind nicht zu sich?« Alexander dachte an den drolligen kleinen Uwe, der inzwischen zum Liebling aller geworden war. Nicht nur die großen Mädchen, auch die Erwachsenen verwöhnten und verhätschelten das hübsche Kind. Trotzdem blieb Uwe der gutmütige kleine Lausbub, der so fröhlich lachen konnte, dass ihn einfach alle gernhaben mussten.

»Das frage ich mich auch. Sie hat ihr Kind gern, davon bin ich überzeugt. Es muss einen schwerwiegenden Grund dafür geben, dass sie Uwe in Sophienlust untergebracht hat. Als ich sie sah, Alexander, bin ich richtig erschrocken, so blass und verhärmt wirkte sie. Es scheint, als wäre sie in der Zwischenzeit um viele Jahre älter geworden.«

»In knapp zwei Wochen?«

»Das ist es ja eben. Sie muss ernste Sorgen haben.«

Alexander trat zu seiner schlanken Frau und legte zärtlich die Arme um sie. »Meine geliebte, mitleidige Denise. Du musst nicht immer die Sorgen anderer zu deinen eigenen machen. Vielleicht hast du dich getäuscht. Vielleicht war es gar nicht Inge Hellbach, die du gesehen hast.«

Denise schmiegte sich in die starken Arme ihres Mannes. »Ich täusche mich normalerweise kaum. Aber vielleicht hast du recht. Wir könnten an der ganzen Sache nichts ändern.«

»Es könnte höchstens sein, dass uns der kleine Uwe bleibt.«

»Nein, das glaube ich nicht. Inge Hellbach ist nicht die Frau, die ihr Kind im Stich lässt. Das habe ich sofort gefühlt.«

»Wenn du es sagst, Denise, wird es stimmen.« Voll Zärtlichkeit streichelte Alexander das glänzende dunkle Haar seiner Frau. Verliebt betrachtete er dabei ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht. Er kannte und liebte jede Linie darin, und doch war es, als wollte er sie sich immer wieder neu einprägen. »Du hast oft genug bewiesen, dass du die Menschen richtig einschätzt. Deshalb bewundere ich dich ja auch so sehr.«

»Schmeichler!« Lachend drohte Denise mit dem erhobenen Zeigefinger.

»Das, was ich sage, stimmt genau. Du bist die interessanteste Frau, die ich je kennengelernt habe. Jeder Tag mit dir ist wie ein kostbares Geschenk. Ich möchte am liebsten keine Minute davon versäumen.«

»Und das Gut?«

»Das ist ja eben das Traurige, dass ich mich manchmal um die finanziellen Interessen unserer Familie kümmern muss.« Alexander machte ein trauriges Gesicht.

»Was du aber ausgezeichnet verstehst. Außerdem findest du daneben auch noch Zeit, dich mit meinen Sorgen zu befassen.« Denise rieb ihre Stirn an Alexanders rauem Kinn.

»Deine Sorgen sind von allgemeinem Interesse. Schließlich dürfte es keinem gleichgültig sein, was aus elternlosen Kindern wird. Oder aus kleinen Buben, die man einfach in ein Heim abschiebt.«

»Wenn du dabei an Uwe denkst, so ist es zumindest seiner Mutti bestimmt nicht leichtgefallen, ihn hierzulassen. Sie hat mir richtig leidgetan.«

»Auf jeden Fall werden wir den Kleinen behalten, wenn er nicht mehr abgeholt werden sollte. Ich finde, er hat sich schon hervorragend eingelebt. Gestern ist er mir entgegengelaufen, und ich habe ihn ein bisschen herumgeführt. Du, er interessiert sich für Ponys. Aber noch mehr für Pferde. Bestimmt wird einmal ein guter Reiter aus ihm. Nick wird ihm das Reiten beibringen.«

»Wo ist Nick übrigens? Und wo ist Henrik?« Denise lauschte. Es war auffällig still im Gutshaus von Schoen­eich.

»Da fragst du noch? Du müsstest doch wissen, dass die beiden jeden Tag nach Sophienlust hinüberradeln. Das wundert mich jedoch nicht. Sophienlust ist tatsächlich ein kleines Kinderparadies. Das ist dein Werk, Denise.« Behutsam strichen Alexanders kräftige Hände über Denises zartes Gesicht. »Ich liebe dich«, flüsterte er mit dunkler, erregender Stimme. »Als ich dich kennenlernte, habe ich mich in deine schöne Figur, in dein hübsches Gesicht und dein wundervolles Haar verliebt. Inzwischen ist viel mehr daraus geworden, Denise. Eine tiefe, echte Bindung, die durch nichts mehr zerstört werden kann. Sie lässt mich unsagbar glücklich sein.«

»Mir geht es genauso. Du bist mein Leben, Alexander. All mein Denken, Handeln und Fühlen richtet sich nach dir. Du bist wie die Sonne für mich. Die Sonne, die alles erhellt, erwärmt und gedeihen lässt. Ich bin dir so unendlich dankbar.«

Alexander legte sanft und zärtlich seine Lippen auf Denises hübsch geformten Mund. Voll Innigkeit küsste er seine Frau.

Martha, die Köchin, die gerade mit dem heißen Kaffee in den kleinen Salon kam, musste sich mehrmals räuspern, ehe das Paar ihre Anwesenheit bemerkte. Doch weder Martha noch Denise und Alexander wurden verlegen. Denn es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden sich liebten und scheuten nie, sich ihre Zuneigung zu zeigen. Auch für die Kinder war es ganz natürlich, die Eltern hin und wieder in zärtlicher Umarmung anzutreffen.

»Ganz frisch aufgebrüht«, verriet Martha und füllte die Tassen. »Moment, ich hole noch rasch die Sahne.«

»Bringen Sie noch ein Gedeck mit und trinken Sie mit uns Kaffee«, rief der Gutsherr seiner rundlichen Angestellten nach.

Martha kam der Aufforderung nur zu gern nach. Die Kaffeestunde im kleinen Salon war immer eine gemütliche Sache.

»Also gestern«, berichtete die rotwangige Köchin eifrig, »war ich bei meiner Schwester in Sophienlust drüben. Sie kocht ja dort vier Jahre länger als ich hier.«

Martha rührte ein bisschen verlegen in ihrer Tasse, sodass Denise sie nachdenklich ansah. »Ich glaube fast, Sie sind ein wenig eifersüchtig, weil Magda die größeren Töpfe hat«, meinte sie.

Martha nickte bekümmert. »Bei ihr kommt ein Schokoladenkuchen ganz anders an.«

»Na, loben wir nicht immer das gute Essen, das Sie uns vorsetzen?«

Alexander blinzelte wie ein Verschwörer.

»Ich möchte mich ja nicht beklagen«, druckste Martha herum. »Das wäre ungerecht. Ich bin mit meiner Stellung hier sehr zufrieden. Aber ich dachte nur … es wäre schön, wenn …, wenn wir auch wieder einmal eine so muntere kleine Schar am Tisch hätten.«

»Genügen Ihnen Nick und Henrik nicht mehr?« Alexander blies die Backen auf und verdrehte die Augen. Es sah sehr lustig aus.

Doch Martha dachte gar nicht daran zu lachen. »Das ist es ja eben. Sie sind so oft in Sophienlust drüben. Wenn wir einen so drolligen kleinen Kerl wie Uwe hätten, wäre das sicher nicht mehr der Fall.«

»Uwe ist ja nur vorübergehend in Sophienlust. Seine Eltern werden ihn bald wieder abholen.«

Martha schüttelte bedächtig den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe da einen Artikel in der Zeitung gelesen. Der Dirigent Hellbach ist gar nicht in England, sondern hier. Er hat in Stuttgart ein Konzert gegeben. Und das Kind wollten die Eltern doch nur loswerden. Der Kleine kann einem leidtun.«

Überrascht sah Denise ihren Mann an. Siehst du, ich habe mich doch nicht getäuscht, schien ihr Blick zu sagen. Ich habe Inge Hellbach in der Stadt gesehen!

»Vielleicht könnte man mit diesen Rabeneltern sogar über eine Adoption verhandeln«, spann Martha ihren Gedanken weiter.

»Sie meinen, dass wir …?« Alexanders Augen wurden groß und fragend.

»Warum nicht? Sie würden es bestimmt nicht bereuen. Uwe ist ein so liebes Kind. Nick und Henrik würden sich freuen.«

Alexander von Schoenecker schüttelte den Kopf. »Martha, ich habe den Eindruck, Sie haben Ihr Herz an einen kleinen Lausbuben verloren.«

»Darf ich das nicht? Magda hat so viele Kinder, die sie verwöhnen kann. Und ich?«

»Sie haben dafür viel mehr Ruhe«, vermittelte Denise lächelnd.

*

Norbert Hellbach ließ die Hände sinken. Entspannt lehnte er sich zurück.

Sofort war Inge neben ihm, legte liebevoll den Arm um seine Schultern. »Möchtest du eine Tasse Tee? Er ist gleich fertig. Du hast vier Stunden ununterbrochen gespielt. Du wirst müde sein.«

»Nein. Es hat mir viel Spaß gemacht. Ich fühle mich frei und froh, seit wir wieder allein sind.« Norbert lehnte seinen Kopf zurück, berührte Inges Oberkörper. »Ich danke dir«, sagte er und fasste nach den Händen seiner Frau. »Du bist eine wundervolle Frau. So zart und gefühlvoll, wie ich sie mir immer ersehnt habe.«

»Ich habe dich gern«, gab Inge Hellbach leise zurück. Sie beugte sich über ihren Mann, zwang sich zu einem Lächeln. Seit mehr als zwei Wochen spielte sie ihm die glückliche Partnerin vor. Dabei war sie alles andere als glücklich. Nachts lag sie neben ihm und fand keinen Schlaf. Und wenn sie endlich für Sekunden die Augen schließen konnte, hörte sie Uwes helles Kinderstimmchen. Manchmal sah sie den Kleinen, wie er sehnsüchtig die Arme nach ihr ausstreckte. Doch noch bevor sie ihn berühren konnte, brach der Traum jäh ab. Sie wurde wach, wurde sich ihrer Sehnsucht, ihres Schmerzes bewusst.

Wenn es dunkel war und Norbert fest schlief, rannen oft heiße Tränen über ihre Wangen. Dann drückte sie ihr Gesicht in die Kissen, um ihr qualvolles Schluchzen zu unterdrücken. Wie lange würde sie noch die Kraft haben, ihren Kummer vor ihrem Mann zu verbergen? Wie lange würde sie noch Gleichgültigkeit heucheln können, wenn er von dem kleinen Jungen sprach?

Inge Hellbach wusste, dass sie am Ende ihrer Kraft war. Sie konnte nicht mehr lange Fröhlichkeit mimen, wie es Norbert von ihr erwartete. Er bot ihr ein schönes, luxuriöses Leben, aber er verlangte unmenschliche Opfer von ihr. Aus Liebe hatte sie ihrem Mann bisher jeden Wunsch erfüllt. Sie hatte sogar etwas getan, wozu eine Mutter kaum fähig war. Doch sie fühlte, dass sie sich damit zu viel zugemutet hatte. Irgendwann würde sie unter der Last der Selbstvorwürfe zusammenbrechen. Irgendwann würde ihre Sehnsucht stärker sein als ihre Beherrschung.

»Wir haben einen Fehler gemacht damals, bevor Uwe zur Welt kam. Aber jetzt ist alles wieder gut. Jetzt bin ich wieder in Form, habe meine Depressionen überwunden. Ich werde Erfolge haben, Inge. Alle Welt wird mir zujubeln. Ich fühle es. Und du wirst meine Königin sein. Ich werde dich hinauftragen in die höchsten Gipfel des Glücks. Wir werden zu den Großen, den ganz Großen gehören. Was es auf der Welt an Schätzen gibt, werde ich dir zu Füßen legen.«

Inge dachte an den größten Schatz, den es für sie gab: das Kind. Es war nicht mit Geld zu bezahlen. Uwe zu besitzen kostete nur ein wenig guten Willen und ein bisschen Selbstüberwindung. Doch gerade das wollte Norbert nicht aufbringen. Sah er denn nicht, dass die Erfüllung dieses Wunsches für sie viel wichtiger war als aller Reichtum dieser Erde?

»Wenn wir demnächst in London spielen, werden wir in den Buckingham-Palast eingeladen werden und mit Königin Elizabeth Tee trinken. Na, freust du dich?« Ein glückliches Lächeln flog über Norberts blasses Gesicht.

»Sehr«, schwindelte Inge und streichelte das fast schwarze lockige Haar ihres Mannes. Er sah gut aus, besonders dann, wenn er den dunklen Frack trug. Dann jubelten ihm die Damen zu und sahen ihn vielversprechend an. Doch Norbert Hellbach hatte nur Augen für seine hübsche blonde Frau.

Musste Inge darüber nicht glücklich sein? Musste sie dafür nicht zu jedem Opfer bereit sein?

»Alle Welt wird uns beneiden«, spann Norbert seine Gedanken weiter. Spielerisch fuhren seine Finger über die Tasten des Klaviers, schlugen einige Töne an.

Inge liebkoste sein Haar, küsste seine Stirn. Am liebsten hätte sie sich wie eine Ertrinkende angstvoll an ihn geklammert, hätte ihm gestanden, dass sie so nicht weiterleben könne. Doch sie durfte es nicht. Norbert war unglaublich empfindlich. Jede Gefühlsschwankung warf ihn zurück. Nur in einer harmonischen Atmosphäre konnte er arbeiten, konnte er sich entfalten.

Tapfer zwang sich Inge zu einem Lächeln. Ihre Lippen zitterten ein wenig, Tränen brannten in ihren Augen. Doch das konnte Norbert Hellbach nicht sehen. Er schwelgte in rosaroten Zukunftsträumen. »Wenn man sich liebt, wie wir«, meinte er verträumt, »kann man nur zu zweit glücklich sein. Jede weitere Person stört. Das mit Uwe war ein Fehler. Ich war in diesen Monaten oft launisch und gereizt. Ich weiß, dass ich dir das Leben schwer gemacht habe. Doch das ist nun vorbei. Es soll nie mehr vorkommen, Inge.«

»Reden wir nicht mehr davon«, erwiderte Inge leichthin. Ihre Heiterkeit wirkte sogar echt. Dass sie der Verzweiflung eines liebenden Herzens entsprang, davon ahnte Norbert Hellbach nichts.

»Ich weiß, dass ich dich gekränkt habe. Es tut mir leid, Inge. Kannst du mir verzeihen?«

»Ich war dir nie böse.« Inges Hände umspannten Norberts Schultern.

Vorsichtig befreite sich der Mann, stand auf und drehte sich zu seiner Frau um. Zärtlich schloss er sie in seine Arme. Er war nur wenig größer als sie. Die beiden passten gut zusammen, waren ein schönes Paar. Ein Paar, das überall auffiel.

»Aber traurig. Ich habe es gefühlt. Auch das soll endgültig vorbei sein, Inge. Wir beide können uns alles geben, brauchen keinen zu unserem Glück.« Beschwörend sah er seine Frau an.

Inge nickte wie unter einem geheimen Zwang.

»Ich bin froh, dass du dich dazu entschließen konntest, Uwe wegzugeben. Es war richtig. Wir werden ihn vergessen.«

Nie!, schrie es in Inge, doch sie brachte dieses Wort nicht über die Lippen. Still und gehorsam nickte sie.

»Du glaubst gar nicht, wie froh und frei ich mich fühle, seit wir wieder allein sind. Es ist, als sei eine schwere Last von meiner Seele genommen. Endlich kann ich wieder atmen.« Norbert Hellbach dehnte seine Brust, zog Inge noch inniger an sich.

Inge antwortete nicht. Sie wusste, dass ihr Mann seit der Geburt des kleinen Uwe von einer krankhaften Eifersucht geplagt wurde. Sosehr sie sich auch bemüht hatte, ihren Mann nicht zu vernachlässigen, sosehr sie auch darauf bedacht gewesen war, dass Norbert durch das Kind nicht gestört wurde, es war nichts zu machen gewesen. Es war immer schlimmer statt besser geworden. Inge hatte sich für ihren Mann aufgeopfert, hatte ihn mit aller Liebe, deren eine Frau fähig war, umgeben. Trotzdem hatte Norbert Hellbach die Eifersucht nicht überwinden können. Doch nun war er der Ansicht, dass die Lösung gefunden sei. Das Kind war anderweitig untergebracht, wurde gut versorgt, man brauchte nur die monatlichen Unterhaltskosten zu bezahlen, und alles war in Ordnung.

Nur Inge wusste, dass gar nichts in Ordnung war. Uwes Aufenthalt in Sophienlust war keine Lösung, wenigstens nicht für sie. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem Kind. Sehnsucht, die sich von Tag zu Tag steigerte. Noch konnte sie sie in Norberts Gegenwart unterdrücken. Doch irgendwann würde dieses Gefühl in ihr übermächtig werden, würde sich nicht mehr überspielen lassen. Richtige Angst hatte Inge vor diesem Tag, denn er konnte das Ende ihres Glücks bringen.

»Weißt du, ich hätte nie vergessen können, dass Uwe nicht mein Kind ist. Je älter der Kleine wurde, umso mehr kam mir das zu Bewusstsein.« Mit zusammengepressten Lippen und gefurchter Stirn dachte Norbert an den reizenden kleinen Jungen, der überall, wohin er auch kam, die Gunst und Zuneigung der Menschen eroberte. Uwe war ein bildhübscher Bub, und gerade das störte Norbert gewaltig. Sein Blick wurde finster, fast drohend. »Uwe passt nicht zu uns. Er ist seinem Vater zu ähnlich.«

Inge zitterte in den Armen ihres Mannes. Nur mit größter Anstrengung konnte sie verhindern, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen. »Ich habe es seinerzeit nur deinetwegen getan«, flüsterte sie heiser.

Norbert nickte. »Ich weiß. Ich wollte ein Kind, weil ich glaubte, dass es dich noch enger an mich binden würde. Doch das war ein großer Irrtum, für den ich tausendfach gebüßt habe. Du ahnst nicht, Inge, was ich durchgemacht habe.« Norbert Hellbach atmete schwer. »Seit man mir damals, nach dem Motorradunfall, gesagt hat, dass ich zeugungsunfähig bin, hat mich dieser Gedanke nicht mehr losgelassen. Vierzehn Jahre ist das nun her. Vierzehn Jahre lang habe ich das Gefühl, kein vollwertiger Mensch zu sein. Uwes Geburt hat nichts daran geändert. Ich habe dich seinerzeit zu der künstlichen Befruchtung überredet, weil ich allen zeigen wollte, dass ich kein Krüppel bin. Aber der Schuss ging nach hinten los. Ich habe nicht geahnt, wie groß die seelische Belastung sein würde, die dieses Kind mit sich bringt. Seit Uwe auf der Welt ist, werde ich noch viel mehr an meine Unfähigkeit erinnert.« Norbert ließ Inge stehen und hieb sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn. Er bot das Bild eines verzweifelten Menschen.

»Es ist vorbei«, flüsterte Inge. Noch nie hatte sie davon gesprochen, wie viel Überwindung es sie damals gekostet hatte, sich den Wünschen ihres Mannes zu fügen. Sie hatte das Kind eines Mannes zur Welt gebracht, den sie nie gesehen hatte, dessen Namen sie nicht kannte. Nur aus Liebe zu Norbert hatte sie das getan.

Die Schwangerschaft war äußerst schwierig verlaufen. Inge hatte keine Speisen bei sich behalten können, hatte schließlich künstlich ernährt werden müssen. Es waren schlimme Monate gewesen. Vielleicht hätte Inge das alles ohne die Liebe ihres Mannes nicht überstanden. Zu dem Baby, das in ihr wuchs, hatte sie keine Beziehung gefunden. Manchmal hatte sie es sogar gehasst. Doch dann war Uwe zur Welt gekommen, und schlagartig war alles anders geworden. In dem Augenblick, da Inge ihr Kind zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, war auch die Liebe zu diesem kleinen, hilflosen Wesen erwacht. Inge Hellbach war eine zärtliche Mutter geworden.

Ihr Mann hatte das mit zunehmendem Groll beobachtet. Je mehr sich Uwe zu einem hübschen, intelligenten Jungen entwickelt hatte, umso nachdrücklicher hatte sich Norbert von ihm zurückgezogen. Das Leben der kleinen Familie war immer problematischer geworden. Inge hatte sich alle Mühe gegeben, weder ihren Mann noch das Kind zu vernachlässigen, doch es war ihr nur halb gelungen. Wenn Uwe geweint und sie ihn tröstend in die Arme genommen hatte, hatte Norbert voll Hass und Bitterkeit zugesehen. Oft hatte er dann fluchtartig die Wohnung verlassen, um sich irgendwo sinnlos zu betrinken.

»Ich weiß, dass es ein großes Opfer für dich war«, flüsterte der Dirigent jetzt. »Doch es war gut, dass du Uwe weggegeben hast. Du sollst es nicht bereuen, Inge. Das schwöre ich.«

Norbert Hellbach klammerte sich mit aller Kraft an seine zierliche, schlanke Frau. Er küsste sie hart und fordernd. Erst als er merkte, dass ihre Lippen nachgaben, wurde sein Kuss liebevoller.

*

Das Pony war lammfromm und setzte gemächlich ein Bein vors andere. Auf seinem Rücken saß ein kleiner Junge, der sich mit beiden Händen an der dunklen Mähne des Pferdchens festhielt. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Schneller! Schneller!«, kreischte er begeistert.

»Hast du denn keine Angst?«, fragte Pünktchen, die neben dem Pony ging und den kleinen Jungen hinten am Pullover festhielt.

»Uwe weiß überhaupt nicht, was Angst ist«, übernahm Nick die Antwort. Der künftige Erbe von Sophienlust war groß, dunkelhaarig und sportlich und glich verblüffend seiner schönen Mama.

Pünktchen, das blonde Mädchen mit den kessen Sommersprossen und den veilchenblauen Augen, schwärmte seit Langem für den hübschen Nick. Und manchmal träumte die Kleine sogar davon, eines Tages Nicks Frau zu sein. Doch bis dahin würden noch viele Jahre vergehen. Denn noch waren sie fröhliche, unbeschwerte Kinder.

»Er wird einmal ein richtiger Draufgänger.« Stolz sah Nick auf den Kleinen, der so forsch im Sattel saß, als wäre das Reiten für ihn ganz selbstverständlich. Sie machten jetzt bereits zum zweiten Mal die Runde um das Herrenhaus von Sophienlust. Uwe lachte, dabei erschienen zwei süße Grübchen in seinen Wangen.

»Gebt mir gut auf ihn acht!«, rief die Köchin Magda den Kindern aus dem offenen Küchenfenster zu.

Nick streckte die Nase in die Luft und schnupperte. »Riecht ja nach Schokoladenkuchen. Magda, hast du etwa gebacken?« Er zog am Zügel des Ponys. Folgsam blieb es stehen und wartete.

»Schon möglich.« Die rundliche Köchin, die Kinder so gern hatte, machte ein geheimnisvolles Gesicht.

Nick, der, wie alle Jungen in diesem Alter, ständig hungrig war, zeigte sein charmantes Lausbubenlächeln. Schon sehr früh hatte er herausgefunden, dass diesem Lächeln kaum ein Erwachsener widerstehen konnte. Sogar die Lehrerinnen am Gymnasium wurden schwach, wenn seine dunklen Augen so intensiv strahlten, wenn sich sein frisches Gesicht zu einem wohlwollenden Grinsen verzog.

»Wollt ihr ein Stückchen?« Magda hatte Nick schon als kleinen Jungen in ihr Herz geschlossen. Und dabei war es geblieben.

»Wie kannst du da noch fragen?« Seit einiger Zeit machte es Nick Spaß, mit der drallen Köchin ein wenig zu kokettieren, was ihm ab und zu einen strafenden Blick aus Pünktchens blauen Augen eintrug.

Auch jetzt bekam er einen unsanften Rippenstoß. »Vielfraß!«, zischte die Kleine, lachte aber dabei.

»Sei still, du willst ja selbst ein Stück!«

»Uwe auch!«, meldete sich jetzt der kleine Junge, dem die Unterbrechung des abenteuerlichen Ritts nicht ganz passte.

»Du bekommst sogar das größte Stück!« Magda beugte sich weit aus dem Fenster der im Erdgeschoss liegenden Küche und reichte den Kindern je ein Stück duftenden Schokoladenkuchen. Zufrieden sah sie zu, wie die Jugend sofort hineinbiss und genussvoll schmauste.

»Wisst ihr, was mir meine Schwester erzählt hat?«, tuschelte Magda geheimnisvoll.

»Vielleicht, dass bei uns drüben Farka den Kirschkuchen gefressen hat?« Nick kaute mit vollen Backen.

»Die Stute aus dem vergangenen Jahr?«, erkundigte sich Magda verblüfft.

»Genau. Martha hatte den Kuchen zum Auskühlen ans offene Fenster gestellt. Da kam Farka vorbei, als der Knecht sie auf die Weide brachte. Der Duft muss Farka gereizt haben. Jedenfalls hat sie sich den ganzen Kuchen geschnappt.«

Pünktchen lachte laut. Und Uwe, der zwar nicht alles verstanden hatte, kicherte ebenfalls.

Magda verzog ein bisschen das Gesicht, doch so lustig fand sie die Sache nicht. Immerhin war ein gelungener Kirschkuchen der Stolz jeder Köchin und durchaus nicht für Pferde bestimmt. Jedenfalls hatte ihre Schwester ihr nichts von dem Missgeschick erzählt.

»Nein, es war etwas ganz anderes. Ihr seid ja schon groß, euch kann ich es sagen. Wenn einige von den Kleinen dabei wären, würde ich natürlich schweigen.«

Nick und Pünktchen traten noch näher zum Fenster. Sie reckten die Hälse und sahen neugierig hoch.

»Drüben in Bachenau ist ein kleines Mädchen verschwunden«, tuschelte Magda. »Es war zweieinhalb, so alt wie Uwe. Deshalb seid vorsichtig!«

»Was heißt das, verschwunden?« Nick zog die noch rundliche Kinderstirn in Falten.

»Es hat im Garten neben dem Haus gespielt. Aber als die Mutter es zurückholen wollte, fand sie es nirgends. Sie hat die ganze Umgebung abgesucht, und die Nachbarn haben ihr dabei geholfen. Aber sie hatten keinen Erfolg.«

»Wie kann man auch so ein kleines Kind allein lassen«, entrüstete sich Pünktchen.

»Hat man denn nicht die Polizei gerufen?« Nicks Interesse war hellwach. Wenn da tatsächlich in nächster Nähe von Sophienlust ein Verbrechen geschehen war, dann musste man höllisch aufpassen.

»Natürlich. Aber man konnte nichts feststellen. Keine Spuren.« Magdas rundes Gesicht glänzte. »Niemand hat eine verdächtige Person gesehen, niemand hat etwas gehört. Es ist allen ein Rätsel.«

»Aber ein kleines Mädchen kann doch nicht einfach verschwinden.« Pünktchen schüttelte den Kopf.

»Es ist aber so. Meine Schwester hat es von der Großmutter des Kindes erfahren. Sie kennt die Leute. Eine anständige, ehrliche Familie.«

»Vielleicht will man Lösegeld.« Wieder einmal ging die Phantasie mit Nick durch.

»Von Leuten, die von der Landwirtschaft leben?« Magda blies die Backen auf. »Da ist doch nichts zu holen!«

»Vati hat ja auch nur Landwirtschaft«, verteidigte sich Nick.

Die Köchin schmunzelte versöhnlich. »Zum einen bewirtschaftet dein Vater ein riesiges Gut, zum anderen betreibt er Pferdezucht. Das bringt etwas ein. Die Lipizzaner deines Vaters sind weit über Deutschlands Grenzen hinaus berühmt. Man zahlt die höchsten Preise für sie.«

»Was du alles weißt!« Nick schüttelte den Kopf.

»Hat mir alles meine Schwester erzählt.« Stolz reckte Magda den Kopf.

»Wann war das mit der Kleinen?«, erkundigte sich Pünktchen.

»Vor drei oder vier Tagen.«

»Und die Polizei hat noch nichts herausgefunden?«, wunderte sich Nick.

»Mir tut am meisten die arme Mutter leid. Sie soll ganz verzweifelt sein.« Zufrieden beobachtete Magda, wie Klein Uwe eben den letzten Happen genussvoll ins Mündchen schob. Vollkommen sicher und gelassen saß er noch immer im Sattel.

»Ich an ihrer Stelle würde die ganze Gegend absuchen. Jeden Grashalm würde ich umdrehen.« Nick machte ein entschlossenes Gesicht.

»Das hat Polizeimeister Kirsch sicher schon getan.«

»Dann ist der Kerl also mit der Kleinen auf und davon?«

»Es ist anzunehmen.« Magda nickte trübsinnig.

»Sagt man nicht, dass alle Verbrecher an den Ort zurückkommen, an dem sie ihr Unwesen getrieben haben?« Nick legte den Kopf schief und schien scharf zu überlegen. »Demnach müsste er wieder hier auftauchen. Man muss nur die Augen offenhalten.«

Magda erschrak. Schon mehrmals hatte Nick sein kriminalistisches Talent unter Beweis gestellt. Sollte sie durch ihre Schilderung Nicks Tatendrang geweckt haben? »Um Gottes willen, unternehmt nichts. Das könnte gefährlich sein. Versprecht ihr mir das?«

»Aber wenn uns der Kerl zufällig über den Weg läuft?« Nick fühlte sich bereits in seinem Element.

»Dann lasst euch auf keinen Fall mit ihm ein!« Magda rang voll Verzweiflung die Hände. »Am besten, ihr vergesst alles wieder«, jammerte sie.

»Na, hör mal. Schließlich wollen doch die Eltern ihr Kind wiederhaben.«

Uwe, dem die Unterhaltung zu langweilig wurde, versuchte sein Pony in Gang zu setzen. »Lauf!«, rief er und klatschte mit seinen dicken Händchen auf den Hals des Tieres.

Erschrocken packte Pünktchen den Kleinen fester, während das Pony sich tatsächlich in Trab setzte. Rasch steckte Nick das letzte Stück Kuchen in den Mund, winkte Magda noch einmal zu und griff nach dem Zügel des Ponys.

*

Der prächtig geschmückte Festsaal am Hofgarten war bis auf den letzten Platz besetzt. Trotzdem herrschte atemlose Stille, als Norbert Hellbach den Taktstock hob. Leise setzten die Instrumente ein, vereinigten sich zu einer wunderbaren Harmonie. Es wurden Werke von Mozart gespielt.

Nicht nur die Liebhaber dieser Musik saßen andächtig lauschend im stimmungsvoll erleuchteten Saal. Viele waren nur gekommen, um Norbert Hellbach dirigieren zu sehen – den Mann, der immer wieder ein Genie genannt wurde. In bestimmten Kreisen gehörte es schon zum guten Ton, Norbert Hellbach gesehen und gehört zu haben. Man überhäufte ihn mit Einladungen, riss sich um seine Freundschaft. Norbert Hellbach war ein Mann, der faszinierte. Sobald er am Dirigentenpult stand, verstummten auch seine Kritiker, ließ sich jeder, der sein Orchester hörte, zu stürmischem Beifall hinreißen. Musik, wie Norbert Hellbach sie machte, war neu und mitreißend. Nicht nur seine eigenen Kompositionen, auch die Werke alter Meister klangen in ganz neuer Art.

Es war kein Wunder, dass Norbert Hellbach Angebote aus aller Welt bekam. Täglich brachte man ihm auch korbweise Verehrerpost. Doch das alles machte ihn nicht überheblich, sondern stachelte ihn nur zu immer größerem Eifer an.

Sein Ruhm war jedoch nicht plötzlich gekommen. Er hatte seit mehr als zehn Jahren zäh und verbissen gearbeitet. Jede freie Minute hatte er der geliebten Musik geopfert, sie war zu einer Leidenschaft für ihn geworden.

Seine Musiker hatten gewaltigen Respekt vor seinem Können. Doch noch mehr fürchteten sie ihn als Mensch. Norbert Hellbach war unberechenbar, das mussten sie immer wieder erfahren. In den letzten beiden Jahren waren seine Wutausbrüche fast an der Tagesordnung gewesen. Doch nun hatte sich das geändert. Der große Dirigent zeigte sich ausgeglichen und heiter.

Ein Stück nach dem anderen klang auf, wurde mit einer verblüffenden Technik gespielt und verebbte schließlich zart und leise wie ein Traum. Die Zuhörer brauchten mehrere Sekunden, um sich von dem Zauber, der sie gefangen hielt, zu befreien. Dann aber brachten sie Norbert Hellbach stürmische Ovationen dar.

Huldvoll verbeugte sich der große Meister. Er nahm die Blumen entgegen, die ihm ein hübsches junges Mädchen überreichte. Seine Augen suchten seine Frau.

Inge Hellbach saß in einem langen festlichen Kleid in der ersten Reihe und sah unwirklich schön aus. Weich und duftig fiel ihr blondes Haar auf die Schultern. Liebreizend wirkte ihr bleiches, ebenmäßiges Gesicht.

Der Beifall für Norbert Hellbach hielt an. Der Dirigent verbeugte sich lächelnd nach allen Seiten, dankte mit erhobener Hand für die Blumengrüße, die auf die Bühne prasselten. Dann ging er hinunter in den Saal, fasste seine Frau bei der Hand und führte sie galant ins Rampenlicht.

Obwohl manche der Damen in diesem Augenblick enttäuscht waren, steigerte sich der Applaus für den Künstler erneut. Man drängte zu ihm, um ihm die Hand zu schütteln, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Norbert Hellbach war unsagbar stolz. Endlich hatte er das erreicht, wonach er schon als junger Student gestrebt hatte. Endlich hatte er einen Namen, war er jemand. Vergessen waren die vielen Jahre zähen Ringens, vergessen die mühevolle Kleinarbeit. Zärtlich drückte er die Hand seiner Frau und sah ihr in die Augen. »Habe ich dir zu viel versprochen?«, flüsterte er, während die Blitzlichter der Fotografen aufflammten.

»Ich freue mich für dich«, antwortete Inge leise. Sie wäre am liebsten all diesem Trubel entflohen. Denn sie fühlte sich müde und elend.

»Wir sind zum Essen ins Hilton eingeladen. Was hältst du davon?« Der Stolz in der flüsternden Stimme des Mannes war unüberhörbar.

Inge fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Jeder Gedanke ans Essen war ihr zuwider. Wann immer es ging, trank sie nur etwas Milch. Sie hatte stark abgenommen, war noch zierlicher, noch mädchenhafter geworden. Immer mehr Rouge musste sie auftragen, um die krankhafte Blässe ihrer Wangen zu überdecken. Immer schwerer wurde es für sie, ein Lächeln zu zeigen, Fröhlichkeit vorzutäuschen.

Gewiss, Norbert errang großartige Erfolge. Doch den Preis dafür musste sie, Inge, bezahlen. Um seiner Eifersucht keine neue Nahrung zu geben, hatte sie auf ihr Kind verzichtet. Doch immer deutlicher fühlte sie, dass sie diesen Verzicht nicht durchstehen würde. Sie liebte Uwe zu sehr, obwohl sie dessen Vater nicht kannte, obwohl sie dieses Kind nur ihrem Mann zuliebe zur Welt gebracht hatte. Alles war anders gekommen, als sie damals gehofft hatte.

»Bitte, lächle doch ein wenig«, raunte Norbert an ihrer Seite. »Was sollen die Leute denken, wenn sie später diese Fotos in den Illustrierten sehen? Man könnte fast glauben, du bist unglücklich.«

»Ich fühle mich nicht wohl«, antwortete Inge leise.

»Es ist gleich vorüber, Liebling. Dann bin ich wieder nur für dich da.«

Inge lächelte krampfhaft in die grellen Blitze. Sie schüttelte die Hände wildfremder Menschen und war ganz benommen, als sie schließlich mit ihrem Mann ins Freie kam.

Die frische Luft tat ihr gut. Doch da kam schon der Chauffeur, den Norbert engagiert hatte, ließ sie in den großen, komfortablen Wagen einsteigen. Man winkte dem Dirigenten zu, rief seinen Namen.

»Das ist erst der Anfang«, schwärmte Norbert Hellbach, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. »Wir werden immer höher klettern. Stufe um Stufe. An der Mailänder Skala werde ich Verdi dirigieren. Die Verträge sind schon unterschrieben. Du, ich freue mich auf die Tage in Italien mit dir. Sie sollen zu einer zweiten Hochzeitsreise für uns werden.«

Inge nickte müde. Sie lehnte den Kopf an Norberts Schulter und schloss die Augen.

»Ich glaube fast, es ist etwas zu viel für dich. Wenn du willst, machen wir Pause. Wir fahren irgendwohin, wo uns keiner kennt, wo wir ganz allein sind. Nur wir beide.« Norbert wandte sich seiner Frau zu, küsste sie verliebt auf die Stirn. »Ich liebe dich«, flüsterte er. »Dich glücklich zu sehen, ist wichtiger für mich als alles andere auf der Welt.« Das klang echt und ehrlich. Für einen Augenblick vergaß Inge, dass es etwas zwischen ihnen gab, worüber Norbert nicht zu sprechen wünschte. Seine liebevolle Stimme gab ihr den Mut, auf eine vertrauensvolle Aussprache zu hoffen. »Ich vermisse das Kind«, flüsterte sie aus vollem Herzen.

Sofort versteifte sich die Haltung des Mannes. Sein Gesicht wurde hart und abweisend. Ein geheimes Feuer glomm in seinen dunklen Augen auf. »Das hätte ich mir denken können«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Auch wenn ich dich in meinen Armen halte, sind deine Gedanken bei ihm. In ihn bist du verliebt, nicht in mich. Alles, was ich dir biete, ist nichts. Du denkst nur darüber nach, wie du ihn treffen könntest. Ich merkte es schon länger, hoffte aber, dass dich meine Konzerte ablenken würden. Doch du lebst in einer Welt, in der ich dich nicht erreichen kann.«

»Uwe ist mein Kind«, flüsterte Inge entschuldigend. Sie bereute bereits bitter, das Gespräch auf dieses Thema gebracht zu haben.

»Du liebst den Vater und wirst keine Ruhe finden, ehe du in seinen Armen liegst.« Norbert sprach laut und voll Bitterkeit. Es störte ihn nicht, dass der Chauffeur die Unterhaltung belauschen konnte.

»Ich kenne ihn ja gar nicht«, verteidigte sich die junge Frau. Tatsächlich dachte sie niemals an den Samenspender, sondern immer nur an ihren kleinen Jungen.

»Wenn du Uwe ansiehst, wirst du an ihn erinnert.«

»Ich habe ihn doch noch nie gesehen«, widersprach Inge leise.

»Das Kind muss große Ähnlichkeit mit ihm haben.«

»Uwe gleicht auch mir. Viele sagen es. Bitte, Norbert, lass uns nicht mehr darüber reden. Es ist für uns beide unerfreulich. Wir wollen heute doch deinen Erfolg feiern.« Inge fasste nach der Hand ihres Mannes, streichelte sie zärtlich.

»Was nutzen mir alle Erfolge, wenn ich bei dir keinen Erfolg habe?«, meinte er verärgert.

»Den hast du doch. Ich liebe dich.«

»Wenn das wahr wäre, würdest du glücklich aussehen. Du würdest strahlen und nicht an Dinge denken die nicht zu ändern sind.«

»Ich denke schon nicht mehr daran«, schwindelte Inge. »Es war eine dumme Idee von mir, das Kind zu erwähnen. Entschuldige, bitte. Ich bin froh und glücklich mit dir, und ich freue mich auf den Abend im Hilton.« Inge schaffte es, ihre Stimme tatsächlich heiter klingen zu lassen. Sie lachte, obwohl ihr elend zumute war.

*

Henrik gab seiner Mutti einen schallenden Abschiedskuss, während sich sein großer Bruder Nick mit einem burschikosen »Bye-bye« begnügte. Nick war in jenem Alter, da Buben ihre Mütter zwar genauso lieben wie seit eh und je, es aber nur dann zeigen, wenn sie mit ihnen allein sind.

Draußen holten die beiden ihre Räder aus der Garage und schwangen sich voll jugendlichem Elan darauf. Denise sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Dann ging sie ins Esszimmer zurück.

Alexander saß noch am Frühstückstisch. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und die Zeitung auseinandergefaltet.

»Norbert Hellbach hatte einen großartigen Erfolg in München«, berichtete er, ohne von der Zeitung aufzusehen. »Man bietet ihm Traumgagen, will ihn an die New Yorker Oper verpflichten.«

Martha, die gerade den Tisch abräumte, ließ beinahe eine Tasse fallen. »Alles auf Kosten des Kindes«, murrte sie halblaut. »Ich habe ja gleich gesagt, dass sie den kleinen Uwe nur loswerden wollten. Er war ihnen eine Last. Dabei ist er ein so herziger Bub. Aber sie werden es eines Tages bereuen. Man schiebt nicht ungestraft ein Kind ab. Was soll nun aus ihm werden?«

»In Sophienlust hat er alles, was er braucht. Er fühlt sich sogar sehr wohl dort. Er lacht und ist quietschvergnügt. Gestern zum Beispiel hat er einwandfrei die Melodie eines englischen Schlagers nachgesummt, den er im Radio gehört hat. Unsere Großen waren ganz begeistert von Uwes musikalischem Talent.«

»Natürlich hat er alles – aber leider keine Eltern.« Martha baute sich vor Alexander von Schoenecker auf, stemmte die drallen Arme in die Seite und sah den Gutsherrn herausfordernd an. »Ich habe Ihnen ja erst kürzlich meine Meinung gesagt, Herr von Schoenecker. Ich an Ihrer Stelle würde mir die Sache überlegen. Uwe ist ein intelligenter kleiner Kerl. Wir würden viel Freude an ihm haben.«

»Das bezweifle ich keinen Augenblick. Aber da gibt es rechtliche Dinge, über die wir uns auf keinen Fall hinwegsetzen können.«

»Den Eltern, die ihr Kind so herzlos weggeben, müssten alle Rechte sofort entzogen werden«, schimpfte Martha aufgebracht. Mit dem gefüllten Geschirrtablett verließ sie das Esszimmer.

»Na, was meinst du?«, wandte sich Alexander an seine Frau. »Wie ich dich kenne, unterstützt du natürlich Marthas Ansicht. Du kannst doch nie genug Kinder um dich haben. Und wie ich feststellen konnte, hängt Uwe bereits sehr an dir.«

Schmunzelnd erinnerte sich Alexander an eine Szene, die er in den letzten Tagen beobachtet hatte. Er war zufällig nach Sophienlust gekommen, als der kleine Uwe zu Bett gebracht worden war. Der kleine Kerl hatte absolut von Denise schlafengelegt werden wollen, obwohl sich Schwester Regine liebevoll um ihn gekümmert hatte. Er hatte mit seinen kurzen Ärmchen Denises Hals umklammert und sein Gesichtchen schmeichelnd an ihre Wange geschmiegt. »Tante Isi mitkommen!«, hatte er so drollig gebettelt, dass kaum jemand der Bitte hätte widerstehen können. Am wenigsten Denise. Sie hatte Uwe in sein Zimmer getragen und ihn zu Bett gebracht. Dankbar hatte der kleine Junge sie angestrahlt, als sie schließlich noch ein Schlafliedchen für ihn gesungen hatte.

Es war ein wunderschönes Bild gewesen, das Alexander durch den Türspalt gesehen hatte. Ein Bild, das er wohl nie vergessen würde.

»Es stimmt, dass ich Uwe sehr gern mag. Er ist ein besonders liebes, anhängliches Kind. Aber ich kann doch nicht vergessen, dass der Kleine Eltern hat, obwohl man glauben könnte, dass sie ihn vergessen haben.«

»Haben sie sich denn einmal nach dem Kind erkundigt? Haben sie es besucht?« Alexander sah seine Frau ernst an.

»Nein«, gab Denise resignierend zu. »Sie haben in all diesen Wochen nichts von sich hören lassen.«

»Da sich die Hellbachs in Deutschland aufhalten, hätten sie doch wenigstens anrufen können. Normalerweise würden gute Eltern das tun. Oder irre ich mich da?«

»Natürlich nicht.« Denise seufzte. »Ich verstehe diese Interesselosigkeit ja selbst nicht.«

»Wahrscheinlich hat Martha doch recht, wenn sie behauptet, dass die Hellbachs ihren Jungen ganz einfach abgeschoben haben. Der Erfolg ist ihnen in den Kopf gestiegen.«

»Ich kenne Norbert Hellbach nicht und kann deshalb nicht beurteilen, was für ein Mensch er ist.«

»Nach dem Bild in der Zeitung zu schließen ein recht sympathischer junger Mann«, meinte Alexander.

»Inge Hellbach jedenfalls hat ihr Kind nicht vergessen«, behauptete Denise voll Überzeugung.

»Die Tatsachen sprechen dagegen«, widersprach ihr Mann sanft.

»Ich weiß. Trotzdem werde ich den Verdacht nicht los, dass die Mutter sich nur unter Zwang von Uwe getrennt hat. Eines Tages wird sie kommen und ihn zurückholen.«

»Und wenn du dich täuschst? Wenn Uwe doch ein Heimkind bleibt? Wäre es da nicht vernünftiger, sich mit Marthas Vorschlag zu befassen? Würde es dir nicht Spaß machen, wieder ein Kleinkind zu haben?«

Alexander stand auf, trat nahe zu seiner Frau. Liebevoll sah er ihr in die Augen.

»Wenn Uwe ein Waisenkind wäre, würde ich jubelnd zustimmen, denn ich habe ihn tatsächlich sehr gern. Aber so, wie die Sache jetzt ist, müssen wir auf jeden Fall abwarten. Sobald sich die Hellbachs melden, werden wir mehr wissen.«

»Und wenn sie sich nicht melden?«

»Wir wollen uns keine Hoffnungen machen.« Denise lehnte sich an Alexanders breite Brust. »Wir wollen zufrieden sein.«

»Wie klug du bist.« Alexander streichelte Denises zarte Wangen. In einer plötzlichen Aufwallung von Zärtlichkeit zog er sie eng an sich und küsste sie.

*

»Was habe ich dir vorgespielt?«

Inge Hellbach, die in einem mächtigen Ledersessel in der Nähe des Flügels saß, fuhr erschrocken zusammen. »Es …, es war wunderschön«, stammelte sie verwirrt, konnte aber nicht verhindern, dass dabei eine zarte Röte in ihr bleiches Gesicht stieg.

»Du hast überhaupt nicht zugehört«, erwiderte Norbert gefährlich leise. Nichts konnte ihn so sehr kränken wie die Missachtung seiner Musik. »Andere kommen von weither, um mich und mein Orchester zu hören, und bezahlen Phantasiepreise für die Karten zu meinen Konzerten. Und du? Ich spiele nun länger als eine Stunde für dich ganz allein, aber du hörst es nicht einmal. Ich habe dich genau beobachtet. Du warst mit deinen Gedanken weit weg.« Seine Stimme klang drohend.

Inge wies auf das riesige Fenster des Appartements, das ihr Mann in Garmisch gemietet hatte. Weit dehnten sich unterhalb des modernen Hauses die Wiesen aus. Weit ging der Blick ins Tal und hinüber zu den mächtigen Bergen.

»Es ist ein so zauberhaftes Bild, dass ich einfach zum Träumen verleitet wurde. Die Wiesen, die Wälder, der Bach, der Ort und darüber die Berge. Ich glaube, es kann kein schöneres Fleckchen auf dieser Erde geben.«

»Du lügst!« Norbert sprang so heftig auf, dass der Klavierstuhl nach hinten umschlug. »Du hast wieder an ihn gedacht. Gib es doch zu!« Mit einem einzigen langen Schritt war er bei seiner Frau, packte sie brutal an den Oberarmen und schüttelte sie zornig hin und her.

Inges Kopf flog vor und zurück. Ja, sie hatte an ihren kleinen Sohn gedacht, aber das würde sie nicht zugeben. Sie musste sich damit abfinden, dass der Mann, den sie liebte, sie nicht verstand. Er leugnete, dass zwischen einer Mutter und ihrem Kind eine enge Bindung bestand. Er wollte Uwe behandeln wie einen Gegenstand, den er gekauft hatte und der ihm plötzlich nicht mehr gefiel. Er begriff nicht, dass das Kind für sie niemals eine leblose Ware sein würde, von der sie sich einfach trennte, wenn er es verlangte. Mutterliebe existierte für ihn nicht. Und da er trotzdem immer wieder damit konfrontiert wurde, suchte er kurzerhand nach einer anderen Erklärung für ihr Empfinden. Er quälte sie mit dem Vorwurf, sich in Uwes Vater verliebt zu haben.

»Ich habe überlegt, ob wir vielleicht einmal einen Ausflug zur Zugspitze machen sollten«, flüsterte Inge und machte sich so steif wie möglich. Doch das nutzte ihr nicht viel. Norberts Griff wurde nur noch schmerzhafter.

»Du brauchst nicht nach Ausreden zu suchen«, polterte der Dirigent. »Du hast dir vorgestellt, wie er wohl aussieht, er, der Vater deines Jungen. Hat er dunkelblonde Locken wie Uwe? Hat er so lustige braune Augen wie das Kind? Vielleicht auch so niedliche Grübchen?«

»Es ist nicht wahr«, wehrte sich die junge Frau und versuchte, sich dem brutalen Griff zu entwinden.

Doch Norbert war bedeutend stärker als sie. »Ich bin mit dir in dieses Ferienparadies gezogen, damit du vergessen sollst. Damit wir einander hier wieder näherkommen. Doch du hast dich nur noch weiter von mir entfernt. Du wirst immer stiller, machst eine richtige Leidensmiene. Glaubst du, dass das richtig ist? Ich lese dir jeden Wunsch von den Augen ab, verwöhne dich wie eine Prinzessin, aber nichts macht dir Spaß. Weder Blumen, noch Schmuck, noch schöne Kleider.«

Inge biss sich auf die Lippen. Sie wusste, die Vorwürfe ihres Mannes waren berechtigt. Sie konnte sich tatsächlich über die oft sehr kostbaren Geschenke nicht freuen. Sie hatte nur einen einzigen Wunsch, ihr Kind wieder in die Arme nehmen zu dürfen.

»Was verlangst du eigentlich von mir? Was kann ich noch tun?« Norbert griff sich an den Kopf. »Wie kann ich dir beweisen, dass ich dich liebe?«

»Vielleicht könnten wir doch noch einmal versuchen, Uwe zu uns zu nehmen. Nur für ein paar Tage.« Inge hob flehend die Hände.

»Uwe und immer nur Uwe!« Norbert biss die Zähne zusammen. »Gibt es denn für dich nichts anderes mehr? Mein Gott, war ich ein Idiot, als ich dich dazu überredete, das Kind eines anderen zur Welt zu bringen. Wenn ich das alles nur ungeschehen machen könnte! Wenn ich nur niemals diese unselige Idee gehabt hätte! Ich habe dir doch gesagt, dass ich den Anblick des Kindes nicht ertragen kann. Er macht mich wahnsinnig, ständig vor Augen geführt zu bekommen, dass ich ein jämmerlicher Krüppel bin. Verstehst du das denn nicht?« Er brüllte jetzt unbeherrscht. »Jeden anderen Wunsch erfülle ich dir, nur diesen nicht! Ich kann es nicht, weil ich daran zugrunde gehen würde. Kannst du das nicht begreifen? Kannst du nicht mir zuliebe auf das Kind verzichten?«

»Ich versuche es ja«, murmelte Inge, grenzenlos enttäuscht. »Aber es ist so entsetzlich schwer. Warum musst du immer daran denken, dass ein anderer Uwes Vater ist? Wir könnten es doch einfach vergessen. Das Kind ist unschuldig. Es kann doch wirklich nichts dafür, dass es zur Welt gekommen ist und nun herumgestoßen wird.«

»Hast du nicht selbst gesagt, dass es sich bei dem Kinderheim Sophienlust um eine ganz hervorragende Einrichtung handelt? Um eine echte Heimat für elternlose Kinder?«

»Aber Uwe ist kein Waisenkind. Ich würde ihn so gern wieder bei mir haben und ihn selbst erziehen.« Inges Stimme klang sehnsüchtig. Tränen liefen über ihre schmal gewordenen Wangen. Sie merkte es nicht einmal.

»Du spielst mir ein mieses Theater vor. Was du wirklich willst, habe ich längst erkannt. Du sehnst dich nicht nach dem Kind, sondern nach dem Vater. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, dass du dich seit Uwes Geburt verändert hast? Du bist noch hübscher geworden, noch bezaubernder.«

»Aber doch nur, weil ich so glücklich war«, stöhnte Inge gequält.

»Du erwartest doch nicht, dass ich das glaube? Du hast damit gerechnet, dass du ihn, den Vater deines Jungen, kennenlernen würdest. Deshalb hast du dich schön gemacht. Inzwischen sind mehr als zwei Jahre vergangen. Es ist verständlich, dass du nervös wirst.«

»Mir liegt nichts an diesem Mann, den ich überhaupt nicht kenne«, schrie Inge, außer sich vor Erregung.

»Und weshalb bist du dann so scharf auf sein Kind?«

»Weil Uwe auch mein Junge ist! Ich habe ihn zur Welt gebracht, habe die erste Zeit mit ihm erlebt. Das allein genügt doch, um ein Kind lieb zu gewinnen.«

Norbert schüttelte heftig den Kopf. »Das stimmt nicht. Du hoffst, über Uwe den Mann kennenzulernen. Das ist alles. Du willst auf das Kind nicht verzichten, weil es das Bindeglied zwischen euch ist.«

»Das ist doch Unsinn. Dieser Mann hat doch überhaupt keine Ahnung davon, dass er einen Sohn hat.«

»Noch nicht«, antwortete Norbert zynisch. »Aber das kann sich ändern. Man braucht ihn nur ausfindig machen und ihn über die Tatsachen unterrichten. Das ist es doch, woran du ständig denkst.«

»Nein«, schluchzte die junge Frau. »Es ist einfach nicht wahr. Ich liebe dich und sonst niemanden. Bitte, Norbert, glaube mir.« Inge wollte sich aus dem Sessel erheben, doch ihre Beine waren so kraftlos und zittrig, dass sie sofort wieder zurücksank.

»Und warum kannst du mit mir nicht glücklich sein? Warum kannst du dich über alles, was ich dir biete, nicht freuen? Ich habe mich lange von dir täuschen lassen. Aber jetzt ist’s genug. Ich weiß jetzt, dass ich dir nichts bedeute. Es ist auch klar, weshalb.« Norbert ging mit schweren Schritten zu der Hausbar und griff blindlings nach einer Flasche. Wie ein Verdurstender setzte er sie hastig an die Lippen.

Es war ein starker englischer Whisky, der ihm gleich darauf durch die Kehle floss. Er brannte höllisch, doch Norbert empfand es als angenehm. Der Alkohol würde ihn die Enttäuschung vergessen lassen, würde seine Qualen lindern.

Inge wankte zu ihm. Die Einrichtung des großen Raumes verschwamm vor ihrem Blick. Trotzdem erreichte sie die Bar. Sie klammerte sich an der Messingstange, die ringsum die Bar lief, fest und sagte mühsam: »Ich habe nie einem anderen gehört, und das soll auch so bleiben. Ich liebe nur dich, möchte nur an deiner Seite leben. Nicht deshalb, weil du berühmt und erfolgreich bist, sondern deshalb, weil ich dich gernhabe, wirklich gern.«

Norbert Hellbach spürte bereits die Wirkung des Alkohols. Er lachte laut und polternd. »Ich habe dir zuliebe darauf verzichtet, an die Mailänder Scala zu gehen. Ich werde auch noch weitere Opfer bringen. Du wirst es erleben!« Erneut setzte er die Flasche an die Lippen. Er schluckte und schluckte. Bald umnebelte der Alkohol seinen Verstand, machte es ihm schwer, klar zu denken, doch den Schmerz in seinem Herzen konnte er nicht betäuben.

*

»Das, was uns Magda kürzlich erzählt hat, steht heute in der Zeitung.« Nick schob Pünktchen heimlich das Blatt zu.

»Findest du es nicht merkwürdig, dass man erst jetzt darüber schreibt?« Pünktchen schüttelte das lange blonde Haar zurück.

»Vielleicht wollte man die polizeilichen Untersuchungen nicht gefährden.«

»Hier steht, dass man das kleine Mädchen noch immer nicht gefunden hat«, Pünktchen wies auf den Zeitungsbericht.

»Vielleicht sollten wir uns in der Umgebung von Bachenau einmal umsehen.«

Pünktchen machte ein erschrockenes Gesicht. »Aber Magda hat uns doch gebeten, nichts zu unternehmen. Und Frau Rennert wäre es auch nicht recht, das weiß ich.«

»Wir brauchen es ja nicht unbedingt zu sagen«, meinte Nick, den wieder einmal das Jagdfieber gepackt hatte. »Wir gehen einfach Blumen pflücken. Das fällt keinem auf.«

»Nur wir beide?«, flüsterte Pünktchen und sah sich ängstlich um.

»Nein. Es können alle mitkommen. Je mehr, desto besser.«

»Was flüstert ihr denn?«, erkundigte sich Fabian, ein blasser, schmaler Junge, der seine Eltern durch ein Zugunglück verloren hatte und seitdem in Sophienlust lebte.

»Wir haben gerade überlegt, wo die schönsten Vergissmeinnicht blühen.«

»Glaube ich nicht.« Fabian schüttelte den Kopf.

»Na gut. Dann lies das mal. Wir wollen uns in der Umgebung von Bachenau ein bisschen umsehen. Machst du mit?«

»Was denkt ihr denn!« Fabian strahlte.

»Ich weiß nicht, ob das alles noch Sinn hat nach so langer Zeit.« Pünktchen schüttelte den Kopf.

»Was ist schon eine Woche? Jedenfalls kann man es versuchen.«

Im großen Aufenthaltsraum von Sophienlust steckten jetzt immer mehr Kinder die Köpfe zusammen und tuschelten. Natürlich waren sie von Nicks Idee alle hellauf begeistert.

»Wir nehmen Barri mit«, schlug Angelika vor.

»Und ich sage rasch Frau Rennert Bescheid.« Nick rannte bereits davon.

»Blumen pflücken?«, wiederholte die mütterliche Heimleiterin und war kein bisschen erstaunt darüber. Es kam oft vor, dass die größeren Kinder von Sophienlust allein kleine Ausflüge machten. Es war dabei noch nie etwas passiert. Die Kinder kannten sich gut aus, waren mit den Gefahren der Natur vertraut. Man konnte unbesorgt sein. »Das würde den Kleinen auch Spaß machen. Nehmt sie doch mit.«

Das passte nun Nick wieder nicht. Doch er hütete sich, das verlauten zu lassen. »Na gut. Aber dann brauchen wir länger, bis wir wieder zurück sind.«

»Das ist nicht schlimm. Das Wetter ist ja heute so schön.« Frau Rennert nickte zufrieden.

»Okay!« Nick lief zu seinen Kameraden zurück. »Alle Hausaufgaben fertig?«, rief er.

»Ja!«, schallte es laut von allen Seiten.

Wenig später rannten die Kinder von Sophienlust über die frühlingsfrischen Wiesen. Ab und zu blieben sie stehen, um besonders schöne Blumen zu pflücken. Nur Nick sah die zarten Frühlingsboten überhaupt nicht. Er blickte stur zu Boden, inspizierte argwöhnisch jeden Strauch, jede Hecke. Doch nirgends war die Spur eines kleinen Mädchens zu entdecken. Alles war wie immer.

Pünktchen führte den Bernhardiner Barri an der Leine. Das schöne Tier, das Kinder besonders liebte, lief schwanzwedelnd neben dem Mädchen her.

»Such, Barri, such!«, ermunterte Pünktchen den Vierbeiner immer wieder.

»So ’n Quatsch«, maulte Angelika, »was soll Barri denn suchen?«

»Weiß ich ja selbst nicht. Nick meint, man könnte vielleicht eine Haarschleife oder eine Spange oder ein Taschentuch finden.«

»So dumm kann nur ein Junge sein.« Angelika tippte sich unmissverständlich an die Stirn. »Kennst du ein Mädchen, das Haarschleifen trägt? Das ist doch wirklich altmodisch.«

Pünktchen zog die Schultern hoch. »Kann ja sein. Trotzdem suchen wir.«

»Aber wir finden nichts. Das weiß ich jetzt schon.« Angelika blieb stehen, um ihren Blumenstrauß zu vergrößern.

Irmela führte den kleinen Uwe an der Hand. An ihrer anderen Seite ging Heidi, ein hübsches kleines Mädchen mit blonden Rattenschwänzchen und großen blauen Augen.

»Macht doch nicht so schnell. Wir kommen ja nicht mit«, bat Irmela.

Nick blieb stehen, wandte sich um. »Wenn Uwe müde ist, trage ich ihn«, erbot er sich.

»Darf ich auch auf deinen Schultern reiten?«, erkundigte sich die kleine Heidi und streckte verlangend die Händchen hoch.

»Warum nicht?« Bereitwillig ließ Nick die Kleine aufsteigen.

Suchend trabte die lustige Schar über die Wiesen, näherte sich immer mehr dem Ortsrand von Bachenau.

»Schau nur die vielen Blümchen!« Heidi deutete auf den Rand eines munter plätschernden Bächleins und zappelte aus Leibeskräften.

»Die möchtest du natürlich pflücken.« Nick ließ die Kleine von ihrem luftigen Sitz gleiten und stellte sie ins Gras.

Auch Uwe riss sich von Irmelas Hand los und rannte zum Bach. Er bückte sich und patschte mit seinen noch etwas ungeschickten Händchen ins Wasser, sodass es hoch aufspritzte.

»Pass auf, dass du nicht hineinfällst«, mahnte Nick besorgt. Das Wasser des Bächleins war zwar kaum zwanzig Zentimeter tief, dafür aber eiskalt.

»Nick, Nick!«, kreischte der Kleine plötzlich aufgeregt. Er legte sich flach aufs Bäuchlein und zog zwischen den Steinen einen kleinen bunten Gegenstand hervor.

»Was hast du denn?« Der große Junge kniete sich neben Uwe ins Gras. Stirnrunzelnd nahm er dem Kleinen eine klatschnasse Stoffpuppe ab. »Muss schon eine Weile im Wasser liegen«, meinte er, während er das glitschige Ding nach allen Seiten drehte.

»Glaubst du, sie hat dem kleinen Mädchen gehört, das verschwunden ist?« Sofort war Pünktchen an der Seite ihres Freundes. Ihre blauen Kinderaugen glänzten lebhaft.

»Woher soll ich das wissen?« Nick wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

»Auf jeden Fall kann man es feststellen. Es ist selbstgenäht, das Püppchen.« Pünktchen nahm den Fund, der kaum größer war als eine ausgestreckte Hand, hoch. Die übrigen Kinder bildeten einen Halbkreis um sie und neigten sich neugierig vor.

»Kann ja jemand hier verloren haben.« Irmela legte den Kopf schief und beobachtete aufmerksam die kleine Heidi, die am Rand des Bächleins Blumen suchte.

»Kann aber auch angeschwemmt worden sein. Vor einigen Tagen hat es sehr geregnet. Da führte der kleine Bach ordentlich Wasser.« Nick untersuchte das Püppchen eingehend. Es trug ein buntes Kleid, Strümpfe und einen Schuh aus Filz.

»Du glaubst, dass die Puppe im Dorf ins Wasser gefallen ist?« Angelika drängte sich nun vor.

»Möglich.« Unschlüssig zuckte Nick die Schultern.

»Ich würde sie zu Polizeimeister Kirsch bringen«, schlug Fabian vor.

»Ach, der weiß doch auch nichts«, mischte sich Vicky ein.

»Aber er kann die Eltern fragen. Derjenige, der das Püppchen genäht hat, erkennt es ganz bestimmt wieder.« Pünktchen sah triumphierend zu Nick auf.

»Glaubst du, dass Herr Kirsch dann etwas damit anfangen kann? Dass er das kleine Mädchen dann findet?«

»Ich weiß nicht. Eine große Hilfe ist es bestimmt nicht.« Nick überließ dem kleinen Uwe den Fund. Der Kleine hatte schon mehrmals bittend die Händchen zusammengeschlagen.

Barri, der jetzt nicht mehr beachtet wurde, setzte sich ans Wasser und hielt nach Forellen Ausschau. Jedes Mal, wenn einer der flinken Fische vorüberhuschte, stieß er ein langgezogenes Jaulen aus. Nur zu gut wusste er, dass er diese Leckerbissen nie erwischen würde. Trotzdem wurde er nicht müde, sie zu beobachten.

»Glaubst du, wir bekommen eine Belohnung, wenn wir mithelfen, die Kleine zu finden?«, tuschelte Fabian einem rothaarigen, pausbäckigen Jungen ins Ohr.

Dieser klopfte sich voll Stolz an die Brust. »Zumindest kommen wir in die Zeitung. Was glaubst du, wie die anderen in der Schule staunen werden!«

»Freut euch nur nicht zu früh«, mahnte Irmela, die das Gespräch belauscht hatte. »Zunächst steht noch gar nicht fest, ob dieses Püppchen überhaupt etwas mit dem Fall zu tun hat, und außerdem hat Uwe es gefunden.«

»Ich glaube, ich laufe rasch zum Polizeirevier hinüber. Wenn ihr langsam zurückgeht, hole ich euch wieder ein.« Vorsichtig nahm Nick dem kleinen Uwe das Spielzeug ab.

Der Kleine gab es nur ungern her. Doch als Pünktchen ihm einen großen krabbelnden Käfer auf die Hand setzte, ließ er sich sofort ablenken. Kichernd ließ er das dunkle Tierchen über seine Finger spazieren.

Wieder einmal war Uwe Mittelpunkt. Und keines der Kinder machte ihm dieses Vorrecht streitig. Denn alle hatten den drolligen kleinen Kerl gern.

*

Die dunklen Augen Norbert Hellbachs flackerten unruhig. Auf seinen sonst so bleichen Wangen brannte eine hektische Röte. Seine Stimme klang anders als sonst.

»Ich habe Herrn Gentsch in deinem Interesse eingeladen«, sagte er, nachdem er Inge einen sportlichen jungen Mann mit modisch langem blondem Haar und blitzenden blauen Augen vorgestellt hatte.

Inge sah ihren Mann verständnislos an. Natürlich hatte sie bemerkt, dass er sich in den letzten Tagen sehr merkwürdig benommen hatte. Er hatte kaum am Flügel gesessen, sondern war stundenlang in dem großen Wohnraum auf und ab gegangen, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Inge hatte jedoch nicht die Kraft gehabt, das Verhalten ihres Mannes zu beeinflussen. Sie fühlte sich wie eine Gefangene in einem kostbaren goldenen Käfig. Manchmal war sie fest überzeugt, die Bevormundung nicht länger ertragen zu können. Doch die Liebe zu Norbert ließ sie immer wieder ausharren. Schon oft hatte sie sich vorgenommen, stillschweigend die schöne Ferienwohnung zu verlassen, um nach Sophienlust zu fahren. Doch dann hatte sie es doch nicht übers Herz gebracht. Sie konnte Norbert einfach nicht so wehtun.

»Ich hatte doch gesagt, dass ich bereit bin, jedes Opfer für dich zu bringen. Das will ich damit unter Beweis stellen.« Norbert Hellbach gab sich ruhig und gelassen. Doch das war er keineswegs.

Inges hübsches Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Ich weiß nicht, wie du das meinst«, erwiderte sie unsicher.

»Das kannst du auch nicht wissen.« Norbert sah stolz auf den jungen Mann, der ein bisschen verlegen die Hände hinter seinem Rücken verschränkte. Die Begegnung schien ihm nicht angenehm zu sein. Doch er war höflich genug, sein Missbehagen hinter einem verbindlichen Lächeln zu verbergen.

»Christian Gentsch ist Medizinstudent und mit materiellen Gütern nicht gerade gesegnet. Um sich ein paar Euro dazuzuverdienen, hat er sich in die Dienste einer Samenbank gestellt.«

Jetzt ahnte Inge die Zusammenhänge. Ein jähes Erschrecken ließ ihren schlanken Körper zusammenzucken. Ihre Lippen bebten, ihre Hände zupften nervös am Gürtel ihres hellen Jerseykleides.

»Du brauchst also nicht länger zu grübeln, kannst dir weitere sehnsüchtige Gedanken ersparen. Er ist Uwes Vater.«

Inge war es, als hätte sie einen brutalen Schlag ins Gesicht bekommen. Sie taumelte zurück, presste erschrocken beide Hände auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Wo… woher weißt du das?«, stammelte sie und fühlte, wie das Blut in ihren Ohren brauste.

»Seine Anschrift zu erfahren, war verhältnismäßig einfach. Du weißt doch, dass Dr. Gerlitz, der damals die Samenübertragung vorgenommen hat, mein Freund ist. Wir machten gemeinsam das Abitur. Er war auch dabei, als jenes fürchterliche Motorradunglück geschah, bei dem ich so schwer verletzt wurde. Ich war kürzlich bei ihm. Und als er abgerufen wurde, habe ich mich in seiner Kartei umgesehen. Es waren verschlüsselte Angaben, aber es war nicht sehr schwierig, die Lösung zu finden. Und wie du siehst, war ich erfolgreich.« Norbert reckte stolz den Kopf.

»Das hättest du nicht tun dürfen«, flüsterte Inge entsetzt. »Das ist Vertrauensmissbrauch.«

»Wer wird denn so kleinlich sein, für mich war es eine Notwendigkeit. Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie du dich quälst.«

»Du hast mich nie verstanden«, erwiderte Inge aufgebracht. Die Begegnung war ihr unsagbar peinlich. Sie schämte sich vor dem jungen Mann, der gegen seinen Willen in die Sache hineingezogen wurde. »Ich habe dir immer wieder gesagt, dass es mir nur um das Kind geht.«

Norbert lachte ironisch. »Ich weiß, dass du nie zugeben wirst, dass dich die Sehnsucht nach dem Vater fast umgebracht hat. Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, dass du nachts stundenlang geweint hast. Ich konnte das nicht länger ertragen.«

»Ich habe nie gedacht, dass du so gemein sein könntest. So rücksichtslos und so gemein.« Inge zitterte vor Erregung am ganzen Körper. Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern.

Umso selbstsicherer erschien Norbert Hellbach. »Ich gebe dir die Möglichkeit, dich frei zu entscheiden. Und ich weiß nicht, was daran schlecht sein soll. Herr Gentsch wird einige Tage bei uns bleiben. Du hast also die Möglichkeit, ihn kennenzulernen, ihn mit mir zu vergleichen. Ich bin gespannt, auf wen deine Wahl fallen wird.«

»Mein Gott, wie kannst du mir das nur antun?«, wisperte Inge in unsagbarer Qual. »Ich habe doch keinen Augenblick an einen anderen Mann gedacht. Wir beide sind verheiratet. Hast du das denn vergessen?«

»Man wird unsere Ehe unter den gegebenen Umständen ohne Schwierigkeiten scheiden«, meinte Norbert scheinbar unbeteiligt. In Wirklichkeit brachten ihn Hass und Neid fast um den Verstand. Dieser junge Mann, den er ausfindig gemacht hatte, war fast mittellos. Doch er besaß andere Fähigkeiten, und das brachte ihn an den Rand der Verzweiflung. Er war Uwes Vater, war ohne sein direktes Dazutun zum wichtigsten Mann in Inges Leben geworden.

»Das will ich aber nicht!« Inges Atem ging rasch und laut. Ihr Blick irrte zwischen den beiden Männern hin und her. Warum quälte, warum demütigte Norbert sie so sehr? Empfand er denn nicht die Peinlichkeit dieser Unterredung? Wie konnte er den Rivalen, auf den er so wahnsinnig eifersüchtig war, einladen, einige Tage bei ihnen zu bleiben? Was versprach er sich davon?

»Meine Frau ist viel zu stolz, ihre Liebe zuzugeben«, wandte sich Norbert spöttisch an den jungen Mann, der bis jetzt kein einziges Wort gesagt hatte. Er stand breitbeinig in der Nähe der Tür und sah Inge Hellbach immer wieder verwundert an. Wunderschön war sie in ihrer Erregung. Ihre dunklen Augen schimmerten feucht, auf ihren Wangen brannte ein tiefes Rot.

»Aber ich werde euch natürlich Gelegenheit geben zu einer Aussprache unter vier Augen. Wenn man gemeinsam ein Kind hat, gibt es vieles zu sagen.«

»Nein, Norbert, tu das nicht«, schrie Inge voll Verzweiflung. Sie rang die Hände, warf sich ihrem Mann an den Hals. »Beschwöre nicht noch mehr peinliche Situationen herauf!« Ihre Stimme klang flehend.

Norbert Hellbach befreite sich aus der Umarmung. »Ich will, dass du glücklich bist. Das ist alles. Und ich habe volles Verständnis, wenn du dich für den Vater deines Jungen entscheidest. Mit ihm kannst du weitere Kinder haben, mit mir nicht.« Er drehte sich ruckartig nach dem Besucher um. »Sie sind ein Glückspilz, junger Mann, denn Inge wird sich natürlich für Sie entscheiden. Seit das Kind zur Welt gekommen ist, sehnt sie sich nach Ihnen. Mir gegenüber wird sie es nie zugeben, aber ich weiß es.«

»Es ist nicht wahr!« Inge wand sich, als habe sie schlimme Schmerzen. Ihr Gesicht war verzerrt. »Das, was du als Großzügigkeit tarnen willst, ist doch nur ein Vergnügen für dich! Was habe ich dir getan, dass du mich so furchtbar erniedrigst?« Inges Brust hob und senkte sich in rascher Folge. In diesen Minuten zweifelte sie an Norberts Liebe. An jener Liebe, der sie zuvor so sicher gewesen war.

»Warte es ab. Du wirst mir noch sehr dankbar sein, denn ich ebne dir den Weg in eine glückliche Zukunft.«

»Du siehst alles so falsch, Norbert. Ich will mit dir und mit Uwe glücklich sein. Alles andere interessiert mich nicht.« Die zitternde junge Frau wusste kaum noch, was sie tat. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, zerzauste mit gespreizten Fingern ihr glänzendes blondes Haar.

»Ich habe lange genug Zeit gehabt, mir Klarheit zu verschaffen«, höhnte Norbert. »Seit zweieinhalb Jahren bin ich nur ein lächerlicher Ersatz für dich. Wenn ich dich in den Armen halte, denkst du an ihn, an Uwes Vater!« Er machte eine weit ausholende Bewegung. Fast sah es aus, als wollte er Inge schlagen.

Die junge Frau zuckte erschrocken zusammen. Sie warf den Kopf zurück und kreischte laut: »Nein! Nein! Du weißt genau, dass das alles nicht wahr ist. Du weißt, dass du lügst!« Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, Tränen rannen über ihre Wangen. Sie konnte sich nicht länger beherrschen. Sie schrie schrill und laut, voll Not und Pein. Fast tierische Laute waren es, die über ihre Lippen kamen. Ihre Glieder bebten.

Norbert Hellbach tat nichts, um seine Frau zu beruhigen. »Statt mir dankbar zu sein, machst du so ein Theater«, beklagte er sich.

Inge hörte es überhaupt nicht. Ihr war, als müsste sie wahnsinnig werden, ersticken in einer Flut von Gemeinheit und Misstrauen. Ihr Verstand schien auszusetzen. Sie handelte nur noch mechanisch. Unaufhörlich drangen schrille Schreie aus ihrem Mund. Es war, als könnte sie nicht mehr damit aufhören. Schweißtropfen traten auf ihre Stirn, Schweiß lief ihr über den Rücken.

Plötzlich wusste sie, dass sie den Anblick der beiden Männer keine Sekunde länger ertragen konnte. Sie rannte aus dem großen Wohnraum, stürzte wie blind durch die geräumige Diele. Fort, nur fort, schrie es in ihr.

Ihre Füße waren schwach und zittrig, trotzdem rannte sie wie gehetzt weiter. Sie erreichte den Fahrstuhl, war froh, niemanden darin anzutreffen.

Im Swimmingpool im hinteren Teil des Gartens wurde gelärmt und fröhlich gelacht. Inge lief noch schneller. Sie mochte keine Menschen sehen, keine Stimmen hören. Man hatte ihr wehgetan, hatte ihre Gefühle in den Schmutz gezogen. Nach all dem Kummer der letzten Wochen war das mehr, als sie ertragen konnte. Ihre Nerven versagten. Laut weinend rannte sie dem Wald zu. Sie wusste gar nicht, wohin sie eigentlich wollte. In ihrer Panik war ihr alles gleichgültig.

*

Vorwurfsvoll sah Christian Gentsch seinen Gastgeber an. »Ich glaube, das war zu viel für sie«, meinte er leise. »Es war wie ein Schock.«

Norbert zuckte gleichgültig die Schultern. Wieder einmal ging er zur Bar, um eine Flasche herauszunehmen und sie an die Lippen zu setzen. »Wollen Sie auch?«, fragte er den jungen Mann lauernd. Zu seinem Ärger musste er feststellen, dass Christian Gentsch fabelhaft aussah, fast wie ein Leinwandheld. Er würde Inge bestimmt gefallen! Wenn sie sich auch jetzt noch ein bisschen dagegen wehrte, würde die Liebe in ihr doch irgendwann die Oberhand gewinnen.

Christian Gentsch überging die Frage des Dirigenten. »Gehen Sie ihr nicht nach?«, erkundigte er sich erstaunt.

»Wozu denn? Das war doch alles nur Theater. Glauben Sie, ich hätte das nicht durchschaut? Immerhin sind wir schon sechs Jahre verheiratet. In dieser Zeit lernt man einander kennen. Ja, Inge ist schon achtundzwanzig. Das hätten Sie nicht gedacht, nicht wahr? Sie sieht bedeutend jünger aus.«

»Mein Gott, in dieser Verfassung können Sie Ihre Frau doch nicht allein lassen. Sie kann sich etwas antun.« Christian hätte den Dirigenten am liebsten unsanft geschüttelt.

Doch Norbert ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wieder setzte er die Flasche an, nahm einen kräftigen Schluck. Gleich darauf füllte er ein Glas, schob es Christian Gentsch zu. »Trinken Sie!«, befahl er barsch.

»Wenn ich geahnt hätte, dass mein Auftauchen solche Probleme auslöst, wäre ich natürlich nicht gekommen«, erklärte der junge Mann mit sympathisch klingender Stimme. »Ich war der Ansicht, dass es Schwierigkeiten wegen des Kindes gibt. Da wollte ich mich nicht vor der Verantwortung drücken, obwohl sie wahrscheinlich nur indirekt besteht.«

»Natürlich geht es um das Kind«, stieß Norbert böse hervor. »Ihr Kind! Zuerst habe ich geglaubt, ich könnte Uwe als meinen Sohn anerkennen. Ich habe mir große Mühe gegeben, das dürfen Sie mir glauben. Solange der Junge ein Baby war, ging es ja auch. Aber als er laufen lernte, als er überall bewundert wurde, konnte ich seinen Anblick nicht mehr ertragen. Es war eine schlimme Zeit für mich. Ruhig lebe ich erst wieder, seit Uwe in diesem Heim ist.«

»Und was kann ich tun?« Christian schüttelte verärgert den Kopf. Manchmal hatte er den Eindruck, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Waren denn alle Künstler so? »Ich bin Student, habe nicht einmal eine eigene Wohnung. Ich kann weder ein Kind zu mir nehmen noch eine Familie gründen. Es dauert noch mehr als zwei Jahre, bis ich meinen Doktor machen kann. Erst dann kann ich als Assistenzarzt etwas verdienen.«

»Dann werde ich Ihnen eben einen Kredit einräumen.« Immer wieder versuchte Norbert, den bitteren Geschmack in seinem Mund mit Whisky hinunterzuspülen. Doch es gelang ihm nicht.

»Das werden Sie tausendmal bereuen!« Christian Gentsch rührte das Glas, das Norbert vor ihn hingestellt hatte, nicht an. Er machte sich nichts aus Alkohol. Ein klarer Kopf war ihm lieber.

Ruckartig setzte der Dirigent die Flasche ab. »Stimmt genau. Ich will Inge nicht verlieren. Aber ich möchte endlich Klarheit haben. Ich möchte wissen, dass sie mich und keinen anderen liebt.«

»So etwas von Unvernunft gibt es wahrscheinlich nur einmal«, brummte der Student ärgerlich. »Sie spielen mit dem Feuer und wundern sich, wenn Sie sich dabei die Finger verbrennen. Eigentlich ist es sehr erstaunlich, dass Ihre Frau Ihnen nicht längst davongelaufen ist. So, wie Sie sie behandeln!«

»Was wissen Sie eigentlich davon?« Norbert Hellbachs Gesicht kam bedrohlich näher. »Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles für Inge tue. Sehen Sie sich ihre Kleiderschränke an, ihre Schmuckkästen. Erst dann können Sie sich ein Urteil bilden.«

Der Atem des Dirigenten roch nach Alkohol. Angewidert wich Christian Gentsch zurück. »Wahrscheinlich haben auch Sie schon einmal gehört, dass es außer materiellen Gütern noch etwas anderes gibt, was Menschen verbindet, Liebe und Verständnis!«

Maßloses Erstaunen zeichnete sich auf Norberts Gesicht ab. »Habe ich meine Großzügigkeit nicht zur Genüge bewiesen? Ich hatte nichts dagegen, dass Inge das Kind eines anderen zur Welt bringt. Kann man noch mehr von mir verlangen? Und jetzt …, jetzt liefere ich ihr sogar den Vater. Ist das kein Beweis meiner Liebe?« Er schrie jetzt.

»Eine Quälerei ist es. Das haben Sie doch hoffentlich inzwischen eingesehen! Ihre Frau braucht Sie. Es ist Ihre Pflicht, sich jetzt um sie zu kümmern«, drängte der blonde Hüne.

»Und wer kümmert sich um mich? Glaubt ihr denn, es ist einfach für mich zusehen zu müssen, wie mir ein anderer die Frau wegnimmt?«

»Ich will Ihnen Inge nicht wegnehmen. Ich bin nur hier, weil Sie es von mir verlangt haben.«

»Inge!«, höhnte Norbert Hellbach. »Sie nennen meine Frau also bereits Inge. So weit ist es schon! Sie gefällt Ihnen, nicht wahr? Obwohl sie für eine Studentenbraut ein bisschen zu alt ist.«

»Darum geht es doch überhaupt nicht«, stöhnte Christian Gentsch. »Sie müssen nach Ihrer Frau sehen!«

»Ich denke gar nicht daran. Wenn sie wegläuft, ist das ihre Sache.«

»Dann gehe ich ihr nach.«

»Das könnte Ihnen so passen. Das wäre natürlich die Gelegenheit, das weinende Mädchen in die Arme zu nehmen. Doch so leicht mache ich es euch nicht. Sie bleiben hier!«

»Das wäre unverantwortlich. Ihrer Frau könnte etwas zustoßen.«

Norbert Hellbach lachte polternd. »Aber doch nicht hier! Nicht zu einer Zeit, da alle Wege von Kurgästen überschwemmt sind. Man ist hier nirgends allein. Wenn Inge wirklich Hilfe braucht, ist bestimmt jemand zur Stelle, der einspringen kann.«

»Ich begreife Ihre Gleichgültigkeit nicht.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Wenn man ein charmantes Abenteuer wittert, ist man alles andere als ruhig.«

Norbert Hellbach lachte böse. Ihm war, als reiße er sich selbst in Stücke. Da war einerseits seine Liebe zu Inge, andererseits das Misstrauen und die Eifersucht, die ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ließen. Er hatte gehofft, dass alles gut werden würde, sobald Inge den Vater ihres Kindes kennen und dann trotzdem bei ihm, Norbert, bleiben würde. Doch Inges Reaktion war ganz anders gewesen, als er sich vorgestellt hatte. Da war kein bisschen Selbstsicherheit, kein klares, überlegenes Nein für den Studenten gewesen. Zeigte ihre überspannte Nervosität denn nicht, dass er tatsächlich ihre geheimsten Wünsche ans Licht gezerrt hatte?

»Ich glaube nicht, dass einer von uns zu Abenteuern aufgelegt ist«, meinte Christian Gentsch sachlich. »Und wenn ich jetzt nach Ihrer Frau sehe, dann nicht, um ein Verhältnis anzuknüpfen, sondern deshalb, weil ich es für meine Pflicht halte.«

Der Student würdigte den Mann an der Bar keines Blickes mehr. Mit raschen Schritten verließ er die Ferienwohnung.

Hinter ihm polterte Norbert Hellbach. Er warf ein Glas gegen die Wand, doch das störte Christian nicht. Er hatte Mitleid mit der jungen hübschen Frau, die von ihrem Mann so herzlos behandelt wurde. Irgendwie hatte sie den Beschützer in ihm geweckt. Er würde sich nicht aufdrängen. Doch wenn er ihr helfen konnte, würde er keine Sekunde zögern.

Während der Lift leise surrend ins Erdgeschoss glitt, überlegte Christian, wie sonderbar das Schicksal oft war. Inge Hellbach und er hatten einen kleinen Sohn, obwohl sie einander vor einer Stunde noch gar nicht gekannt hatten. Aber dieser Gedanke war ihm durchaus nicht unangenehm.

*

Unschlüssig sah sich Christian Gentsch um. In welche Richtung sollte er gehen? Er war schon mindestens zwei Kilometer weit gelaufen, immer bergan. Zahlreiche Gruppen von Spaziergängern hatte er getroffen. Niemand hatte Inge Hellbach gesehen. Ob sie durch den Wald gelaufen war? Oder ob sie eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte?

Christian hastete weiter, sah sich ständig nach allen Seiten um. Doch er hatte keinen Blick für die Schönheit des Waldes. Die schlanken Tannen mit ihren hellgrünen Spitzen, die zarten Gebilde der Farne und die verborgen blühenden Heidelbeerstauden sah er überhaupt nicht. Er nahm das Trillern der Waldvögel nicht wahr und bemerkte nicht den frischen, herben Duft von jungem Grün und dunkler Walderde. Pfeifend ging sein Atem. Vom raschen Laufen klopfte sein Herz hart und schmerzhaft. Schweißnass klebte das T-Shirt an seinem Rücken.

Erleichtert stellte er fest, dass hier herauf nur wenige Urlauber kamen. Der Weg war ihnen wohl zu beschwerlich. Christian legte die Hände an den Mund und rief laut und schallend: »Inge!«, und immer wieder »Inge!«

Natürlich wusste er, dass er kein Recht zu dieser Anrede hatte. Aber war das in dieser Situation überhaupt wichtig? Vielleicht lag Frau Hellbach irgendwo allein und hilflos im Wald. Vielleicht war sie gestürzt, hatte sich ernsthaft verletzt.

Schreckliche Vorstellungen quälten Christian. Irgendwie fühlte er sich schuldig an der ganzen Sache. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er nicht hierhergekommen wäre. Doch dann hätte er auch nicht die Möglichkeit gehabt, Inge Hellbach beizustehen, ihr nach Kräften zu helfen.

So weit Christian sehen konnte, war im Wald alles still und friedlich. Es bewegte sich kaum ein Ästchen im Wind. Nur das Murmeln einer Quelle war zu hören.

Vielleicht bin ich in die falsche Richtung gegangen, überlegte der junge Mann. Vielleicht sollte ich umkehren, sollte auf der gegenüberliegenden Seite des Tales mein Glück versuchen.

Doch dann ging er trotzdem weiter. Er zweigte vom Weg ab, stieg über eine Geröllhalde zu einer kleinen Anhöhe empor. Von dort oben hatte man einen wundervollen Blick über die ganze Gegend, doch Christian sah nichts davon. Seine Augen suchten das weite Gelände nach einer schlanken blonden Frau ab. Würde er sie finden? Würde er ihr sagen können, dass sie nicht allein war, dass er zu ihr hielt?

Christian stieg weiter bergan, erreichte eine Schutzhütte. Die roh zusammengezimmerten Stämme waren schon etwas verwittert. An der verrußten Feuerstelle lagen einige angebrannte Holzstücke.

Rasch wollte der junge Mann weitergehen, als er ein leises Wimmern hörte. Es klang wie das ängstliche Weinen eines Kindes. Vorsichtig trat Christian in das Innere der Blockhütte. Es war dunkel darin. Er brauchte einige Sekunden, ehe seine Augen etwas zu erkennen vermochten.

In einer Ecke kauerte eine Gestalt auf dem schmutzigen Erdboden. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Krampfartiges Schluchzen schüttelten den zarten Körper.

»Inge!« Erschüttert trat Christian näher. Er kniete neben der jungen Frau nieder, die ihn jedoch überhaupt nicht zu bemerken schien. Ihre Haltung veränderte sich nicht.

Sanft legte der junge Mann den Arm um die zitternde Gestalt. Er zog mit leisem Druck ihre Hände herunter und erschrak. Inge Hellbachs Körper glühte im Fieber. Ihre Augen waren verschwollen, ihr Blick war irr.

»Mein Gott, Sie dürfen nicht hierbleiben. Ich werde Sie in die Klinik bringen. Sie sind krank!«

Inge schien die beruhigende Stimme nicht wahrzunehmen. Sie weinte unaufhörlich, krümmte sich wie ein Wurm. Speichel floss ihr aus dem Mund, das blonde Haar hing wirr um ihren Kopf. Die hübsche junge Frau bot einen schrecklichen Anblick.

Christian fasste nach dem Puls. Er raste. Würde das Herz dieser Belastung überhaupt gewachsen sein? Angst erfasste den jungen Mann. Er musste handeln, und zwar möglichst rasch.

Doch was konnte er tun? Hier oben in der Einsamkeit des Waldes gab es kein Telefon. Er konnte kein Taxi rufen, keinen Arzt um Hilfe bitten. Er war ganz allein auf sich selbst angewiesen.

Christian Gentsch spürte erst jetzt die Strapazen des mühevollen Aufstieges. Seine Füße schmerzten, seine Glieder waren schwer wie Blei. Trotzdem würde er sofort den Rückweg antreten müssen. Aber nicht allein. Er würde Inge Hellbach auf seinen Armen ins Tal hinunterbringen, würde dafür sorgen, dass sie in ärztliche Behandlung kam.

»Ganz ruhig sein, es wird schon wieder alles gut«, murmelte er, während er die Kranke vom Boden aufhob. Sie war nicht schwer, aber sie wehrte sich gegen das Wegbringen. Deshalb keuchte Christian vor Anstrengung. So liebevoll und beruhigend er auch auf Inge einredete, sie hörte es nicht. Es war, als lebe sie in einem Wahn des Schreckens und der Angst. Immer wieder schrie sie laut und gellend auf, warf sich mit aller Kraft herum und versuchte auf die Beine zu kommen.

Der Weg war steil, steinig und an vielen Stellen glitschig. Mehr als einmal verlor Christian das Gleichgewicht, drohte zu stürzen. Doch er fing sich immer wieder. Er schwitzte, japste nach Luft, drohte zusammenzubrechen. Und doch schaffte er es, ins Tal zu kommen.

Spaziergänger hatten inzwischen einen Krankenwagen herbeigerufen, der Inge am Waldrand in Empfang nahm. Mit Blaulicht ging es in rasender Fahrt ins Krankenhaus.

Christian Gentsch saß neben der Trage, erschöpft und ausgepumpt. Lieber Gott, hilf ihr, lass sie nicht sterben, flehte er in Gedanken.

*

Das melodische Bimbam der Türglocke schallte laut durch die Ferienwohnung. Norbert Hellbach hörte es, doch er dachte gar nicht daran, seinen Platz an der Bar zu verlassen. Vor ihm stand eine leere Flasche. Seine Augen waren glasig, sein Gesicht aufgedunsen.

Jetzt läutete auch noch das Telefon. Der Dirigent starrte böse hinüber. Dann griff er zu einer neuen Flasche, öffnete den Schraubverschluss und setzte die Flasche an die Lippen.

Das Klingeln wurde unüberhörbar. »Hört auf!«, schrie Norbert Hellbach wütend. »Ich will, dass hier Ruhe herrscht!« Er schleuderte die leere Flasche in Richtung Telefon. Das Geschoss traf nicht, aber trotzdem verstummte der Apparat.

Norbert grinste zufrieden. Auf wackeligen Beinen torkelte er gleich darauf durch den Flur, drückte die Klinke der Wohnungstür herunter. »Sieh an, der junge Vater«, höhnte er, als er Christian Gentsch erblickte.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass man Ihre Frau ins Krankenhaus bringen musste. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Man musste hochwirksame Beruhigungsmittel spritzen. Jetzt schläft sie.«

Natürlich bemerkte der Student sofort, in welchem Zustand der Dirigent war. Sicher erfasste er den Sinn dieser Nachricht überhaupt nicht.

Norberts nächste Worte bewiesen es. »Alles nur Getue«, kreischte er aufgebracht. »Inge will mit Gewalt etwas durchsetzen. Kann sie ja! Ich stehe euch nicht im Wege. Ich bin mit der Scheidung einverstanden.«

Der Dirigent war so laut, dass der Student rasch die Tür schloss und Norbert in den Flur schob. Wieder meldete sich das Telefon.

»Lass es klingeln«, lallte Norbert Hellbach.

»Vielleicht ist es das Krankenhaus.« Christian Gentsch hatte bereits den Hörer in der Hand. Angstvoll presste er ihn ans Ohr. Die Situation war grotesk. Er sorgte sich um eine junge Frau, die er gestern noch gar nicht gekannt hatte. Um die Frau eines anderen. Und dieser andere wusste nichts Besseres zu tun, als sich sinnlos zu betrinken.

Schwankend trat Norbert Hellbach neben den jungen Mann. »Es ist meine Agentur, das weiß ich. Heute Nachmittag ist im Kurhaus ein Konzert. Sicher glaubt man, dass ich es vergessen habe.«

»Man wartet auf Sie«, flüsterte Christian und legte die Hand über die Sprechmuschel.

»Soll man ruhig ohne mich anfangen.«

»Aber Sie haben einen Vertrag. Man wird Sie mit einer Konventionalstrafe belegen.«

»Soll man doch. Es ist mir gleichgültig. Vielleicht dirigiere ich überhaupt nie wieder. Vielleicht zähle ich nur noch die Flaschen.« Er torkelte wieder zur Bar.

»Tut mir leid, aber Herr Hellbach ist krank«, sagte Christian in den Apparat. Es hatte tatsächlich keinen Sinn, dass der Dirigent zu der Veranstaltung ging. Er konnte ja kaum noch stehen.

»Was bin ich?«, schrie Norbert Hellbach und kam sofort zurück. »Krank? Das könnte Ihnen so passen. Ich fühle mich pudelwohl. Das können Sie auch Inge sagen. Ihr albernes Getue hat mich nicht um den Verstand gebracht.«

»Vielleicht können Sie morgen …«

»Nein. Ich laufe ihr nicht nach. Sie hat mich verlassen. Also muss sie schon zurückkommen, wenn sie etwas von mir will.«

Christian Gentsch schüttelte den Kopf. Es hatte tatsächlich keinen Sinn, sich weiter mit Norbert Hellbach zu unterhalten. Dieser Mann wusste nicht mehr, was er sagte. Vielleicht würde er morgen begreifen, wie unmöglich er sich benommen hatte. Morgen, wenn die Zeitungen darüber berichten würden, wie unzuverlässig der große Künstler war.

*

Zaghaft nahm Inge den Strauß zarter Schlüsselblumen entgegen. Er duftete nach Wiese und frischer, würziger Waldluft.

»Selbstgepflückt«, berichtete Christian mit strahlenden blauen Augen.

»Danke.« Inge reichte dem Studenten die Hand. »Man hat mir gesagt, dass Sie mich jeden Tag besucht haben.«

»Das ist doch selbstverständlich.« Christian drückte die schlanken Finger der Kranken. »Sie waren drei Tage lang nicht bei sich. Das Fieber stieg und stieg. Die Ärzte haben sich allerhand Sorgen um Sie gemacht.« Christian war unsagbar froh, dass diese bange Zeit hinter ihm lag.

»Aber Sie müssen doch sicher wieder nach Hause.«

Christian schüttelte lächelnd den Kopf. »Zurzeit sind Semesterferien. Da ist es ganz gleichgültig, wo ich mich aufhalte.« Niemals hätte er zugegeben, dass er Inge zuliebe in die Jugendherberge übersiedelt war. Für wenig Geld bekam er dort ein Bett und warmes Essen.

»Und …, und mein Mann?« Inges Frage war so leise, dass sie kaum zu verstehen war. In ihren Fieberträumen hatte die Kranke ihren Mann oft gesehen, war ihm nahe gewesen. Sie hatte sich mit ihm ausgesprochen, sich mit ihm versöhnt. Erst jetzt wurde ihr klar, dass nichts davon stimmte. Es war nicht Norbert gewesen, der zärtlich ihre Hand gehalten hatte, als sie, geschwächt von den Medikamenten, das erste Mal die Augen aufgeschlagen hatte.

»Er ist stolz wie alle Künstler«, versuchte Christian das Verhalten des Dirigenten zu rechtfertigen. Er hatte Norbert Hellbach in der Zwischenzeit nicht mehr gesehen, aber er hatte vom Hausmeister erfahren, dass der berühmte Mann kaum mehr nüchtern war.

Inge schluckte die Tränen hinunter. Norberts Teilnahmslosigkeit tat ihr weh. Spürte er denn nicht, dass sie ihn noch immer liebte? Sie liebte ihn trotz allem, was geschehen war.

»Es tut mir leid, dass Sie solche Unannehmlichkeiten unseretwegen hatten«, flüsterte Inge und wurde ein bisschen rot. »Ich schäme mich.«

»Aber davon kann doch keine Rede sein. Ich bin froh, dass wir einander kennengelernt haben. Sie sind ein Mensch, wie man ihn selten trifft. Ich bewundere Sie, Inge.« Zärtlichkeit schwang in Christians Worten mit. In jenen stillen Stunden, da er am Bett der Schwerkranken gesessen hatte, war ihm bewusst geworden, dass er Inge Hellbach liebte.

»Wir hätten nie voneinander erfahren dürfen.« Inge war es, als spüre sie einen Strick um ihren Hals, der sich immer enger zusammenzog. »Was soll nun werden? Gibt es überhaupt eine Lösung?«

Christian lächelte nachsichtig. »Bitte, machen Sie sich keine Gedanken. Es wird alles gut werden, glauben Sie mir. Sobald Sie gesund sind holen wir Uwe ab. Der Kleine gehört zu Ihnen, zu uns. Schließlich ist er unser Kind.« Die letzten Worte sprach Christian sehr leise. Ihm war ganz feierlich zumute. Seit zweieinhalb Jahren hatte er einen Sohn. Einen Jungen, den er nie gesehen hatte, dessen Mutter er zuvor nie begegnet war.

Inge schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatte nicht die Kraft, all die Bedenken vorzubringen, die ihr durch den Kopf gingen. Sie stand zwischen zwei Menschen, die sie beide von Herzen liebte. Zwischen Norbert, ihrem Mann, und Uwe, ihrem Söhnchen. Wie sollte sie sich entscheiden? Wie schön, wie einfach wäre alles gewesen, wenn sie hätten miteinander leben können. Doch das war wohl unmöglich geworden. Norberts Eifersucht würde sich nie mehr unterdrücken lassen. Sie war wie ein vernichtendes Feuer, das ihn selbst zerstörte.

»Erzählen Sie mir ein bisschen von ihm«, bat Christian Gentsch leise. In der vergangenen Nacht hatte er nur wenig geschlafen. Lange hatte er hin und her überlegt und war zu dem Schluss gekommen, dass er sein Studium aufgeben musste. Inge und dem Kind zuliebe. Die beiden waren wichtiger als alles andere. Für sie würde er gern jede Arbeit annehmen.

Nur zu gern kam Inge dieser Aufforderung nach. Wie jede Mutter war sie stolz auf ihr Kind. Doch sie hatte das bisher nie zeigen dürfen. Norbert gegenüber hatte sie Gleichgültigkeit geheuchelt, hatte den Jungen in Gesprächen nie erwähnt. Wie gut tat es ihr nun, endlich einen interessierten Zuhörer zu haben, endlich von dem sprechen zu dürfen, was ihr Herz am meisten beschäftigte.

»Er ist ein drolliger kleiner Kerl.« Eine sanfte Röte überzog Inges Wangen, ließ es frisch und gesund aussehen. »Schon als Baby hatte er eine braune Haut und lustige Löckchen. Wenn er lacht, ist es, als gehe die Sonne auf. Er gewinnt die Herzen aller Menschen im Sturm. Wer ihn sieht, hat ihn gern. Uwes Augen sind wie zwei strahlende Sterne. Er ist immer munter, immer guter Dinge. Ich glaube, ein so zufriedenes Kind gibt es selten. Er hat auch als Säugling kaum geweint. Und seit er laufen kann, ist er rührend darum bemüht, mir zu helfen. Er schleppt meine Tasche, putzt die Schuhe und macht seine dicken Bäckchen heiß und rot.«

»Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören, Inge«, meinte der Student lächelnd. Begeisterung sprach aus seinem Blick. Begeisterung für die hübscheste und charmanteste Mutter, die er je gesehen hatte.

»In meiner Tasche sind Fotos von Uwe. Wenn Sie Interesse daran haben, die Tasche ist im Schrank.« Inge deutete auf das Abteil, das die Schwestern für sie belegt hatten.

»Wie können Sie da noch fragen? Ich brenne darauf, meinen kleinen Sohn kennenzulernen.«

Mit zitternden Fingern reichte Inge dem Studenten die Aufnahmen, die dieser lange und nachdenklich betrachtete. Die Bilder zeigten ein reizendes Kleinkind, das lebhaft und intelligent wirkte.

»Hübsch«, murmelte der junge Mann überwältigt. »Mir ergeht es wie allen Leuten: Ich habe den Kleinen gern, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe. Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal einen so hübschen Sohn haben würde. Doch das hat er bestimmt von der Mama. Die Augen zum Beispiel und das süße kleine Näschen.«

Inge presste fest die Lippen zusammen. Norbert hatte immer behauptet, dass Uwe seinem Vater gleiche. Doch wahrscheinlich hatte er das nur getan, um hervorzuheben, dass weder er noch sie etwas mit dem Kind gemein haben. Damit hatte er Uwe immer mehr aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Und nun gab es darin überhaupt keinen Platz mehr für das Kind. Durfte auch sie, die Mutter, Uwe im Stich lassen? Durfte sie den liebebedürftigen kleinen Kerl der Obhut fremder Menschen anvertrauen? Würde sie das überhaupt fertigbringen? Sie hatte es ja versucht und war gescheitert. Nein, auch ihre Liebe zu Norbert änderte nichts daran, dass sie in erster Linie Mutter war. Uwe war noch so klein, so hilfsbedürftig und so sehr auf Liebe angewiesen. Man durfte ihn nicht einem ungewissen Schicksal überlassen.

Doch das bedeutete gleichzeitig die Trennung von Norbert. Inge erschrak bei diesem Gedanken. Schmerzvoll krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie würde den Mann verlieren, den sie liebte. Aber das Kind würde sie reich dafür entschädigen.

»Ich bin richtig gespannt darauf, ihn kennenzulernen«, meinte Christian voll Begeisterung. Bisher hatte er sich nicht vorstellen können, wie es war, eine eigene Familie zu haben. Jetzt fand er es ganz wunderbar. Das Leben erschien ihm plötzlich sinnvoll und erfüllt.

»Wollen Sie das wirklich?«, fragte die junge Mutter leise. »Wir könnten doch so tun, als sei alles wie vorher. Wir könnten vergessen, dass eine fixe Idee meines Mannes das Geheimnis gelüftet hat.«

»Das ist unmöglich«, antwortete der Student mit rauer Stimme. »Ich kann Sie nie mehr vergessen, Inge. Sie nicht und Uwe nicht.«

»Und was wird Ihre Freundin dazu sagen?« Besorgt forschte Inge in dem hübschen, ein bisschen lausbubenhaften Gesicht des jungen Mannes.

Christian Gentsch schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Es existiert keine Freundin. Bisher gab es für mich nur das Studium, meine Bücher und ein bisschen Sport. Jetzt erst ist mir klar geworden, was ich alles versäumt habe. Sie und Uwe werden mein ganzes Leben ändern.« Seine breite Brust hob und senkte sich in rascher Folge. »Ich habe eine abgeschlossene Lehre als Krankenpfleger. Es wird nicht schwer sein, eine Anstellung zu finden.«

»Und Ihr Studium?«, fragte Inge erschrocken. Ihr wurde klar, dass Christian auf dem besten Weg war, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er war Uwes Vater. Aber trotzdem gab es bis jetzt keine tiefe Bindung zwischen ihnen.

Inge horchte in sich hinein. Nein, sie liebte den jungen Mann nicht. Aber musste sie nicht im Interesse des Kindes handeln? Uwe brauchte nicht nur eine Mutter, er sollte auch einen Vater haben. Ein Vorbild, an dem er sich orientieren konnte, einen guten Kameraden, der mit ihm spielte.

»Mein Studium ist mir nicht mehr so wichtig. Schließlich ist eine Arbeit so gut wie die andere. Und als Krankenpfleger habe ich genauso mit Menschen zu tun wie als Arzt. Es ist kein großer Unterschied.«

»Und doch würden Sie es eines Tages bereuen. Nein, das dürfte ich nicht annehmen. Uwe und ich werden allein bleiben. Irgendwie werden wir uns schon durchschlagen. Ich habe das Dolmetscherexamen. Vielleicht kann ich zu Hause Übersetzungen anfertigen.«

»Nein, Inge. Eine Frau wie Sie sollte sich ganz ihrer Familie widmen können. Nur so wird sie froh und glücklich sein. Und meine Pflicht ist es, dafür zu sorgen.«

»Es besteht Ihrerseits keinerlei Verpflichtung«, widersprach die junge Frau sofort.

»Nicht rechtlich, aber moralisch. Außerdem würde ich das alles nicht als Pflicht, sondern als Vergnügen auffassen. Sie haben mir schon im ersten Augenblick gefallen, Inge. Ich bin mit der Wahl, die das Schicksal für uns getroffen hat, durchaus einverstanden.«

»Aber ich bin verheiratet.« Inges Einwand war schwach und kraftlos.

»Niemand kann von Ihnen verlangen, dass Sie diese Ehe fortführen. Sie ist menschenunwürdig.«

»Aber Norbert liebt mich. Er braucht mich.«

»Und Uwe? Braucht er Sie nicht auch? Er ist ein Kind, noch zu klein, um sich in dieser Welt selbst zurechtzufinden. Er hat ein Recht auf Mutterliebe, und die wollen Sie ihm ja auch geben, Inge. Sonst wäre doch alles nicht so weit gekommen. Wissen Sie, ich bin Ihrem Mann sehr dankbar dafür, dass er mich gerufen hat.«

Die Schwester, die eine Vase für die Schlüsselblumen besorgt hatte, kam zurück. »Frau Hellbach braucht noch viel Ruhe«, mahnte sie leise. »Würden Sie sich bitte verabschieden?«

»Schon?« Christian zog die Augenbrauen hoch. Für ihn war die Zeit in Sekundenschnelle vergangen. »Werden Sie über das, was ich gesagt habe, nachdenken?«, flüsterte er. »Ich komme morgen wieder und freue mich schon darauf.«

»Ich auch«, gab Inge wahrheitsgemäß zurück. Es bedeutete für sie eine große Erleichterung, mit jemandem über alles, besonders aber über das Kind, sprechen zu können.

»Ich habe Sie sehr, sehr gern, kleine Mutti!« Blitzschnell beugte sich Christian hinab und hauchte einen zarten, freundschaftlichen Kuss auf Inges Wange. Dann beeilte er sich, das Krankenzimmer zu verlassen, denn noch stand die strenge Schwester wartend an der Tür. Christian Gentsch war so von Herzen froh, dass er sie am liebsten übermütig im Kreis herumgewirbelt hätte. Er wollte singen, tanzen, pfeifen. Doch in den nüchternen Gängen der Klinik ging das natürlich nicht.

So beschränkte er sich darauf, so rasch wie möglich ins Freie zu kommen. Dort breitete er die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen.

*

Hart trat Christian Gentsch auf die Bremse. Er stellte sein kleines Gefährt in einem Seitenweg ab und blinzelte immer wieder verblüfft hinüber zu dem großen schlossartigen Gebäude, das mitten in einem gepflegten Park lag. Groß und deutlich stand »Kinderheim Sophienlust« auf dem lustigen holzgeschnitzten Schild neben dem hohen schmiedeeisernen Parktor.

Ein Kinderheim hatte sich Christian viel bescheidener, viel weniger vornehm vorgestellt. Wie versnobt mochte wohl die Verwaltung dieses eindrucksvollen Hauses sein? Christian war sehr zuversichtlich hierhergekommen. Doch nun wurde ihm bewusst, dass sein Anliegen recht merkwürdig war. Er wollte den kleinen Uwe kennenlernen, wollte sich als dessen Vater vorstellen. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er dazu keinerlei Legitimation besaß. Man würde ihm den Zutritt verwehren, würde ihm wie einem Bettler die Tür weisen.

Christian steckte die Hände in die Taschen seiner engen Jeans und schlenderte leise pfeifend über die Straße. Durch den Gitterzaun sah er auf die weiten Rasenflächen von Sophienlust. Die Fontäne eines Springbrunnens glitzerte im Sonnenlicht. Frohes Kinderlachen schallte vom Pavillon herüber. Dort rannte eine Schar kleiner Kinder munter durcheinander.

Die Augenschlitze des jungen Mannes verengten sich. War Uwe unter den Kleinen, die dort übermütig Fangen spielten? Unwillkürlich ging der junge Mann näher, blieb aber immer außerhalb des Zaunes. Schließlich konnte er die fröhliche Schar aus nächster Nähe beobachten.

Christian zog ein Foto aus der Brieftasche, das er heimlich behalten hatte. Er verglich das Kind darauf mit einem kleinen dunkelblonden Jungen, der ihm sofort aufgefallen war. Das frische, pausbäckige Gesichtchen war von zerzausten Locken umrahmt, die dunklen Augen sprühten vor Lebensfreude. Immer wieder lachte das Kind silberhell auf. Es wirkte ungemein reizvoll. Aus kurzen himmelblauen Höschen schauten ein paar sonnenbraune stramme Beinchen.

Christian hielt den Atem an. Das war sein Sohn! Es gab keinen Zweifel. Das Kind auf dem Foto und der kleine Wirbelwind, der eben über den Rasen purzelte, waren identisch.

Mit brennenden Augen starrte der junge Mann hinüber. Noch vor einigen Tagen hatte er keine Ahnung von der Existenz des Kleinen gehabt. Doch nun regte sich so etwas wie väterlicher Stolz in ihm. Irgendwie fühlte er sich mit dem Jungen auf eigenartige Weise verbunden. Er wurde nicht müde, die spielenden Kinder zu beobachten. Ganz besondere Aufmerksamkeit schenkte er natürlich dem kleinen Uwe. Keine Bewegung, keine Äußerung des drolligen Kleinen entging ihm. Und je länger er am Zaun stand, umso vertrauter wurde ihm das Kind. Eigentlich hatte er es bereits richtig gern. So gern fast wie Uwes Mutti, Inge Hellbach.

Wenn Christian an die junge Frau dachte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Ein ganzes Leben lang wollte er sie nach Kräften verwöhnen und beschützen. Auf ungewöhnliche Weise war ihre kleine Familie entstanden, doch sie selbst sollte künftig umso glücklicher sein.

»Uwe«, rief Christian leise, als das Kind nahe dem Zaun vorüberrannte.

Der Kleine blieb stehen, schaute neugierig herüber. Seine dunklen Augen musterten den Fremden ohne Furcht.

»Komm einmal zu mir«, lockte Christian und machte eine ulkige Grimasse.

Uwe lachte so fröhlich, wie es nur ein Kleinkind tun kann. Unbefangen trippelte er näher.

»Magst du Bonbons?« Christian streckte die Tüte, die er vorsorglich eingesteckt hatte, durch den Zaun.

»Hm!« Uwes kugelrunde Kinderaugen leuchteten begehrlich auf. Mit beiden Händchen griff er in die Tüte, stopfte sich die Taschen seiner Hose voll.

»Hier, nimm, das ist für deine Kameraden.« Christian drückte dem Kind die Tüte in den Arm.

Jetzt hatte es der Kleine sehr eilig, zu seinen Spielgefährten zurückzukommen. Christian hielt ihn jedoch an der Kleidung fest. »Moment, Uwe. Ich möchte mich gern ein bisschen mit dir unterhalten.« Etwas unsicher sah der junge Mann zum Herrenhaus hinüber. Dort schien man seine Anwesenheit noch nicht bemerkt zu haben. Auch die spielenden Kinder, die zwischen den alten Bäumen umhertollten, schenkten ihm keinerlei Aufmerksamkeit.

»Wer bist du?«, erkundigte sich der Kleine mit schiefgelegtem Köpfchen.

»Jemand, der dich sehr gern hat. Dich und deine Mutti.« Christian hätte seinen kleinen Sohn am liebsten in die Arme geschlossen. Doch durch das Gitter ging das natürlich nicht. Außerdem wollte er das Kind nicht erschrecken.

»Mami?« Uwe verzog das Mündchen. Hier in Sophienlust vermied man es eifrig, von seiner Mutti zu sprechen. Trotzdem hatte Uwe sie natürlich nicht vergessen. Doch die vielen lustigen Spielkameraden, die es hier gab, lenkten ihn ab. »Wo ist Mami?«, fragte er weinerlich.

»Sie ist krank«, berichtete Christian, der in die Knie gegangen war. Offen und frei schaute er dem Kind in die Augen. Er wollte ihm ein guter Vater sein, ein treuer Kamerad. »Aber wenn sie wieder gesund ist, bringe ich sie mit. Das verspreche ich dir, Uwe. Und dann holen wir dich ab.«

»Mami!« Das Kleinkind streckte sehnsüchtig die Arme aus. Wenn es hier in Sophienlust auch vorbildlich versorgt wurde, so blieb doch immer die Sehnsucht nach zwei liebevoll streichelnden Händen, nach jener Zärtlichkeit, die nur eine Mutter schenken kann.

»Du darfst wieder zu ihr, Uwe. Dafür sorge ich. Und dann wird man euch nie mehr trennen. Du gehörst zu uns.«

Der Zweijährige verstand nicht genau, was der Fremde meinte. Nur die Sehnsucht nach der Mutter war in ihm lebendig. Plötzlich kullerten zwei schimmernde Tränchen über die dicken Backen.

»Nicht weinen, mein Schatz«, bat der junge Mann voll Zärtlichkeit. »Wenn ich wiederkomme, bringe ich dir etwas Schönes mit. Was magst du denn? Vielleicht ein hübsches Auto oder einen Teddybären?«

Christian war bereit, seine ganzen Ersparnisse zu opfern. Doch der Kleine ließ sich nicht so einfach trösten. »Mami!«, wiederholte er.

Jetzt wurde nach Uwe gerufen. Ein hübsches blondes Mädchen mit großen blauen Augen sah misstrauisch zum Zaun herüber.

Christian zog es vor, zu seinem Wagen zurückzugehen. Er hätte sich der Heimleiterin vorstellen können und wusste, dass das richtiger gewesen wäre. Doch es fehlte ihm einfach der Mut dazu. Vielleicht war das eine strenge, uneinsichtige Frau, die ihm seine Geschichte nicht glaubte? Dann würde er als Lügner dastehen.

Christian sah an sich hinunter. Nein, sein Aufzug war tatsächlich nicht besonders vertrauenerweckend. Die verwaschenen Jeans, das verblichene T-Shirt und die ausgetretenen Sandalen hätten ebenso gut einem Landstreicher gehören können. In diesem vornehmen Haus würde man kein Verständnis dafür haben, dass ein armer Student, der von staatlichen Zuschüssen lebte, keine großen Sprünge machen konnte.

Noch einmal versuchte Christian, einen Blick des kleinen Uwe zu erhaschen. Doch die übrigen Kinder hatten ihn in die Mitte genommen und liefen mit ihm davon. Bald, tröstete sich der Student in Gedanken, werden wir beisammen sein. Dann werden wir nach Herzenslust spielen und lachen.

Noch nie hatte sich Christian auf etwas so gefreut wie auf diese Zeit, die vor ihm lag. Für Inge wollte er der zärtlichste liebevollste Ehemann sein, damit sie alles Schwere, das hinter ihr lag, vergessen und glücklich sein konnte.

*

Freundlich sah Polizeimeister Kirsch von seinen Unterlagen auf. Er kannte die Kinder, die eben so temperamentvoll ins Revier gestürzt kamen, sehr gut. Nur hatte er sie noch nie so aufgeregt gesehen.

»Wir haben ihn gesehen!«, platzte Pünktchen sofort heraus. Ihr sommersprossiges Gesichtchen war vom raschen Laufen gerötet.

»Wen?«, fragte der Beamte freundlich.

»Den Mann, der das kleine Mädchen aus Bachenau mitgenommen hat«, erklärte Nick wichtig.

»Ihr habt den Mann und das Kind gesehen?« Herr Kirsch zog die buschigen Augenbrauen hoch.

Pünktchen schüttelte den Kopf, dass die langen blonden Haare nur so flogen. »Nein, nur den Kerl. Er wollte sich an Uwe heranmachen.«

»Uwe ist ein lieber kleiner Junge, zweieinhalb Jahre alt«, ergänzte Nick.

»Wir spielten im Park. Und plötzlich stand der Fremde am Zaun.« Pünktchen lief bei der Erinnerung eine Gänsehaut über den Rücken. »Er hat Uwe zu sich gelockt. Bonbons hat er ihm geschenkt. Eine ganze Tüte voll. Und als Uwe weglaufen wollte, hat er ihn festgehalten.«

Polizeimeister Kirsch beugte sich weiter vor. Die Sache mit den Bonbons war tatsächlich sehr verdächtig. Eigentlich hatte er die Hoffnung, den Fall aus Bachenau noch klären zu können, bereits aufgegeben. Sollte er nun doch einen brauchbaren Hinweis bekommen?

»Könnt ihr den Mann beschreiben?« Herr Kirsch sah bei dieser Frage Nick an.

Der große Junge zog die Schultern hoch. »Ich war leider zu dem Zeitpunkt nicht im Park. Als mir Pünktchen von der Sache erzählte, sind wir gleich hierhergelaufen.«

»Das war sehr vernünftig«, lobte der Mann in Uniform. »Oft kann durch solche Beobachtungen ein weiteres Unglück vermieden werden.«

Nick hob stolz den Kopf. Eben noch hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie von Sophienlust weggelaufen waren, ohne Bescheid zu sagen. Doch nun bestätigte sogar die Polizei, dass dies ganz in Ordnung war. Hätten sie Frau Rennert oder Schwester Regine von Pünktchens Beobachtungen berichtet, hätten sie bestimmt zu hören bekommen, dass sie beide noch zu jung seien, um sich um solche Dinge zu kümmern. Selbst seine Mutti war der Ansicht, dass sie sich aus solchen Dingen heraushalten sollten. Deshalb wollte er ihr auch von dem Ausflug zum Polizeirevier nichts sagen.

Pünktchen holte tief Luft und legte los: »Also, er war groß, fast so groß wie Onkel Alexander. Aber ausgesehen hat er ganz anders.«

»Weißt du noch, wie?« Die Stimme des Beamten klang väterlich.

Pünktchen legte den Kopf etwas schief und schien angestrengt zu überlegen. »Er hatte blonde Locken und … helle Augen. Vielleicht blau. Das konnte ich nicht genau sehen.«

»Sonstige Erkennungszeichen?«, fragte Herr Kirsch routinemäßig.

Pünktchen sah mit großen fragenden Augen auf ihren Freund.

»Na, hatte er eine Brille oder einen Holzfuß?«

»Nein«, entrüstete sich das blonde Mädchen. »Er sah eigentlich ganz nett aus. Er hat mit Uwe gelacht und ihn gestreichelt.«

»Alles nur Getue«, brummte Herr Kirsch finster. »Überlege einmal, was hatte er an?«

»Ach, nichts Besonderes. Alte Jeans und ein T-Shirt. Er sah fast aus wie ein Primaner aus unserer Schule.«

»Aha«, murmelte Polizeimeister Kirsch und machte sich Notizen. »Hatte er ein Auto?«

Pünktchen zog die Stirn in viele Kummerfalten. »Ich weiß nicht.«

»Na, hast du denn nicht nachgesehen?« Nick schüttelte missbilligend den Kopf.

»Daran hab’ ich gar nicht gedacht.«

»Ist doch immer das Wichtigste wegen der Nummer«, murmelte Nick. »Dass ihr Mädchen einfach nicht logisch denken könnt.«

»Vielleicht war es viel richtiger, den kleinen Uwe in Sicherheit zu bringen. Und das hat Pünktchen ja getan«, setzte sich Polizeimeister Kirsch für die Kleine ein.

Nick senkte beschämt den Kopf.

»Uwe hat uns erzählt, dass der Mann wiederkommen würde. Sie müssen aufpassen, Herr Kirsch.«

Der Beamte nickte bedächtig. »Das werde ich selbstverständlich tun. Aber ich muss natürlich auch hier im Revier meine Arbeit erledigen. Deshalb wäre es ganz gut, wenn ihr auch ein bisschen die Augen offenhalten würdet. Wenn der Kerl in der Nähe von Sophienlust auftaucht, ruft ihr mich sofort an.«

»Darauf können Sie sich verlassen«, erklärte Nick. »Diesmal entkommt er uns nicht.«

»Hoffen wir es.« Polizeimeister Kirsch war nicht so zuversichtlich. »Jedenfalls bin ich euch für eure Aufmerksamkeit sehr dankbar.« Er nickte den Kindern freundlich zu. Frau von Schoenecker kann stolz auf die beiden sein, dachte er bei sich.

Auch als sich Nick und Pünktchen bereits verabschiedet hatten, sah der Beamte ihnen noch lange nach. Kinder wie diese, Kinder, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten, wünschten sich wohl alle Eltern. Dass sie so geworden waren, daran hatte Sophienlust entscheidenden Anteil. Es war gut, dass es eine Einrichtung wie dieses Kinderheim gab.

Inzwischen hatten sich Nick und Pünktchen draußen auf ihre Fahrräder geschwungen. Kräftig trat der Junge in die Pedale. Pünktchen blieb absichtlich ein wenig zurück. Gekränkt ließ sie den Kopf hängen.

Sobald die beiden die letzten Häuser des Dorfes passiert hatten, verlangsamte Nick sein Tempo, wartete, bis das blonde Mädchen aufgeholt hatte. Ganz selbstverständlich blieb er jetzt an Pünktchens Seite, passte sich ihrem Tempo an. Dennoch sprach das Mädchen kein Wort.

»Was ich vorhin über Mädchen gesagt habe«, begann Nick nun ein bisschen verlegen, »war nicht so gemeint. Überhaupt gilt es nicht für dich. Du hast dich großartig verhalten.«

Nick blinzelte Pünktchen versöhnlich zu, doch sie wich dem Blick aus. »Aber ich habe nicht nachgesehen, ob der junge Mann ein Auto hatte«, gestand sie. Sie war mit sich selbst unzufrieden.

»Du hast nur daran gedacht, Uwe in Sicherheit zu bringen. Und das war ja auch ganz in Ordnung. Ich glaube, ich hätte alles genauso gemacht wie du.«

»Wirklich?« Pünktchen schöpfte neue Hoffnung.

»Ganz bestimmt. Und nun sei nicht mehr böse. Ich mag es nicht, wenn du so ein finsteres Gesicht machst. Wenn du lachst, gefällst du mir viel besser.«

»Glaubst du, Herr Kirsch erwischt den Kerl?«

»Dafür werden wir schon sorgen.« Nicks dunkle Stimme klang überzeugend.

»Und wenn er es nun gar nicht war? Wenn er das kleine Mädchen aus Bachenau überhaupt nicht mitgenommen hat?« Je mehr Pünktchen über die ganze Sache nachdachte, umso mehr kam sie zu der Überzeugung, dass der Mann, den sie am Zaun gesehen hatte, gar nicht so böse war. Er hatte so lieb mit Uwe gelacht.

»Das wird sich herausstellen.«

»Und wenn nicht, muss er dann ins Gefängnis?«

»Warum interessiert es dich?«

»Weil ich gar nicht glaube, dass er ein Verbrecher ist. Er hatte so freundliche Augen. Und überhaupt fand ich ihn ganz nett.«

Nick verzog das Gesicht, als habe er Essig getrunken. Er räusperte sich mehrmals. So etwas wie Eifersucht kroch in ihm hoch.

»Natürlich mag ich dich viel lieber«, verbesserte sich das blonde Mädchen rasch.

»Wirklich?« Nick atmete auf. Sein Groll war sofort verflogen.

*

Zum ersten Mal seit langer Zeit war Norbert Hellbach wieder ganz nüchtern. Er hatte in der Halle der Klinik einen großen Rosenstrauß erstanden und ließ sich nun von einer Schwester den Weg zu Inges Krankenzimmer zeigen.

»Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Der Arzt rief mich an und sagte mir, dass du heute entlassen wirst.« Mit diesen Worten eilte der Dirigent auf die junge Frau zu, die in einem Liegestuhl auf dem Balkon saß.

Inge fuhr erschrocken hoch. Sie hatte, seit sie in der Klinik lag, täglich an Norbert gedacht, hatte sich gewünscht, dass er sie besuchen möge. Nun war es so weit, und sie hatte eine schreckliche Angst vor dieser Begegnung.

Hastig stand sie auf, als Norbert ihr engegenkam. Sie nahm die Blumen entgegen und verglich dabei seine etwas herrschsüchtige, arrogante Art mit Christians Herzlichkeit. Die kleinen Schlüsselblumen aus seiner Hand hatten sie mehr erfreut als dieser prächtige, kostbare Strauß Rosen.

Norbert streckte die Arme aus, ließ sie aber sofort wieder sinken.

»Bitte, komm zu mir zurück. Wir wollen ganz von vorn beginnen«, flehte er. »Ich habe ein tolles Angebot zu den Salzburger Festspielen. Ich werde Mozart dirigieren. Und zwar so, dass die ganze Welt aufhorchen wird. Sie sollen sich alle wundern, was man aus dieser Musik machen kann.«

Es berührte Inge sonderbar, dass Norbert zuerst von sich sprach. Doch vielleicht war dies bei sensiblen Künstlern immer so. Bisher jedenfalls hatte sie das nicht gestört.

»Können wir Uwe mitnehmen?«, fragte sie leise, kaum hörbar.

»Das Kind? Aber wie kommst du denn auf diese Idee? Ich dachte, sie hätten dich hier in der Klinik auskuriert. Aber kaum sehen wir uns, fängst du schon wieder damit an.«

»Ich kann nicht anders«, antwortete Inge mit verschlossenem Gesicht. »Uwe ist mein Kind. Ich habe die Verpflichtung, gut für ihn zu sorgen.«

Norbert Hellbach verdrehte die Augen. Er hatte in der letzten Zeit so viel getrunken, dass er sich an seine Sorgen gar nicht mehr erinnern konnte.

»Warum müssen wir das alles noch einmal bereden?«, stöhnte er. »Uwe bekommt in Sophienlust alles, was er braucht. Damit hast du deine Pflicht erfüllt. Komm mit mir. Ich werde dir ein herrliches Leben bieten.« Flüchtig erinnerte er sich daran, dass er sich geschworen hatte, nie mehr eine Flasche anzurühren, wenn Inge zu ihm zurückkam. Er würde diesen Schwur halten. »Ich bin gekommen, weil ich dir beweisen will, dass ich dich noch immer liebe. Vielleicht mehr, als je zuvor.«

»Und warum hast du in all den Wochen nie nach mir gesehen?« Inge schluckte die Tränen herunter. Wie gern hätte sie sich in Norberts Arme geschmiegt, um sich an seiner Brust auszuweinen. Denn auch in ihr lebte noch immer die Liebe zu ihm. Er war der einzige Mann, mit dem sie alles teilen wollte, obwohl er sich so schändlich gegen sie benommen hatte. Sie wusste, dass sie ihm alles verzeihen würde. Nur eine Bedingung gab es: Sie wollte ihr Kind zu sich nehmen. Wenn Norbert damit einverstanden war, würde alles gut werden.

»Erinnere mich nicht mehr an diese Zeit.« Der Dirigent hob abwehrend die Hände. »Erst als heute Morgen der Anruf aus der Klinik kam, und gleich darauf der meiner Agentur, fand ich wieder zu mir selbst. Bitte, Inge, beschwöre nicht alles wieder herauf. Ich brauche einen klaren Kopf zum Arbeiten, und ich brauche vor allen Dingen dich.«

»Uwe braucht mich auch«, erinnerte die junge Mutter ihn.

»Dein junger Kavalier wird sich um Uwe kümmern. Schließlich ist er der Vater.«

Inge schüttelte sehr bestimmt den Kopf. »Ich habe lange genug auf Uwe verzichtet, habe meine Sehnsucht nach ihm unterdrückt. Es geht nicht mehr, Norbert. Ich habe mich für mein Kind entschieden.«

Norberts Augen wurden groß und staunend. Es war das erste Mal, dass Inge so konsequent war. Seine nachgiebige, selbstlose kleine Inge, die er so leicht hatte beeinflussen können.

»Dieser Kerl hat dich beeinflusst. Das ist es. Er weiß genau, wie er an dich herankommt. Er braucht nur für das Kind zu sein – und schon fliegst du auf ihn.« Norbert Hellbach wurde rot vor Zorn.

»Das ist nicht wahr! Ich werde nach Sophienlust fahren, werde Uwe abholen und künftig irgendwo allein mit ihm leben. Wir werden sehr bescheiden sein müssen, aber das macht mir nichts aus.«

»Das glaubst du! Aber was meinst du, wie sehr du die Modellkleider vermissen wirst, deinen kostbaren Schmuck, den Luxus deiner Umgebung. Ich habe dich sehr verwöhnt, Inge. Vielleicht ist dir das noch nicht bewusst geworden. Aber du wirst es spätestens dann begreifen, wenn du wirklich alles verloren hast. Doch ich warne dich. Es gibt diesmal kein Zurück!«

»Ich war dir für deine Großzügigkeit immer sehr dankbar. Aber ich kann auch ohne Luxus auskommen. Das weiß ich recht genau.«

»Du rechnest mit Christian Gentsch, nicht wahr?« Der Dirigent vergaß, dass er sich in einem Zimmer der Klinik befand. Er schrie wütend. »Aber er ist ein armer Student, der lange brauchen wird, ehe er es zu etwas gebracht haben wird. Ah, ich weiß schon, das ist dir gleichgültig. Dir ist etwas ganz anderes wichtig. Du liebst ihn!«

Inge blieb ruhig und sachlich. »Das ist nicht wahr«, widersprach sie ernst. »Ich habe es ihm auch gesagt.« Zugleich dachte sie daran, dass Christian noch immer glaubte, ihre Liebe erobern zu können. Doch es würde sich an ihrem Verhalten zu ihm nie etwas ändern. Christian Gentsch war ein sympathischer junger Mann, ein guter Kamerad. Aber den Partner fürs Leben stellte sich Inge ganz anders vor.

»So, ihr habt also darüber geredet. Hinter meinem Rücken!« Norbert war blass geworden. Scharf traten die Backenknochen in seinem schmalen Gesicht hervor.

»Leider wurde er Zeuge des hässlichen Streits zwischen uns. Er hat deine Hartherzigkeit miterlebt und glaubte mich beschützen zu müssen. Deshalb kam er auf die Idee, mich zu heiraten.«

»Heiraten«, wiederholte Norbert dumpf. »Und dass ich etwas dagegen haben könnte, daran habt ihr nicht gedacht. Aber so einfach ist das nicht. Ich gebe dich nicht her, Inge!«

»Und ich verzichte nicht auf mein Kind. Uwe braucht eine Mutter. Er darf nicht im Heim aufwachsen. Wenn du ihn anerkennst, ist alles in Ordnung.« Sanft und bittend klang die Stimme der jungen Frau.

Norbert war jedoch viel zu aufgebracht, um das zu hören. »Ich habe es versucht, aber es ging nicht«, gestand er. »Es wird auch in Zukunft nicht anders sein. Uwe gehört nicht zu uns. Sei doch vernünftig, Inge!« Mit einem langen Schritt trat er zu seiner Frau, schüttelte sie mit hartem Griff hin und her.

Inge wehrte sich nicht. Sie bewegte nur traurig den Kopf. Das war also das Ende. Das Ende einer großen Liebe. Auch wenn sie künftig sehr einsam sein würde, sie konnte nicht zu Norbert zurückkehren. Das Kind musste Vorrang haben. Uwe würde ihr schon die Kraft geben, um das Leben zu meistern. Sie würde nicht untergehen, auch wenn sie ganz auf sich selbst gestellt sein würde.

»Du lässt dich also nicht umstimmen«, stellte Norbert Hellbach verblüfft fest. »Du lässt mich allein, obwohl du weißt, was das für mich bedeutet. Ich werde nicht mehr arbeiten können, werde mehr und mehr dem Alkohol verfallen. Wenn du mich jemals ein bisschen gerngehabt hättest, könnte dir das doch nicht gleichgültig sein.« Er stöhnte wie ein schwerverwundeter Mensch.

Inge zögerte einen Augenblick. Doch dann sah sie in Gedanken ihr Söhnchen vor sich und wusste wieder, wo ihr Platz war. »Du bist ein Mann, Norbert. Ein Mann, der Erfolg hat, der berühmt ist. Es wird dir leichtfallen, Ersatz für mich zu finden. Uwe ist ein hilfloses Kind. Er wird nie Mutterliebe kennenlernen, wenn ich sie ihm nicht gebe. Weißt du, was das bedeutet? Weißt du, was aus solchen Menschen wird?«

»Wenn du ganz auf Uwe verzichtest, werden sich sehr rasch Adoptiveltern finden lassen. Damit sind deine Argumente gegenstandslos.«

»Du verlangst Unmögliches von mir. Jede Mutter wird dir das bestätigen. Ich begreife nicht, wie du überhaupt so etwas erwägen kannst. Erinnerst du dich nicht mehr, dass du es warst, der sich das Kind gewünscht hat? Du hast mir Mut gemacht, es auf die Welt zu bringen. Du hast mich auch flehend gebeten, durchzuhalten, als die Beschwerden in den ersten Monaten der Schwangerschaft unerträglich waren.«

»Ich weiß. Es war ein Fehler.« Norbert ließ die Schultern hängen. »Aber warum lässt man mich ein Leben lang dafür büßen? Warum?«

»Alles wäre anders, wenn du deine Eifersucht begraben könntest. Mit Christian Gentsch verbindet mich nichts. Das war weder zuvor der Fall noch jetzt, nachdem ich ihn kenne.«

»Ich brauche nur das Kind anzusehen, um zu wissen, dass du lügst. Und wenn es bei uns lebt, bin ich gezwungen, es mehrmals täglich zu sehen. Nein, du kannst nicht erwarten, dass ich dabei ruhig bleibe.«

»Es gibt doch viele Familien, die ähnlich wie wir ein fremdes Kind aufziehen und trotzdem glücklich sind.«

Norbert schüttelte den Kopf. »Was gehen mich die anderen an? Ich will das Kind nicht, und damit basta!«

*

»Hast du mir etwas mitgebracht?« Uwe hatte den Studenten sofort wiedererkannt und lief ihm erfreut entgegen.

Diesmal befanden sich die Kinder außerhalb des Parks von Sophienlust. Schwester Regine war bei ihnen und zeigte ihnen gerade einen hübschen Reigen. Alle waren eifrig bei der Sache. Selbst die kleineren Kinder taten begeistert mit. Deshalb fiel es auch nicht auf, dass sich Uwe immer weiter von der Gruppe entfernte.

»Einen richtigen kleinen Rennwagen.« Christian zog eine kleine Schachtel aus der Tasche. Ein chromglänzendes Spielzeug prangte darin.

Uwe jauchzte vor Freude hellauf. Strahlend nahm er den bunten Karton mit der Klarsichtscheibe entgegen.

»Gefällt es dir?«

»Klasse!«, quietschte Uwe und war sichtlich stolz darauf, einen Ausdruck der Großen zu verwenden. Überhaupt eiferte er in allem den älteren Kindern nach. Besonders Nick war sein Vorbild.

»Er fährt fast so schnell wie ein richtiges Auto.« Es machte Christian viel Freude, seinen kleinen Sohn zu beobachten.

Mit etwas ungeschickten Fingerchen öffnete Uwe die Verpackung und nahm den roten Rennwagen heraus. Staunend betrachtete er das glänzende Ding von allen Seiten. »Schön!«, sagte er dann voll Überzeugung. »Danke!« Impulsiv schlang er beide Ärmchen um den Hals des Mannes, der neben ihm in die Hocke gegangen war.

Christian drückte das warme, weiche Körperchen zärtlich an sich und schloss für einen Augenblick die Augen. Mein Kind! Mein Sohn!, jubelte es in ihm. Er fühlte sich ungeheuer reich und glücklich. Ja, es lohnte sich, Opfer für die kleine Familie zu bringen. Nichts sollte ihm zu viel sein.

»In einigen Tagen wird deine Mutti aus der Klinik entlassen. Dann kommen wir und holen dich zu uns«, sagte Christian. Etwas bekümmert dachte er daran, dass er Inge telefonisch nicht hatte erreichen können. Sooft er auch die Nummer der Klinik gewählt hatte, sie war immer besetzt gewesen. Doch morgen wollte er ohnehin zurückfahren, um nach Inge zu sehen. Sie würde staunen, wenn sie erfahren würde, dass er Uwe inzwischen kennengelernt hatte, dass er sogar schon ein bisschen Freundschaft mit ihm geschlossen hatte.

Uwe war im Moment viel zu sehr mit seinem neuen Spielzeug beschäftigt, um auf Christians Worte zu hören. Er befreite sich energisch aus der Umarmung des jungen Mannes und ließ seinen Rennwagen auf dem sandigen Weg fahren.

Sofort war Christian bereit, sich an dem Spiel zu beteiligen. Er glättete die Bahn und schubste das kleine Fahrzeug immer wieder zu Uwe zurück.

»Du kannst aber fein spielen«, lobte Uwe und sah den jungen Mann mit leuchtenden Augen an. »Kommst du morgen wieder?«

»Vielleicht.«

»Bringst du mir dann wieder ein Auto mit?«

»Was magst du denn?«, erkundigte sich Christian amüsiert.

»Polizeiauto«, kreischte Uwe und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den Wagen, der eben unterhalb ihres Platzes auf der Straße hielt. Ein Mann in Uniform stieg aus und schaute grimmig zu ihnen herauf.

Christian Gentsch wusste sofort, dass man vom Heim aus die Polizei angerufen haben musste. Wahrscheinlich befürchtete man, es mit einem Sittlichkeitsverbrecher oder Entführer zu tun zu haben. Es war klar, dass er jetzt in einer unangenehmen Lage war. Wenn er auf der Polizeiwache seine Geschichte erzählte, würde ihm natürlich kein Mensch glauben. Und beweisen konnte er nichts. Da war es besser, sich sofort aus dem Staub zu machen. Denn wer würde einem Mann, der aussah wie ein Vagabund, glauben, dass er nichts Böses gewollt hatte? Christian Gentsch hatte Angst vor den endlosen Verhören, die folgen würden. Wahrscheinlich würde man ihn zunächst festhalten, um seine Lebensgewohnheiten zu überprüfen. Das würde einige Tage in Anspruch nehmen, Tage, in denen er sich nicht einmal mit Inge in Verbindung setzen konnte. Sie musste dann glauben, dass er sie vergessen habe. Und gerade jetzt brauchte sie ihn doch. Sie würde in den nächsten Tagen aus der Klinik entlassen werden und wusste nicht, wohin sie gehen sollte.

»Geh zu den anderen Kindern zurück.« Christian sah Uwe eindringlich an. »Ich muss jetzt weg. Warum, kann ich dir nicht erklären. Aber ich verspreche dir, dass ich zurückkomme. Irgendwann.«

»Morgen?« Uwe legte das Köpfchen schief. Er konnte nicht verstehen, weshalb es der nette junge Mann plötzlich so eilig hatte.

»Nicht ungeduldig sein, mein Schatz.« Christian beugte sich rasch hinunter und küsste Uwe laut und schallend auf die Wange. »Bis

bald!«

»Und vergiss das Polizeiauto nicht«, rief der Kleine dem Davoneilenden noch nach.

Jetzt sah auch Uwe den Polizisten, der keuchend den Abhang heraufkletterte. Hastig griff er nach seinem Spielzeug und trippelte langsam und vorsichtig den Weg zurück zu der Wiese, auf der Schwester Regine mit den Kindern noch immer den Reigen einstudierte, der für eine festliche Veranstaltung vorgesehen war.

Eine Weile sah Uwe den Größeren zu, dann wurde es ihm zu langweilig. Er lief zu seinen Lieblingen, den Pferden. Wie immer, wenn das Wetter gut war, befanden sie sich auf der Weide, einem großen, eingezäunten Gelände, das ihnen genug Bewegungsfreiheit ließ.

Uwe war schon oft mit Nick, Pünktchen und den anderen Kindern hierhergekommen. Er hatte den Pferden dann immer kleine Zuckerstückchen auf der flachen Hand reichen dürfen. Diesmal war er allein, doch er hatte nicht die geringste Angst.

Wie gewöhnlich kamen die Tiere zutraulich näher. Sie drängten sich am Gatter zusammen, streckten neugierig die Köpfe vor.

»Schaut einmal, was ich habe!« Uwe präsentierte ihnen das rote Rennauto. Doch die Pferde fanden keinen Gefallen an dem glänzenden Spielzeug. Gelangweilt wandten sie sich ab.

»Gefällt es euch nicht?« Uwe war ein bisschen enttäuscht. »Es kann ganz schnell sausen.« Er stellte das kleine Fahrzeug auf den unteren Balken des Gatters und gab ihm einen kräftigen Schubs.

Tatsächlich rollte das Spielzeugauto ein Stück vorwärts, doch dann purzelte es aus der luftigen Höhe ins Gras, geradewegs zwischen die Hufe der Vierbeiner.

Uwe riss erschrocken die Augen auf. Dann aber stand für ihn fest, dass er sein Spielzeug auf jeden Fall retten musste. Jeden Augenblick konnte es von den Pferden zertrampelt werden.

Flink schlüpfte der Kleine zwischen den Balken hindurch, lief auf die Koppel.

Die Pferde blieben zutraulich stehen. Sie waren an Kinder gewöhnt und fürchteten sich nicht vor ihnen.

Uwe krabbelte zwischen den stämmigen Beinen der Lipizzaner herum und griff nach seinem Rennwagen. Doch statt sich nun eilig zurückzuziehen, wollte er ausprobieren, ob das rote Fahrzeug noch ordnungsgemäß rollte. »Brummbrumm«, machte er und fuhr mit seinem Spielzeugauto über Gräser und Steinchen.

Im gleichen Augenblick überquerte ein Düsenjäger im Tiefflug das stille, friedliche Tal. Die Luft erzitterte von seinem Geheul. Ängstlich stoben die Pferde auseinander. Es kam so etwas wie Panik unter ihnen auf. Da sie zuvor alle dicht zusammengedrängt gestanden hatten, behinderten sie sich nun gegenseitig. Sie streckten ihre schmalen Körper, holten weit mit den schlanken Vorderbeinen aus. Wie ein Sturm brausten sie über Uwe hinweg. Noch ehe der Kleine begriff, was eigentlich geschah, traf ihn ein Huf am Hinterkopf. Es war ein harter, schwerer Schlag, der Uwe sofort das Bewusstsein raubte.

Aus einer tiefen, klaffenden Wunde spritzte kräftig das Blut, rann über den hellen Pulli, tropfte ins Gras. Der kleine Körper des Jungen sackte zur Seite.

*

Christian Gentsch rannte, als gehe es um sein Leben. Der Gedanke an Inge trieb ihn vorwärts, gab ihm immer neue Kraft. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass Inge morgen umsonst auf ihn wartete. Diese Enttäuschung wollte er ihr ersparen.

Etwa zwanzig Meter hinter sich hörte Christian das Keuchen des Polizeibeamten. Würde er den Mann abschütteln können? Würde er ihm entkommen? Der Verfolger in Uniform hatte einen entscheidenden Vorteil: Er kannte sich hier viel besser aus, konnte manche Abkürzung benutzen.

Dennoch war Christian entschlossen, nicht aufzugeben. Er hatte einen sportlich durchtrainierten Körper, der vielleicht länger durchhalten würde als der des wesentlich älteren Polizisten.

»Mann, so bleiben Sie doch stehen«, keuchte Polizeimeister Kirsch, der nun fest überzeugt war, den gesuchten Kindesentführer vor sich zu haben. Warum sonst rannte der Kerl so? »Wir erwischen Sie ja letzten Endes doch! Es hat keinen Sinn, davonzulaufen. Stellen Sie sich lieber. Wenn Sie Ihre Schuld zugeben, kann das für den Prozess nur von Vorteil sein.«

Christian Gentsch rannte quer durch den Wald. Immer wieder blieb er hinter einem dichten Gebüsch stehen, um etwas zu verschnaufen. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, seinen Verfolger durch dieses Manöver getäuscht zu haben, musste er feststellen, dass er sich geirrt hatte. Polizeimeister Kirsch blieb am Ball. Immer näher kam er, immer mehr holte er auf.

Christian verdoppelte seine Anstrengungen. Wenn er nur zu seinem Wagen hätte laufen können! Doch gerade das war unmöglich. Schon die nächste Polizeistreife würde ihn im Wagen stoppen und auf ein Revier schleppen. Dann würde er auch noch seine unmotivierte Flucht erklären müssen. Dann würde ihm erst recht niemand mehr glauben. Nein, der einzige Ausweg war, den Verfolger abzuhängen und zu warten, bis er abgezogen war.

Weit holte Christian im Laufen aus. Er blieb mit seinen leichten Jeans an Dornen und Gestrüpp hängen. Seine Hosen waren bereits zerrissen, die Sandalen drohten den Dienst zu versagen.

»Warten Sie doch! Sie kommen ohnehin nicht weit. Ich habe schon Verstärkung aus Maibach angefordert. Sie muss jeden Moment hier sein.«

Die Worte des Polizeibeamten schallten laut durch den Wald. Doch Christian tat, als höre er nichts. Er rannte und rannte, schlug kleine Haken, versuchte seinen Verfolger durch plötzliche Richtungsänderung zu täuschen.

Jetzt robbte er mit letzter Kraft einen steilen Hang hinauf. Hohe Felsbrocken und Geröll gab es dort oben.

Vielleicht würde es ihm dort gelingen, sich irgendwo zu verstecken?

Christian verdoppelte seine Anstrengungen. Er mobilisierte die letzten Kraftreserven. Hatte die Stimme des Polizisten nicht schon recht erschöpft geklungen? Blieb er nicht immer weiter zurück? Vielleicht konnte er nicht mehr. Dann würde das Spiel gewonnen sein. Dann würde er, Christian, stillschweigend von hier verschwinden. Und wenn er wiederkommen würde, würde er in Begleitung von Inge sein. Sie würde alle Missverständnisse aufklären können. Sie würde beschwören können, dass er Uwes Vater war, dass er ein Recht auf das Kind hatte.

Mit verzweifelter Anstrengung zog sich Christian den Hang empor. Der Polizist schien tatsächlich zurückgeblieben zu sein. Hatte er ihn vielleicht aus den Augen verloren? Christian duckte sich, krabbelte im Schutz des Gebüsches weiter hoch. Mühsam, Zentimeter um Zentimeter, schob er sich vorwärts. Seine Hände krallten sich an Zweigen und Gräsern fest, bewahrten ihn mehr als einmal vor dem Abrutschen.

Schließlich lag Christian bäuchlings auf der kleinen Anhöhe, atmete erleichtert auf. Sein Verfolger schien in eine andere Richtung gelaufen zu sein. Aufmerksam ließ Christian seinen Blick schweifen. Wo war der Polizist? Versteckte er sich, um ihn zu einer Unaufmerksamkeit zu verleiten?

Christian blieb in Deckung. Er beschloss, einige Stunden hier oben zu warten, bis die Luft rein sein würde. Sein Versteck war gut. Die Männer von der Polizei würden ihn hier nicht aufstöbern – oder nur dann, wenn sie Hunde mitbrachten.

Christian schüttelte den Kopf. Auf was hatte er sich da eingelassen? Er hatte nichts Strafbares getan, und doch ließ er sich verfolgen wie ein Verbrecher. Und das alles nur, um morgen rechtzeitig bei Inge zu sein, um sie in die Arme schließen zu können, wenn sie aus der Klinik entlassen wurde.

Inge! Jedes Opfer würde er für diese Frau bringen. Sie war so schön wie keine andere, und sie besaß einen natürlichen Charme, der jeden Menschen fesseln musste.

Erst jetzt stellte Christian fest, dass er von hier oben einen weiten Blick ins Land hatte. Dort unten lag Sophienlust, mitten in dem wunderschönen Park. Etwas weiter hinten leuchtete das dunkle Dach von Gut Schoeneich aus einem Meer von grünen Bäumen hervor. Dazwischen lagen weite Wiesen, fruchtbare Felder, durchzogen von munter plätschernden Bächen. Es war ein Bild, das friedlich und versöhnlich stimmte.

Wenn Christian den Kopf etwas hob, konnte er auf die Koppel sehen, in der er vor einer Viertelstunde noch die prächtigen Lipizzaner bewundert hatte. Doch was war das? Ein Kind lag im Gras. Es schien verletzt zu sein. Uwe!

Ja, das Kind trug die kurzen blauen Höschen und den hellen Pulli. Es gab keinen Zweifel, es war Uwe.

Christian vergaß jede Vorsicht. Plötzlich war es ihm völlig gleichgültig, ob ihn sein Verfolger sah oder nicht. Er richtete sich auf, hielt schützend die Hand über die Augen. Das Kind, das dort im Gras lag, rührte sich nicht. War es tot?

Das Herz des Studenten begann in wildem Wirbel zu schlagen. Obwohl er von der vorangegangenen Jagd noch völlig erschöpft war, begann er jetzt erneut zu laufen. Doch diesmal achtete er nicht darauf, durch Gebüsch und Sträucher geschützt zu sein. Er rannte geradewegs den Hang hinab.

Schon hörte er Polizeimeister Kirsch wieder hinter sich. Doch das interessierte ihn nun nicht mehr. Für ihn gab es etwas viel Wichtigeres: das Kind. Er musste nach Uwe sehen, musste ihm helfen. Die Tatsache, dass der Kleine auf der Koppel lag, ließ ihn vermuten, dass er von den Pferden verletzt worden war.

Recht gut wusste Christian Gentsch, dass der Schlag eines Pferdehufes tödlich sein konnte. Warum nur war Uwe in die Umzäunung gelaufen?

Obwohl Christian schon vorher so rasch wie nur möglich gerannt war, steigerte er jetzt sein Tempo noch beträchtlich. Es ging ja bergab, und außerdem gab ihm die Angst ungeahnte Kräfte. Polizeimeister Kirsch blieb weit zurück, obwohl auch er das letzte aus sich herausholte.

*

Schwester Regine hatte den kleinen Uwe die ganze Zeit über beobachtet. Sie hatte es nicht für gefährlich gehalten, dass sich das Kind in der Nähe des Gatters aufhielt, denn Uwe stand oft dort. Noch nie war er in die Umzäunung geklettert, noch nie hatte er sich unvernünftig benommen.

Doch dann musste Schwester Regine erleben, dass sie sich getäuscht hatte. Uwe blieb nicht außerhalb des Gatters.

Als der kleine Junge über den Zaun kletterte, setzte sich Regine Nielsen sofort in Bewegung. Mit ihr rannten einige der größeren Kinder, die das Geschehen ebenfalls verfolgt hatten. Doch die Entfernung war zu groß. Niemand konnte Uwe rechtzeitig erreichen, niemand konnte ihn vor dem Unglück bewahren.

Entsetzt schrien die Kinder auf, als sie ihren kleinen Kameraden regungslos im Gras liegen sahen. Unaufhörlich floss Blut aus der Wunde am Kopf.

»Mein Gott«, flüsterte Schwester Regine. »Wie konnte das nur geschehen?« Sie war blass geworden, zitterte am ganzen Körper. Seit vielen, vielen Jahren betreute sie die Kinder hier, war für sie Spielkamerad und Freundin zugleich. Mit all ihren kleinen und großen Sorgen kamen die Buben und Mädchen zu ihr, fanden Rat und Hilfe bei ihr.

Noch nie hatte Schwester Regine ihre Pflicht vernachlässigt. Oft opferte sie ihre Freizeit, um die Kinder von Sophienlust mit etwas Besonderem zu überraschen. Und nun musste ihr so etwas passieren!

Regine Nielsen kniete sich neben Uwe ins Gras und fasste nach dem Puls des Kleinen. Er war schwach, kaum zu spüren.

»Rasch, lauf zu Frau Rennert. Sie soll den Rettungswagen bestellen«, bat Schwester Regine den kleinen Henrik, der neben ihr stand.

»Das ist nicht nötig. Ich bringe das Kind selbst ins Krankenhaus.« Plötzlich war ein Fremder neben Schwester Regine. Ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Befremdet schaute sie ihn an.

»Ich bin Medizinstudent«, stellte sich Christian Gentsch rasch vor. Keuchend beugte er sich über Uwe. Das kleine, sonst so frische Gesichtchen war bleich. Blutleer wirkten die Lippen und die Fingerspitzen.

Christian hob die Augenlider ein wenig an und prüfte die Reflexe. Ohne ein weiteres Wort hob er den kleinen Körper auf seine Arme, drückte ein Taschentuch auf die Wunde am Hinterkopf.

Inzwischen kam auch Polizeimeister Kirsch den Abhang heruntergestolpert. Wäre die Situation nicht so verteufelt ernst gewesen, hätten die Kinder vielleicht über seine ulkigen Bewegungen gelacht. Er ruderte mit den Armen durch die Luft, als könnte er sich damit rascher vorwärtsbringen.

Auf den letzten Metern seines beschwerlichen Laufes war der Beamte noch fest entschlossen gewesen, den Verdächtigen sofort in Untersuchungshaft zu nehmen. Doch als er jetzt vor dem jungen Mann stand, der das verletzte Kind im Arm hielt und selbst leichenblass war, kamen ihm Bedenken. Nein, so benahm sich kein Verbrecher. Hätte dieser junge Mann tatsächlich das kleine Mädchen aus Bachenau entführt, dann hätte er sich jetzt die Verwirrung zunutze gemacht, um zu verschwinden.

Polizeimeister Kirsch atmete schwer. Was war hier wichtiger? Dienstvorschriften oder klarer Menschenverstand? Normalerweise musste er den jungen Mann unverzüglich ins Revier bringen, denn er hatte sich mehr als merkwürdig benommen. Andererseits stand das Leben eines Kindes auf dem Spiel. Der junge Mann in den zerrissenen Jeans hielt den verletzten Jungen so sorgsam im Arm, dass man ganz sicher sein konnte, dass er ihm nichts tun würde.

Polizeimeister Kirsch entschied sich für seine recht gute Menschenkenntnis. Er würde den jungen Mann nicht daran hindern, das Kind ins nächste Krankenhaus zu bringen.

»Mein Auto steht dort drüben«, japste Christian, denn er bekam kaum noch Luft. »Helfen Sie mir bitte.« Er lief zu dem kleinen Waldstück oberhalb Sophienlust.

Schwester Regine blieb an seiner Seite. Für sie hätte es Christians Aufforderung ohnehin nicht bedurft. »Es tut mir furchtbar leid«, jammerte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Fremden. »Ich mache mir schwere Vorwürfe, weil ich Uwe nicht sofort nachgegangen bin.«

»Ein Unglücksfall.« Christian schluckte. Es war ihm, als schnüre sich seine Kehle zu. Es war ihm unmöglich, mehr hervorzubringen. Wenn Uwe starb, dann würde er Inge nie mehr in die Augen sehen können. Denn irgendwie fühlte auch er sich schuldig. Er hätte das Kind nicht allein zu der Gruppe zurückgehen lassen dürfen. Doch was nutzten jetzt alle Selbstvorwürfe? Es musste gehandelt werden. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Vielleicht hatte der liebe Gott Erbarmen und war ihnen allen gnädig.

Die Kinder, die bei Schwester Regine gewesen waren, liefen in einigem Abstand hinter der kleinen Gruppe her. Dass ausgerechnet ihr erklärter Liebling Uwe so schwer verletzt war, bedrückte sie alle sehr.

Henrik, das Nesthäkchen der Familie von Schoenecker, ging etwas schneller, holte die kleine Gruppe ein. Dicht drängte er sich an Schwester Regine und sagte: »Hier ist Uwes neues Auto. Vielleicht möchte er es haben, wenn er wieder aufwacht.« Auf der flachen Hand streckte er der Betreuerin das leuchtend rote Spielzeug hin, das er im Gras gefunden hatte.

Erstaunt sah Schwester Regine auf den keuchenden jungen Mann an ihrer Seite.

»Ich hab’ es ihm gegeben«, bekannte Christian leise. Zu weiteren Erklärungen blieb ihm keine Zeit, denn eben hatten sie den Wagen erreicht, den Christian im Schutz einiger Büsche am Wegrand abgestellt hatte.

Mit der freien Hand öffnete der junge Mann die Autotüren und sah sich dann verzweifelt um. »Ich bräuchte Decken«, murmelte er besorgt. »Wenn ich den Kleinen einfach auf den Rücksitz lege, wird er in der nächsten Kurve herunterfallen.«

Schwester Regine nickte zur Bestätigung. »Wenn ich vielleicht mitfahren könnte … Es wird ohnehin besser sein, weil Uwe noch immer blutet.« Es tat ihr fast körperlich weh, wenn sie auf das blutdurchtränkte Tuch sah, das der junge Mann auf den Hinterkopf des Kindes presste. »Irmela passt auf die Kinder auf und bringt sie ins Haus.«

Irmela nickte ernst. Sie war glücklich, wenn man ihr Verantwortung übertrug. Gern war sie bereit, in dem Haus, in dem sie so viel Gutes erfuhr, kleine Pflichten zu übernehmen.

»Gut. Nehmen Sie das Kind. Steigen Sie zuerst ein, dann reiche ich Ihnen Uwe.«

Christians Hände zitterten, als er den Zündschlüssel herumdrehte. Er legte den Gang ein, gab Gas und jagte mit aufheulendem Motor davon.

Jede Sekunde kann kostbar sein, sagte er sich immer wieder. Er fuhr verkehrswidrig schnell. Sein kleines Vehikel klapperte, ratterte und quietschte, als wollte es zusammenbrechen. Doch es hielt durch, erreichte schließlich die Klinik.

Polizeimeister Kirsch hatte die Ankunft des verletzten kleinen Jungen bereits avisiert. Uwe wurde erwartet. Alles war für einen sofortigen Eingriff vorbereitet.

*

»Warum musste auch dieser Düsenjäger die Pferde scheu machen«, maulte Henrik, als die Kinder langsam nach Sophienlust zurück­gingen. Es war nur ein kurzes Stück Weg, und doch brauchten die Kinder ungewöhnlich lange dazu. Alle ließen sie traurig den Kopf hängen.

»Glaubst du, dass Uwe stirbt?«, piepste Angelika und drückte sich eng an die ältere Irmela.

Fabian schnupfte. »Wenn er stirbt, will ich nie mehr reiten.«

»Ich habe Uwe so lieb gehabt«, stöhnte ein kleiner rothaariger Lausbub. »Fast so, als wäre er mein Bruder.«

Nick und Pünktchen kamen eben vom Polizeirevier zurück. Sie stellten ihre Räder ab und gingen den Kameraden entgegen.

»Was ist denn mit euch los?«, fragte Nick sofort. »Ist der Verbrecher entwischt?«

»Welcher Verbrecher denn?« Angelika sah den großen Jungen erstaunt an.

Nick wechselte einen raschen Blick mit Pünktchen. Nichts verraten!, bedeutete die kleine Geste, den Finger über die Lippen zu legen.

Unmittelbar nach Christians Auftauchen waren Nick und Pünktchen zum Revier geradelt, um Polizeimeister Kirsch Meldung zu erstatten. Dieser hatte dann auch sofort sein Auto genommen, um nach Sophienlust zu fahren. Selbstverständlich war er wesentlich schneller gewesen als die Kinder mit dem Rad.

»Da war kein Verbrecher«, stellte die kleine Heidi richtig. »Nur ein junger Mann, der Uwe ein Auto geschenkt hat.«

»Und dann ist es ihm zwischen die Pferde gefallen«, ergänzte Henrik aufgeregt.

»Und der Düsenjäger ist gekommen. Und die Pferde sind vor Angst wild durcheinander gerannt. Und eines hat Uwe getreten. Direkt an den Kopf.« Jetzt redeten alle Kinder durcheinander. Vor lauter Geschrei war kaum noch etwas zu verstehen.

»Uwe hat ganz furchtbar geblutet«, berichtete Irmela sachlich. »Der junge Mann hat ihn sofort zu seinem Wagen gebracht und ist mit ihm zum Krankenhaus gefahren.«

»Und Polizeimeister Kirsch?« Nick kratzte sich etwas verlegen hinter den Ohren.

»Hat ihm geholfen.« Fabian schnupfte.

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, murmelte Nick.

»Ich auch nicht«, pflichtete Pünktchen ihm bei.

»Wir laufen zu Frau Rennert. Vielleicht weiß sie noch gar nichts davon.« Angelika setzte sich schon in Bewegung.

»Herr Kirsch war doch bei ihr und hat mit dem Krankenhaus telefoniert«, erinnerte Henrik das Mädchen.

»Trotzdem.«

Jetzt hatten es die Buben und Mädchen plötzlich eilig. Nick und Pünktchen blieben allein zurück. Sie ließen sich ins Gras sinken.

»Ich weiß nicht, aber ich glaube, wir haben etwas sehr Dummes gemacht«, jammerte Pünktchen. Ihre blauen Kinderaugen füllten sich mit Tränen.

»Den Eindruck habe ich auch«, stöhnte Nick und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich glaube jetzt, dass der junge Mann gar nicht der gesuchte Entführer ist.«

»Aber warum hat er sich dann so komisch verhalten?«

»Weiß ich nicht.« Nick ließ traurig den Kopf hängen. Es belastete ihn schwer, dass ausgerechnet in Sophienlust ein Kind zu Schaden gekommen war. »Was glaubst du, was meine Mutti sagen wird?«, fragte er zerknirscht.

»Glaubst du, dass alles nicht passiert wäre, wenn wir nicht zu Herrn Kirsch gegangen wären?« Pünktchens Zähne schlugen klappernd aufeinander.

»Woher soll ich das wissen? Aber wenn Uwe tatsächlich stirbt, dann kann ich nie mehr richtig froh sein.«

»Ich auch nicht.« Pünktchens dünnes Stimmchen klang kläglich.

»Wenn Mutti alles erfährt, wird sie schimpfen. Sie hat mir schon so oft gesagt, dass ich mich nicht mit solchen Dingen befassen soll.« Nick empfand echte Reue. Warum hatte er seine Mutti nicht zuerst um Rat gefragt? Warum hatte er sich ihr nicht anvertraut?

»Ob wir ihr alles sagen sollen?«, flüsterte das blonde Mädchen verzagt. »Vielleicht ist sie dann nicht so böse.«

Eigentlich konnte sich Pünktchen die charmante Tante Isi überhaupt nicht böse vorstellen. Sie schimpfte niemals, verlor nie die Beherrschung. Wenn ein Kind ungezogen war oder wenn es Dummes angestellt hatte, sprach sie gütig und liebevoll mit ihm – und schon war alles nur noch halb so schlimm.

Nick hatte ähnliche Gedanken. Seiner Mutti alles anzuvertrauen, ihre Meinung zu hören, dieser Wunsch wurde immer unüberwindlicher in ihm. »Radeln wir nach Schoen­eich hinüber. Mutti hat Besuch.«

»Aber dann können wir doch nicht stören«, wehrte sich Pünktchen.

»Wir probieren es.« Nick nahm bereits sein Fahrrad.

Was blieb Pünktchen anderes übrig, als ihm zu folgen?

*

Unruhig ging Christian Gentsch im Wartezimmer auf und ab. Er konnte vor Nervosität keinen Augenblick stillstehen. Schwester Regine war mit dem Bus nach Sophienlust zurückgekehrt. Dringend hatte sie den Studenten gebeten, über das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung telefonisch zu berichten.

Der junge Mann sah immer wieder zu der elektrischen Uhr. Es war jetzt eine knappe Viertelstunde vergangen, seit er Uwe hier einer Krankenschwester übergeben hatte, die ihn sofort in den Untersuchungsraum gebracht hatte.

Warum dauerte es nur so unheimlich lange? Was machte man mit dem armen kleinen Jungen? Christian fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das dichte blonde Haar. Was hätte er dafür gegeben, wenn er alles hätte ungeschehen machen können. Doch was änderte es, wenn er sich Vorwürfe machte, wenn er sich die Haare raufte? Es half Uwe nicht das Geringste.

War Uwes junges Leben noch zu retten? Oder musste er bezahlen für den Leichtsinn anderer? Welch schwere Vorwürfe würde Inge ihm machen, wenn sie alles erfahren würde? Inge, die dieses Kind liebte wie nichts anderes auf der Welt?

Sie würde ihm nie verzeihen, dass er den Kleinen aus der Obhut der Kindergärtnerin fortgelockt hatte, dass er ihn später allein zurückgeschickt hatte.

Inge! Wenn Christian an die schlanke junge Frau dachte, wurde ihm noch viel elender zumute. Es gab keine Entschuldigung für seinen Leichtsinn. Wenn Uwe nicht mehr gesund wurde, würde er auch Inge verlieren.

Verlieren? Besaß er sie denn? Sie hatte ihm zu keinem Zeitpunkt Hoffnungen gemacht. Immer war sie freundlich, aber zurückhaltend geblieben. Sie hatte nur gesagt, dass sie sich von ihrem Mann trennen würde, um allein mit dem Kind zu leben. Er hatte nie so recht daran geglaubt. Er war fast sicher gewesen, dass es ein bisschen Koketterie war, die Inge zu dieser Aussage verleitet hatte. Doch jetzt war er dessen nicht mehr so sicher.

Er selbst hatte immer wieder von Liebe gesprochen, aber Inge hatte dazu den Kopf geschüttelt und auf sein Studium verwiesen. Warum wollte sie nicht verstehen, dass sie ihm viel, viel wichtiger war als das Studium?

Christian fuhr herum, denn eben wurde die Tür geöffnet. Ein großer dunkelhaariger Mann in einem langen weißen Kittel erschien.

»Und?« Christians blaue Augen wurden unnatürlich groß. »Wie …, wie geht es Uwe?«

»Er hat Glück gehabt, der Kleine. Es war kein Schädelbruch, wie wir zunächst vermuteten. Nur eine tiefe Fleischwunde.«

»Dann …, dann wird er durchkommen?« Die Stimme versagte Christian den Dienst. Flehend rang er die Hände.

»Wir haben eine Tetanusspritze und Schmerzmittel gegeben, die Wunde desinfiziert und vernäht. Nur eines macht uns Kummer. Das Kind hat sehr viel Blut verloren. Und dieses Blut muss sofort ersetzt werden. Leider haben wir keine entsprechenden Konserven vorrätig, da der Junge eine sehr seltene Blutgruppe besitzt.«

»Aber ich …, ich könnte doch Blut spenden.« Christian keuchte vor Aufregung. Ihm war, als entscheide sich in diesen Minuten sein ganzes weiteres Leben.

»Sind Sie verwandt mit dem Kind?« Der Arzt zog die Augenbrauen hoch.

»Ich bin der Vater.« Es erschien Christian unbegreiflich, dass der Mediziner das nicht gleich gesehen hatte.

»Das ist etwas anderes. Würden Sie bitte ins Labor mitkommen, damit wir entsprechende Untersuchungen anstellen können?«

»Aber es eilt doch. Wozu diese Formalitäten?« Der Atem des Studenten ging laut und hechelnd.

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sie sind doch Medizinstudent und wissen, dass schwere gesundheitliche Schäden auftreten können, wenn man bei der Blutgruppenbestimmung die nötige Sorgfalt vermissen lässt. In schweren Fällen kann ein solcher Leichtsinn sogar den Tod zur Folge haben.«

»Ja, ja, selbstverständlich.« Christian drängte zur Tür, ging rasch neben dem Arzt durch den langen blankgebohnerten Gang.

In dem kleinen Labor wurde ihm eine Blutprobe entnommen, dann wurde er ins Wartezimmer zurückgeschickt.

Wieder vergingen bange Minuten. Wieder sah Christian alle paar Minuten auf die Uhr. Seine Nervosität steigerte sich ins Unerträgliche. Endlos lang erschien ihm die Zeit, bis endlich der Arzt wiederkam.

»Können wir anfangen?«, fragte Christian sofort.

Bedächtig schüttelte der Arzt den Kopf. »Leider hat die Blutgruppenbestimmung ergeben, dass Sie nicht der Vater des Kindes sein können.«

Christians Unterkiefer klappte nach unten. Er machte in diesem Augenblick wirklich keinen besonders intelligenten Eindruck. »Sie …, Sie müssen sich getäuscht haben«, stotterte er endlich. »Dr. Gerlitz hat doch in seiner Kartei meinen Namen angegeben. Er ist bestimmt ein gewissenhafter Mann.«

»Es gibt keinen Zweifel«, beharrte der Arzt. »Sie haben die sehr häufig vorkommende Blutgruppe Null. Das Kind aber …«

»Das ist doch nur graue Theorie, Doktor. Inges Mann ist seit einem Unfall zeugungsunfähig.«

»Trotzdem sollten wir ihn als möglichen Spender in Betracht ziehen. Kennen Sie seine Anschrift?«

Ganz in Gedanken nannte Christian die Anschrift des Dirigenten.

»Wir werden ihn sofort anrufen«, erklärte der Arzt und eilte davon.

»Aber das hat doch keinen Sinn«, rief Christian ihm nach. Völlig verwirrt ließ er sich auf den nächsten Stuhl fallen. Was da durch Zufall festgestellt worden war, war so ungeheuerlich, dass er überhaupt nicht daran glauben konnte. Wenn er nicht Uwes Vater war, wer dann? Hatte Inge ihren Mann mit einem anderen betrogen? Aber das passte irgendwie nicht zu ihr, zu ihrer offenen, ehrlichen Art.

Christian zerwühlte mit den Fingern sein Haar, strich sich immer wieder über die Stirn. Wenn Uwe gar nicht sein Kind war, dann gab es auch nicht jene Bindung zwischen ihm und Inge, auf die er so fest vertraut hatte. Er war davon überzeugt gewesen, dass Inge ihn heiraten würde, weil er der Vater ihres Kindes war und weil sie wünschte, dass dieses Kind in einer richtigen Familie aufwuchs.

War nicht eine seltsame Vertrautheit zwischen ihm und dem kleinen Jungen gewesen? Doch vielleicht lag dies an Uwes freundlicher Art. Er fand zu allen Menschen rasch Kontakt, wurde von ihnen sofort akzeptiert.

»Das kann doch nicht wahr sein«, stöhnte Christian Gentsch und sah flehend zur Tür. Doch niemand kam, um ihm eine Antwort auf seine vielen brennenden Fragen zu geben. Es war, als habe sich alles gegen ihn verschworen.

Wenn man nicht rechtzeitig einen geeigneten Blutspender findet, muss Uwe vielleicht doch noch sterben, obwohl seine Verletzung gar nicht lebensgefährlich war, überlegte Christian weiter. Erneut nahm er seine unsinnigen Wanderungen durch den Warteraum wieder auf. Nur zu gern hatte er das geglaubt, was Norbert Hellbach ihm in seiner Eifersucht ins Gesicht geschrien hatte. Er war bereit gewesen, alle Pflichten eines Familienvaters zu übernehmen, aber doch nur deshalb, weil er sich in die junge blonde Frau verliebt hatte, die von ihrem Mann so herzlos behandelt worden war.

Jetzt erst verstand Christian, weshalb Inge kein Interesse an ihm hatte. Sie musste das Geheimnis gekannt haben. Aber sie wagte es nicht, darüber zu reden, weil Norbert Hellbach sonst noch eifersüchtiger werden würde.

Arme Inge! Wer wohl dieser andere war? Hatte sie ihn geliebt? Hatte er sie schändlich im Stich gelassen, als er von dem Baby erfahren hatte? Und wie würde Norbert Hellbach reagieren, wenn er erfahren würde, dass es noch einen dritten Mann gab, der Inge gegenüber von Liebe sprach? Wahrscheinlich würde er seiner Frau eine furchtbare Szene machen.

Doch das würde er, Christian, verhindern. Er würde treu zu Inge stehen, obwohl nun alles ganz anders war.

Christian unterbrach seine ruhelose Wanderung vor dem Fenster. Er lehnte seine heiße Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe. Erst jetzt fühlte er die Müdigkeit seiner Glieder.

*

Norbert Hellbach stand gerade an der Bar und griff nach der Flasche, als der Rettungswagen des Roten Kreuzes eintraf und ihn abholte. Es wurde nicht lange gefragt. Man schob den Dirigenten einfach in den Wagen – und ab ging’s in sausender Fahrt. Telefonisch hatte man den Dirigenten davon unterrichtet, dass Uwe in Lebensgefahr war und dass er dringend eine Blutübertragung brauchte.

Immer wieder sah Norbert Hellbach den Fahrer von der Seite her an. Sollte er ihm sagen, dass dieser Einsatz sinnlos war? Er war nicht der Vater des kleinen Uwe, konnte es gar nicht sein. Deshalb war er auch als Blutspender uninteressant. Doch diese Beteuerungen würden den Krankenwagenfahrer nicht überzeugen. Er tat nur seine Pflicht.

Unruhig rutschte Norbert Hellbach auf seinem Sitz hin und her. Ob er in diesem Krankenhaus wohl Inge treffen würde? Sie war am Vormittag nach Sophienlust abgefahren. Eigentlich musste sie längst dort sein. Doch weshalb dieser Unfall mit Uwe?

War es nicht vielleicht besser, wenn das Kind starb? Dieses Kind, das keine echten Eltern hatte, dieses Kind aus der Retorte? Norbert Hellbach biss die Zähne aufeinander.

Uwe hatte viel Unruhe und Ärger in sein Leben gebracht, und doch konnte er den Kleinen nicht hassen. Nur sich selbst hasste er. Und dies war auch der Grund dafür, dass er immer wieder zur Flasche griff. Er wollte seine eigenen Fehler vergessen, wollte vergessen, dass er die Frau, die er liebte, verloren hatte.

Der Fahrer des Krankenwagens hatte das Blaulicht eingeschaltet. Als sie jetzt die ersten Häuser der Stadt passierten, benutzte er auch das Martinshorn. Ohne Aufenthalt raste der Wagen über die Kreuzungen, hielt schließlich mit quietschenden Bremsen vor einem Nebeneingang des Krankenhauses.

Ehe Norbert sich umsehen konnte, war schon ein Mann im weißen Kittel neben ihm, führte ihn ins Labor.

»Ihre Bemühungen sind sinnlos, Doktor«, keuchte Norbert Hellbach halb ängstlich, halb entrüstet. »Ich bin nicht der Vater des Kleinen. Deshalb vergeuden Sie mit mir nur sinnlos Ihre Zeit. Sie müssen diesen jungen Mann suchen. Christian Gentsch heißt er. Er kann Ihnen behilflich sein.«

Eine resolute Frau griff nach Norberts Finger, und gleich darauf spürte er einen Nadelstich.

»Die Untersuchung dauert nur knapp zwei Minuten«, tröstete der Mann im weißen Kittel. »Wenn Sie als Spender tatsächlich ungeeignet sind, bringen wir Sie danach wieder zurück.«

»Aber ich sage Ihnen doch …« Norbert sah auf die Perle dunkelroten Bluts, die sich auf seiner Fingerkuppe bildete. Mit einem kleinen, dünnen Glasröhrchen saugte die Laborantin die rote Flüssigkeit auf.

»Das Kind ist in Lebensgefahr«, unterbrach der Arzt ihn schroff. »Deshalb müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen. Wir haben Blutkonserven per Fernschreiber angefordert. Doch das dauert viel zu lange. Bis sie hier sind, ist es wahrscheinlich zu spät.«

»Aber nützt es Ihnen, nützt es Uwe, wenn Sie Ihre Zeit mit mir vertrödeln?« Norbert wäre am liebsten davongelaufen. Er wusste ja seit Langem, dass er nicht der Vater des Jungen war. Er brauchte keine offizielle Bestätigung.

»Da die Mutter nicht über die entsprechende Blutgruppe verfügt, müssen wir …«

»Die Mutter?«, unterbrach Norbert den Arzt. »Ist sie denn hier?«

»Ein Taxi hat sie vor einigen Minuten hierhergebracht. Man hat ihr in Sophienlust wohl erzählt, was passiert ist.« Voll Mitleid dachte der Mediziner an die hübsche junge Frau, die so verzweifelt am Bett ihres Kindes stand.

Die Laborantin hatte ein elektrisches Gerät eingeschaltet und zuvor das kleine Glasröhrchen hineingesteckt. Jetzt las sie aufmerksam die Skala ab. Sie reichte dem Arzt einen Zettel mit den Werten.

Überrascht schaute er ihr über die Schulter, kontrollierte die Zahlen. Sie stimmten, es gab keinen Zweifel.

»Na, das nenne ich Glück haben! Kommen Sie!« Der Mann im weißen Kittel fasste Norbert Hellbach am Arm, zog ihn förmlich mit sich fort.

»Wohin denn?«, fragte der Dirigent und wehrte sich gegen die Bevormundung.

»Es ist bereits alles zur Blutübertragung vorbereitet. Sie spüren kaum etwas davon.« Der Arzt schob den Dirigenten in einen weißgefliesten Raum mit vielen blitzenden Geräten.

Auf einer Bahre lag der kleine Uwe. Man hatte ihm einen unförmigen Kopfverband angelegt. Seine Augen waren geschlossen. Er atmete schwach. Bleich waren seine dicken Bäckchen. Seltsam starr und leblos sah er aus.

Norbert erschrak. War das das Kind, das so fröhlich durch die Wohnung getobt war? Das Kind, das so herzlich lachen, so glücklich strahlen konnte?

»Aber ich bin doch nicht der Vater«, stöhnte er gequält. Als man ihn auf eine Liege drücken wollte, stemmte er sich mit aller Kraft dagegen.

»Vertrauen Sie uns bitte, Herr Hellbach. Im Interesse des Kindes.«

»Sie werden Uwe umbringen, wenn Sie ihm mein Blut übertragen«, keuchte Norbert angstvoll. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Darüber reden wir später. Ich sagte Ihnen doch schon, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.« Der Arzt streifte Norberts Ärmel hoch, desinfizierte seinen Unterarm. Mit größter Sorgfalt wählte er die Vene aus, stach die Nadel hinein. Eine Schwester hielt schon den dünnen glasklaren Plastikschlauch bereit.

Man musste Norbert Hellbach festschnallen, um zu vermeiden, dass er sich immer wieder hochstemmte.

»Halten Sie doch bitte den Arm ruhig, sonst rutscht die Nadel wieder heraus. Wollen Sie denn Ihrem Kind nicht helfen? Wollen Sie denn, dass es stirbt?« Die Stimme des Mediziners klang vorwurfsvoll. Er erlebte in seinem Beruf oft die sonderbarsten Dinge. Doch dass ein Vater sich weigerte, seinem schwerverletzten Sohn zu helfen, das war neu.

»Wenn es mein Sohn wäre!«, rief Norbert Hellbach aufgebracht. »Aber er trägt doch nur meinen Namen. Sie dürfen sich davon nicht täuschen lassen, Herr Doktor.«

»Da Sie dieselbe seltene Blutgruppe besitzen wie der kleine Uwe, gibt es aus medizinischer Sicht an Ihrer Vaterschaft keinen Zweifel«, antwortete der Mann im weißen Kittel ruhig. Er beugte sich über das Kind auf der Trage neben dem Dirigenten und überprüfte den Sitz der Schläuche.

Norbert Hellbach verdrehte die Augen. Dann sagte er so langsam und deutlich, als spreche er zu einem Irren: »Meine Frau hat dieses Kind durch eine künstliche Befruchtung empfangen, weil ich selbst nicht in der Lage bin … Ich hatte als junger Mensch einen schweren Unfall. Die Ärzte sagten mir damals, dass ich nie Vater werden kann.«

Der Mann, der jetzt aufmerksam die Blutübertragung kontrollierte, lächelte mild. »Auch Ärzte irren sich manchmal.«

»Sie glauben … Sie meinen …« Norbert Hellbach kämpfte mit den Gurten, die seinen Oberkörper auf der Liege festhielten. Zu gern hätte er sich aufgerichtet. Doch es ging nicht. »Das ist doch nicht möglich!« Er begriff die ganze Welt nicht mehr. Er, der im Beruf so glänzende Erfolge hatte, war längst überzeugt gewesen, privat ein Versager zu sein. Dass es nun doch anders sein sollte, konnte er nicht glauben.

»Und weshalb nicht? Sie sind doch gesund, führen eine glückliche Ehe.« Der Mann im weißen Kittel schüttelte leicht den Kopf. Wie konnte man sich nur so stur stellen?

Langsam begriff der Dirigent, dass der Arzt die Wahrheit sagte.

Uwe war tatsächlich sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut. Und er hatte dieses hilflose Geschöpf so hässlich behandelt. Tief beschämt sah er hinüber. Still und friedlich lag der kleine Junge da. Ein dünner Plastikschlauch verband ihn selbst mit ihm. Ein Plastikschlauch, durch den unaufhörlich Blut floss. Sein Blut für das Kind. Kaum merklich röteten sich bereits die bleichen Lippen.

Ganz plötzlich erfasste Norbert Hellbach eine tiefe Zuneigung zu dem kleinen Wesen, das er noch vor Tagen so schroff abgelehnt hatte. Jetzt, da er wusste, dass Uwe sein Kind war, schämte er sich seines Verhaltens. Er schloss die Augen.

*

»Jetzt wird alles gut«, flüsterte wenig später eine Stimme neben ihm. Eine Stimme, die sanft und zärtlich klang wie das Rauschen des Sommerwindes. Eine Stimme, die er sofort erkannte.

Norbert riss die Augen auf. Wieder hinderten ihn die Gurte daran, emporzuschnellen. »Inge, kannst du mir verzeihen?«, stöhnte er. »Kannst du vergessen, was für böse Dinge ich gesagt habe, wie herzlos ich gegen dich war? Es tut mir so leid. Wie sehr, das kann ich gar nicht ausdrücken.« Er tastete mit der freien Hand nach Inges Fingern, berührte sie sanft und schüchtern.

»Ich konnte dich immer sehr gut verstehen«, antwortete die hübsche blonde Frau leise. »Ich weiß, welche Belastung es für dich war, dass ein anderer Uwes Vater sein sollte. Warum haben wir nie daran gedacht, dass es auch anders sein könnte? Ich bin so froh, dass nun der Beweis erbracht ist. Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass Uwe unser Kind ist. Du ahnst nicht, wie glücklich mich das macht. Jetzt beginnt unser gemeinsames Leben erst richtig. Jetzt werden wir endlich eine glückliche Familie sein.«

»Du willst bei mir bleiben? Nach allem, was ich dir angetan habe?«

»Du hast es nur aus Liebe zu mir getan. Weil du eifersüchtig warst und gekränkt. Unzufrieden mit dir selbst. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Es ist alles vorbei.«

Norbert Hellbach holte tief Luft. »Inge, du bist eine wundervolle Frau. Eine Frau, die ich nicht verdient habe. Niemals hätte ich gedacht, dass ein Mensch so großzügig sein kann.«

»Er kann es nur, wenn er einen Menschen so sehr liebt wie ich dich.« In Inges ausdrucksvollen braunen Augen spiegelte sich unendliche Zärtlichkeit. Sie beugte sich hinab, küsste Norbert innig auf den Mund.

»Ich würde dich so gern in die Arme nehmen«, stöhnte er. »Doch leider kann ich mich kaum rühren. Wir müssen es auf später verschieben.« Tränen brannten in Norberts Augen. Tränen der Freude.

»Wir werden viel Zeit haben, Norbert. Und wir werden noch viel glücklicher sein als je zuvor.« Behutsam strichen Inges zarte Finger über das Gesicht ihres Mannes. »Es hat nie einen anderen für mich gegeben. Und das wird auch so bleiben«, raunte sie liebevoll.

»Du weißt nicht, was du mir damit schenkst, Inge. Neues Leben, neuen Mut, neue Kraft. Ich werde wieder arbeiten, werde nie mehr trinken. Ich schwöre dir, das ist endgültig vorbei. Ich will Uwe ein guter Vater sein, will ihm alles geben, was er sich wünscht.« Es war Norbert Hellbach ernst mit dieser Aussage. Sehr ernst.

»Ich habe immer gewusst, dass ich einen guten Mann habe. Den besten, den ich mir wünschen kann.« Erneut küsste Inge die sehnsüchtig geöffneten Lippen ihres Mannes. Die Schwester, die noch im Raum war, sah diskret zur Seite.

*

Christian Gentsch stand noch immer am Fenster des Warteraums, als Inge eintrat. Nervös fuhr er herum, starrte sie ungläubig an. Dann ging er ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen, wollte sie stürmisch hineinschließen.

Doch die zierliche junge Frau wich geschickt aus. »Ich habe Ihnen zu danken«, sagte sie und streckte Christian die Hand hin. Ihre Stimme klang so glücklich, dass der junge Mann aufhorchte.

»Uwe wird wieder gesund? Hat man die Blutkonserven bekommen?«

»Man hat seinen Vater gefunden«, antwortete Inge bewegt.

»Seinen Vater? Ach so …« Traurig senkte Christian den Kopf. »Er ist der Mann, den Sie heiraten werden, nicht wahr?« Es war Christian klar, dass er verzichten musste. All die schönen Zukunftsträume zerrannen wie Eis in der Julisonne.

»Nein.« Inge lächelte verträumt. »Wir sind längst verheiratet.«

»Hellbach?« Christians schmales Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Die Blutuntersuchung hat ergeben, dass Norbert der Vater des kleinen Uwe ist. Jeder Zweifel daran ist ausgeschlossen. Die Ärzte, die Norbert damals jene unheilvolle Nachricht übermittelten, haben sich getäuscht.«

»Dann bin ich überflüssig hier.« Christians Kopf sank immer weiter herab.

»Ihnen haben wir es zu verdanken, dass Uwe sofort in ärztliche Behandlung kam, dass er gerettet werden konnte. Eine Viertelstunde später wäre jede Hilfe zu spät gekommen.« Inge griff nach Christians Händen, drückte sie herzlich. »Bleiben Sie unser Freund, Christian. Uwe hat Sie gern. Besuchen Sie ihn manchmal.«

»Ich weiß nicht … Vielleicht muss erst einige Zeit vergehen, ehe ich wieder zu mir selbst finde.«

»Sie sind noch so jung, Christian. Eines Tages werden Sie Ihrer großen Liebe begegnen, und dann werden Sie froh und glücklich darüber sein, dass Sie noch frei sind.«

Traurig schüttelte der junge Mann in den zerrissenen Jeans den Kopf. »Das wird lange dauern. Ich werde in den nächsten Jahren sehr viel arbeiten, werde meine ganze Kraft für mein Studium brauchen.«

»Es ist gut, dass Sie es zu Ende führen können. Wenn Sie es mir zuliebe abgebrochen hätten, wären Sie früher oder später unzufrieden gewesen. Es hätte unsere Gemeinschaft stark belastet.«

»Sie sind eine sehr schöne, kluge Frau, Inge. Ich gönne Ihnen Ihr Glück von ganzem Herzen. Und auch Norbert. Er ist ein wertvoller Mensch, wie man ihn nur sehr selten findet, ein begnadeter Künstler. Wenn ich es mir erlauben kann, werde ich ab und zu seine Konzerte besuchen.«

»Sie bekommen natürlich Freikarten, Christian. Ich werde daran denken.«

»Hier ist noch etwas für Uwe. Geben Sie es ihm bitte.« Christian zog den roten Spielzeugrennwagen aus der Tasche. »Leben Sie wohl«, murmelte er und wandte sich rasch ab.

*

»Schau mal, der Besuch verabschiedet sich gerade.« Nick bremste sein Fahrrad etwas ab.

Pünktchen sah bekümmert zum Portal des Herrenhauses von Schoeneich. »War doch ganz gut, dass wir am See gewartet haben«, sagte sie.

Gleich darauf fuhr das Auto mit den Besuchern an ihnen vorbei. Das Ehepaar im Wagen winkte den Kindern freundlich zu.

Auch Denise von Schoenecker, die noch auf der Freitreppe stand, hatte ihren Ältesten und Pünktchen bemerkt.

»Jetzt gibt es kein Ausweichen mehr«, raunte Nick. Er war in diesem Augenblick nicht besonders mutig und wäre am liebsten wieder umgekehrt.

»Beeilt euch ein bisschen. Es ist noch Kuchen da!«, rief Denise gutgelaunt.

»Hab keinen Appetit«, antwortete Nick im Näherkommen. Auch das blonde Mädchen schüttelte den Kopf.

»Das gibt es doch nicht, dass ihr keinen Kuchenhunger habt«, amüsierte sich Denise. »Überhaupt seid ihr so kleinlaut. Was ist denn los?«

»Tante Isi«, schluchzte Pünktchen, die die Tränen nicht länger zurückhalten konnte, »es ist etwas Furchtbares passiert.« Sie lehnte ihr Rad an die Mauer und lief auf die hübsche jugendliche Frau zu. Weinend schlang sie die Arme um Denises Taille.

»Wir haben es bestimmt nicht gewollt, Mutti«, seufzte Nick. Bekümmert sah er auf seine staubigen Sandalen.

»Kommt herein und erzählt der Reihe nach.« Denise legte den Arm um Pünktchen und führte die Kleine zu der Sesselgruppe vor dem Kamin in der Halle. Angenehm kühl und ruhig war es hier.

»Da ist doch dieses Kind in Bachenau verschwunden«, begann Nick und bekam vor Verlegenheit glühendheiße Ohren. »Und da dachten wir, es wäre gut, wenn wir ein bisschen aufpassen würden. Ich weiß ja, Mutti, dass uns das alles nichts angeht. Aber der Mann, der Uwe von den anderen weggelockt hat, sah tatsächlich verdächtig aus.« Nick drehte nervös an einem Knopf seines Hemdes.

»Ja, und dann haben wir Herrn Kirsch verständigt«, berichtete Pünktchen weinend.

»Es war auch dumm, dass der Mann weggelaufen ist, als Herr Kirsch kam. Und dann war Uwe ohne Aufsicht. Er ging ans Gatter zu den Pferden. Und dann muss ihm sein Spielzeug hineingefallen sein. Als er es holen wollte, traf ihn ein Huf am Kopf.« Nick atmete schwer. »Mutti, du musst uns helfen. Du musst nach Uwe sehen. Er muss doch wieder gesund werden.« Nick war so verzweifelt, dass seine Stimme ganz weinerlich klang.

»Wir wollen auch nie mehr so etwas tun«, versicherte Pünktchen. »Wir wollen immer zuerst fragen, ob das, was wir vorhaben, richtig ist.« Pünktchen saß auf der äußersten Kante des Sessels wie ein Häuflein Elend.

»Können wir denn nichts unternehmen, damit Uwe wieder gesund wird?« Nick hätte sich am liebsten die Haare gerauft.

Denise blieb ernst. Vor einigen Minuten hatte Schwester Regine hier angerufen. Auch sie war völlig verzweifelt gewesen. Auch sie hatte sich schwere Vorwürfe gemacht.

»Wie hätten wir denn wissen sollen, dass so etwas passiert«, jammerte Pünktchen. »Und dass ausgerechnet der kleine Uwe von einem Pferd getreten wird.«

»Und dann noch so gefährlich«, ergänzte Nick.

»Es ist gut, dass ich eben mit Frau Hellbach gesprochen habe. Sie rief mich aus der Klinik an.«

Die Augen der Kinder waren nun auf Denise gerichtet. »Und?«, fragten sie bang.

Denise lächelte ermutigend. »Uwe hat Glück im Unglück gehabt. Die Verletzung war nicht so schwer, als man zunächst glaubte. Nur der hohe Blutverlust war gefährlich für ihn. Doch man konnte seinen Vati holen, der ihm Blut spendete.« Absichtlich verschwieg Denise den Kindern das, was sie Schwester Regine erzählt hatte. Nämlich, dass dieser Unfall für Uwe und dessen Mutter fast als Glücksfall zu bezeichnen war. Denn durch ihn hatte das Kind seinen Vater gefunden. Es war ausgerechnet der Mann, der Uwe zuvor leidenschaftlich abgelehnt hatte. Inge Hellbach war so überglücklich gewesen, dass sie Denise am Telefon ihre ganze Geschichte erzählt hatte. Jetzt war auch klar, weshalb die junge Mutter ihr Kind unter einem Vorwand nach Sophienlust gebracht hatte. Zu keinem Zeitpunkt hatte Inge Hellbach ihren Jungen abschieben wollen. Sie hatte darum gekämpft, in ihrem Mann die Liebe zu Uwe zu wecken. Fast wäre sie gescheitert. Doch dann war durch diesen Unfall schlagartig die Wahrheit ans Licht gekommen, eine Wahrheit, die vielleicht ohne dieses Geschehen für immer verborgen geblieben wäre. Vielleicht hätte dann Norbert Hellbach, der begabte Dirigent, nie erfahren, dass er einen Sohn hatte.

»Wird Uwe nun wieder gesund?«, fragte Pünktchen und sprang erfreut hoch. »Wird er wieder richtig laufen und lachen können?«

»Die Ärzte haben es Frau Hellbach versichert.«

»Ist das wirklich wahr?« Nick konnte so viel Glück gar nicht fassen.

»Kommt er wieder zu uns?« Pünktchens Stimme jubelte.

»Schon in ein oder zwei Wochen wird Uwe wieder so fröhlich herumspringen wie zuvor, aber er wird nicht nach Sophienlust zurückkehren. Er wird in Zukunft wieder bei seinen Eltern leben.«

»Eine schlechte Nachricht für unsere gute Martha«, ließ sich da eine dunkle Männerstimme vernehmen. »Sie ist doch ganz vernarrt in den kleinen Uwe. Und sie wollte ihn unbedingt hier in Schoeneich haben, weil es ihr bei uns viel zu ruhig ist.«

Alexander von Schoenecker lachte übers ganze Gesicht. Mit langen Schritten ging er zu seiner Frau und küsste sie zur Begrüßung zärtlich auf die Wange. »Womit bewiesen ist, dass du mit deiner Meinung über Inge Hellbach völlig Recht hattest«, raunte er, nur für sie verständlich.

Nick und Pünktchen brauchten einige Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Sie hatten fest damit gerechnet, dass diesmal ein Strafgericht in Schoeneich über sie hereinbrechen würde. Und nun gab es nur lachende Gesichter.

»Vati, hast du denn schon Feierabend gemacht?«, fragte der große Junge verblüfft.

»Wenn Martha so gern mehr Kinder hier sehen möchte, dann kommen wir einfach öfter nach Schoen­eich. Es ist ja nicht weit.« Pünktchens Augen leuchteten vor Begeisterung so strahlend blau wie der Himmel draußen.

»Ein durchaus vernünftiger Vorschlag«, erwiderte der Hausherr schmunzelnd. Er stand hinter Denise und hatte zärtlich die Hände auf ihre Schultern gelegt. »Dann wird es unserer treuen Martha nicht mehr an Gelegenheit fehlen, ihre Koch- und Backkunst unter Beweis zu stellen.«

Alexander schien rundherum zufrieden zu sein. Trotzdem traute Nick der Ruhe nicht ganz. Bestimmt würde das dicke Ende noch nachkommen. Vati würde schimpfen, weil er wieder einmal eigenmächtig gehandelt hatte.

Alexander bemerkte den ängstlichen Blick des Jungen. »Ich habe heute etwas früher Schluss gemacht«, beantwortete er Nicks Frage, »weil ich euch etwas mitteilen wollte.«

Nick schluckte und schloss sekundenlang ergeben die Augen, während Pünktchen sich auf die Lippen biss.

»Polizeimeister Kirsch hat mich angerufen«, fuhr Alexander fort.

Jetzt also kam’s. Nick hätte sich am liebsten beschämt die Ohren zugehalten. Doch eigentlich sah sein Stiefvater gar nicht böse aus.

»Er hatte keine Gelegenheit mehr, euch zu sagen, dass sich der Fall des verschwundenen kleinen Mädchens geklärt hat. Durch eure Mithilfe übrigens. Er ist euch sehr dankbar.« Voll Stolz sah Alexander auf den Jungen und das hübsche blonde Mädchen.

»Hat man die Kleine gefunden?«, erkundigte sich Pünktchen schüchtern.

»Sie ist wieder bei ihrer Mutti und ganz gesund.«

»Und der Verbrecher?« Nicks rege Phantasie gaukelte ihm schon wieder erregende Verfolgungsjagden vor.

Alexander nahm auf der Sessellehne neben seiner Frau Platz und wippte lausbubenhaft mit den Beinen. Sein rechter Arm lag um Denises Schultern.

»Es gab keinen Verbrecher.«

»Aber wieso …?« Nicks Augen wurden kugelrund.

»Nur eine unvernünftige Oma.« Alexander ließ sich nicht unterbrechen. »Sie hat das kleine Mädchen als Säugling betreut und hängt wohl sehr an ihm. Als nun die Eltern die Kleine zu sich nahmen, war sie böse. Sie weigerte sich, das Kind herauszugeben. Doch das nutzte ihr natürlich nichts. Da sie sich nicht damit abfinden konnte, holte sie die Kleine heimlich zu sich.«

»Ich verstehe gar nicht, was unsere Kinder in diesem Fall zur Klärung beitragen konnten«, wunderte sich Denise.

»Die Stoffpuppe, die ihr gefunden habt, war es, die die Eltern auf die richtige Spur brachte. Die Schwiegermutter der jungen Frau hatte das Kind nämlich versteckt und leugnete, es überhaupt gesehen zu haben. Die Puppe, die sie selbst genäht und dem Kind mitgebracht hatte, war jedoch der Beweis dafür, dass sie in Bachenau gewesen sein musste.«

»Aber woher wusste man, dass sie diese Puppe genäht hatte?« Pünktchens kindliche Wangen glühten vor Eifer.

»Sie hatte dem kleinen Mädchen schon früher ähnliche Puppen geschenkt.«

»Aber wir haben die Puppe doch außerhalb von Bachenau gefunden.« Nick fühlte ein bisschen Genugtuung in sich. Die Kameraden hatten ihm nicht glauben wollen, dass die nasse Puppe etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Und nun war es doch so.

»Sie muss in den Bach gefallen sein, als die Oma mit der Kleinen in aller Eile über die Brücke ging. Bei Regen hat der Bach ja immer Hochwasser. So wurde die Puppe abgetrieben.«

»Ich hab’s ja gleich gewusst.« Jetzt war Nick plötzlich ganz vergnügt. Wie ein Verschwörer blinzelte er Pünktchen zu.

»Zum Glück ist alles gut ausgegangen. Doch wenn ihr wieder einmal Detektiv spielt, dann möchte ich gern unterrichtet sein.« Vergeblich versuchte Denise, ihrer Stimme Strenge zu verleihen. Es gelang ihr jedoch nicht, weil sie in diesen Minuten viel zu glücklich war.

»Na klar!«, versicherte Nick strahlend.

Pünktchen drückte dankbar Denises Hand. »Ich verspreche es dir, Tante Isi!«

»Martha, was halten Sie davon, wenn wir Pünktchen zum Abendbrot einladen?«, fragte Alexander die Köchin, die gerade mit dem Einkaufskorb in die Halle kam.

Ein fröhliches Lächeln breitete sich auf Marthas rundem Gesicht aus. »Da muss ich ja ein Gedeck mehr auflegen«, meinte sie erfreut.

»Das werden Sie künftig öfter tun müssen«, prophezeite der Hausherr. »Richten Sie sich gleich darauf ein, dass auch Henrik einen kleinen Freund mitbringt.«

*

Die letzten Töne der Musik verklangen. Tosender Beifall brauste auf. Die Menschen erhoben sich von ihren Stühlen, drängten nach vorn, um den begnadeten Künstler aus der Nähe sehen zu können.

»Ich habe noch nie etwas so Schönes gehört«, sagte Irmela, die zwischen Denise und Fabian saß.

Alle größeren Kinder von Sophienlust waren zu diesem Konzert Norbert Hellbachs eingeladen worden. Da es nachmittags stattgefunden hatte, war sogar Henrik mitgenommen worden. Es war eine begreifliche Aufregung gewesen, bis schließlich alle in den beiden VW-Bussen gesessen hatten. Die beiden Köchinnen, Magda und Martha, die ebenfalls mit von der Partie waren, hatten vorsichtshalber einen großen Korb voll Süßigkeiten eingepackt, die bereits auf der Fahrt in die Kreisstadt verspeist worden waren.

Seit vielen Tagen hatten die Kinder von Sophienlust nur noch von dem bevorstehenden großen Ereignis gesprochen. Nun hatte es sich als ergreifender und überwältigender gezeigt, als sie alle angenommen hatten.

Martha wischte sich Tränen der Rührung aus den Augen, und Magda bedauerte, dass sie keine Blumen hatte, um sie auf die Bühne zu werfen. Dort stand Norbert Hellbach im Scheinwerferlicht und verbeugte sich liebenswürdig nach allen Seiten. Ein zufriedenes, glückliches Lächeln huschte über sein schmales Gesicht.

Jetzt lief ein kleiner Junge mit dunkelblonden Locken auf die Bühne und überreichte seinem Vati ein süßes Biedermeiersträußchen. Stolz nahm es der Dirigent entgegen. Er hob das Kind auf seine Arme, drückte es liebevoll an sich und küsste es auf beide Wangen.

Der Beifall steigerte sich, galt nun nicht nur dem Künstler, sondern auch dem glücklichen Vater. Eine junge blonde Frau gesellte sich zu den beiden, wurde von Norbert und dem kleinen Uwe stürmisch in die Arme geschlossen.

»Ich glaube, Inge Hellbach ist inzwischen noch hübscher geworden«, stellte Alexander von Schoenecker schmunzelnd fest. »Wobei ich aber betonen möchte, dass du für mich immer die Schönste bleibst, Isi.« Zärtlich streichelte er Denises Hand.

Pünktchen stieß ihren großen Freund Nick an. »Schau mal, wer dort drüben ist«, raunte sie.

Nick wandte den Kopf. »Der Verbrecher«, seufzte er und verdrehte die Augen.

»Er heißt Christian Gentsch und macht bald seinen Doktor«, stellte das Mädchen richtig.

»Sag bloß nicht wieder, dass du ihn nett findest.« Lachend drohte Nick seiner kleinen Freundin mit dem Zeigefinger.

Sophienlust Staffel 14 – Familienroman

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