Читать книгу Sophienlust Staffel 15 – Familienroman - Elisabeth Swoboda - Страница 6
Оглавление»Mutti?«
Ungeduldig drehte sich Carsta Fernau nach ihrer kleinen Tochter um.
Ulrike war barfuß und im Nachthemd. Als sie den abweisenden Blick der Mutter sah, schob sie schnell zwei Finger in den Mund.
»Was willst du denn noch?« Carsta hatte telefonieren wollen. Jetzt knallte sie den Hörer zurück auf die Gabel.
Ulrike zuckte zusammen. Hilflos gruben sich ihre kleinen Zehen in den flauschigen Teppichboden. Sie hatte nur noch etwas fragen wollen. Und jetzt war die Mutti schon wieder böse.
»Du sollst doch längst im Bett sein. Warum bist du noch nicht in deinem Zimmer?«
»Niemand hat mich nach oben gebracht«, wisperte Ulrike.
»Herrgott noch mal! Du bist doch kein Baby mehr«, explodierte Carsta. »Mit vier Jahren solltest du wirklich schon selbstständiger sein.«
»Was ist denn los?« Ein hochgewachsener Mann betrat das luxuriöse Wohnzimmer.
Sofort lief Ulrike zu ihm. »Vati!«
»Bringe deine Tochter ins Bett«, befahl Carsta. »Sie kann das nicht allein.«
»Sie ist nicht nur meine, sondern auch deine Tochter«, sagte Daniel Fernau mit leisem Tadel in der Stimme. Doch er nahm Ulrike liebevoll auf den Arm und ging mit ihr aus dem Zimmer.
Gereizt blickte Carsta ihm nach. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und begann wieder eine Telefonnummer zu wählen. Belegt. Sie knallte den Hörer zurück auf die Gabel, ging unruhig im Zimmer auf und ab und begann wieder zu wählen.
Endlich erklang das Freizeichen. Gleich darauf wurde am anderen Ende abgehoben. Eine weibliche Stimme meldete sich.
Bei dem nun stattfindenden Gespräch ging es um Ulrike. »Ich kann mich einfach nicht mehr um das Kind kümmern«, klagte Carsta. »Ich bin mit Arbeit überlastet.«
»Drehst du wieder einen Film?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.
Carsta bejahte. »Ich habe gestern einen Fernsehfilm beendet. Morgen muss ich zu Probeaufnahmen nach Rom fliegen. Und so geht es weiter. Mir bleibt keine Zeit, Mutter zu spielen.« Sie lauschte einen Moment in den Hörer. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Na, wunderbar! Das werde ich gleich Daniel sagen. Vielen Dank, meine Liebe. Du hast mir damit einen großen Gefallen getan.«
»Womit?«, fragte Daniel, als Carsta den Hörer wieder aufgelegt hatte.
Carsta wirbelte herum. »Monika hat mir einen großen Gefallen getan«, erzählte sie aufgekratzt. »Sie hat ein Heim gefunden, das bereit ist, Ulrike für einige Zeit aufzunehmen.«
»Ein Kinderheim?«, fragte Daniel entgeistert. »Du willst Ulli in ein Heim geben?«
»Was sollen wir denn sonst mit ihr machen?«, fragte Carsta ungeduldig. »Du hast keine Zeit, dich um sie zu kümmern. Und ich stecke bis zum Hals in Dreharbeiten. Ulrike kann nicht sich selbst überlassen bleiben.«
»Nein. Das kann sie allerdings nicht.« Daniel sank in einen der tiefen Sessel und stützte den Kopf in beide Hände.
»Gibt es denn keinen anderen Ausweg als ein Kinderheim?«, fragte er nach einer Weile.
»Sophienlust ist kein normales Heim«, erklärte ihm seine Frau geduldig. »Es soll ein wahres Paradies für Kinder sein.« Rasch erzählte sie ihm, was sie eben von ihrer Freundin erfahren hatte.
Daniel nickte. »Na gut. Es bleibt uns ja wohl auch nichts anderes übrig.« Er dachte an seine Firma, die kurz vor dem Ruin stand. Wenn es ihm nicht gelang, neue Aufträge zu bekommen, war alles verloren. Dann muss ich auch das Haus hier verkaufen, dachte er. In dieser Situation habe ich wirklich keine Zeit, mich auch noch um Ulrike zu kümmern.
Carsta hatte inzwischen ständig weitergesprochen, und er hatte zu allem genickt.
»Wenn du willst, kannst du Ulrike schon in den nächsten Tagen nach Sophienlust bringen«, sagte sie jetzt. »Hier habe ich alles aufgeschrieben. Wo das Heim liegt und wie die Heimleiterin heißt.« Sie reichte ihm einen Zettel, den er apathisch einsteckte.
»Wann fliegst du nach Rom?«
»Morgen oder übermorgen«, antwortete sie und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie trug einen langen Hausmantel aus weißer Seide. »Wenn die Probeaufnahmen gut ausfallen, bekomme ich die Hauptrolle.« Sie trat zu dem hohen Barockspiegel und betrachtete sich prüfend. Zuerst ihr Gesicht, dann ihre gertenschlanke Figur. Es gibt nichts an mir auszusetzen, dachte sie. Ich kann es mit jeder Achtzehnjährigen aufnehmen, was mein Aussehen betrifft. Und was Erfahrung und Können angeht, bin ich jeder jungen Schauspielerin überlegen.
»Wie viel bekommst du für die Hauptrolle in diesem Film?«, fragte Daniel.
Carsta schürzte die Lippen. »Hunderttausend sind es bestimmt.«
Er hielt unwillkürlich die Luft an. Nur die Hälfte davon würde ausreichen, um den drohenden Konkurs von meiner Firma abzuwenden, dachte er und schaute seine schöne Frau an, die ein paar Grimassen vor dem Spiegel schnitt. »Es ist eine komische Rolle«, sagte sie.
Doch Daniel hörte ihr gar nicht zu. Ihn beherrschte nur noch ein Gedanke. Wenn Carsta mir hilft, wenn sie nur einen Teil ihrer Gage in mein Unternehmen steckt, sind wir gerettet, dachte er. Er schaute sie fragend an. »Was willst du mit dem vielen Geld machen?«
»Bis jetzt habe ich es noch nicht.«
»Aber wenn du es kriegst«, sagte er drängend. »Nehmen wir einmal an, du bekommst die Rolle?«
Sie wirbelte in einer Pirouette herum. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mein sauer verdientes Geld in dein Pleiteunternehmen stecke?«
»Aber, Carsta …«
Weiter kam er nicht. »Du weißt doch genauso gut wie ich, dass du ruiniert bist«, erklärte sie hart.
»Ich könnte wieder hochkommen. Das, was mir fehlt, ist Kapital.«
»Und Aufträge«, ergänzte sie. »Was nützt es, wenn ich mein Geld in dein Unternehmen stecke und du keine Aufträge heranbringst? Dann ist mein Geld auch noch beim Teufel.«
Damit hatte sie natürlich recht. »Ich werde Aufträge heranschaffen«, versprach er ihr.
»Ach, was!« Sie winkte ab. »Hör doch auf, mir Märchen zu erzählen.«
»Aber es ist doch auch dein Unternehmen, Carsta! Schließlich sind wir verheiratet.«
Sie überhörte die Verzweiflung in seiner Stimme. »Es ist dein Unternehmen. Ich will nichts damit zu schaffen haben. Klar?«
Er nickte. Gedemütigt und deprimiert. Nach ein paar Minuten stand er auf und ging aus dem Zimmer, weil er einfach nicht mehr zusehen konnte, wie unbekümmert sie vor dem Spiegel hin und her tanzte.
»Wann bringst du Ulrike in das Kinderheim?«, rief sie ihm nach.
»Morgen.« Ihre Antwort hörte er nicht mehr, weil er die Tür hinter sich zuschlug.
Seit zwei Jahren hatten sie getrennte Schlafzimmer. In dieser Nacht war Daniel zum ersten Mal froh darüber. Keine Minute länger hätte er seine Frau ertragen. Ist es ihr denn wirklich völlig gleichgültig, was aus unserer Firma wird?, fragte er sich. Was aus unserem Kind wird? Und was aus unserer Ehe wird? Als er Carsta geheiratet hatte, war sie eine unbekannte kleine Schauspielerin gewesen. Sie hatte damals kaum etwas verdient. Er aber hatte gerade die Fabrik und die Villa in München geerbt gehabt und war stolz gewesen, seiner schönen jungen Frau all diesen Luxus bieten zu können. Vielleicht hätte ich sie gar nicht heiraten sollen, dachte er. Doch gleich darauf erschrak er über diesen Gedanken. Schließlich liebte er Carsta. Trotz all ihrer Launen. Nur dieser Egoismus machte ihn nachdenklich. So war sie doch früher nicht, überlegte er.
Erschrocken zuckte er zusammen, als das Telefon läutete. Er hob ab, denn er erwartete trotz der späten Stunde noch einen Anruf seines kaufmännischen Direktors.
»Ohne fremdes Kapital kommen wir aus den roten Zahlen nicht heraus«, hörte er den Mann sagen. Genau das hatte er befürchtet.
»Auch nicht durch plötzlichen Auftragseingang?«, fragte er.
»Auch dann nicht. Ich habe zusammen mit einem Wirtschaftsberater unsere Lage sehr genau überprüft, wie Sie es angeordnet haben, Herr Fernau.«
Daniel bedankte sich und legte auf. Jetzt kann mich nur noch ein Wunder retten, dachte er.
Inzwischen hatte Carsta ihren Auftritt vor dem Spiegel beendet und war ebenfalls in ihr Schlafzimmer gegangen. Hier öffnete sie den fünf Meter langen Kleiderschrank. Ihr Schlafzimmer war so groß wie bei anderen Leuten eine große Wohnung. Ich muss mit einer guten Garderobe in Rom auftauchen, dachte sie und nahm einige Kleider aus dem Schrank. Sie betrachtete sie und hängte sie schließlich kopfschüttelnd wieder in den Schrank zurück. Alles ungeeignet, dachte sie. Ich brauche etwas Neues. Schick und raffiniert muss es sein. Es muss auch meine Figur betonen, darf mich aber nicht billig machen. Gleich morgen hebe ich fünftausend Euro von meinem Konto ab und gehe einkaufen, beschloss sie. Gut, dass Daniel Ulrike schon morgen ins Heim bringen will.
Bevor Carsta sich schlafen legte, machte sie ausgiebig Toilette. Mein Gesicht ist schließlich mein wichtigstes Kapital, sagte sie sich. Gut, dass meine Haut nicht zur Faltenbildung neigt.
*
Carsta saß bereits beim Frühstück, als die betagte Haushälterin Ulrike hereinbrachte. Die Kleine schnüffelte und richtete ihre großen blauen Augen flehend auf die Mutter. »Muss ich wirklich weg?«
Carsta schaute ungeduldig auf die Uhr. Ich hätte das Haus schon früher verlassen sollen, dachte sie. Jetzt wird es eine Weile dauern, bis ich das Kind beruhigt habe. »Komm einmal her«, sagte sie.
Hoffnungsvoll lief Ulrike um den Tisch herum.
»Jetzt putz dir erst einmal die Nase. Wie siehst du denn aus?«
Folgsam trompetete Ulrike in ihr Taschentuch. »Lässt du mich hierbleiben, Mutti?«
»Das geht nicht, Kind«, lautete die unwirsche Antwort.
Ein neuerlicher Tränenstrom war die Folge.
Da sprang Carsta auf. »Ich muss jetzt gehen. Vati wird mit dir frühstücken und dich dann nach Sophienlust bringen. Dort gefällt es dir bestimmt.« Sie gab der Kleinen einen flüchtigen Kuss und rauschte aus dem Zimmer.
Verloren stand Ulrike neben dem Frühstückstisch. Ihre Tränen flossen jetzt so stark, dass auch die Nase nicht untätig blieb. Sie schnüffelte und fuhr sich schließlich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Das sah die Haushälterin, die gerade mit Kakao und frischen Brötchen kam.
Sie putzte Ulrike die Nase und setzte sie an den Tisch. Eine Schande ist es, wie diese Mutter ihr Kind behandelt, dachte sie dabei. »Weine nicht mehr, mein Kleines. Vielleicht gefällt es dir in diesem Kinderheim sogar besser als zu Hause.«
Doch Ulrike schüttelte schnüffelnd den Kopf. Für sie war eine Welt zusammengebrochen.
Eine halbe Stunde später war sie mit ihrem Vater unterwegs nach Sophienlust. Sie weinte jetzt nicht mehr, aber sie sprach auch nicht. Sie war in völlige Apathie versunken.
Daniel Fernau war so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie sehr seine Tochter litt. »Ich werde dich wieder nach Hause holen, sobald es geht«, versprach er ihr, als sie Sophienlust erreicht hatten.
Ulrike machte sich ganz klein in dem großen Auto. Sie hatte Angst. Vor dem fremden Haus, vor den vielen fremden Kindern und auch vor dem großen Hund, der jetzt zum Auto kam.
»Barri, komm zurück«, rief eines der Kinder. Es war Pünktchen. Sie hatte gesehen, dass das kleine Mädchen beim Aussteigen zusammengezuckt war. Barri hatte sie mit seiner weichen Schnauze angestupst. Die Kleine konnte ja nicht wissen, dass Barri gutmütig war und nur spielen wollte. Immerhin war er ein ausgewachsener Bernhardiner, vor dem ein kleines Mädchen schon Angst bekommen konnte.
»Komm zurück, Barri«, befahl Pünktchen noch einmal. Da endlich gehorchte der Hund. Er hörte auf, das fremde kleine Mädchen zu beschnuppern, und lief zu Pünktchen zurück.
Erleichtert ließ Ulrike die erhobenen Arme sinken und warf Pünktchen einen dankbaren Blick zu.
Die arme Kleine hat ja entsetzliche Angst, dachte Pünktchen, als sie diesen gequälten Blick sah. Sie drückte Henrik das Hundehalsband in die Hand und kam zu Ulrike.
»Ich heiße Pünktchen«, sagte sie und lächelte. »Du bist Ulrike, nicht wahr?«
Ulrike nickte. »Woher weißt du das?«, fragte sie schüchtern.
»Von unserer Heimleiterin. Wir nennen sie Tante Ma.« Pünktchen deutete auf Else Rennert.
Aber auch die mütterliche Heimleiterin sah in Ulrikes Augen drohend und gefährlich aus. Ängstlich klammerte sich die Kleine an Pünktchens Hand. Das war im Moment ihr einziger Halt. Ihr Vati wollte sie ja allein lassen.
Daniel Fernau hatte soeben Else Rennert und Denise von Schoenecker begrüßt. »Wir wissen schon Bescheid«, sagte Denise freundlich. »Eine Freundin Ihrer Frau hat uns gebeten, Ulrike für einige Zeit aufzunehmen.«
Daniel nickte. »Ich möchte Ihnen gern erklären, aus welchen Gründen wir uns zu einem solchen Schritt entschlossen haben.«
»Gern«, sagte Denise. »Wir gehen gleich anschließend ins Biedermeierzimmer. Aber jetzt möchte ich erst einmal Ihre kleine Ulrike begrüßen. Sie sieht sehr verschüchtert aus.«
»Ulrike war schon immer ein sehr ängstliches und zurückhaltendes Kind«, sagte Daniel und winkte seiner Tochter. »Komm her, Ulrike.«
Doch Ulrike ließ Pünktchens Hand nicht los. »Ich komme mit«, beruhigte Pünktchen die Kleine und ging mit ihr zu Denise von Schoenecker.
Diese verstand die Not des Kindes und machte nicht viel Worte. Sie streichelte die blassen Kinderwangen und nahm dann Ulrike spontan auf den Arm.
Das war etwas Neues für Ulrike. Ihre Mutter nahm sie schon lange nicht mehr auf den Arm. Nicht einmal auf den Schoß, weil sie immer befürchtete, ihre Kleider könnten zerdrückt werden. Und jetzt wurde sie hier von einer ganz wildfremden Frau gestreichelt und sogar auf den Arm genommen. Vielleicht waren die vielen fremden Menschen doch nicht so garstig, wie sie aussahen?
»Ihr habt noch genügend Gelegenheit, Ulrike kennenzulernen«, sagte Denise zu den Kindern.
Die verstanden, was damit gemeint war, und zerstreuten sich.
»Die Kleine tut mir richtig leid«, sagte Irmela, als Denise mit ihrem Besuch im Haus verschwunden war.
Vicky nickte. »Mir auch. Sie hatte vor Angst ganz große kugelrunde Augen. Gut, dass sich Pünktchen gleich um sie gekümmert hat.«
»Bei so etwas ist Pünktchen ganz groß«, erklärte Nick. »Sie hat einfach einen sechsten Sinn dafür, dass jemand Hilfe braucht.«
In diesem Moment trat Pünktchen mit Ulrike aus dem Haus. »Ich gehe mit Ulrike zu den Ponys«, rief sie den Kindern zu.
»Wir kommen mit!« Henrik spurtete hinter den beiden her. Dabei dachte er: Das, was Pünktchen fertigbringt, das kann ich schon lange. Er lachte Ulrike offen an und nahm sie ebenfalls bei der Hand. »Jetzt passen wir auf, dass dir niemand etwas tut«, sagte er.
Ulrike lächelte schüchtern zurück. Sie fühlte sich schon ein bisschen sicherer. Auch freute sie sich auf die Ponys.
Auf dem Weg zur Ponywiese erzählte Pünktchen von den Tieren in Sophienlust. »Der große Bernhardiner, der dich begrüßt hat, heißt Barri. Er ist sehr lieb und anhänglich und gutmütig.«
»Und gar nicht böse«, ergänzte Henrik schnell, denn er wollte auch etwas sagen. »Außerdem haben wir noch einen Papagei, der richtig sprechen kann.«
Ulrike schaute ihn ungläubig an.
»Wirklich«, versicherte Henrik ihr. Er war nun ganz in seinem Element. Bis zur Weide redete er ununterbrochen und nahm Ulrike damit die erste Scheu. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als zuzuhören.
Doch als sie doch eine Frage beantworten musste und alle Kinder sie anschauten, wurde sie rot und begann zu stottern.
»Ulrike erzählt euch das später«, sagte Pünktchen schnell. Schützend legte sie ihren Arm um Ulrikes Schultern.
Neidisch schaute Henrik zu. So gut wie Pünktchen kann ich das natürlich nicht, dachte er. Aber sie ist ja auch ’n Mädchen. Mädchen können so etwas immer besser. Um Ulrike zu zeigen, dass er sie auch mochte, schenkte er ihr seine selbstgeschnitzte Pfeife aus Weidenholz. »Du kannst darauf richtig pfeifen. Pass auf, ich zeige es dir.« Er blies hinein, bis ein Ton herauskam. Dann reichte er die Pfeife Ulrike.
Die Kleine nahm sie ganz fest in die Hand und betrachtete sie mit einem glücklichen kleinen Lächeln.
*
Während sich die Kinder um Ulrike bemühten, unterhielt sich Denise von Schoenecker mit Daniel Fernau. Er schilderte ihr die Situation seiner Ehe und die Katastrophe, die sich in seinem Werk anbahnte.
»Was stellt Ihre Firma eigentlich her, Herr Fernau?«, fragte Denise.
»Kameras und Fotozubehör. Es ist ein moderner, vollkommen technisierter Betrieb, dem nur Kapital, das heißt, neue Aufträge fehlen.«
»Könnte Ihnen Ihre Frau da nicht ein bisschen unter die Arme greifen?«, fragte Denise. »Als Filmschauspielerin bekommt sie doch sicher hohe Gagen?«
»Ja, sie bekommt sehr hohe Gagen«, sagte Daniel langsam. »Aber sie ist nicht bereit, das Geld oder einen Teil davon in mein Werk zu stecken – aus Angst, es zu verlieren.«
Denise sagte nichts mehr. Dazu gab es auch nichts zu sagen. Eine solche Haltung verriet schon alles.
»Zuerst war ich dagegen, Ulrike in ein Heim zu geben«, berichtete Daniel. »Schließlich ist sie weder Vollwaise noch Halbwaise, sondern hat Eltern und ein Zuhause.«
»Manchmal ist der Umgang mit Gleichaltrigen für die Entwicklung eines Kindes aber gesünder«, bemerkte Denise.
»Sie haben mir die Worte aus dem Mund genommen«, pflichtete Daniel ihr bei. »Nachdem ich Sophienlust jetzt gesehen habe, bin ich sicher, dass der Aufenthalt hier meiner Tochter nur guttun wird. Sie wurde zu Hause sehr vernachlässigt. Ich kann mich nicht um das Kind kümmern, weil mich der Existenzkampf in Atem hält. Und meiner Frau ist ihre Karriere wichtiger.« Er schwieg.
Auch Denise hatte nichts mehr zu sagen. Sie versicherte ihm nur noch einmal, dass man in Sophienlust alles für das Wohlergehen von Ulrike tun werde.
Daraufhin verabschiedete sich Daniel von Denise. Von Ulrike verabschiedete er sich auf der Weide. Er nahm sie ein wenig beiseite.
Trotzdem schauten die anderen Kinder zu.
»Nun starrt doch nicht so neugierig hinüber«, schimpfte Nick. Sofort wandten sich alle Köpfe ab.
»Sei schön brav und vergiss Vati nicht«, sagte Daniel zu seiner kleinen Tochter und gab ihr einen Kuss.
Ulrike schluckte. »Gehst du jetzt?«
»Ja, mein Kleines. Ich muss nach Hause zurück und arbeiten. Fleißig arbeiten, damit wir dich bald wieder heimholen können.«
»Muss Mutti auch arbeiten?«
»Ja«, sagte Daniel. Dabei dachte er: Sie muss nicht, aber sie will.
»Die Kinder hier haben gesagt, dass meine Mutti berühmt ist. Was ist berühmt, Vati?«
Daniel überlegte. »Berühmt ist man, wenn jeder weiß, wer man ist. Zum Beispiel ganz fremde Leute.«
»Ist das schön?«
Daniel seufzte. »Für Mutti ist es schön, berühmt zu sein. Für sie ist es sogar das Allerschönste. Jetzt muss ich wieder gehen.« Er nahm Ulrike in die Arme und presste sie an sich. Mein kleines Mädchen, dachte er. Nur der Himmel weiß, wie schwer es mir fällt, dich jetzt hier zurückzulassen. »Ich komme bald wieder und besuche dich«, versprach er. »Nicht weinen. Nicht doch!« Er holte schnell sein Taschentuch heraus und trocknete ihr die Tränen.
Als er über den Rasen davonging, wollte Ulrike ihm nach. Aber Pünktchen war schon bei ihr und hielt sie zurück. Sie setzte sich ins Gras und zog Ulrike an ihre Seite.
»Ist Ulrikes Mutter wirklich ’ne Filmschauspielerin?«, fragte Henrik währenddessen die anderen Kinder zweifelten.
»Klar«, sagte Irmela. »Die berühmte Carsta Fernau. Die kennt doch jeder.«
»Ich nicht.« Henrik rümpfte verächtlich die Nase. Eine Mutter, die ihr Kind fortschickte, war in seinen Augen ein Versager. Da konnte sie so berühmt sein wie sie wollte.
»Doch«, widersprach ihm Irmela. »Carsta Fernau kennt wirklich jeder. Aber meistens sind ihre Filme für Jugendliche nicht zugelassen.«
»In einen habe ich mich einmal hineingeschlichen«, gestand Nick. »Ich weiß jetzt bloß nicht mehr, wie er hieß.«
»Und wie war er?«, fragte Irmela neugierig. »Oder wie war sie? Carsta Fernau?«
»Ganz toll«, schwärmte Nick.
Daraufhin rümpfte Henrik noch einmal die Nase. Jetzt fängt er auch schon an zu spinnen, dachte er. Als Nick dann sogar weiterschwärmte und Carsta Fernau beschrieb, wurde es ihm zu viel. Er lief zu Pünktchen und Ulrike, die noch immer im Gras saßen, und setzte sich zu ihnen.
Nach einer Weile gesellte sich auch der Bernhardiner zu ihnen. »Er ist neugierig«, sagte Henrik. »Deshalb kommt er. Er will wissen, wie du riechst.«
»Wie ich rieche?«, fragte Ulrike erschrocken.
»Ja doch. Hunde gehen nach dem Geruch. Sie müssen alles beschnuppern. Siehst du, jetzt beschnuppert er dich.«
Erschrocken wich Ulrike zurück.
»Lass ihn doch. Er tut dir nichts«, versicherte Henrik. »Du kannst ihn sogar streicheln. Versuch’s einmal.«
Ganz zögernd hob Ulrike ihre kleine Hand. Aber sie wagte es nicht, den großen Hund zu berühren.
Da nahm Pünktchen Ulrikes Hand und drückte sie Barri auf den Kopf.
Nichts geschah. Ulrike stellte überrascht fest, dass der Hund nicht schnappte und nicht knurrte. Da bewegte sie ihre Finger. Wie weich sein Fell war. Noch weicher als der Teppich zu Hause.
»Siehst du«, freute sich Henrik. »Jetzt streichelst du ihn sogar schon.«
Barri begann Ulrikes Hand abzulecken. Das kitzelte, und sie lächelte. Zum ersten Mal.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Henrik.
»Vier«, wisperte Ulrike. »Aber noch nicht ganz. Ich habe erst im …« Sie musste einen Moment nachdenken.
»Wann hast du Geburtstag?«, fragte Pünktchen.
»In einem Monat, der Oktober heißt.«
»Dann bist du unser jüngstes Kind.« Henrik klatschte erfreut in die Hände. »Du darfst alles machen, was du willst.«
Ulrike lächelte schüchtern. Dann schaute sie interessiert zu, wie Pünktchen aus Wiesenblumen einen Kranz drehte. »Der ist aber schön«, sagte sie, als der Kranz fertig war.
»Ich schenke ihn dir.« Pünktchen setzte ihn auf Ulrikes blondes Köpfchen. »Jetzt bist du unsere Wiesenkönigin.«
Ulrike hob vorsichtig die Hand, um den Kranz zu berühren. »Zeigst du mir einmal, wie man das macht?«
»Natürlich. Wir flechten den nächsten Kranz gemeinsam«, versprach Pünktchen. »Aber jetzt müssen wir zurück zum Haus. Es gibt gleich Mittagessen. Außerdem will ich dir noch dein Zimmer zeigen. Du schläfst mit Heidi zusammen.«
Ulrike hätte gern gefragt, welches Mädchen Heidi war, aber sie war noch immer sehr schüchtern. Sie wagte es kaum, Fragen zu stellen.
»Heidi ist heute nicht da«, erzählte Pünktchen. »Sie ist mit Schwester Regine, unserer Kinderschwester, zum Tierheim gefahren, weil ihre Häschen krank geworden sind.«
Ulrike wusste nicht, was ein Tierheim ist. Und was das für Häschen waren, konnte sie sich auch nicht vorstellen. Pünktchen erklärte es ihr geduldig.
»Heidi ist sehr lieb. Sie lässt dich bestimmt mit ihren Häschen spielen. Und wenn wir das nächste Mal zum Tierheim fahren, nehmen wir dich auch mit.«
Nick war als Erster zum Haus zurückgelaufen. Jetzt kam er mit seinem Fahrrad über den Wiesenweg geradelt.
»Bleibst du nicht zum Mittagessen hier?«, fragte Pünktchen.
Nick schüttelte den Kopf. »Ich radle nach Schoeneich zurück. Ich will Vati heute Nachmittag auf seinem Ritt über die Felder begleiten.«
»Dann kommst du wohl erst morgen wieder herüber?«, fragte Pünktchen enttäuscht.
»Vielleicht auch heute Abend. Dann bleibe ich über Nacht hier.« Nick schwang sich auf sein Fahrrad. Doch dann stieg er noch einmal ab und wandte sich an Ulrike: »Willst du ein Stück mit mir fahren? Auf dem Gepäckträger?«
Die Kleine schob zwei Finger in den Mund und schüttelte den Kopf. Dabei errötete sie leicht. Größere und ältere Jungen hatten sie schon immer eingeschüchtert.
»Na, komm schon«, drängte Nick lächelnd. »Dabei passiert dir nichts. Du fällst nicht herunter, wenn du dich an mir festhältst. Oder hast du Angst?«
Ulrike schüttelte den Kopf.
»Also, dann los!«, befahl Nick.
Irmela hob Ulrike auf den Gepäckträger. »Leg deine Arme um Nick.
Ja, so ist’s richtig. Und jetzt halte dich fest.«
»Fertig, los!« Nick trat in die Pedale. Ulrike hielt sich krampfhaft an ihm fest. Aber es machte ihr Spaß.
Mit erhitzten Wangen und leuchtenden Augen ließ sie sich nach einer Runde wieder vom Rad heben, und Nick fuhr endgültig nach Schoeneich.
*
Als Daniel Fernau nach Hause kam, hielt gerade ein Taxi vor seiner Villa. Der Fahrer schleppte Berge von Tüten und Schachteln ins Haus.
»Meine neue Garderobe«, sagte Carsta, als er ins Wohnzimmer kam und entsetzt den Berg von Tüten und Päckchen anstarrte.
»In deinem Schlafzimmer steht ein meterlanger Schrank. Der ist gestopft voll.«
Carsta winkte ab. »Alles unmodern. Nicht mehr zu gebrauchen. Schließlich fliege ich morgen nach Rom, um die Hauptrolle in einem internationalen Film zu bekommen. Da kann ich nicht in abgetragenen Sachen erscheinen.«
»Kein einziges deiner Kleider ist abgetragen«, sagte Daniel. »Dazu trägst du viel zu wenig und hast du viel zu viel. Was du monatlich für Garderobe ausgibst, davon leben andere Familien ein halbes Jahr.«
Sie begann zu lachen. »Deine Vergleiche sind großartig. Aber du hast keinen Grund, dich zu beklagen. Das bezahle ich alles von meinem eigenen Geld.«
»Ich weiß«, sagte er bitter. Dann wechselte er das Thema. »Möchtest du nicht wissen, wie deine Tochter untergebracht ist?«
»Natürlich«, sagte sie, während sie einen Karton mit Kosmetikartikeln öffnete. »Wie ist dieses Kinderheim?«
»Traumhaft«, sagte er begeistert. Dann erzählte er ausführlich von Sophienlust.
Carsta legte überrascht ihre Kosmetika aus der Hand und hörte ihm zu. »Dann hat Monika also doch nicht übertrieben. Sie hat genauso begeistert von diesem Sophienlust erzählt wie du. Bestimmt gefällt es Ulrike dort.«
»Ja, aber sie gehört eigentlich gar nicht hin.«
»Wie meinst du das?«, fragte Carsta.
»Sophienlust ist für Kinder da, die in Not sind. Ulrike ist aber weder ein Waisenkind, noch ein echter Notfall. Sie hat Eltern und sie hat ein Zuhause. Eigentlich gehört sie gar nicht nach Sophienlust. Sie nimmt vielleicht einem anderen, wirklich bedürftigen Kind den Platz weg.«
»Ich verstehe nicht, warum du dir darüber Gedanken machst.« Carsta prüfte die Farbe ihres neuen Lippenstiftes. »Das ist doch eine Frage, die die Leute in Sophienlust zu entscheiden haben. Und wenn sie Ulrike angenommen haben …«
»In Sophienlust wird nur selten ein Kind abgewiesen«, unterbrach Daniel seine Frau ungeduldig. Es ärgerte ihn, dass sie diese Frage wie eine Bagatelle abtat und dass ihr ganz offensichtlich ihre Kosmetikartikel und ihre Filmpläne, von denen sie jetzt wieder zu sprechen begann, wichtiger waren. Ulrike hatte sie schon wieder vergessen.
»Hilfst du mir, die Päckchen hochzutragen?«
Daniel lud sich einen Berg von Tüten auf den Arm und trug sie in Carstas Schlafzimmer. »Willst du das alles mitnehmen?«, fragte er entsetzt, als er die drei großen Koffer sah, die neben ihrem Bett standen. »Ich denke, du bleibst nur ein paar Tage?«
»Voraussichtlich ja. Aber ganz genau kann man das ja nicht wissen. Ich hoffe nur, dass ich die Rolle bekomme.«
»Wenn du diese Rolle nicht bekommst, dann eben irgendeine andere«, sagte Daniel. »Du kannst es dir doch aussuchen, so gefragt, wie du bist.«
»Mir liegt aber gerade an dieser Rolle besonders viel.« Carsta streifte ihr Kleid ab und schlüpfte in einen Hausmantel.
»Wieso gerade an dieser?«, fragte Daniel.
»Weil es eine amerikanisch-italienische Gemeinschaftsproduktion ist. Diese Leute zahlen am meisten. Außerdem habe ich dadurch die Möglichkeit, auch in Amerika bekannt zu werden.«
Daniel schaute seine Frau nachdenklich an.
Wenn sie die Rolle wirklich bekommt, verdient sie sehr viel Geld, dachte er. Vielleicht hilft sie mir dann doch noch. Ganz bestimmt tut sie es. Schließlich geht es ja um unsere gemeinsame Zukunft.
»Was überlegst du?«, fragte Carsta. Aber der Klang ihrer Stimme verriet, dass es sie nicht sonderlich interessierte.
»Nichts«, sagte Daniel. Er fand, das war nicht der richtige Augenblick, sie um finanzielle Unterstützung zu bitten. Wenn sie die Rolle bekommen hat, werde ich sie fragen, beschloss er und stand auf. »Wollen wir noch ein Glas Wein zusammen trinken?« Er fuhr ihr liebkosend übers Haar. »Du bist sehr schön«, sagte er rau. »Manchmal beneide ich deine vielen Fans.«
»Warum?«, fragte sie irritiert.
»Weil sie mehr von dir haben als ich. Weißt du eigentlich, dass ich dein Schlafzimmer seit Wochen nicht mehr betreten habe?«
»Bitte, werde jetzt nicht kindisch, Daniel.«
»Kindisch nennst du das?«
»Natürlich. Ich gehöre doch dir, auch wenn wir wenig Zeit füreinander haben. Ich bin trotz allem deine Frau.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und wandte sich dann sofort wieder ihren Koffern zu, die noch gepackt werden mussten. »Ich muss noch packen. Bitte, lass mich jetzt allein.«
»Natürlich.« Er ging aus dem Zimmer.
Obwohl es schon spät war, fuhr er noch einmal zu seinem Büro. Die Werkshallen lagen im Dunkeln. Nur der Nachtwächter begrüßte ihn. »Sie wollen doch nicht etwa noch arbeiten, Herr Direktor?«
»Ich muss«, sagte Daniel. »Außerdem arbeite ich ganz gern nachts, weil ich dann mehr Ruhe habe.« Er nickte dem alten Mann zu und eilte weiter.
*
Auf dem Flughafen von Rom drängten sich die Reporter und Fotografen. Sie warteten auf die Maschine aus München, mit der Carsta Fernau eintreffen sollte. Nur wenig später sollte aus Los Angeles noch ein Hollywoodschauspieler kommen. Er war der männliche Hauptdarsteller der Gemeinschaftsproduktion.
Carsta war an den Rummel mit Fotografen und Reportern gewöhnt. Sie genoss es sogar, im Mittelpunkt zu stehen.
Langsam stieg sie die Gangway herab. Sie lächelte in die Blitzlichter der Fotografen und beantwortete ein paar Fragen.
Ein bereitstehender Wagen brachte sie in ihr Hotel, holte sie jedoch nach einer halben Stunde schon wieder ab, um sie zu den Filmstudios zu bringen.
Hier wurde Carsta zunächst der junge Amerikaner vorgestellt. Er war blond, hühnenhaft groß und lächelte mit typisch amerikanischem Charme. Carsta fand ihn hinreißend und sagte ihm das auch.
Das verbreiterte sein Lächeln um einige Nuancen. »Ich glaube, wir werden uns gut verstehen«, sagte er.
»Wenn wir zusammenarbeiten«, schränkte Carsta ein. »Ich habe die Rolle noch nicht.« Ihr Englisch war fast perfekt.
»Sie bekommen sie ganz bestimmt. Ich werde dem Produzenten sagen, dass ich in dem Film nur dann mitspiele, wenn Sie die weibliche Hauptrolle bekommen.«
Das tat er wirklich. Und da er in Amerika ein sehr zugkräftiger Star war, fügte man sich seinen Wünschen. Carsta bekam die Hauptrolle.
Das musste natürlich gefeiert werden. John lud sie ein, mit ihm das römische Nachtleben kennenzulernen.
Die beiden aßen in einem Luxusrestaurant gemeinsam zu Abend und bummelten dann von Bar zu Bar. Zwischendurch versuchte Carsta, ihren Mann in München anzurufen. Doch er war nicht zu Hause. Sie versuchte es in seinem Büro und erreichte ihn dort.
»Ich habe die Rolle bekommen, Daniel.«
»Na, großartig. Ich gratuliere. Wann kommst du zurück nach München?«
»Weiß ich noch nicht. Morgen oder übermorgen. Aber nur auf einen Sprung. Denn die Dreharbeiten sollen schon in der nächsten Woche beginnen.« Sie hielt die Hand über den Hörer, weil aus der Bar laute Musik erklang.
»Wo bist du eigentlich?«, fragte Daniel misstrauisch. »Im Hotel?«
»Ja. In der Bar«, log Carsta. »Mit ein paar Kollegen.« Auch das war eine Lüge, denn sie war mit John allein. »Wir unterhalten uns über das Drehbuch.« Das entsprach der Wahrheit. »Ich muss aufhören, Liebling. Bis morgen oder übermorgen. Wiedersehen.« Sie legte auf.
In seinem Büro in München starrte Daniel noch ein paar Sekunden auf den Hörer. Dann legte er ihn zurück auf die Gabel. Drehbuchbesprechung in einer Bar, dachte er. Um zwölf Uhr nachts.
Er hatte Carstas Bild in der Zeitung gesehen und auch eine Aufnahme des Amerikaners. Normalerweise litt er nicht unter Eifersucht. Aber welcher Ehemann blieb schon gleichgültig, wenn er seine Frau mit einem solchen Supermann allein in Rom wusste? Noch dazu in einer Bar?
Carsta kehrte erst am übernächsten Tag nach München zurück. Sie war in bester Stimmung, als sie Daniel das Drehbuch zeigte und ihm von dem neuen Film erzählte. »Und die Gage ist sogar noch höher, als ich erwartet hatte. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein«, antwortete er. »Wie so viel Geld aussieht, kann ich mir wirklich nicht mehr vorstellen. Das macht dich ja zu einer reichen Frau.«
Sie nickte und schnippte ein Haar von ihrem Rock.
»Carsta …« Daniel räusperte sich. »Nachdem deine Gage doch viel größer ist, als du erwartet hast …« Er räusperte sich noch einmal. »Ich meine, du könntest doch einen Teil davon in meine neue Produktion stecken. Damit wäre ich gerettet. Und du wärst meine Teilhaberin im Werk.«
»Besten Dank.« Sie war aufgesprungen. »Ich bin an einer Teilhaberschaft nicht interessiert. Dazu ist mir das Risiko zu groß.«
»Dann gib mir einen Kredit«, bat Daniel. »Leih mir das Geld. Ich zahle es dir mit Zinsen zurück.«
Carsta lachte trocken auf. »Du und zurückzahlen! Dass ich nicht lache. Jeder Cent, den ich in deine Firma stecke, ist für mich verloren. Genauso gut könnte ich das Geld zum Fenster hinauswerfen.«
Daniel starrte sie ungläubig an. »Heißt das, dass du mir nicht helfen willst?«
»Du hast mich richtig verstanden. Ich will nicht. Ich habe keine Lust, mein schwerverdientes Geld in dein Pleiteunternehmen zu stecken. Das kannst du wirklich nicht von mir verlangen.«
»Natürlich nicht«, murmelte er. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Plötzlich sah er sehr alt aus.
In seinem Arbeitszimmer goss Daniel sich einen doppelten Kognak ein und kippte ihn auf einen Zug hinunter.
Doch auch der Alkohol ließ ihn seine Erschütterung nicht überwinden. Wie bringt sie es nur fertig, so kaltschnäuzig zu sein?, fragte er sich. So völlig interessenlos? Es ist ihr absolut gleichgültig, ob mein Werk zugrunde geht oder nicht. Es ist ihr egal, was mit ihrem Kind geschieht. Und ich bin ihr genauso gleichgültig.
Das erkannte Daniel Fernau an diesem Abend zum ersten Mal mit absoluter Klarheit. Er musste sich eingestehen, dass er bis dahin einem Trugbild nachgelaufen war. Dem Traumbild einer warmherzigen, liebenden Ehefrau.
Aber das war Carsta nicht. Sie war egoistisch, kalt, karrierebesessen und gar nicht fähig, jemanden zu lieben außer sich selbst natürlich.
Die Außenaufnahmen des neuen Filmes wurden in Paris gedreht. Deshalb musste Carsta schon nach wenigen Tagen wieder abreisen. Nach Paris.
In den drei Tagen, die Carsta in der Villa in München-Grünwald verbracht hatte, war Daniel ihr aus dem Weg gegangen. Er war bitter enttäuscht, und er bemühte sich nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. Wozu auch?
Carsta merkte das gar nicht. Sie war mit ihren Gedanken schon bei den Dreharbeiten in Paris. Und bei John. Er war nicht nur ein Bild von einem Mann, wie sie sich auszudrücken pflegte, sondern auch sehr brauchbar, weil er so berühmt und daher ungeheuer einflussreich war. Ihm hatte sie schließlich die Hauptrolle in dem neuen Film zu verdanken. Und sie beschloss, sich dafür erkenntlich zu zeigen.
Daniel brachte seine Frau nicht zum Flughafen. Er verbrachte jetzt jede Stunde des Tages in seiner Fabrik, um zu retten, was noch zu retten war. Er arbeitete Tag und Nacht und erreichte so eine Besserung seiner Situation. Mit etwas Glück kann ich den drohenden Konkurs abwenden, dachte er. Ich brauche nur ein wenig Glück. Es sah auch so aus, als würde er dieses Glück haben. Ein paar größere Aufträge bahnten sich an.
Aus Paris kam eine Karte von Carsta mit ein paar nichtssagenden Worten. Gleichzeitig mit dieser Karte bekam Daniel einen Brief. Anjuta Fabricius lautete der handgeschriebene Absender.
Daniel betrachtete das Schreiben ratlos. Ich kenne keine Anjuta Fabricius, dachte er. Aber es war sein Name, der auf dem Kuvert stand. Also öffnete er den Brief. Und damit kehrte auch schlagartig die Erinnerung zurück. Die Erinnerung an jenen Urlaub an der Nordsee vor sieben Jahren. Damals hatte er ein junges Mädchen kennengelernt, das gerade zwanzig Jahre alt geworden war. Sie hatte Anjuta Fabricius geheißen. Und offensichtlich hieß sie immer noch so. Denn der Brief stammte von ihr.
Daniel überschlug die wenigen Zeilen und war ratlos. Das gibt es doch gar nicht, dachte er erschrocken. Sie kann mir doch nicht jetzt, nach so vielen Jahren, plötzlich dieses Geständnis machen. Er las den Brief noch einmal.
Anjuta schrieb, dass sie sehr lange habe suchen müssen, bis sie seine neue Adresse gefunden habe. Sie habe damals nach dem Urlaub an der Nordsee vor sieben Jahren ein Kind zur Welt gebracht. Du bist der Vater dieses Jungen, schrieb sie weiter.
Daniel las diesen einen Satz immer wieder. Danach folgte nur noch die Bitte, sie in Davos zu besuchen. Sie sei krank und zu einer Kur dort.
Daniel ließ den Briefbogen sinken. Er war völlig durcheinander. Anjuta hatte ein Kind von ihm zur Welt gebracht. Warum in aller Welt hatte sie ihn damals nicht davon unterrichtet?
Doch dann erinnerte er sich auch wieder an das, was sie beim Abschied vereinbart hatten: einander nie mehr wiedersehen. Denn Anja war die Tochter eines steinreichen Hamburger Reeders. Und der hätte einen armen Betriebswirt niemals als Schwiegersohn akzeptiert.
Ich war damals siebenundzwanzig, rechnete Daniel nach, und gerade mit meinem Studium fertig. Es war für ihn nicht einfach gewesen, sich dieses Studium selbst zu verdienen. Denn er war Vollwaise gewesen.
Niemand hatte ihn unterstützen können. Aber er hatte es trotzdem geschafft, sein Diplom zu machen. Und er hatte die Prüfung sogar mit Auszeichnung bestanden. Um sich selbst dafür zu belohnen, war er an die Nordsee gefahren und hatte Urlaub gemacht. Während dieses Urlaubs hatte er Anjuta kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie hatte seine Gefühle erwidert und ihm alles geschenkt, ihre Zärtlichkeit und ihre Liebe. Es waren wunderschöne Tage gewesen, voller Romantik und Poesie. Und der Abschied war schmerzhaft gewesen. Aber er hatte sich an sein Versprechen gehalten und nie mehr versucht, Anjuta wiederzusehen. Auch dann nicht, als ihm unverhofft die Erbschaft in München zugefallen war. Kurz darauf hatte er dann Carsta kennengelernt und geheiratet. Zu dieser Zeit war Carsta noch ein unbekanntes kleines Filmsternchen gewesen.
Daniel las Anjutas Brief noch einmal. Was kann sie bewogen haben, mich gerade jetzt wiedersehen zu wollen?, fragte er sich. Ihre Krankheit?
Er wusste nicht, was er tun sollte Nach Davos fahren? Das kann ich nicht, dachte er. Es ist Carsta gegenüber nicht fair. Aber war Carsta denn ihm gegenüber fair?
Einen ganzen Tag lang kämpfte Daniel mit sich. Während er mit seinen Angestellten sprach, neue Vorschläge prüfte und telefonierte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu Anjutas Brief zurück. Was sollte er tun?
Daniel ließ noch einen Tag vergehen. Der dritte Tag war ausgefüllt mit Besprechungen und Konferenzen, sodass er auch da keine Zeit zu einer Entscheidung fand.
Am vierten Tag entschloss er sich, Anjutas Brief zwar zu beantworten, aber nicht nach Davos zu fahren. Ich will von meiner Seite aus nichts tun, was meine Ehe gefährdet, sagte er sich. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass Carsta mich nicht mehr liebt oder nie geliebt hat. Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht ist unsere Ehe doch noch zu retten.
Es war ein warmer Sommerabend. Daniel saß vor dem geöffneten Fenster in seinem Arbeitszimmer und begann einen Brief an Anjuta zu schreiben.
Da läutete es.
Verwundert blickte er auf. Ich erwarte doch keinen Besuch, dachte er und ging zur Haustür.
Davor stand der Briefträger mit einem Eilbrief.
Daniel nahm den Brief, bedankte sich und ging zurück in sein Arbeitszimmer. Der Eilbrief kam von Anjuta.
Diesmal bat sie ihn flehentlich, um des Kindes willen zu ihr kommen. Aus jedem Wort dieses zweiten Briefes ging hervor, dass sie sehr verzweifelt war.
Angesichts dieser Situation brachte Daniel es nicht fertig, ihr abzuschreiben. Er zerriss den angefangenen Brief an sie und beschloss, am nächsten Morgen nach Davos zu fahren.
In dieser Nacht fiel es ihm schwer, Ruhe und Schlaf zu finden. Seine Gedanken eilten immer wieder zu Anjuta und zu seinem Kind, das er nicht einmal kannte. Ein Junge. Er musste inzwischen schon fast sieben Jahre alt sein. Wo wuchs er auf? Bei Anjuta? Fragen über Fragen und keine Antwort. Ich muss warten bis morgen, sagte er sich.
*
Daniel Fernau erreichte Davos am späten Nachmittag. Der hochgelegene Luftkurort war überfüllt mit Feriengästen und Touristen. Da er auf jeden Fall eine Nacht bleiben musste, suchte er sich zuerst eine Unterkunft. Erst danach fuhr er zu dem Sanatorium, in dem Anjuta untergebracht war. Er war so nervös, dass er einige Minuten in seinem Auto sitzen bleiben musste, um sich zu beruhigen. Erst dann stieg er aus und ging ins Haus.
Eine Schwester führte ihn einen endlosen Korridor entlang, von dem unzählige Türen abzweigten. Vor der vorletzten Tür im dritten Stock blieb sie stehen.
»Das ist das Zimmer von Fräulein Fabricius.«
»Vielen Dank, Schwester.« Daniel wartete, bis die Schwester sich entfernt hatte. Dann klopfte er. Als keine Antwort kam, drückte er die Klinke herunter und trat ein.
Zunächst sah er nur ein großes Bett und in den Kissen ein schmales Gesicht. Beim Nähertreten erkannte er sie wieder. Anjuta. Er war mit zwei Schritten an ihrem Bett, sank auf die Kante und drückte sein Gesicht in die durchsichtigen Hände, die sie ihm entgegenstreckte. »Anjuta!«
Plötzlich war alles, was er jahrelang vergessen gehabt hatte, wieder gegenwärtig. Der sonnige Nordseestrand, die lauen Nächte – und Anjutas Küsse. Nun lag sie hier. Blass, offensichtlich krank und mit Tränen in den Augen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie leise.
Daniel schluckte. »Verzeih, dass ich nicht sofort kam.« Er umfasste ihre schmalen Finger mit beiden Händen, als wollte er sie beschützen. Dann schauten die beiden sich lange an.
Keiner sprach. In Gedanken durchlebten sie beide noch einmal die gemeinsame Zeit vor so vielen Jahren. Wie konnte ich sie nur vergessen?, dachte Daniel. Die Zeit mit ihr war schöner als alles, was danach kam.
»Du hast dich nicht sehr verändert«, sagte Anjuta leise. »Ich habe sehr oft an dich gedacht, Daniel.«
Er drückte ihre Hände so sehr, dass es wehtat. »Warum hast du mir nichts von unserem Kind geschrieben, Anjuta?«
Er sah, dass sie mit den aufsteigenden Tränen kämpfte. »Wie heißt unser Sohn?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht.«
Er starrte sie an. »Du – weißt es nicht? Aber … er lebt doch?«
»Auch das kann ich dir nicht bestätigen.«
»Anjuta!« Es war ein hilfloser Ausruf der Verzweiflung. »Bitte, sag mir die Wahrheit!«
»Das will ich. Deshalb habe ich dich ja hierhergebeten.«
Sie begann zu husten und presste schnell ihr Taschentuch vor den Mund. Mit leiser Stimme begann sie dann zu erzählen. »Mein Vater und meine Stiefmutter waren entsetzt, als sie erfuhren, dass ich ein Kind erwartete. Sie verboten mir, dich zu verständigen. Und sie brachten mich weg, damit ja niemand von dieser Schande erfuhr. Eine Fabricius und ein uneheliches Kind! Das war undenkbar.«
»Wohin brachten sie dich?«, wollte Daniel wissen.
»An das entgegengesetzte Ende von Deutschland. Möglichst weit weg von Hamburg. Nach Oberbayern. In Rottach-Egern brachte ich mein Kind zur Welt. Aber sie ließen mir den Jungen nur zwei Tage lang. Dann nahmen sie ihn mir weg.« Anjuta presste schnell ein Taschentuch vor den Mund. Diesmal, um das aufsteigende Schluchzen zu unterdrücken.
Daniel wartete geduldig, bis sie sich wieder gefasst hatte. Erst dann stellte er die Frage, die ihn so brennend interessierte. »Wohin haben sie das Kind gebracht?«
Anjuta hob hilflos die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß es nicht. Sie haben es mir nicht gesagt. Und ich konnte es auch bis jetzt nicht herausfinden.« Sie schwieg.
Daniel war erschüttert. »Hast du es versucht? Ich meine, hast du versucht, den Aufenthaltsort des Kindes zu erfahren? Oder wenigstens, ob es noch lebt?«
»Ich bin überzeugt, dass mein Kind noch lebt. Wenn es gestorben wäre, hätten sie es mir gesagt. Aber wo es aufwächst, konnte ich nicht herausfinden, sooft ich es auch versucht habe«, gestand sie verzweifelt. »Sonja, das ist meine Stiefmutter, ist hart wie ein Granitfelsen. Alle meine Tränen konnten sie nicht rühren. Sie übt einen sehr starken Einfluss auf Papa aus.«
Die Schatten im Zimmer wurden länger und dunkler. Die Sonne war hinter den Bergen untergetaucht. Lange saß Daniel schweigend an Anjutas Bett. Erst die eintretende Schwester schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Sie knipste das Licht an und ließ die Jalousien herunter. Dann servierte sie Anjuta das Abendessen.
Anjuta bat, dass Daniel noch ein wenig bleiben dürfe. »Ich habe so vieles mit ihm zu besprechen, Schwester.«
»Aber selbstverständlich«, sagte die junge Schwester nickend. In diesem teuren Sanatorium war man gewohnt, sich nach den Wünschen der Patienten zu richten.
»Aber Sie müssen mir versprechen, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen«, verlangte die Schwester mit einem schelmischen Lächeln.
Anjuta versuchte es, doch sie musste mehr als die Hälfte stehen lassen.
»Sonja und Papa hatten für mich einen Mann ausgesucht«, erzählte sie nach dem Essen. »Einen sehr angesehenen und sehr vermögenden Ehemann.«
»Hast du ihn geheiratet?«
»Nein. Ich bin nach der Geburt des Kindes nie mehr richtig gesund geworden. Und eine kranke Frau wollte dieser Ehekandidat nicht. Außerdem wollte ich ihn auch nicht«, fügte sie lebhaft hinzu. Für einen Augenblick leuchteten ihre Augen auf. Doch der Glanz erlosch schnell wieder. »Ich wünschte, ich hätte die Courage gehabt, mich gegen meine Eltern durchzusetzen«, sagte sie leise. »Aber das konnte ich nicht. Und so trug ich die Sehnsucht nach meinem Kind jahrelang mit mir herum.« Sie schwieg erschöpft.
Wie muss sie gelitten haben, dachte Daniel. Und ich ahnte von alldem nichts. Er kam sich plötzlich sehr gemein vor. Fast wie ein Schuft.
Anjuta schien seine Gedanken zu ahnen. »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte sie leise. »Du wusstest ja nichts von dem Kind.«
»Nein. Aber jetzt weiß ich es. Sag mir, was ich tun soll, Anjuta. Wie kann ich dir helfen?«
Sie schaute ihn an. Ihre großen dunklen Augen flehten, als sie sagte: »Finde mein Kind, Daniel. Unser Kind. Ich möchte es noch einmal sehen. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.«
»Anjuta«, sagte Daniel erschrocken.
Doch sie schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß es schon lange. Der Gedanke ängstigt mich auch nicht mehr. Aber das Kind lässt mir keine Ruhe.«
»Ich werde es finden«, versprach Daniel, obwohl er in diesem Moment selbst noch nicht wusste, wie. Aber er war fest entschlossen, Anjuta zu helfen, das Kind zu finden. Schließlich war es ja auch sein Kind. »Hast du irgendeinen Anhaltspunkt, wohin sie es gebracht haben könnten?«
Anjuta nickte und richtete sich in den Kissen auf. »Ich habe einen Verdacht. In meinem Elternhaus gab es ein Hausmädchen. Stine Färber hieß sie. Diese Stine Färber schickten die Eltern mit mir nach Rottach-Egern. Sie war bei mir, bis ich das Kind auf die Welt brachte. Zwei Tage danach war sie verschwunden. Und mit ihr mein Baby.«
»Und du glaubst, dass dieses Mädchen das Kind mitgenommen hat?«
Anjuta nickte. »Ich bin dessen fast sicher. Denn Stine tat für Geld alles. Schon in Hamburg.«
Anjuta schwieg, und Daniel dachte ebenfalls nach. »Man müsste herausfinden, wo diese Stine Färber jetzt lebt.«
»Sie ist in Oberbayern geboren«, sagte Anjuta. »Ihre Verwandten leben heute noch dort. In einem kleinen Dorf. Es heißt … Ich habe mir den
Namen aufgeschrieben.« Sie griff in
die Schublade des Nachtkästchens. »Gmund am Tegernsee«, las sie aus einem Notizbuch ab. »Das ist gar nicht weit von Rottach-Egern entfernt.«
Daniel nickte. »Ich kenne es. Von München aus ist es nur ein Katzensprung dorthin. Ich werde hinfahren«, versprach er. »Wenn diese Stine Färber noch in Bayern lebt, dürfte es nicht schwer sein, sie zu finden.«
Anjuta tastete nach seiner Hand und drückte sie. »Ich danke dir, Daniel. Wie lange bleibst du in Davos?«
»Leider muss ich schon morgen wieder nach München zurückfahren«, sagte er bedauernd. »Ich kann mein Werk nicht länger allein lassen.« Von den Schwierigkeiten, in denen er steckte, erzählte er ihr nichts. »Aber wir bleiben in Verbindung. Und sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich wieder.«
Sie schaute ihn mit brennenden Augen an. »Lass mich nicht zu lange warten, Daniel.«
In diesem Moment begriff Daniel, dass sie wirklich schwer krank war. Dass sie vielleicht tatsächlich nicht mehr lange zu leben hatte. »Ich werde mich beeilen«, sagte er rau und drückte ihre kalten Hände an seine Lippen. Der Schmerz presste ihm die Brust zusammen, sodass er kaum atmen konnte.
»Ich komme morgen früh, bevor ich fahre, noch einmal vorbei.« Er stand auf.
Sie schaute ihm nach, als er zur Tür ging. Das hellblonde Haar klebte feucht an ihren Schläfen. Die Unterhaltung mit Daniel hatte sie aufgeregt und angestrengt. Aber es hatte sein müssen. Ich muss wissen, was aus meinem Kind geworden ist, dachte sie. Vorher kann ich nicht sterben. Nur einmal möchte ich den Jungen noch sehen und wissen, dass es ihm gut geht. Mehr verlange ich ja gar nicht. Mehr kann ich nicht verlangen. Aber es war richtig, dass ich Daniel informiert habe. Schließlich geht es um sein Kind. Er soll wissen, dass er ein Kind von mir hat. Ich hätte es ihm schon viel früher sagen sollen – und mich nicht von Sonja und Vater beeinflussen lassen dürfen.
Der nächste Hustenanfall kündigte sich an. Anjuta presste schnell das Taschentuch vor den Mund.
*
Daniel übernachtete in einem kleinen Hotel. Der Fremdenverkehrsverein hatte ihm das Zimmer vermittelt. Er hatte beschlossen, schon am darauffolgenden Wochenende an den Tergernsee zu fahren und mit seinen Nachforschungen zu beginnen.
In diesem Entschluss wurde er noch bestärkt, als er sich am nächsten Morgen von Anjuta verabschiedete. Ihre Verfassung war schlimmer als am Vortag. Die Oberschwester erlaubte ihm nur ein paar Minuten für seinen Besuch.
Mit gemischten Gefühlen und in tiefer Besorgnis fuhr Daniel nach München zurück.
»Die gnädige Frau hat gestern aus Paris angerufen«, teilte die Haushälterin ihm mit. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass sie vorerst nicht nach Hause kommen kann.«
»Vielen Dank.« Daniel schaute die eingegangene Post durch. Sie bestand zum größten Teil aus Rechnungen.
Obwohl es schon Abend war, fuhr er noch einmal zu seinem Büro. Er arbeitete bis kurz vor zwölf. Auch an den folgenden zwei Abenden.
Am Samstagmorgen sagte er seiner Haushälterin, dass er den ganzen Tag auswärts sein und erst am Abend zurückkommen würde.
»Wenn Sie heute nach Sophienlust fahren …«
»Ich fahre nicht nach Sophienlust«, unterbrach er sie. Dabei hatte er ein schlechtes Gewissen. Denn er hatte Ulrike versprochen, sie so bald wie möglich zu besuchen. Und dann hielt er schon am ersten Wochenende sein Versprechen nicht.
Misstrauisch schaute die Haushälterin ihm nach, als er zu seinem Wagen ging.
Innerhalb einer halben Stunde erreichte er mit seinem schnellen Wagen den Tegernsee. Er verbrachte den Vormittag in Gmund und den Nachmittag in Rottach-Egern. In Gmund konnte man sich an die Familie Färber erinnern. »Die haben lange hier gewohnt«, sagte eine alte Bäuerin. »Aber vor zwei Jahren sind sie weggezogen.« Wohin, das wusste sie nicht. Und die Gemeindeverwaltung war geschlossen. Unverrichteter Dinge musste Daniel gegen Abend nach München zurückfahren.
Er hatte mit mehreren Leuten gesprochen, die die Färbers gekannt hatten. Aber von einem Kind hatte niemand etwas gewusst. »In der Färberfamilie gab’s kein kleines Kind«, hatten alle einstimmig behauptet.
Daniel musste einsehen, dass er eine falsche Spur verfolgt hatte. Aber wenn das Kind nicht bei diesem Hausmädchen oder deren Familie war, wo dann?
Daniel war sehr niedergeschlagen an diesem Samstagabend. Besonders, als er daran dachte, wie sehnsüchtig Anjuta auf eine Nachricht von ihm wartete. Was sollte er ihr mitteilen? Am besten gar nichts.
*
Carsta Fernau verbrachte den Samstagabend in einem exklusiven Pariser Nachtklub. Für den Sonntag waren keine Dreharbeiten angesetzt.
»Also können wir ruhig einmal ein bisschen über die Stränge schlagen«, sagte John zu Carsta und drückte ihre Hand, die unter dem Tisch in seiner Hand lag. »Wir müssen ja morgen früh nicht aufstehen.«
Sie lächelte ihm kokett zu. »Was schlägst du vor?«
»Dass wir uns von den anderen absetzen«, lautete prompt seine Antwort. »Ich möchte mit dir allein sein, Carsta.«
»Warum?«, fragte sie scheinheilig.
»Das weißt du ganz genau.« Seine Stimme hatte sich um einige Nuancen verdunkelt. »Seit Rom waren wir nicht mehr allein aus. Nur immer mit einer Riesenclique. Das geht mir allmählich auf die Nerven.« Er rührte unwillig in seinem Kaffee, der den Abschluss eines delikaten Essens bildete. »Lass uns einfach verschwinden«, drängte er. »Wir könnten irgendwo noch eine Flasche Champagner trinken. In einer schummrigen kleinen Bar. Davon gibt es in Paris so viele. Du kennst diese Stadt noch gar nicht richtig.«
»Dann werde ich sie heute Nacht kennenlernen«, sagte Carsta entschlossen. »Mit dir.«
Sie strich ihm über den Nacken. Ein Reporter fing diese Geste mit seiner Kamera ein. Doch das merkte Carsta nicht. Sie hatte an diesem Abend nur Augen für John, den männlichen Hauptdarsteller des Films. Am Nachmittag hatte sie mit ihm zusammen die ersten Liebesszenen gedreht. Am Ufer der Seine hatten die beiden sich küssen müssen. »Leidenschaftlich«, hatte der Regisseur verlangt. Und John hatte Carsta in die Arme genommen. Doch die Leidenschaft, die er dann entwickelt hatte, hatte alle Erwartungen des Regisseurs übertroffen. Und der Kameramann hatte vor Staunen aufgeblendet statt abgeblendet. Natürlich war damit die Aufnahme kaputt gewesen, und die Szene hatte von vorn beginnen müssen.
Bebend hatte Carsta in Johns Armen gelegen. Sie hatte vergessen, dass sie nur eine Filmszene spielte.
»Großartig«, hatte der Regisseur gerufen. Er war begeistert gewesen und hatte Carsta für eine begnadete Schauspielerin gehalten. Dass sie die Leidenschaft nicht gespielt, sondern wirklich empfunden hatte, hatte er nicht geahnt.
Als die Filmclique das Restaurant verließ, verschwanden Carsta und John. Mit einem Taxi fuhren sie nach Montmartre und bummelten Arm in Arm durch die belebten nächtlichen Straßen. Schließlich landeten sie in einer versteckten kleinen Bar.
»Hier findet uns kein Reporter«, sagte John. Er bestellte Champagner.
»Auf uns!« Er hob sein Glas und prostete ihr zu.
Carsta stieß mit ihm an und ließ geschehen, dass er seinen Arm um sie legte und sie an sich zog.
Neben ihnen saß ein junges Pärchen, das auf französisch miteinander flüsterte und sich zwischendurch immer wieder küsste.
John schaute den beiden nicht lange zu. Er zog Carsta in seine Arme und küsste sie ebenfalls.
»Du bist verrückt«, flüsterte sie.
»Stimmt auffallend. Verrückt nach dir.«
»Seit wann? Seit heute Nachmittag?«, fragte Carsta. Sie dachte keine Sekunde an ihren Mann oder an ihr Kind.
»Seit Rom«, antwortete der hühnenhafte Amerikaner. »Seit ich dich zum ersten Mal sah.«
Er zog sie wieder an sich. Carsta wehrte sich nicht. Sie erwiderte seine Küsse und hatte auch nichts dagegen, als er vorschlug, in eine andere Bar zu gehen. Dort tranken sie wieder Champagner.
Als schon der Morgen dämmerte, fuhren sie zum Fischmarkt. Und als der Tag anbrach, kehrten sie in ihr Hotel zurück.
*
Als Carsta an diesem Morgen in Paris zu Bett ging, war Daniel bereits auf dem Weg nach Sophienlust.
Eigentlich hätte er zu Anjuta fahren und ihr von seinem Misserfolg berichten müssen, doch das brachte er nicht fertig. Deshalb hatte er seinen Besuch in Sophienlust angekündigt.
Ulrike erwartete ihn vor dem Haus. »Vati!« Sie hing schon an seinem Hals, kaum dass er aus dem Wagen ausgestiegen war.
Daniel nahm sie auf den Arm und vergaß vorübergehend alle Sorgen. »Ich habe schon gestern auf dich gewartet«, sagte sie.
»Ich weiß.«
»Bleibst du den ganzen Tag hier?«
Er nickte. »Bis zum Abend.«
»Toll. Ich hatte nämlich schon Angst, dass du gleich wieder wegfahren würdest.«
»Aber nein«, sagte Daniel. Dann zuckte er zusammen. Denn auf seinem Fuß spürte er plötzlich etwas Warmes. Er schaute hin und musste lachen. Da saß auf seinem Schuh gemütlich ein weißer Hase und begann sein Hosenbein anzuknabbern.
»Das ist Schneeweißchen«, klärte Ulrike ihn auf.
»Aha. Und woher kommt Schneeweißchen?«
»Aus dem Stall. Er darf herumlaufen, weil er so brav ist. Er läuft nämlich nie weg.«
Daniel betrachtete besorgt seine Hosenbeine. »Meinst du nicht, dass wir ihm etwas zu fressen geben sollten? Vielleicht hat er Hunger.«
»Er hat doch schon etwas gekriegt. Von Justus.« Sie bückte sich und nahm Schneeweißchen auf den Arm. »Er hat noch einen Bruder. Der heißt Rosenrot. Die beiden gehören Heidi. Aber ich darf auch mit ihnen spielen. Willst du Schneeweißchen einmal auf den Arm nehmen, Vati?«
»Lieber nicht. Sonst knabbert er mir auch noch meine Krawatte an. Und ich trage gerade heute meinen Lieblingsbinder.«
»Ach so.« Ulrike setzte das Häschen ins Gras.
Dabei registrierte Daniel, dass seine Tochter nicht mehr so blass war wie vor einer Woche. Ihr Nacken und ihr Gesicht waren leicht gebräunt. »Wie gefällt es dir in Sophienlust?«
Sie schaute zu ihm auf. »Die Kinder sind alle lieb.«
»Dann gefällt es dir also?«
Ulrike betrachtete intensiv ihre Schuhspitzen. »Ja …, aber ich weiß nicht …« Sie wusste es offensichtlich wirklich nicht genau.
Daniel beugte sich zu ihr hinab. »Was gefällt dir denn nicht in Sophienlust?«
»Dass du nicht da bist, Vati.«
Gerührt streichelte er ihr Haar. »Das stört mich auch.« Er nahm sie bei der Hand. »Wollen wir ein bisschen spazieren gehen? Oder möchtest du lieber Auto fahren?«
»Auto fahren«, antwortete Ulrike spontan.
Nachdem Daniel der Heimleiterin Bescheid gesagt hatte, unternahm er mit Ulrike einen kleinen Ausflug in die Umgebung von Sophienlust. Glücklich saß die Kleine auf dem Rücksitz und erzählte ihm von Sophienlust.
Anfangs hörte Daniel ihr aufmerksam zu. Doch nach kurzer Zeit schon merkte er, dass seine Gedanken abschweiften. Früher hatte ihn die Gegenwart des Kindes immer getröstet. In Ulrikes Nähe hatte er seine Probleme am ehesten vergessen können. Doch diesmal gelang ihm das nicht. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Anjuta zurück – und seinem Sohn, der irgendwo bei fremden Leuten aufwuchs.
»Bist du traurig, Vati?«, fragte Ulrike leise.
Daniel kehrte in die Gegenwart zurück und schüttelte schnell den Kopf. »Nein, mein kleiner Schatz. Nur nachdenklich.«
»Denkst du über Mutti nach?«
Verblüfft wandte er den Kopf. »Ja, das auch.« Er dachte an das letzte Gespräch mit Carsta, daran, dass sie seine Bitte um finanzielle Unterstützung kalt und entrüstet abgelehnt hatte. »Hast du manchmal Sehnsucht nach Mutti, Ulrike?«
Mit großen Augen schaute sie zu ihm auf. Aber sie sagte nichts.
Keine Antwort ist auch eine Antwort, dachte Daniel und bremste. »Magst du ein Eis essen?«
»O ja.«
»Dann komm, steig aus.«
Ulrike bekam einen großen Eisbecher mit bunten Früchten. Daniel trank einen Eiskaffee. Sie saßen in dem schattigen Garten eines Cafés. Für einen Frühherbsttag ist es eigentlich viel zu heiß, dachte er. Dabei spürte er, dass sich Ulrikes kleine Finger in seine Handfläche schoben. Gerührt beugte er sich zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss.
»Besuchst du mich jetzt jeden Sonntag, Vati?«
»Ja«, versprach er und hoffte, das Versprechen auch halten zu können.
Als er sich am Abend von Ulrike verabschiedete, hängte sie sich weinend an seinen Hals. »Aber Häschen«, sagte er erschrocken. »Ich denke, es gefällt dir in Sophienlust?«
»Ja, doch«, sagte sie schnüffelnd. »Aber du bist so weit weg.«
Zu seiner eigenen Überraschung spürte Daniel einen Knoten im Hals. Er konnte Ulrike einfach nicht weinen sehen. Schnell tupfte er ihr die Tränen von den Wangen.
Da kam auch schon Schwester Regine aus dem Haus. Fürsorglich nahm sie Ulrike auf den Arm. Gemeinsam winkten die beiden dem davonfahrenden Auto nach.
»Kümmert euch ein bisschen um Ulrike«, bat die Kinderschwester Irmela und Angelika, die eben aus dem Park zurückkamen.
Die beiden Mädchen nahmen Ulrike in die Mitte. »Komm, wir spielen Kaufladen. Das macht dir doch so viel Spaß.«
Ulrike schnüffelte ein paarmal, und die Tränen versiegten. »Darf ich verkaufen?«
»Das darfst du. Du musst uns nur sagen, was du alles hast. Wir kaufen dann ein.«
Glücklich lief Ulrike mit den beiden älteren Mädchen ins Haus. Sie überlegte schon, was sie alles verkaufen wollte.
*
Daniel verbrachte eine ruhelose Woche in München. Dass er von Carsta nichts hörte, störte ihn im Moment am allerwenigsten.
Der Gedanke, dass die Suche nach seinem Sohn erfolglos geblieben war und dass er zu Anjuta fahren und ihr das sagen musste, verfolgte ihn dagegen pausenlos.
Aber da war noch ein Problem. Er hatte Ulrike versprochen, sie am Sonntag wieder zu besuchen. Und dieses Versprechen wollte er auch einhalten.
Deshalb überlegte er nun, wann er nach Davos fahren sollte. Schließlich entschied er sich für Freitag. Dann konnte er bis Sonntag wieder zurück sein.
Am Freitagmittag wollte er losfahren. Doch am Freitagmorgen bekam er ein Telegramm von Carsta. Ankomme Freitagabend mit Air France. Danach folgte die genaue Ankunftszeit.
Unschlüssig drehte Daniel das Telegramm hin und her. Er hatte bereits mit Anjuta telefoniert und ihr versprochen zu kommen. Was nun?
Daniel entschied sich für die Fahrt nach Davos und hinterließ für Carsta eine kurze Nachricht.
*
Anjuta erwartete ihn voller Ungeduld. Sie achtete nicht auf den Blumenstrauß, den er auswickelte. »Hast du etwas herausgefunden, Daniel?«
Er holte tief Luft und drehte sich um. Doch als er Anjutas erwartungsvollen Blick sah, so voller Hoffnung, da brachte er die Wahrheit nicht über die Lippen. »Ich kann dir noch kein Ergebnis berichten, aber ich habe Hoffnung …« Hilflos brach er ab. Das ist doch eine Lüge, dachte er.
Erleichtert sank Anjuta in die Kissen zurück. »Gott sei Dank. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet.«
Er trat zum Bett. »Was wäre das Schlimmste?«
»Dass du keine Spur gefunden hast und aufgibst.«
»Niemals«, erklärte er spontan.
Da streckte sie ihm beide Hände entgegen. »Danke, Daniel. Ich wusste, du würdest mich nicht enttäuschen.«
»Es ist ja auch mein Kind«, sagte er leise und setzte sich neben das Bett. »Wie geht es dir?«
»Gut«, log sie. Doch ihr Blick war verschleiert, und die Hustenanfälle folgten in immer kürzeren Abständen.
Daniel blieb nicht lange bei ihr. »Du musst jetzt schlafen, Anjuta. Ich komme morgen Vormittag wieder.« Er küsste sie auf die Stirn, bevor er ging.
Wenn er wüsste, dass ich schon seit Jahren nicht mehr richtig schlafen kann, dachte sie, als er gegangen war. Sie klingelte nach der Schwester und bat um ein Schlafmittel, obwohl sie wusste, dass es kaum noch half. Nach ein paar Stunden unruhigen Schlafs wachte sie meist mitten in der Nacht wieder auf.
So war es auch in dieser Nacht. Stunde um Stunde lag sie wach, bis sie vor den Fenstern die ersten Vogelstimmen hörte. Könnte ich doch noch einmal aufstehen, dachte sie, und mit meinem Sohn durch den Wald laufen. Oder über sanfte Wiesen. Es war ein Wunschtraum, den sie immer wieder träumte. Mit offenen Augen. Und in letzter Zeit trat auch Daniel in diesem Traum auf. Sie dachte sehr oft an ihn.
Er wird unseren Sohn finden, dachte sie an diesem frühen Herbstmorgen, als der erste Tagesschimmer durch die Fensterläden kroch und das Vogelgezwitscher lauter wurde. Ich muss nur fest daran glauben. Dann wird er unser Kind finden.
Anjuta ahnte nicht, dass auch Daniel um diese Zeit wach in seinem Hotelbett lag. Rauchend und grübelnd, hilflos und voller Zweifel.
Er hatte Anjuta belogen aus Mitleid. Aber wie lange würde er diese Lüge aufrechterhalten können? Es gibt gar keinen Ausweg, sagte er sich. Ich muss das Kind finden. Ich muss wissen, wie es ihm geht, wie es aufwächst. Sobald ich Zeit habe, fahre ich noch einmal zum Tegernsee. Diesmal für länger.
Mit diesem Gedanken schlief Daniel in den frühen Morgenstunden endlich ein.
*
Carsta war am Freitagabend in München eingetroffen und mit einem Taxi nach Hause gefahren. Ich möchte bloß wissen, warum Daniel mich nicht abgeholt hat, dachte sie gereizt.
Die Haushälterin richtete Carsta das aus, was Daniel ihr aufgetragen hatte.
»Wissen Sie, wohin er gefahren ist?«, fragte Carsta ungeduldig. »Besucht er Ulrike?«
»Nein. Er hat gesagt, er fährt nicht nach Sophienlust. Aber wohin er gefahren ist, hat er mir nicht gesagt.«
»Das ist ja lustig, Ich komme nach Hause, mein Mann ist verreist, und kein Mensch weiß, wohin. Höchst seltsam.«
Sie ging in ihr Zimmer, zog sich aus und ließ Wasser für ein Bad einlaufen. Doch statt sich in die Wanne zu setzen, ging sie plötzlich in Daniels Schlafzimmer. Von einer unerklärbaren Ahnung getrieben, begann sie die Schubladen seines Nachtkästchens zu durchwühlen. Und plötzlich hielt sie einen Brief aus Davos in der Hand. Anjutas Brief.
Ohne auch noch eine Sekunde zu zögern, öffnete Carsta den Brief und las ihn. Danach musste sie sich setzen.
Daniel hat einen Jungen, dachte sie. Ein Kind, von dem er bis jetzt nichts wusste.
Plötzlich wurde sie von Eifersucht gequält. Was für eine Frau ist diese Anjuta?, fragte sie sich. Wie kann sie es wagen, in eine intakte Ehe einzudringen? Dass sie selbst ihren Mann und ihr Kind seit langer Zeit vernachlässigte, hatte sie in diesen Moment ganz vergessen.
Mit dem Brief in der Hand ging Carsta zurück in ihr eigenes Schlafzimmer. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Daniels Rückkehr nicht abzuwarten, sondern schon am nächsten Tag nach Paris zurückzufliegen. Doch nun entschloss sie sich anders. Sie wollte bleiben und auf ihren Mann warten.
Daniel kehrte am nächsten Abend nach München zurück.
»Ich habe mit dem Abendessen auf dich gewartet«, sagte Carsta. Dabei beobachtete sie ihn lauernd.
»Nett von dir. Aber ich habe keinen Hunger.« Er ging in sein Arbeitszimmer, um nach der Post zu sehen.
Carsta kam ihm nach. Sie lehnte sich aufreizend lässig an den Türrahmen und betrachtete ihn mit einem mokanten Lächeln.
»Ist etwas?«, fragte Daniel irritiert.
»Wo warst du?«
Er antwortete nicht sofort, überlegte vielmehr, was er sagen sollte.
»Ich will es dir sagen. Du warst in Davos.«
Daniel fuhr herum.
»Leugne es doch«, höhnte sie. »Siehst du, das kannst du nicht.«
»Ich will es auch gar nicht. Es stimmt. Ich war in Davos. Aber woher weißt du das?«
Sie zog einen Briefumschlag aus der Tasche ihres Kleides.
»Anjutas Brief.«
»Anjutas Brief«, äffte sie ihn nach. »Du gibst es auch noch zu.«
Plötzlich war ihre Stimme schrill.
»Ich habe nichts getan, was ich verheimlichen müsste.«
»Ach?« Sie ging langsam auf ihn zu.
Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. Sie sah so gefährlich aus wie eine Raubkatze.
»Du verheimlichst mir, dass du ein uneheliches Kind hast. Du besuchst hinter meinem Rücken die Mutter dieses Kindes und betrügst mich mit ihr.«
»Carsta, ich bitte dich!« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ich habe dich nicht betrogen. Und dass ich ein uneheliches Kind habe, wusste ich bis vor Kurzem selbst noch nicht.«
»Mir kannst du nichts vormachen«, schnaubte Carsta entrüstet. Ihren Pariser Flirt mit John hatte sie in diesem Moment völlig vergessen. Sie fühlte sich als die Betrogene und machte Daniel eine Szene, die filmreif war. Obwohl er immer wieder beteuerte, sie nicht betrogen zu haben, glaubte sie ihm nicht.
Schließlich ließ Daniel sie einfach stehen. Er ging in sein Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Bebend vor Zorn betrat Carsta ihren eigenen Schlafraum. Dabei fasste sie einen Entschluss. Ich werde mich selbst von der Wahrheit überzeugen, beschloss sie. Ich fahre morgen nach Davos und schaue mir dieses Früchtchen einmal an.
*
Carsta erreichte Davos am Sonntagnachmittag. Sie gehörte zu jener Sorte von Frauen, die für sich selbst alle Freiheit beanspruchen, die aber bitterböse werden, wenn sich der Partner nur einen Bruchteil dessen erlaubt, was sie sich selbst zugestehen.
Eine Schwester führte sie in Anjutas Zimmer. »Besuch für Sie, Frau Fabricius.«
Carsta trat ein.
Fragend blieb Anjutas Blick an dem schönen Gesicht der fremden Frau hängen. Dieses Gesicht kam ihr bekannt vor.
»Ich bin Carsta Fernau.«
Anjuta erschrak. »Daniels Frau?«
»Stimmt. Die Frau, der Sie den Mann wegnehmen wollen.«
»Ich will Ihnen Daniel nicht wegnehmen«, widersprach Anjuta ihr mit schwacher Stimme.
»Hören Sie auf, mir Märchen zu erzählen«, explodierte Carsta. »Ihren Typ kenne ich. Wenn Sie auf normale Art nichts erreichen, dann versuchen Sie es mit Mitleid. Krank und so. Schwerkrank sogar.« Eine abfällige Geste unterstrich die gemeinen Worte.
Anjutas Atem flog. Sie bekam kaum noch Luft. Aufhören, flehte ihr Blick. »Bitte, hören Sie auf.«
Doch Carsta tobte weiter. »Nachdem Sie mit Mitleid nicht ans Ziel kamen, erfanden Sie das Märchen von dem unehelichen Kind.«
Anjuta erstarrte. »Sie wagen es …« Die Stimme versagte ihr.
»Hören Sie auf mit dem Theater. Das zieht bei mir nicht.«
Anjuta rang keuchend nach Luft. »Ich habe ein Kind von Daniel auf die Welt gebracht.«
Die Kranke begann zu husten, doch Carsta achtete nicht darauf. »Und wo ist es?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Anjuta leise. Sie war den Tränen nahe. Zu allem Schmerz und aller Verzweiflung kam auch noch diese Gemeinheit. Das war zu viel für sie.
»Sie haben ein Kind geboren und wissen nicht, wo es ist? Für wie dumm halten Sie Ihre Mitmenschen eigentlich? Diese ganze Geschichte ist doch erstunken und erlogen. Sie haben niemals ein Kind von Daniel auf die Welt gebracht. Mit dieser hinterlistigen Lüge wollen Sie ihn nur an sich ketten.«
Anjuta begann zu weinen. Gleichzeitig trat eine Schwester ein.
»Wie können Sie die Kranke so aufregen?«
Die Schwester trat zu Anjuta, um sie zu trösten. Doch als sie sah, in welchem Zustand sich die Kranke befand, bat sie Carsta, das Zimmer zu verlassen.
»Ich bleibe hier, bis ich fertig bin«, erwiderte Carsta arrogant.
»Sie müssen gehen«, verlangte die Schwester energisch. »Die Kranke darf sich nicht aufregen.«
»Die Kranke wird sich noch viel mehr aufregen, wenn ich mit ihr fertig bin«, schnappte Carsta. »Diese Betrügerin!«, schleuderte sie Anjuta ins Gesicht.
»Ich hole den Doktor.« Die Schwester eilte aus dem Zimmer.
Gleich darauf kam sie mit dem diensttuenden Arzt zurück. Als dieser Anjutas Zustand sah, warf er Carsta kurzerhand hinaus.
»Das lasse ich mir nicht bieten«, zeterte Carsta weiter.
»Sie werden sich noch viel mehr bieten lassen müssen«, drohte der Arzt ihr, »wenn Sie nicht sofort verschwinden. Sie haben die Kranke in lebensgefährliche Aufregung versetzt. Dafür muss ich Sie zur Verantwortung ziehen.« Er zog rasch eine Spritze für Anjuta auf.
Als Carsta das sah, hastete sie aus dem Zimmer.
*
Daniel hatte den Sonntag in Sophienlust verbracht. Am Montagnachmittag fuhr er nach Gmund am Tegernsee. Dort wollte er ein paar Tage bleiben. Seine Sekretärin wusste, wo sie ihn telefonisch erreichen konnte, falls er im Werk gebraucht werden sollte.
Daniel hatte irgendwie das Gefühl, dass er den Schlüssel zu dem Geheimnis um seinen Sohn in Gmund finden würde. Aber wie? Die Familie Färber war verzogen. Wohin, das hatte er nicht herausfinden können. Dabei wäre diese Stine Färber der einzige Mensch gewesen, der ihm seine Fragen hätte beantworten können.
Von dem Besuch seiner Frau in Davos ahnte Daniel nichts. Er wusste nicht, wo Carsta den Sonntag verbracht hatte. Außerdem interessierte ihn das auch nicht.
Daniel wohnte in einem Hotel, das mitten im Dorf lag. Das hatte den Nachteil, dass es abends ein bisschen laut war.
Denn zum Hotel gehörten ein Restaurant und ein Tanzlokal. Aber es hatte auch den Vorteil, dass er viele Einheimische kennenlernte, wenn er abends bei einem Bier in der Gaststube saß. Dabei fragte er die Leute unauffällig aus. Sie erzählten ihm, was er wissen wollte. Doch es brachte ihn keinen Schritt weiter.
Nur Geduld, ermahnte Daniel sich selbst. Irgendwann wirst du auf eine Spur stoßen, die zu dem Jungen führt.
Doch nach zwei Tagen wusste er noch genauso wenig wie am ersten. Er fuhr für einen halben Tag nach München, um in seiner Fabrik nach dem Rechten zu sehen. Carsta war nach Paris zurückgeflogen. Sie hatte ihm keine Nachricht hinterlassen. Doch nach der Szene, die sie ihm gemacht hatte, legte er auch keinen Wert darauf.
Am Donnerstagnachmittag traf Daniel wieder in Gmund ein und wurde von dem Wirt schon wie ein alter Bekannter begrüßt.
Den Abend verbrachte er wieder in der Wirtsstube, in der die Einheimischen ihr Bier tranken. Touristen oder Urlauber kamen selten in diesen Raum. Die besuchten meist das Tanzlokal, um Bekanntschaften zu machen und sich zu amüsieren.
Mit wachen Augen beobachtete Daniel alles, was um ihn herum vorging. Er lauschte auch den Gesprächen der Einheimischen. Zwischendurch kamen auch Ortsansässige herein, die an der Theke ein Bier holten.
Ein Junge in zerrissenen Hosen kaufte eine Flasche Korn. Als er wieder hinausging, sah Daniel, dass er barfuß war.
Kaum hatte der Junge das Lokal verlassen, da hörte man draußen Schreie und Gelächter und das Splittern von Glas.
Gleich darauf schlich der barfüßige Junge weinend ins Lokal. Er schämte sich ein bisschen und versuchte die Tränen wegzuwischen.
»Was ist passiert, Jens?«, fragte der Wirt barsch, obwohl er es ahnte.
»Sie haben mir aufgelauert und mir ein Bein gestellt. Ich bin hingefallen.« Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase.
»Jetzt ist die Flasche kaputt.« Er schaute den Wirt bittend an, aber so unterwürfig, dass Daniel es nicht ertragen konnte. Er blickte weg.
»Tut mir leid, Jens. Eine zweite Flasche kann ich dir ohne Geld nicht geben.«
»Aber ich habe kein Geld mehr.« Jetzt war Panik in der Stimme des Jungen. »Vater hat mir nur Geld für eine Flasche gegeben.«
»Und wenn du sie nicht bringst, gibt’s Prügel, was?«
Jens senkte den Blick und schluckte. Dann drehte er sich um und schlich wie ein geprügelter Hund aus der Wirtsstube.
»Warte«, rief Daniel ihm nach. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. »Er tut mir leid«, sagte er zu dem Wirt auf dessen fragenden Blick hin.
Jens war an der Tür stehen geblieben.
»Schreiben Sie eine Flasche Korn auf meine Rechnung«, sagte Daniel. Die Flasche gab er Jens. »Hier. Aber lass dir nicht wieder ein Bein stellen.«
»Nein, bestimmt nicht.« Jens schüttelte eifrig den Kopf. »Danke«, sagte er dann scheu.
»Na, lauf schon.« Daniel gab dem Jungen einen Klaps auf die Schulter. »Dein Vater wartet doch sicher auf dich.«
Ein seltsamer Blick aus scheuen Kinderaugen traf Daniel. Dann lief der Junge aus dem Lokal.
»Aus der Nähe sieht er ja noch erbärmlicher aus«, sagte Daniel zu dem Wirt, der ihn neugierig musterte.
»Sie sind der Erste, der Mitleid mit Jens hat«, meinte der Wirt. »Anfangs tat er allerdings allen leid. Die ganzen Nissen-Kinder taten uns leid.«
»Wie viele sind es denn?«
»Sechs insgesamt. Der Vater ist ein Säufer. Seine Kinder und seine Frau beziehen regelmäßig Prügel von ihm. Er ist ein brutaler Grobian.«
»Ein Einheimischer?«, fragte Daniel.
»Nein. Seine Frau ist von hier. Sogar aus Gmund. Geschieht ihr ganz recht. Warum muss sie einen Fremden heiraten?«
»Wieso fremd?«, fragte Daniel, der in dieser Hinsicht großzügiger dachte. »Ist er kein Deutscher?«
»Natürlich ist er ein Deutscher«, antwortete der Wirt entrüstet. »Aber kein Bayer. Von irgendeiner Insel in der Ostsee kommt er, glaube ich. Er war früher Fischer. Jetzt ist er Landarbeiter. Aber das bisschen Geld, das er verdient, versäuft er wieder. Und seine Familie läuft in Lumpen herum. Sie haben den Jungen ja gesehen.«
Daniel nickte. »Erbärmlich sah er aus.«
»So sehen sie alle aus, die NissenKinder. Aber das Mitleid habe ich mir abgewöhnt. Sonst müsste ich nämlich jeden Abend eine Flasche Korn umsonst herausrücken. Das, was Sie heute Abend gesehen haben, passiert öfters. Die anderen Dorfkinder hänseln und ärgern Jens, wo sie nur können. Sie lachen ihn aus, weil er einen Trunkenbold zum Vater hat. Und was das für einen Jungen in dem Alter bedeutet, können Sie sich ja vorstellen.«
Daniel nickte. In Jens’ Alter müsste mein Sohn auch sein, dachte er. Womöglich wächst er in ähnlichen Verhältnissen auf. Dieser Gedanke erschreckte ihn sehr.
Der Wirt hing seinen eigenen Gedanken nach und schüttelte darüber entrüstet den Kopf.
»Und das Geld, das er für Jens bekommt, versäuft er auch noch, dieser alte Trunkenbold.«
Daniel horchte auf. »Wieso bekommt der Vater für den Jungen Geld?«
»Keine Ahnung. Es wird hier im Dorf so einiges gemunkelt.«
»Zum Beispiel?« Daniel war plötzlich nervös.
»Ich weiß nicht, ob ich darüber reden soll«, sagte der Wirt, sprach aber gleich weiter, ohne Daniels Aufforderung abzuwarten. »Manche behaupten, Jens gehöre gar nicht zu den Nissen-Kindern.«
Es klirrte, und vor Daniel bildete sich eine Bierlache. Er hatte sein halbvolles Glas umgestoßen.
»Halb so wild«, sagte die Bedienung lachend und reinigte den Platz an der Theke.
»Jetzt brauche ich natürlich ein neues Bier«, sagte Daniel.
Lachend schenkte der Wirt ein und erzählte dabei weiter: »Der alte Nissen streitet natürlich ab, dass er jeden Monat Geld bekommt. Er streitet auch ab, dass das Geld für Jens ist. Der Junge sei sein leibliches Kind, behauptete er. Aber niemand glaubt ihm das.«
»Warum eigentlich nicht?«, fragte Daniel.
Ein Achselzucken war die Antwort. »So genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass geredet wird. Und irgendwo muss das Gerede ja herkommen, nicht wahr?«
Daniel nickte. »Vollkommen richtig. Von nichts kommt nichts.« Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Ich könnte die richtige Spur gefunden haben, dachte er. Schon setzte er die Unterhaltung mit dem Wirt fort. Dabei erfuhr er, dass die Familie Nissen erst vor Kurzem wieder nach Gmund zugezogen war, obwohl die Ehefrau eigentlich eine gebürtige Gmunderin war. »Sie haben lange Zeit oben an der Ostsee gelebt«, berichtete der Wirt.
Ich muss unbedingt mit dem alten Nissen sprechen, dachte Daniel. Vielleicht kann ich ihn so weit bringen, dass er mir die Wahrheit erzählt.
Er schaute auf die Uhr. Es war schon spät. »Wo wohnen die Nissens eigentlich?«, fragte er den Wirt.
Der erklärte ihm arglos den Weg.
»Geben Sie mir eine Flasche Korn und schreiben Sie sie auf meine Rechnung«, verlangte Daniel.
Der Wirt gab ihm die Flasche und schaute Daniel entgeistert nach, als er damit das Lokal verließ. »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!«, murmelte er. »Jetzt geht er glatt zu dem alten Nissen. Mit einer Flasche Korn.« Kopfschüttelnd starrte er auf die Tür, die Daniel hinter sich geschlossen hatte.
Daniel fand das kleine Haus ohne Schwierigkeiten. Gott sei Dank, es brannte noch Licht. Aber die Kinder würden wahrscheinlich schon in den Betten liegen. Das war gut so.
Daniel klingelte. Er musste lange warten, bis die Tür geöffnet wurde. Im Türrahmen stand der kleine Jens und schaute ihn erschrocken an.
»Kann ich deinen Vater sprechen, Jens?«
»Der …« Jens stockte. Der schläft schon, hatte er sagen wollen, obwohl das nicht stimmte.
Aber der Vater war so betrunken, dass Jens sich für ihn schämte. Deshalb hatte er eine Ausrede gebrauchen wollen.
Heinrich Nissen hatte den Besucher schon entdeckt und kam nun in die Diele gewankt, wobei er an der Wand und an den spärlichen Möbeln mit beiden Armen Halt suchte.
»Der Mann will dich sprechen, Vater.«
Mit einer groben Bewegung schob der Alte den Jungen beiseite. »Was wollen Sie?«
Wortlos streckte Daniel dem Alten die Flasche Korn entgegen. Er sah, dass Nissens Augen aufleuchteten.
»Das ist …, das ist …« Der Fischer vergaß sich zu bedanken und streichelte stattdessen die Flasche. »Kommen Sie ins Wohnzimmer, Herr …?«
»Fernau ist mein Name«, sagte Daniel. Er fing dabei einen schüchternen, aber doch neugierigen Blick von Jens auf.
»Geh ins Bett«, herrschte der Betrunkene den Jungen an.
Jens verschwand hinter einer Tür, und Daniel trat mit dem alten Nissen ins Wohnzimmer. Das heißt, er betrat den Raum, den Nissen als Wohnzimmer bezeichnete. Erschüttert erkannte er die Not, aber auch den Schmutz in dem engen Zimmer.
»Meine Frau schläft schon«, sagte Heinrich Nissen und deutete mit einer unkontrollierten Geste zum nächsten Stuhl.
Daniel fasste das als Einladung auf und setzte sich. Er trank auch den Schnaps, den Nissen ihm anbot. Dabei registrierte er erstaunt, dass die Flasche, die Jens gekauft hatte, schon fast leer war.
»Auf Ihr Wohl, Herr Nissen.«
Der Fischer schaute auf, leerte das volle Schnapsglas auf einen Zug und starrte Daniel misstrauisch an. »Was wollen Sie?«
»Nur eine Auskunft«, antwortete Daniel höflich. Er wollte den Mann auf keinen Fall verärgern. Sonst würde er das, was er wissen wollte, nie erfahren.
»Was für ’ne Auskunft?« Nissen kippte schnell noch einen Schnaps hinunter.
»Sie betrifft Jens.« Kaum hatte Daniel das ausgesprochen, wusste er, dass er die Sache falsch angefangen hatte. Er erkannte es an Nissens abweisender Miene.
»Was wollen Sie von Jens?«, fragte der Alte barsch.
»Gar nichts. Er ist doch Ihr Sohn, nicht wahr?«
»Natürlich ist er mein Sohn. Was soll die Frage?«
»Ach, nichts. Ich meine nur …«
»Was meinen Sie?«, bohrte der Alte weiter. Das Misstrauen hatte ihn hellwach gemacht.
»Ich habe gehört, dass die Leute hier im Dorf über Jens reden. Sie behaupten, er sei gar nicht Ihr Sohn, Herr Nissen.«
»Unverschämtheit!« Heinrich Nissen war aufgesprungen. Doch die plötzliche Bewegung tat ihm nicht gut. Er taumelte und musste schnell an der Wand Halt suchen.
»Regen Sie sich nicht auf. Ich glaube Ihnen ja, dass Jens Ihr Sohn ist«, sagte Daniel.
Das Misstrauen blieb jedoch in Nissens Blick. Er beruhigte sich aber wenigstens so weit, dass er sich wieder hinsetzte.
»Jens ist mein leiblicher Sohn«, versicherte er und pochte sich auf die Brust. »Und alle, die das Gegenteil behaupten, sind Lügner. Hinterhältige Lügner. In…infame Lügner.«
»Finde ich auch«, sagte Daniel. Er hob sein Glas. »Prost!«
Das war eine Sprache, die Heinrich Nissen verstand. Er schenkte sich sein Glas schnell wieder voll. »Prost!«
»Weißt du was?«, sagte er plötzlich vertraulich zu Daniel. Dabei legte er ihm die Hand auf die Schulter und fuhr fort, ihn zu duzen. »Eigentlich gefällst du mir. Prost, mein Freund!«
»Prost«, sagte Daniel und kippte das Glas genauso hinunter wie Nissen. Wenn ich noch lange hier sitze, bin ich bald genauso betrunken, dachte er. Aber er spürte auch, dass der Alte sein Misstrauen allmählich verlor. Deshalb blieb er und trank mit Nissen weiter.
Der Fischer war bald so weit, dass er überhaupt nicht mehr wusste, was er sagte. Darauf hatte Daniel gewartet. Ich muss ihn dazu bringen, mir die Wahrheit zu sagen, nahm er sich vor und trank weiter, obwohl ihn der Schnaps, die Umgebung und der Betrunkene anwiderten. Allmählich merkte er, dass er sich selbst nicht mehr ganz unter Kontrolle hatte.
»Die Leute sind ja bloß neidisch«, lallte Nissen.
»Neidisch?«
»Klar. Weil ich jeden Monat Geld kriege.«
Daniel saß wie elektrisiert auf seinem Stuhl. Das war das erste Geständnis. Der alte Nissen bekam jeden Monat Geld. »Natürlich sind die Leute neidisch«, pflichtete er ihm bei. »Prost!«
Nissens Augen leuchteten auf. »Endlich einmal jemand, mit dem …, mit dem man trinken kann. Prost, Kumpel.« Sein Kopf fiel auf den Tisch. Doch Minuten später rappelte er sich wieder auf. »Es geht niemanden etwas an, ob ich für Jens Geld kriege oder nicht.«
»Richtig.«
»Überhaupt niemanden geht es etwas an.«
»Vollkommen richtig. Und es geht die Leute noch weniger an, ob Jens dein Sohn ist oder nicht.«
Ein misstrauischer Blick traf Daniel. Doch der alte Nissen war schon so betrunken.
Er tappte blind in die Falle. »Ganz richtig, mein Freund.« Er schlug Daniel auf die Schulter.
»Niemand geht es etwas an, dass Jens ein Pflegekind ist. Er hat’s ja gut bei mir. Oder nicht?«
Daniel war aufgesprungen. »Weißt du, wer die wirklichen Eltern von Jens sind?«
»Nichts weiß ich.« Nissens Arm fuhr durch die Luft und fegte die leere Kornflasche vom Tisch.
Damit wusste Daniel, was er wissen wollte.
»Komm, setz dich wieder, mein Freund. Wir …, wir trinken weiter.«
Doch Daniel ging zur Tür. »Ich muss jetzt gehen. Wir trinken ein andermal weiter.«
Das hörte der alte Nissen jedoch schon nicht mehr. Sein Kopf war auf die Tischplatte gefallen. Gleich darauf begann er zu schnarchen.
Daniel stand schon vor der Haustür, als er das Geräusch in seinem Rücken hörte. Er drehte sich um und sah verblüfft, dass die Haustür wieder aufging. Auf der Schwelle stand Jens.
Daniel ging zu ihm zurück. »Ich dachte, du schläfst schon?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe alles gehört«, sagte er schüchtern. Doch plötzlich wurde seine Stimme aggressiv. »Ich weiß schon lange, dass das nicht meine richtigen Eltern sind. Sie sind so gemein. Können Sie mich nicht mitnehmen?«, fragte er unvermittelt.
Gerührt legte Daniel dem Jungen die Hand auf die Schultern. Am liebsten würde ich es tun, dachte er. Aber dazu ist es noch zu früh. Erst muss ich mir Gewissheit verschaffen. Und ich weiß auch schon, wie. »Ich komme wieder«, versprach er. »Dann nehme ich dich vielleicht mit.«
Ein resignierter Blick aus enttäuschten Jungenaugen war die Antwort. Es tat Daniel in der Seele weh, diesen Blick sehen zu müssen. Aber er konnte im Moment nichts anderes tun, als den Jungen um Geduld zu bitten.
»Er schlägt mich«, sagte Jens leise. Dabei betrachtete er seine schmutzigen nackten Füße.
»Hab ein bisschen Geduld«, bat Daniel. »Ich komme schon in den nächsten Tagen wieder.«
Jens nickte traurig. Doch plötzlich zuckte er zusammen. Angst trat in seine Augen. Aus dem Wohnzimmer drangen polternde Geräusche und die grölende Stimme des alten Nissen.
»Ich muss hinein«, sagte Jens. »Wenn er mich hier findet, verprügelt er mich.« Sofort huschte er ins Haus.
Nachdenklich schaute Daniel ihm nach. Dann ging er langsam durch das nächtliche Dorf zu seinem Hotel zurück. Und weil er sich den neugierigen Fragen des Wirtes nicht aussetzen wollte, ging er sofort in sein Zimmer.
Schlafen konnte er jedoch nicht. Dazu war er viel zu aufgeregt. Der Gedanke, dass er in dieser Nacht vielleicht seinen Sohn gefunden hatte, ließ ihn nicht mehr los. Aber unter welchen Verhältnissen lebte der arme Junge.
Daniel sprang aus dem Bett und trat zu dem offenen Fenster. Dabei fasste er einen Entschluss: Gleich morgen früh fahre ich nach München und fliege von dort aus nach Hamburg.
*
Telefonisch buchte Daniel einen Platz in der Mittagsmaschine. Vor dem Abflug fand er noch Zeit, in seiner Firma schnell nach dem Rechten zu sehen. Zwei Stunden später saß er in der Maschine nach Hamburg.
Das Haus von Harald und Sonja Fabricius lag direkt an der Alster. Es war ein Traumbau.
Daniel hatte sich telefonisch angemeldet. Zuerst hatte der Butler ihn am Telefon abweisen wollen, aber mit einem Trick war Daniel schließlich bis zu Harald Fabricius vorgedrungen. Doch der Reeder hatte sich arrogant und überheblich gegeben. Sein Terminkalender sei auf Wochen ausgebucht. Außerdem empfange er fremde Gäste nur auf Empfehlung.
Da war Daniel der Kragen geplatzt. »Ich wollte mit Ihnen über das uneheliche Kind Ihrer Tochter sprechen«, hatte er hart gesagt. »Aber wenn Sie nicht hören wollen, was ich Ihnen zu sagen habe …«
»Warten Sie«, hatte der Reeder schnell erklärt. »Würde es Ihnen zwischen sechs und sieben Uhr heute Abend passen?«
»Ganz ausgezeichnet. Ich werde pünktlich sein.« Daniel hatte aufgelegt.
Mit einem Taxi fuhr er nun zu der Villa des Reeders. Pünktlich um achtzehn Uhr stand er vor der weißen Traumvilla. Hier also ist Anjuta aufgewachsen, dachte er. Die Umgebung ist ein kleines Paradies. Nur die Menschen darin passen nicht dazu.
Sonja Fabricius, Anjutas Stiefmutter, war so schön wie hochnäsig. Eine große schlanke Frau, die wie eine Königin durch die Räume des Hauses schritt und alles, was ihr nicht gefiel, ironisch belächelte. Gnädig reichte sie Daniel die Hand. Wenn sie unsicher war, dann verriet sie das mit keiner Geste.
Harald Fabricius konnte dagegen seine Nervosität nicht unterdrücken. »Sie machten da eine seltsame Andeutung am Telefon, Herr Fernau!«
Daniel nickte. »Ich sprach von dem Kind, das Anjuta vor sieben Jahren auf die Welt gebracht hat.«
»Wie können Sie es wagen …«, fuhr Sonja auf.
Daniel schnitt ihr das Wort ab. Ihr Hochmut beeindruckte ihn nicht mehr. »Ich weiß genau, was ich sage, denn ich habe die Wahrheit von Ihrer Tochter selbst erfahren. In Davos.«
Daniel sah, dass Sonja Fabricius zusammenzuckte. »Sie waren in Davos bei Anjuta?«, fragte sie gepresst.
»Ja«, sagte er gedehnt. »Ich war in Davos. Aber nicht nur dort. Ich war auch in Gmund am Tegernsee.«
Diesmal war es Harald Fabricius, der erschrak. »Wieso in Gmund?« Er versuchte, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.
»Weil in Gmund die Familie Nissen lebt«, antwortete Daniel scharf. Er hatte sich für die Überrumpelungstaktik entschieden.
»Wovon reden Sie eigentlich?«, fuhr Harald Fabricius auf. Dabei zerkaute er vor Nervosität und Unsicherheit das Mundstück seiner Zigarre.
»Ich spreche von der Familie, der Sie das Kind Ihrer Tochter in Pflege gegeben haben. Nissen heißt sie. Und diese Familie bezieht regelmäßig jeden Monat Geld von Ihnen. Für die Pflege von Anjutas Sohn.«
Angesichts dieser exakten Tatsachen kapitulierte Harald Fabricius. »Was wollen Sie? Geld?«
»Ich will Sie nicht erpressen«, erklärte Daniel.
»Was dann? Einen Skandal?«
»Warum kommen Sie hierher und erzählen uns das alles?«, fragte Sonja Fabricius. Aller Hochmut war von ihr gewichen. Sie sah jetzt blass und unsicher aus.
»Ich will nur die Wahrheit hören«, sagte Daniel. »Die Wahrheit, sonst nichts. Denn ich bin der Vater von Anjutas unehelichem Kind. Ist Jens Nissen Anjutas Sohn?« Sein Blick fixierte Harald Fabricius. Scharf und erbarmungslos. »Ich warne Sie, mich anzulügen, Herr Fabricius. Das hätte schlimme Folgen für Sie. Denn einen Skandal können Sie sich doch hier in Hamburg nicht leisten, nicht wahr?«
»Sie brauchen mir nicht zu drohen«, sagte Harald Fabricius leise. »Jens Nissen ist das Kind meiner Tochter. Wir gaben es damals gleich nach der Geburt weg.«
»Vielen Dank.« Daniel war aufgesprungen.
»Was verlangen Sie dafür, dass Sie dieses Wissen für sich behalten?«, fragte der Reeder.
»Gar nichts.« Daniel ging zur Tür.
»So warten Sie doch«, rief Harald Fabricius. »Ich bezahle Ihnen jede Summe.«
»Behalten Sie Ihr Geld.« Mit diesen Worten verließ Daniel das Haus des Reeders. Doch im Garten blieb er noch einmal stehen.
Harald Fabricius war ihm gefolgt. »Ich bitte Sie inständig, sagen Sie mir, was Sie vorhaben.«
»Ich werde Anjutas Kind aus diesem Elendsquartier wegholen. Teilen Sie das der Familie Nissen mit. Und zahlen Sie ihr eine Abfindung, wenn Sie wollen.«
»Und was geschieht mit dem Kind?«, fragte Harald Fabricius ängstlich.
»Seien Sie unbesorgt, es wird weder Ihnen noch Ihrer Frau zur Last fallen.« Daniels Stimme klang verächtlich. »Ich werde meinen Sohn zu mir nehmen.«
Über diesen Entschluss dachte Daniel noch nach, als er schon wieder in der Maschine nach München saß. Er hatte sich ganz spontan dafür entschieden, sich vor aller Welt zu seinem Sohn zu bekennen. Und er war froh darüber. Es war richtig, dass ich sofort nach Hamburg flog, dachte er jetzt. Nur so konnte ich die Wahrheit so schnell herausfinden. Mein plötzlicher Besuch war ein Schock für den Reeder und dessen Frau. Was für Menschen!, dachte er angeekelt. Sie leben selbst in unvorstellbarem Luxus und lassen zu, dass das Kind ihrer Tochter in Not und Elend aufwächst. Und das alles nur, weil sie um ihren guten Ruf fürchten.
Daniel kam mit der letzten Maschine in München an. Spät nachts. Deshalb fuhr er nach Hause. Am nächsten Morgen rief ihn eine wichtige Besprechung in sein Werk. Aber gleich danach fuhr er nach Gmund.
Der alte Nissen hatte aus Hamburg ein Telegramm erhalten. Daniel Fernau sei berechtigt, Jens mitzunehmen, stand darin.
Daniel musste fast lächeln, als der alte Nissen ihm die Mitteilung zeigte. Sie haben Angst, dachte er. Angst vor dem Skandal. Nur deshalb haben sie klein beigegeben. Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende. Wenn Jens mir zugesprochen werden soll, müssen sie die Wahrheit auch vor Gericht zugeben.
»Was soll denn aus Jens werden?«, fragte der alte Nissen jammernd. Er dachte nur daran, dass jetzt die monatlichen Zahlungen ausbleiben würden. Der Junge war ihm egal.
»Ich werde Jens zu mir nehmen«, erwiderte Daniel.
»Und das Geld? Kriege ich kein Geld mehr?«
Angewidert wandte Daniel sich ab. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie eine Abfindungssumme erhalten. Wo ist Jens?«
»In der Schule. Er kommt um eins nach Hause.« Der Blick Heinrich Nissens wurde neugierig. »Wie hoch würde denn die Abfindung sein?«
Er bekam jedoch keine Antwort. Daniel hatte das unordentliche Wohnzimmer bereits verlassen.
Kurz darauf wartete er vor dem Schulgebäude auf Jens.
Lange musste er nicht warten. Kurz nach ein Uhr öffnete sich das Tor, und die Kinder strömten heraus.
Jens erkannte Daniel sofort wieder. Abrupt blieb er stehen.
Daniel registrierte, dass der Junge diesmal Schuhe trug. Aber was für Schuhe! Vorn schauten die Zehen heraus, und vom Absatz existierte nur noch eine Hälfte.
»Guten Tag, Jens.« Daniel streckte dem Jungen die Hand entgegen.
Schüchtern griff Jens danach. »Tag.«
»Ich nehme dich mit«, sagte Daniel ohne lange Einleitung. »Mit deinem Vater habe ich schon gesprochen.«
Jens bekam kugelrunde Augen. »Wo…, wohin gehen wir?«
»Das erzähle ich dir unterwegs. Komm jetzt. Oder willst du noch irgendetwas von zu Hause mitnehmen?«
Jens schüttelte nur den Kopf. »Ich habe nichts.«
»Keine Spielsachen?«
»Nein.«
»Dann komm.« Daniel ging voraus zu seinem Wagen.
Jens folgte ihm. Als Daniel jedoch vor der großen Limousine stehen blieb, schluckte der Junge erstaunt. »Ist das Ihr Auto?«
Daniel nickte lächelnd und öffnete die Tür. Beinahe ehrfürchtig stieg Jens ein. In so einem Auto bin ich noch nie gefahren, dachte er.
»Wir kaufen zuerst ein paar Sachen für dich ein«, sagte Daniel und hielt vor einem Konfektionsgeschäft in Tegernsee.
»Das ist aber ein sehr teurer Laden«, meinte Jens erschrocken.
Lächelnd trat Daniel ein. Die Verkäuferin begrüßte ihn höflich. Als sie den ärmlich gekleideten Jungen sah, wurde ihr Blick unsicher.
»Zeigen Sie einmal Unterwäsche, Hosen und Hemden für den Jungen«, verlangte Daniel und stellte dabei fest, dass ihm das Ganze Freude machte.
Die Verkäuferin brachte zwei Knabenhosen, zwei flotte Hemden, wie sie gerade in Mode waren, und einen leichten bunten Pullover. »Das ist der letzte Schrei«, sagte sie dazu.
Beim Anblick der schönen neuen Sachen hätte Jens fast geheult. Andächtig glitten seine Finger über die weiche Wolle des Pullovers. Ein Junge in seiner Klasse, der Sohn eines Arztes, trug immer so schicke Sachen und war von Jens stets glühend beneidet worden.
»Probier die Sachen«, sagte Daniel und schickte Jens mit der Verkäuferin in die Umkleidekabine.
Er selbst kam langsam nach. Er ahnte ja nicht, welche Seelenqualen Jens durchstand, weil er sich seiner zerrissenen und verwaschenen Unterwäsche schämte. Zum Glück ging die Verkäuferin wieder hinaus und ließ ihn allein. Ganz schnell schlüpfte Jens nun in die neuen Hosen und versteckte seine alte Unterwäsche darin.
»Sitzt ja wie angegossen«, stellte Daniel fest, als Jens in der ersten neuen Hose aus der Kabine kam. »Schau einmal in den Spiegel.«
Jens starrte sein Spiegelbild ungläubig an. Die Verkäuferin reichte ihm nun eines der beiden Hemden.
Jens zog es an, und plötzlich sah er aus wie die Kinder wohlhabender Eltern, die er immer beneidet hatte und die für ihn auf einem unerreichbaren Sockel gestanden hatten.
»Gut siehst du aus«, sagte Daniel. »Die Sachen passen dir und stehen dir. Möchtest du sie behalten?«
Jens wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte nicht unverschämt sein, hätte aber sehr gern ja gesagt.
»Fragen wir einmal anders herum. Gefallen sie dir?«
»O ja.« Jens nickte eifrig.
»Na also. Dann nehmen wir das alles«, bestimmte Daniel.
»Alles auf einmal?« Jens’ Augen wurden ganz groß. Das waren zwei Hosen, zwei Hemden, ein Pullover und eine Jacke.
»Natürlich alles.« Daniel musste lachen. »Du brauchst noch viel mehr.« Er suchte Socken und Unterwäsche aus und fragte die Verkäuferin nach dem nächsten Schuhgeschäft.
»Darf ich …« Jens wurde rot. »Darf ich etwas gleich anziehen?«
»Du musst sogar«, bestimmte Daniel.
Nach einer weiteren halben Stunde besaß Daniel zwei Paar neue Schuhe, eine Sonnenbrille und einen leichten Sommermantel. Er kam sich vor wie im Schlaraffenland und hätte seinen Beschützer gern gefragt, warum er das alles für ihn tat. Außerdem hätte er gern gewusst, wohin er ihn bringen wollte. Doch er wagte es nicht, danach zu fragen. Er war so überwältigt, dass er kein Wort mehr herausbrachte.
Immer wieder glitt sein Blick hinab zu den wunderschönen glatten Lederschuhen. Er wagte es kaum damit richtig aufzutreten. Aus Angst, sie könnten sich zu schnell abnutzen.
»Und jetzt müssen wir unbedingt etwas essen, bevor wir weiterfahren«, sagte Daniel. »Ich sterbe nämlich vor Hunger. Wie ist es mit dir?«
Jens nickte aus lauter Höflichkeit. Er war viel zu aufgeregt, um Hunger zu haben. Aber er wollte diesem Fremden, der ihn so gut behandelte, auch nicht widersprechen. Noch nie war jemand so gut zu mir, dachte er. Und nun rutschte ihm doch die Frage heraus, die ihn so brennend interessierte: »Warum …, warum tun Sie das alles für mich, Herr Fernau?«
Daniel legte die Speisekarte, die er gerade in der Hand hielt, beiseite. »Weil ich möchte, dass du gut aussiehst, wenn du zu deiner Mutter kommst.«
Jens begann zu zittern. Er setzte zum Sprechen an, brachte aber kein Wort hervor.
»Entschuldige«, bat Daniel. »Ich hätte dir das nicht so plötzlich sagen dürfen. Aber du wusstest doch, dass Herr und Frau Nissen nicht deine richtigen Eltern sind? Das hast du jedenfalls vorgestern Abend zu mir gesagt.«
»Ja, ja«, antwortete Jens schnell. »Aber ich habe nicht gedacht, dass ich meine richtigen Eltern jemals kennenlernen würde.«
»Vorerst lernst du nur deine Mutter kennen.« Daniel wusste selbst nicht, warum er dem Jungen nicht sagte, dass er selbst der Vater war. Doch er wollte erst einmal Jens’ Vertrauen gewinnen.
»Kennen Sie meine Mutti schon lange?«, fragte Jens scheu.
Daniel nickte. »Sehr lange. Sie ist sehr krank und hat keinen sehnlicheren Wunsch, als dich kennenzulernen.«
Jens erschrak. »Wird sie wieder gesund?«
»Ich weiß es nicht«, log Daniel.
»Warum durfte ich sie nicht schon früher kennenlernen?«, fragte Jens weiter. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber. So viele Jahre hatte er sich gesehnt, seine Eltern kennenzulernen. Und zwar genau seit der Nacht, in der er ein Gespräch seiner Stiefeltern belauscht hatte. Damals war seine kleine Welt für ihn zusammengebrochen, obwohl er nie gut von den Nissens behandelt worden war. Aber er hatte geglaubt, wenigstens richtige Eltern zu haben, auch wenn sie arm waren. Und dann dieser Schock. Eine ganze Nacht lang hatte er geweint. Und vom nächsten Morgen an hatte er seine Stiefeltern gehasst. Dafür, dass sie seine Stiefeltern waren. Dafür, dass sie ihn immer schlugen. Und dafür, dass er immer zerlumpt und barfuß herumlaufen musste und von allen Kindern ausgelacht und gehänselt wurde.
»Ich werde dir die Geschichte deiner Mutter erzählen«, versprach Daniel ihm. »Dann wirst du alles verstehen. Jetzt such dir erst einmal etwas zu essen aus.«
Hilflos betrachtete Jens die umfangreiche Speisekarte.
»Du kannst doch lesen, oder?«, fragte Daniel.
»Schon, aber …«
»Was aber?«
»Ich weiß nicht, was das alles ist. Zu Hause gab es immer nur Eintopf, und sonntags Schweinebraten.«
»Dann frag mich doch einfach«, riet Daniel ihm.
»Kennen Sie das alles?« Grenzenlose Bewunderung lag in Jens’ Stimme. Da standen französische und englische Ausdrücke auf der Karte. Die hatte der alte Nissen nicht einmal aussprechen, geschweige denn verstehen können.
»Ich bin ja auch ein bisschen älter als du«, sagte Daniel lächelnd.
Da Daniel gerade so guter Laune war, hätte Jens ihn gern gefragt, in welchem Verhältnis er zu seiner Mutter stand. Doch er traute sich nicht. Deshalb sagte er nur, dass er gern Schweinswürstel essen würde.
»Schweinswürstel?«, fragte Daniel. »Warum bestellst du dir nicht etwas Richtiges? Einen Schweinebraten oder ein Steak?«
»Ich habe noch nie ein Steak gegessen«, gestand Jens leise.
»Dann wird es Zeit, dass du es kennenlernst.« Er bestellte für Jens ein Steak und für sich einen Schweinebraten. Dann erzählte er Jens Anjutas Geschichte. Er ließ kaum etwas aus – außer der Tatsache, dass er selbst Jens’ Vater war.
»Dann sind diese Leute in Hamburg wohl meine Großeltern?«, fragte Jens scheu.
»Das sind sie. Aber ich glaube nicht, dass du sie jemals kennenlernen wirst.«
»Das will ich auch gar nicht«, sagte Jens, »wenn sie so gemein zu meiner Mutti waren.«
Das Wort Mutti kam ihm schon ganz selbstverständlich über die Lippen.
Sie unterbrachen ihr Gespräch, als der Ober mit dem Essen kam. Jens’ Augen wurden groß und rund. Sogar Pommes frites lagen auf seinem Teller. Die aß er für sein Leben gern, hatte sie aber nie bekommen, nur ein einziges Mal probiert.
Jens aß mit großem Appetit. Es machte Daniel Freude, ihm dabei zuzusehen. Jens war ein hübscher Junge. Besonders in den neuen Sachen. Man konnte direkt stolz auf ihn sein.
»Jetzt müssen wir aber losfahren«, sagte Daniel nach dem Essen. »Sonst erreichen wir Davos heute nicht mehr.«
Die Fahrt nach Davos war für Jens ein großartiges Erlebnis. Das begann schon mit dem schönen großen Wagen, in dem er fahren durfte. Und was er alles sah! Er war ja bisher noch nie aus Deutschland herausgekommen. Schon Österreich begeisterte ihn. Und dann erst die Schweiz. Seine Wangen glühten, und seine Augen leuchteten.
Daniel selbst stellte ebenfalls fest, dass ihm eine Autofahrt noch nie soviel Spaß bereitet hatte. Er kannte die Namen aller Berge, die sie sahen, und machte Jens auf besonders schöne oder alte Bauten aufmerksam. Er erwähnte auch wichtige Begebenheiten aus der Geschichte der Schweiz.
Sie erreichten Davos am späten Nachmittag. Hier wurde Jens vor Staunen ganz still. Aber als Daniels Wagen vor dem Sanatorium hielt, überfiel den Jungen ängstliche Nervosität. »Ist sie darin?«
»Ja.« Daniel stieg aus.
»Weiß sie, dass wir kommen?«
»Ich habe sie angerufen«, sagte Daniel. »Aber ich habe ihr nicht gesagt, dass ich dich mitbringe. Das soll eine Überraschung sein.«
»Ich habe Angst«, erklärte Jens unvermittelt, als sie vor dem großen Portal standen. Hilfe suchend griff er nach Daniels Hand.
Der hielt sie fest und trat mit dem Jungen ein. Er sagte der Schwester am Empfang, wen er besuchen wolle. »Vielen Dank, Schwester. Wir brauchen keinen, der uns hinaufbegleitet. Wir kennen den Weg.«
Sie fuhren mit dem Lift nach oben und gingen einen langen Korridor entlang. Vor Anjutas Zimmertür blieb Daniel stehen.
»Bitte, bleib eine Minute hier draußen stehen«, bat er Jens. »Ich möchte sie zuerst vorbereiten. Dann hole ich dich herein. Es dauert nicht lange.«
Jens nickte und stellte sich neben die Tür.
Daniel klopfte an und trat ein.
»Daniel!« Anjuta streckte ihm beide Arme entgegen. »Ich freue mich so über deinen Besuch.«
»Du wirst dich noch mehr freuen, wenn du hörst, wen ich mitgebracht habe.«
Anjuta schaute zu ihm auf. »Mitgebracht? Daniel, du hast doch nicht etwa …, aber nein …«
»Aber ja, Anjuta. Ich habe ihn gefunden. Unseren Sohn«, fügte er leise hinzu und ging zur Tür.
Anjuta griff sich ans Herz.
Im nächsten Moment stand Jens im Zimmer. Unsicher blieb er an der Tür stehen. Sie ist ja noch so jung, war sein erster Gedanke. Und so schön.
»Komm näher, Jens«, sagte Daniel.
»Jens?«, fragte Anjuta. Sie saß jetzt aufrecht im Bett.
Der Junge nickte und kam langsam näher. Er ging bis zum Bett. Dort blieb er hilflos stehen. Alle seine Gefühle waren in Aufruhr.
»Komm!« Anjuta streckte die Arme nach ihm aus. Sie hatte entsetzliche Angst, er könnte sie ablehnen.
Doch Jens setzte sich auf die Bettkante und legte seinen Kopf an ihre Brust. »Mutti!«
Da schlang Anjuta ihre Arme um die Schultern des Jungen und wühlte ihr Gesicht in sein Haar. Es wurde nass von ihren Tränen. »Mein Kind«, flüsterte sie. Immer wieder streichelte sie Jens’ Schultern und seinen Kopf, Daniel hatte sie vergessen.
Daniel hatte sich ans Fenster gestellt. Von dort aus beobachtete er Mutter und Sohn. Und in diesem Moment, in dem er abseits stand und gar nicht im Mittelpunkt, erkannte er, dass Anjuta ihm plötzlich wieder alles bedeutete. Er hatte sie vergessen gehabt, viele Jahre lang. Doch jetzt wusste er auf einmal, dass sein Leben ohne sie sehr leer und einsam sein würde.
Es dauerte lange, bis sich Anjuta und Jens wieder an Daniel erinnerten.
»Komm zu uns«, bat Anjuta und streckte die freie linke Hand nach Daniel aus.
Er setzte sich auf die andere Bettseite und erzählte in abgekürzter Form, wie er Jens gefunden hatte.
»Möchtest du lieber wieder zu deinen Pflegeeltern zurück?«, fragte Anjuta ängstlich.
Jens schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, aber wo soll ich denn jetzt bleiben?«
Daniel und Anjuta blickten sich an.
Da senkte der Junge den Blick. Er begriff, dass er bei keinem bleiben konnte. »Nach Gmund möchte ich aber nicht mehr zurück«, wiederholte er noch einmal. »Lieber gehe ich in ein Heim.«
»Natürlich«, rief Daniel aus. »Dass ich nicht gleich daran gedacht habe!«
Jens schaute ihn an mit dem Blick eines geprügelten Hundes. In ein Heim also, dachte er. Und ich habe mich so gefreut. Worauf, das wusste er allerdings selbst nicht genau. Er sah ja ein, dass er in dem Sanatorium bei seiner Mutter nicht bleiben konnte. Seine Großeltern wollten ihn auch nicht, und dieser Herr Fernau war ein Fremder.
Aber eigentlich hatte Jens gar nicht mehr das Gefühl, dass Daniel ihm fremd sei. Wenn er mich behalten würde, würde ich gern bei ihm bleiben, dachte er. Aber wahrscheinlich geht das auch nicht. »Haben Sie keine Kinder?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Doch«, sagte Daniel. »Eine kleine Tochter. Ulrike heißt sie. Sie ist in Sophienlust. Und dorthin werde ich dich auch bringen.«
»Ich denke, Sie wollen mich in ein Kinderheim bringen?«, fragte Jens.
»Sophienlust ist ein Kinderheim.«
»Oh!« Jens hätte gern gefragt, warum Daniels Tochter in einem Kinderheim lebte. Aber dann kam ihm das doch zu neugierig vor.
»Sophienlust ist kein normales Kinderheim«, erklärte Daniel ihm. »Ulrike ist sehr glücklich dort.«
»Hat sie keine Mutti mehr?«, wollte Jens wissen.
»Doch.« Daniels Züge verschlossen sich. »Aber Ihre Mutti hat keine Zeit für sie.«
Jens schwieg, und Anjuta legte sich in die Kissen zurück. Sie dachte an Carstas Besuch und an die gemeine Szene, die sie ihr gemacht hatte. Ob Daniel davon wusste?
Eine Schwester trat ein und bat Daniel, die Patientin nicht zu sehr anzustrengen.
Daniel verstand den Wink. »Wir gehen schon, Schwester.« Und zu Anjuta sagte er: »Wir kommen morgen Vormittag wieder.«
Jens beugte sich vor und gab Anjuta einen Kuss auf die Wange. Dabei wurde er rot. »Gute Nacht, Mutti«, sagte er leise.
»Und werde bald wieder gesund.«
Nachdenklich schaute Anjuta den beiden nach, als sie das Zimmer verließen. Werde bald wieder gesund, hatte Jens gesagt. Daniel hatte ihn also nicht ganz aufgeklärt. Plötzlich presste sie ihr Taschentuch an den Mund und biss hinein. Jetzt, da ich mein Kind endlich gefunden habe, muss ich sterben, dachte sie. Ein Weinkrampf schüttelte ihren ganzen Körper. Doch als die Schwester eintrat, trocknete sie schnell ihre Tränen. Sie wusste, dass der Arzt den Schwestern befohlen hatte, alle Aufregungen von ihr fernzuhalten.
Womöglich lassen sie Daniel und Jens nicht mehr zu mir, wenn sie glauben, dass die beiden mich aufregen, überlegte sie. »Es ist nur die Freude«, sagte sie schnell zu der Schwester. »Ich weine vor Freude.«
»Und worüber freuen Sie sich so?«, fragte die ältere Schwester misstrauisch.
»Über mein Kind. Ich habe mein Kind gefunden.« Nun schluchzte Anjuta erst recht auf und ließ zu, dass die Schwester sie mütterlich in die Arme nahm. Und diesmal weinte sie wirklich vor Freude.
*
Daniel wohnte mit Jens in der gleichen Pension, in der er vorher schon allein gewohnt hatte.
Jens hatte seit dem Verlassen des Krankenhauses kein Wort gesprochen. Zu viel Neues war auf einmal auf ihn eingestürmt. Daniel verstand das und ließ ihn in Ruhe.
»Wir werden hier im Hause eine Kleinigkeit essen und dann gleich zu Bett gehen.«
»Kriegen wir denn hier etwas?«, fragte Jens. Er hatte eigentlich gar keinen Hunger. Er aß immer wenig. Daran hatte er sich bei den Nissens gewöhnen müssen.
»Unten ist ein kleines Restaurant. Nichts Besonderes, aber sauber und ordentlich.«
Das, was Daniel als »nichts Besonderes« bezeichnet hatte, beeindruckte Jens immens. Er hatte ja vorher nie ein richtiges Restaurant betreten, sondern immer nur die Gmunder Gastwirtschaft, in der er für den alten Nissen den Kornschnaps hatte holen müssen.
»Wie gefällt dir deine Mutti?«, fragte Daniel, sobald sie saßen.
Jens’ Augen begannen zu leuchten. »Sie ist wunderschön«, sagte er, weil er nicht genau wusste, wie er seine Begeisterung ausdrücken sollte.
Ja, dachte Daniel, Jens hat recht. Sie ist wunderschön. Und ich habe mich wieder in sie verliebt, obwohl ich nun eine Familie habe und obwohl ich weiß, dass ich Anjuta verlieren werde.
»Haben Sie etwas?«, fragte Jens erschrocken.
»Nein, warum?« Daniel blickte den Jungen irritiert an. »Sehe ich so aus?«
»Ich dachte, Ihnen sei nicht gut«, entschuldigte sich Jens.
»Warum sagst du nicht einfach Onkel Daniel zu mir?«, schlug er vor. Dass sein eigener Sohn ihn siezte, störte ihn.
»Wenn ich darf?«
»Natürlich darfst du. Ich bitte dich ja darum.« Daniel fuhr Jens streichelnd übers Haar. Zum ersten Mal.
Da fand Jens endlich den Mut, Daniel das zu sagen, was ihn schon den ganzen Nachmittag quälte. »Hoffentlich denkst du nicht, dass ich undankbar bin, Onkel Daniel?«
»Warum?«, fragte Daniel überrascht.
»Weil ich mich noch gar nicht richtig bedankt habe. Für die vielen schönen Sachen, die du mir gekauft hast.«
»Aber du hast dich doch bei mir bedankt«, sagte Daniel.
»Ja, aber nicht richtig. Ich habe einfach nur danke gesagt. Und das sieht vielleicht so aus, als ob ich mich nicht richtig freue. Oder als ob ich undankbar sei. Aber ich freue mich wirklich über alles. Mir hat noch nie jemand so schöne Sachen gekauft.«
Jens senkte den Blick. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er sich vorgenommen hatte, Daniel einen Kuss zu geben. Aber nun brachte er das doch nicht fertig.
Da beugte sich Daniel vor und gab Jens einen Kuss auf die Schläfe. »Du bist ein lieber Kerl.«
Schnell legte Jens seine Arme um Daniels Hals und streichelte die schon etwas bärtige Männerwange. »Danke, Onkel Daniel.«
Daniel versuchte seine Rührung zu verbergen. Es gelang ihm jedoch nur unvollständig. Doch das merkte Jens nicht. Er war an diesem Abend selig. Nur die Aussicht, in ein Kinderheim zu kommen, trübte dieses Glück ein wenig. Aber wenn sogar die Tochter von Onkel Daniel in diesem Heim war, dann musste es dort wohl schön sein.
*
Die beiden gingen früh zu Bett.
Am nächsten Vormittag brachte Daniel den Jungen zu Anjuta. Er selbst wollte mit dem Arzt sprechen, der Anjuta behandelte.
Dieser Arzt war auch sofort bereit, ihn zu empfangen, obwohl Daniel sich nicht angemeldet hatte. Als der Arzt aber den Namen Fernau hörte, wurde sein Gesicht hochrot. »Und Sie wagen es, hierher zu kommen, um mit mir zu sprechen, Herr Fernau?«
Daniel verstand überhaupt nichts mehr. »Mir liegt das Schicksal von Frau Fabricius sehr am Herzen«, sagte er. Es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Wenn das so ist, sollten Sie dafür sorgen, dass Ihre Frau nicht hierher kommt und der Kranken Szenen macht, die ihren Zustand aufs Äußerste gefährden.«
Daniel stand da, als habe er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Das erkannte sogar der Arzt. »Wussten Sie nichts von dem Besuch Ihrer Frau?«
»Nein«, antwortete Daniel erschüttert. »Nicht die geringste Ahnung hatte ich.« Er ließ sich von dem Arzt schildern, was vorgefallen war, weil er Anjuta nicht danach fragen wollte. Das hätte sie womöglich wieder aufgeregt.
Als der Arzt Carstas Auftritt schilderte, schoss Daniel das Blut in den Kopf. Er schämte sich für seine Frau und entschuldigte sich für sie. Die Hintergründe erwähnte er nicht. Das ging außer ihn und Anjuta keinen Menschen etwas an.
*
Jens saß währenddessen auf Anjutas Bett und erzählte ihr von dem alten Nissen. Ergriffen hörte sie zu. »Es tut mir leid, dass du das alles so lange ertragen musstest.«
»Jetzt ist es ja vorbei«, sagte Jens fröhlich. »Und wenn du erst wieder gesund bist …«
Anjutas Gesicht überschattete sich.
»Was hast du, Mutti?«
In diesem Moment trat Daniel ein. Er fand, dass Anjuta an diesem Morgen viel besser aussehe. Nur im Moment schien sie etwas verstört zu sein.
»Müssen wir schon wieder fahren?«, fragte Jens.
»Ich fürchte, ja. Sonst schaffen wir es nicht bis nach Sophienlust. Aber ich verspreche dir, dass wir so bald wie möglich wieder hierherkommen.«
»Wirklich?«, fragten Jens und Anjuta gleichzeitig.
»Ganz bestimmt. Und dann nehmen wir auch Ulrike mit.«
»O ja, bitte«, sagte Anjuta. »Ich möchte sie kennenlernen.« Sie zog Jens abschiednehmend in ihre Arme und gab ihm einen Kuss.
Dann verabschiedete sie sich von Daniel. Noch bevor er genau wusste, was er tat, hatte er sich über sie gebeugt und küsste sie auf beide Wangen.
»Danke, Daniel«, flüsterte sie dabei. »Danke für alles.«
Er richtete sich wieder auf. »Bis bald.«
Schweigend verließen sie das Sanatorium und stiegen ins Auto ein. Beide waren beschäftigt mit ihren Gedanken. Jens spürte immer noch die Stelle auf der Wange, die Anjuta geküsst hatte. Solche Zärtlichkeiten waren für ihn Raritäten. Noch nie hatte ihn jemand geküsst. Nicht einmal gestreichelt. Von seinem Pflegevater hatte er nur Prügel bekommen. Und von Nissens Frau grobe Worte. Deshalb fühlte er sich wie in einer neuen Welt. Und das war er ja eigentlich auch.
Daniel hatte bereits mit Sophienlust telefoniert und seine Ankunft angekündigt. Er hatte Denise auch gebeten, noch am Abend mit ihr sprechen zu dürfen. Sie hatte sich sehr großzügig gezeigt und sich sofort bereit erklärt, Jens in Sophienlust aufzunehmen, obwohl sie noch nicht einmal wusste, wer dieser Junge war. Das wollte Daniel ihr am Abend erklären. Sie sollte als Einzige die Wahrheit erfahren.
Es war schon Nachmittag. Sie hatten München bereits hinter sich gelassen und befanden sich auf der Autobahn in Richtung Frankfurt. »Wenn du müde bist, schlaf doch ein bisschen«, riet Daniel dem Jungen.
Doch Jens war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. »Sind wir bald in dem Kinderheim?«, fragte er.
Daniel nickte. »In spätestens zwei Stunden sind wir dort.«
Jens’ Finger klammerten sich um den Haltegriff. Was würde ihn in diesem Kinderheim erwarten? Er hatte mit Kindern schlechte Erfahrungen gemacht. Er war von ihnen gehänselt und ausgelacht und sogar verprügelt worden. Er blickte an sich hinab. Zerlumpte Sachen trug er ja nun nicht mehr. Deshalb konnten sie ihn nicht auslachen.
»Du wirst sehen, es wird dir in Sophienlust gefallen«, sagte Daniel.
Das bezweifelte Jens. Doch er wollte nicht widersprechen. Deshalb nickte er nur.
Daniel lächelte darüber. »Ich kann deine Zweifel verstehen. Ulrike ging es genauso. Sie flehte mich an, sie zu Hause zu behalten.«
»Und du hast sie trotzdem weggebracht?«
Diese naive Kinderfrage brachte Daniel fast aus dem Gleichgewicht. »Ich selbst kann mich nicht um sie kümmern. Ich arbeite den ganzen Tag«, verteidigte er sich.
»Aber sie hat doch noch eine Mutti? Oder nicht?«
»Doch.« Daniel nickte. »Sie hat noch eine Mutti. Aber die hat keine Zeit für ihr Kind.«
»Was macht sie denn?«, wollte Jens wissen.
»Sie dreht Filme.«
»Ist sie eine Filmschauspielerin?«
Daniel nickte. »Eine berühmte sogar.«
Auf Daniels Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Deshalb fragte Jens nicht weiter. Er besaß ein feines Gespür für die Stimmungen Erwachsener.
Sophienlust wirkte an diesem Spätnachmittag wie ausgestorben. Ein Teil der Kinder war zum Tierheim gefahren, die anderen waren im Park oder im Haus.
Daniel wurde von der Heimleiterin wie ein alter Bekannter begrüßt. »Ich rufe sofort Frau von Schoenecker an und sage ihr, dass Sie da sind. Sie will herüberkommen, um selbst mit Ihnen zu sprechen.«
Jens war schüchtern hinter Daniel stehen geblieben. Jetzt reichte er der Heimleiterin die Hand und machte einen Diener. Er war so verwirrt, dass er vergaß, etwas zu sagen. Schon der große Park und das schlossartige Haus hatten ihn erstaunt. Vollends durcheinandergebracht hatte ihn dann die große Halle mit dem offenen Kamin und dem Bärenfell davor. Und überhaupt die ganze Atmosphäre dieses Hauses. Sie erinnerte ihn an Schlösser oder Herrschaftssitze in alten Filmen.
»Was sagst du zu Sophienlust?«, fragte Daniel, als die Heimleiterin zum Telefon gegangen war.
»Ich …, ich weiß nicht. Es ist so ganz anders.« Jens schaute sich in der Halle um. »Dürfen die Kinder hier drinnen spielen?«
»Natürlich dürfen sie das. Überall dürfen sie spielen. Im Park, im Wintergarten, in der Halle. Außerdem dürfen sie auf Ponys reiten …«
»Ponys?«, fragte Jens.
»Ja. Sie haben Pferde und Ponys hier. Und im Tierheim Waldi & Co. befindet sich ein richtiger kleiner Privatzoo, habe ich mir sagen lassen.«
»Ein Tierheim?« Jens wusste nicht mehr, worüber er sich mehr wundern sollte. Aber noch bevor er Zeit fand, weitere Fragen zu stellen, kam Else Rennert zurück.
»Ich habe mit Frau von Schoenecker telefoniert«, sagte sie zu Daniel. »Sie wird jeden Moment hier sein. Möchtest du inzwischen dein Zimmer ansehen?«, wandte sie sich an Jens.
»Ich kriege ein eigenes Zimmer?« Der Junge war aufgestanden.
»Normalerweise schlafen immer zwei Kinder in einem Zimmer«, erläuterte die Heimleiterin. »Aber die Buben sind alle komplett. Deshalb bekommst du vorerst ein Zimmer allein. Du hast doch nichts dagegen?«
Jens schüttelte schnell den Kopf. Ein eigenes Zimmer hatte er sich immer gewünscht, aber nicht geglaubt dass er jemals eins haben würde.
Gleichzeitig mit Denise von Schoenecker trafen Nick und Henrik ein.
»Wo ist der Neue?«, fragte Henrik beim Betreten der Halle aufgeräumt.
Jens zuckte zusammen. Henrik erinnerte ihn an einen Mitschüler in Gmund, der sich immer über ihn lustig gemacht hatte.
Nick trat zu Jens, während seine Mutter Daniel Fernau begrüßte. »Ich heiße Nick. Und das ist mein Bruder Henrik. Von ihm brauchst du dir übrigens nichts gefallen zu lassen.«
»Hör auf, mich schlecht zu machen«, brauste Henrik auf und streckte Jens seine Hand hin. Als er dabei lächelte, lächelte Jens zurück.
»Ich heiße Jens.«
»Ja, und du bleibst vorläufig bei uns. Wir wissen schon alles. Komm mit! Wir zeigen dir das Haus. Sollen die Erwachsenen ruhig quatschen.«
Jens warf Daniel einen fragenden Blick zu.
»Lassen Sie die Kinder ruhig hinausgehen«, riet Denise ihm. Sie hatte Jens noch nicht begrüßt und holte das jetzt rasch nach.
Denise erinnerte den Jungen ein bisschen an seine Mutti. Nur war sie offensichtlich älter. Aber was für schöne Augen sie hatte. Jens hatte fast den Eindruck, dass sie überhaupt nicht böse werden könne.
Denise erwiderte Jens’ Musterung mit einem Lächeln. Dann schickte sie die Kinder hinaus und bat Daniel ins Biedermeierzimmer.
Daniel machte keine großen Worte, sondern erklärte Denise kurz und bündig, dass Jens sein Sohn sei. »Das weiß aber außer Ihnen bis jetzt niemand«, fügte er hinzu.
»Dann werde ich das Geheimnis auch für mich behalten. Aber sagen Sie, Herr Fernau, ahnt auch Jens nicht, dass Sie sein Vater sind?«
»Nein.« Daniel senkte unsicher den Blick. Seine Stimme klang fast gequält, als er weitersprach. »Ich konnte es ihm bis jetzt noch nicht sagen.«
»Aber er wird es doch irgendwann erfahren?«, erkundigte sich Denise.
»Ganz sicher. Denn ich möchte den Jungen eines Tages zu mir nehmen.«
Denise nickte und stellte keine weiteren Fragen. Trotzdem erzählte Daniel ihr nun die Vorgeschichte. Seine Urlaubsbekanntschaft mit Anjuta, dass sie ohne sein Wissen ein Kind zur Welt gebracht hatte und dass man ihr diesen Jungen weggenommen hatte.
»Und Sie haben nun das Kunststück fertiggebracht, dieses Kind zu finden?«, fragte Denise erstaunt.
»Ja. Es war nicht einfach.«
»Das glaube ich Ihnen. Aber Sie haben ein gutes Werk getan, wenn Sie das Kind aus diesen verkommenen Verhältnissen herausgeholt haben.«
»Jens ist noch sehr unsicher und verschüchtert«, sagte Daniel.
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, beruhigte Denise ihn. »Das wird sich unter unseren Kindern schnell verlieren.«
*
Doch die ersten Schritte in der neuen Umgebung fielen Jens sehr schwer.
Nick und Henrik hatten ihm sein Zimmer gezeigt und ihn nach seinen Sachen gefragt. Das war für Jens der erste peinliche Moment gewesen. »Ich habe nichts«, hatte er leise geantwortet. »Nur ein paar neue Sachen, die mir mein Onkel gestern erst gekauft hat.«
Das verstand Henrik nicht. »Aber deine Spielsachen?«
»Ich besitze keine Spielsachen.«
Ein unendlicher Ausdruck von Mitleid trat in Henriks Augen. Ein Junge, der keine Spielsachen besaß. Das konnte er sich kaum vorstellen. »Sei nicht traurig«, sagte er schnell. »Ich gebe dir die Hälfte von meinen Sachen.«
»So großzügig, kleiner Bruder?«, frotzelte Nick ihn. Er wollte mit diesem burschikosen Ton Jens die Unsicherheit nehmen.
Doch Jens kannte sich nun überhaupt nicht mehr aus. Unsicher blickte er zwischen den beiden Brüdern hin und her. Dabei hatte er sein Erstaunen über Henriks Angebot noch nicht ganz überwunden.
»Wir haben hier in Sophienlust massenhaft Spielsachen«, erklärte Nick ihm. »Und die gehören uns allen gemeinsam. Komm, ich zeige dir jetzt unsere Pferde und Ponys.« Er legte seinen Arm kameradschaftlich um Jens’ Schultern.
Diese vertraute Geste nahm Jens einen großen Teil seiner Unsicherheit. Immerhin war Nick größer und viel älter als er und spielte in diesem Heim offensichtlich eine besondere Rolle.
»Wieso zeigst du ihm die Pferde?« Henrik blieb stehen und stampfte mit dem Fuß auf. Immer musste Nick ihm die besten Kinder vor der Nase wegschnappen. Und das bloß deshalb, weil er älter war und damit größeren Eindruck schinden konnte. Dieser Jens gefiel ihm. Er hätte gern mit ihm Freundschaft geschlossen, aber Nick tat, als wäre der Neue sein persönliches Eigentum.
Doch Nick war viel zu klug, um nicht zu wissen, was in Henrik vorging. »Ich meine natürlich, dass wir ihm die Pferde gemeinsam zeigen«, korrigierte er sich schnell.
»Das will ich auch hoffen«, knurrte Henrik und trat an Jens’ linke Seite.
Nach einer weiteren halben Stunde wusste Jens, dass sich die Brüder nicht über ihn lustig machten und ihn auch nicht hänseln wollten, dass sie ihn ganz im Gegenteil richtig ernst nahmen. Das war ein völlig neues Gefühl für ihn.
Er war sorgsam darauf bedacht, den beiden nicht zu widersprechen.
Das fiel Nick natürlich sofort auf. Er blieb stehen. »Hör einmal, Jens, du brauchst nicht in allem mit uns einer Meinung zu sein. Wir akzeptieren dich auch, wenn du uns einmal widersprichst.«
Jens senkte den Blick. Er hatte alles richtig machen wollen, und nun war es doch wieder falsch gewesen.
Nick erkannte jedoch ganz richtig, mit welchen Schwierigkeiten der Neue zu kämpfen hatte. »Ich will dir ja bloß helfen«, erklärte er. »Jeder hat das Recht, sich laut zu beschweren, wenn ihm etwas nicht passt. Das nimmt ihm bei uns niemand krumm. Das musst du doch auch wissen. Du kommst doch aus einer kinderreichen Familie.« Nick wusste nicht, aus welchen Verhältnissen Jens kam. Er hatte von seiner Mutter nur gehört, dass es in dieser Familie mehrere Kinder gab.
»Dort durfte ich mich nie beschweren«, gestand Jens leise.
»Was? Und wenn du es doch getan hättest?«
»Das habe ich manchmal getan. Dann bekam ich Prügel.« Jens schämte sich eigentlich, das zuzugeben. Aber er wollte auch, dass die Jungen wussten, warum er anders war als andere Kinder.
Ein echt verkorkster Fall, dachte Nick. Er lehnte sich an einen Baum und bat: »Erzähl uns doch, wie das bei dir war. Oder ist dir das peinlich?«
»Eigentlich schon. Aber ich will es euch trotzdem erzählen. Ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen. Aber das wusste ich lange nicht.«
Die drei Jungen setzten sich ins Gras, und Jens erzählte nun ausführlich.
»Das ist ja ’n Ding«, platzte Henrik schließlich heraus. »Diesen alten Nissen müsste man selbst einmal gründlich verprügeln. Aber sag einmal, was war denn das für ein Gefühl, als du plötzlich eine Mutti hattest?«
»Ein ganz tolles«, schwärmte Jens. »Sie ist so schön und richtig lieb. Und noch jung. Wenn sie dann wieder gesund ist …« Er brach ab, weil er gar nicht wusste, was dann werden sollte.
»Jetzt bleibst du erst einmal hier bei uns«, erklärte Nick rasch. »Wenn du Sophienlust richtig kennengelernt hast, wird es dir auch gefallen.«
»Es gefällt mir eigentlich schon jetzt«, gestand Jens zögernd. »Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt.«
»Das geht allen so. Aber warum sagst du eigentlich?«, fragte Nick. »So ganz gefällt es dir also doch nicht?«
»Doch, bestimmt.« Jens wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Es ging ihm um die anderen Kinder.
»Wenn hier alle so nett wären wie ihr, dann wäre es ja in Ordnung.«
Nick unterdrückte ein Lächeln. »Hier sind sie alle so nett, glaub mir das. Und wenn nicht, dann kriegen sie es mit mir zu tun.«
»Und mit mir«, ergänzte Henrik schnell.
Dann hörten sie plötzlich laute Stimmen. Erschrocken drehte sich Jens um. Er sah eine ganze Schar von Kindern, die über den Rasen gelaufen kam.
»Die Meute ist vom Tierheim zurück«, sagte Nick und stand auf.
Jens tat es ebenfalls. Abwartend blieb er stehen. Er sah allen voran ein niedliches Mädchen mit einer Stupsnase und Sommersprossen herbeikommen.
»Das ist Pünktchen«, erläuterte Nick. »Den Namen haben ihr ihre Sommersprossen eingebracht.«
Da stand Pünktchen auch schon vor ihnen. »War das wieder einmal ein Nachmittag«, sprudelte sie hervor. Dann traf ihr Blick Jens. Sie verstummte augenblicklich.
»Das ist Jens«, stellte Nick den Jungen vor.
»Guten Tag!« Pünktchen reichte Jens ohne jede Scheu die Hand. Das beeindruckte den Jungen sehr. Doch es blieb ihm nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn schon waren auch die anderen Kinder da.
Die meisten waren älter als er. Nur zwei Mädchen schienen jünger zu sein. Sie waren auch noch kleiner. Doch er konnte ihre Namen im Moment nicht erfahren. Dazu war der Trubel einfach zu groß.
»Hört mal alle her!« Nick hatte die Hände zum Trichter vor den Mund gelegt. Als er weitersprach, hörten ihm alle zu. »Das ist Jens. Er ist neu bei uns. Und er wird bei uns bleiben.«
Jens schaute schüchtern in die Runde. Die vielen neugierigen Blicke machten ihn unsicher. Doch dann hörte Nick auf zu sprechen, und die Kinder hörten auf, ihn anzustarren. Ganz plötzlich war es dann so, als gehörte er zu ihnen.
Die Kinder erzählten die letzten Neuigkeiten aus dem Tierheim. Sie stritten und lachten miteinander, und Jens hörte ihnen still zu. Aber noch jemand war in diesem Kreis ein stiller Zuhörer. Ein kleines Mädchen.
Ulrike hatte Jens ununterbrochen angeschaut. Nun ging sie zu ihm. »Mein Vati hat dich mitgebracht, nicht wahr?«
Überrascht schaute Jens die Kleine an. »Dann bist du Ulrike?«
Sie nickte.
»Oh!« Jens wusste nicht, was er sagen sollte.
Ulrike wusste es auch nicht. »Mein Vati ist bei Tante Isi«, sagte sie, nur um etwas zu sagen.
Jens nickte. »Ich weiß.« Er beobachtete ein großes Mädchen, das besonders gut mit Pferden umgehen konnte. Ohne Sattel schwang es sich auf ein Pferd und ritt über die Weide. Das Pferd gehorchte ihr, obwohl sie weder Sattel noch Zügel hatte.
Das beeindruckte Jens ganz unwahrscheinlich. Bewundernd starrte er zu Irmela hinüber. Dabei wusste er noch nicht einmal, dass sie Irmela hieß.
»Sie reitet gut, nicht wahr?«, fragte Nick.
Jens nickte nur. Er verstand ja nichts von Pferden und auch nichts vom Reiten. Aber dass dieses Mädchen sehr geschickt und sicher war, spürte er.
Ulrike achtete nicht auf Irmela. Sie interessierte sich im Moment nur für Jens. »Warum hat dich mein Vater mitgebracht?«, wollte sie wissen.
Jens wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
»Willst du es mir nicht erzählen?«, fragte sie sanft.
»Doch, doch«, erwiderte er schnell. Aber er wusste nicht, womit er anfangen sollte. Und kaum hatte er die ersten Worte gesagt, da wurde er schon wieder unterbrochen. Von Fabian.
»Du sollst zu deinem Vater kommen, Ulrike. Und du sollst auch mitkommen, Jens.«
Ulrike lief ein paar Schritte voraus. Dann blieb sie wieder stehen. »Wo ist mein Vati?«
»In der Halle.«
Ulrike streckte Jens ihre Hand entgegen, die der Junge freundlich ergriff. Nebeneinander liefen die beiden über den Rasen.
Daniel erwartete die beiden Kinder in der Halle. Mit einem Freudenschrei flog Ulrike ihm an den Hals. »Du wolltest doch früher kommen«, beschwerte sie sich.
Da deutete er lächelnd auf Jens. »Das ist der Grund. Aber du darfst ihm deshalb nicht böse sein.«
Jens zuckte leicht zusammen, als sich Ulrikes entrüsteter Blick auf ihn richtete.
Doch die Kleine lächelte sofort wieder. »Bin ich ja nicht. Warum hast du ihn mitgebracht, Vati?«
Daniel stellte fest, dass Ulrike jetzt viel gelöster und ausgeglichener war als früher.
Auch ihre Schüchternheit hatte sie völlig abgelegt. Sophienlust schien ihr gut zu bekommen.
Daniel erzählte in groben Zügen, wie er Jens kennengelernt hatte und warum er überhaupt nach ihm gesucht hatte. »Seine Mutter hat mich darum gebeten.«
»Warum hat sie es denn nicht selbst getan?«, fragte Ulrike naiv.
»Weil sie krank ist«, antwortete Jens.
»Aber sie wird bald wieder gesund sein. Dann holt sie mich zu sich.«
Daniel senkte den Blick. Er hatte den Kindern nur so viel erzählt, wie er für notwendig hielt. Trotzdem hatte er natürlich kurz geschildert, wie schlecht es Jens bei der Familie Nissen ergangen war.
Als Ulrike das hörte, streichelte sie mitfühlend und ohne jede Scheu Jens’ Hand.
Auch das war für den Jungen neu. Es löste eine spontane Zuneigung zu dem kleineren Mädchen in ihm aus.
Während Ulrike und Jens im Haus waren, diskutierten die anderen Kinder natürlich über den Neuen. Ausnahmslos fanden ihn alle nett. Den meisten tat er leid, weil er so schüchtern war.
»Dabei sieht er richtig gut aus«, meinte Pünktchen.
»Und gescheit scheint er auch zu sein«, fügte Nick hinzu. »Er muss bloß ein bisschen selbstbewusster werden. Ich glaube, er lebt in der dauernden Angst, irgendetwas falsch zu machen.«
»Wer weiß, was der arme Kerl alles durchgemacht hat«, sagte Irmela.
»Jetzt fährt Ulrikes Vater wieder weg.« Vicky deutete mit der Hand zum Haus. Dort stieg Daniel Fernau gerade in seinen Wagen ein. Jens und Ulrike standen nebeneinander und winkten dem davonfahrenden Auto nach.
»Wollen wir wieder zu den anderen gehen?«, fragte Ulrike.
Jens nickte nur.
»Oder soll ich dir lieber den Park zeigen?«, fragte Ulrike.
»Zeig mir den Park«, bat er. Die vielen Kinder machten ihn unsicher. Er stand ohnehin immer nur dabei und hörte zu.
Mit Ulrike konnte er wenigstens sprechen. Außerdem kannte er ihren Vati.
Das verband ihn mit ihr mehr als mit den anderen Kindern.
»Dein Vati hat mir erzählt, dass deine Mutti Schauspielerin ist«, sagte er. »Eine sehr berühmte sogar.«
»Ja«, sagte Ulrike nur.
»Da musst du doch mächtig stolz auf sie sein.«
»Ich bin nicht stolz auf sie.« Ulrikes Miene war plötzlich sehr abweisend.
»Habe ich irgendwas Falsches gesagt?«, fragte Jens erschrocken.
»Nein. Ich mag bloß nicht gern an meine Mutti denken.«
»Das verstehe ich nicht.« Die beiden waren vor dem Spielplatz stehen geblieben. »Ich könnte dauernd an meine Mutti denken. Sie ist so lieb und schön …«
»Schön ist meine Mutti auch, aber nicht lieb.«
»Nicht?«, fragte Jens erstaunt.
»Nein, überhaupt nicht. Deshalb bin ich auch viel lieber in Sophienlust.«
»Magst du gar nicht mehr nach Hause?«, fragte Jens entgeistert.
Ulrike überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Hier gefällt es mir besser.«
»Und du hast überhaupt kein Heimweh nach deinen Eltern?«
»Doch. Nach Vati schon.« Ulrike setzte sich auf eine der Schaukeln.
»Soll ich dich anschieben?«, fragte Jens.
»Ja, mach nur«, bat sie. »Aber nicht so fest. Ich trau mich nicht, so hoch zu schaukeln. Willst du es auch einmal versuchen?«
Ulrike machte die Schaukel für Jens frei und schaute ihm bewundernd zu, als er hoch hinauf in die Luft flog.
»Bist du aber mutig«, staunte sie.
»Bin ich gar nicht.« Jens stoppte mit den Füßen, bis er stand. »In Gmund haben sie mich immer Feigling genannt.« Es fiel ihm nicht leicht, das auszusprechen. Doch er wollte Ulrike gegenüber ehrlich sein, weil sie Onkel Daniels Tochter war und weil sie so nett zu ihm war. Aber nett waren die anderen Kinder ja eigentlich auch alle. Niemand hatte ihn ausgelacht oder versucht, ihn zu verprügeln wie in Gmund. Aber jetzt bin ich ja auch besser angezogen, dachte er.
»Warum haben sie dich einen Feigling genannt?«, fragte Ulrike treuherzig.
»Weil …, weil ich mich niemals geprügelt habe. Ich meine, ich habe mich nicht gewehrt, wenn sie mich ausgelacht haben.«
»Warum haben sie dich ausgelacht?«
»Weil ich nie Schuhe anhatte.« Jens senkte den Blick. »Und weil ich immer so zerlumpt angezogen war. Und weil mein Pflegevater immer betrunken war.«
»Oh«, hauchte Ulrike mitfühlend. Wieder legte sie ihre kleine Hand auf Jens’ Arm. Sie war ein Kind, das besonders viel Zärtlichkeit abgab. Dabei hatte sie von der Mutter nie echte Liebe und Zärtlichkeit erfahren.
Das kleine Mädchen konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das war, wenn man einen Vater hatte, der immer betrunken war, aber es war wahrscheinlich sehr schlimm. »Mein Vati ist nie betrunken«, sagte Ulrike. »Er ist der liebste Vati von der ganzen Welt.«
»Das glaube ich dir.«
»Möchtest du auch so einen Vati haben wie ich?«, fragte sie weiter. Da sie von der Mutter vernachlässigt worden war, konzentrierte sich nun ihr ganzer Stolz auf den geliebten Vater.
»Ja«, sagte Jens sehnsüchtig.
»Aber du musst doch eigentlich auch einen Vati haben«, plapperte Ulrike unbekümmert weiter.
»Schon. Aber ich kenne ihn nicht. Ich bin schon froh, dass ich meine Mutti jetzt kenne.«
»Ist sie lieb?«
»Und wie«, antwortete der Junge begeistert. »Wenn sie wieder gesund ist, nehme ich dich einmal mit zu ihr.«
»Wirklich?« Ulrike schaute strahlend zu ihm auf. Jens gefiel ihr, weil er nicht so ruppig war wie die anderen älteren Jungen. Und doch war er größer und stärker und wusste viel mehr.
Beim Abendessen setzte sich Ulrike neben Jens. »Du darfst essen, so viel du willst«, klärte sie ihn auf.
»Ja, und du darfst jederzeit nachfassen«, rief Vicky über den Tisch.
Jens aß seinen Teller mit großem Appetit leer. So gutes Essen hatte es bei den Nissens nie gegeben. »Habt ihr immer so gutes Essen?«, fragte er Ulrike leise.
Sie nickte. »Meistens ist es noch besser. Das hier mag ich nämlich gar nicht so gern.« Sie schob ihren Teller zurück, auf dem noch ein ganzes Frankfurter Würstchen lag. Jens hätte gern gefragt, ob er es haben dürfe. Doch er traute sich nicht.
Da angelte Vicky auch schon nach Ulrikes Teller. »Wenn du deine Wurst nicht willst, esse ich sie.«
»Halt!« Ulrike hielt ihren Teller fest und schaute Jens an. »Willst du sie vielleicht haben?«
»Schon, aber …«
»Dann kriegst du sie.« Entschlossen griff Ulrike mit ihren kurzen dicken Fingern nach der Wurst und legte sie auf Jens’ Teller.
Der schaute besorgt zu Vicky hinüber. War sie ihm auch nicht böse?
Doch Vicky lachte nur. »Habe ich mir sowieso gedacht, dass du sie
kriegst, Jens.«
»Wenn du willst, gebe ich sie dir«, sagte Jens schnell.
Doch Vicky winkte ab. »Nein, nein, iss nur. Ich bekomme eine von Heidi. Und außerdem können wir uns auch in der Küche noch ein zweites Paar Würstchen holen, wenn wir wollen. Tante Ma ist da nicht kleinlich.«
»Tante Ma?«
»So sagen wir zu unserer Heimleiterin«, klärte Angelika ihn auf.
Jens war sehr müde, als er an diesem Abend in sein Bett stieg. Trotzdem blieb er noch einen Moment andächtig davor stehen, bevor er sich hineinlegte. Ein eigenes Zimmer, dachte er, mit einem Schrank ganz für mich allein. Und mit einem kleinen Schreibtisch sogar. Vor Freude hätte er am liebsten geheult. Er kam sich vor wie im Himmel. Andächtig strichen seine Finger über das Holz der Schreibtischplatte.
Und wie ruhig es hier ist, dachte er, als er schon im Bett lag. In Gmund hatte entweder der Vater gegrölt, oder die Stiefeltern hatten sich gestritten. Da war es nie ruhig gewesen.
Über diesen Gedanken schlief Jens ein. Er träumte, er sei wieder bei dem alten Nissen und werde von ihm verprügelt. Schreiend fuhr er aus dem Schlaf hoch. Erst nach einigen Sekunden registrierte er, dass er sich gar nicht mehr in dem muffigen engen Schlafzimmer befand, und dass seine Stiefgeschwister auch nicht da waren. Da erst fiel ihm ein, dass er in Sophienlust war. Er lauschte in die Dunkelheit hinein. Hatte ihn jemand gehört? Offensichtlich nicht. Da legte er sich wieder zurück und schlief mit einem glücklichen Lächeln ein. Von da an träumte er von Anjuta. Er nannte sie auch im Traum Mutti und bat sie immer wieder, doch endlich gesund zu werden.
*
Daniel war in den folgenden Tagen sehr beschäftigt. Die neue Produktion in seiner Firma hatte eingeschlagen. Jetzt flatterten ihm jeden Tag neue Aufträge ins Haus. Es ging wieder aufwärts. Daniel verbrachte seine Feierabende ausschließlich im Büro. Aber das machte ihm nichts aus. Ihm graute vor der großen leeren Villa in Grünwald. Denn Carsta war noch immer in Paris.
Daniel sehnte sie allerdings auch nicht herbei. Wenn er an ihren Auftritt in Davos dachte, stieg ihm die Galle hoch.
Auch die Sache mit Jens musste in Ordnung gebracht werden. Daniel wollte erreichen, dass Harald und Sonja Fabricius vor Gericht ein Geständnis ablegten, dass sie zugaben, ihrer Tochter das neugeborene Kind weggenommen und der Familie Nissen übergeben zu haben.
Daniel hatte einen Rechtsanwalt mit der Sache beauftragt. Einen der besten Männer, den es dafür in Deutschland gab. Ihm saß er an diesem Nachmittag gegenüber.
»Es wird nicht einfach sein, das zu erreichen«, sagte der Rechtsanwalt nachdenklich.
»Das ist mir klar. Wenn es mir einfach erschienen wäre, hätte ich selbst versucht, die Sache in Ordnung zu bringen.«
»Immerhin haben wir das Geständnis des alten Nissen«, meinte der Anwalt nachdenklich. »Das ist schon etwas. Und mit der Aussage von Anjuta Fabricius können wir auch rechnen.«
»Wenn sie noch so lange lebt«, sagte Daniel leise.
Über diesen Einwurf dachte er noch nach, als er den Rechtsanwalt bereits verlassen hatte und wieder auf dem Weg zu seinem Büro war. Mein Gott, wenn sie doch nur am Leben bliebe, wünschte er sich verzweifelt. Sie bedeutet mir so viel.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, rief er in Davos an und ließ sich mit Anjuta verbinden.
»Daniel, warum rufst du an?«, fragte sie überrascht.
»Ich wollte nur einmal hören, wie es dir geht.«
Daniel hatte Angst vor ihrer Antwort, doch ihre Stimme klang aufrichtig und lebhaft, als sie antwortete. »Mir geht es ein bisschen besser. Der Arzt ist sehr zufrieden mit meiner Verfassung.«
»Und wie fühlst du dich?«, fragte Daniel.
»Auch gut. Wirklich.«
»Das freut mich, Anjuta. Das freut mich sehr. Hör mal, ich werde dich nächstes Wochenende wieder besuchen. Bist du einverstanden?«
»Was für eine Frage, Daniel. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche. Kommst du allein?«
»Wo denkst du hin?«, erwiderte er zärtlich.
»Ich weiß doch, wie sehr du dir das Wiedersehen mit deinem Jungen wünschst. Mit unserem Jungen«, fügte er leise hinzu.
»Ja, Daniel, das stimmt. Ich möchte ihn wiedersehen. Wirst du ihn mitbringen?«
Daniel versprach es. Dabei beschloss er, auch Ulrike mitzunehmen. Auf diese Weise würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er würde das Wochenende mit Ulrike verbringen und gleichzeitig Anjuta sehen. Und außerdem konnte er ihr Jens bringen.
Auf wen freue ich mich jetzt eigentlich mehr?, fragte er sich, als er an diesem Abend zu Bett ging. Auf Ulrike? Auf Anjuta? Oder auf Jens? Er konnte es nicht entscheiden und kam zu der Überzeugung, dass seine Vorfreude auf alle drei gleich groß war.
*
Jens saß im Aufenthaltsraum von Sophienlust und machte Hausaufgaben. Neben ihm saß Ulrike. Sie schaute ihm bei seiner Arbeit zu.
»Komm doch mit heraus, Ulrike«, bettelte Heidi. »Wir spielen im Park. Es ist doch so schönes Wetter.«
»Ja, aber Jens ist mit seinen Hausaufgaben noch nicht fertig«, sagte Ulrike.
Mit einem verständnislosen Kopfschütteln lief die kleine Heidi hinaus. Sie wusste, dass Ulrike immer bei Jens sitzen blieb, bis er seine Hausaufgaben fertig hatte. Ohne einen Mucks von sich zu geben, saß sie neben ihm und schaute andächtig zu, wenn er Zahlen oder Wörter in seine Hefte schrieb, die ihr unverständlich waren. Jens war für sie der Klügste. Außer dem Vater natürlich. Jens wusste auf alle Fragen eine Antwort. Außerdem war er inzwischen auch nicht mehr so schüchtern. Er wehrte sich, wenn ihm jemand Unrecht tat. Und einmal hatte er sogar zurückgeschlagen, als ein Stadtjunge versucht hatte, ihn zu verprügeln.
Darüber hatte sich am meisten Nick gefreut. »Der wird schon noch richtig«, hatte er behauptet.
»Ist es vielleicht richtig, wenn er sich prügelt?«, hatte Irmela ihm widersprochen.
»In diesem Fall war es richtig. Man kann sich schließlich nicht alles gefallen lassen. Sonst wird man von seiner Umwelt sehr schnell zum Hanswurst abgestempelt. Das weiß niemand besser als Jens selbst. Er ist bestimmt kein Raufbold. Er ist ungerechterweise angegriffen worden und hat sich gewehrt. Das halte ich für vollkommen richtig. Künftig wird es sich dieses Lästermaul zweimal überlegen, Jens anzugreifen.«
»Jetzt bin ich fertig«, sagte Jens. Er holte tief Luft und klappte sein Heft zu.
»Gehen wir hinaus spielen?«, fragte Ulrike. »Oder willst du lieber drinbleiben?« Sie richtete sich in allem nach Jens.
»Was ist dir lieber? Rausgehen, nicht wahr?«
Ulrike nickte und sprang auf. Doch an der Tür wurden sie noch einmal zurückgerufen. Von Schwester Regine. »Ich habe gerade mit deinem Vati telefoniert, Ulrike.«
»Oh!«
»Er lässt euch beiden schöne Grüße ausrichten und euch sagen, dass er morgen kommt und euch abholt.«
Jens’ Augen begannen zu leuchten.
»Hast du das gehört, Jens?«
Der Junge nickte und lächelte. »Bestimmt fährt er mit uns nach Davos«
»Wieso nach Davos?«, fragte Ulrike verständnislos.
»Na, zu meiner Mutti.«
»Ach so. Meinst du, ich darf auch mit?«
»Freilich. Wenn du willst. Willst du?«
Sie nickte. Eine Mutti, die so lieb war, wie Jens erzählte, die wollte sie gern sehen.
Nun waren die beiden doch zu aufgeregt, um sich am Spiel der anderen Kinder beteiligen zu können. Deshalb setzten sie sich auf die Steintreppe vor dem Haus und sprachen über Ulrikes Vater und Jens’ Mutter.
»Nun seht euch doch die beiden an«, sagte Pünktchen, die mit Nick und Henrik und noch drei Kindern Handball spielte. »Ein Herz und eine Seele.«
»Lass sie doch«, entgegnete Henrik. »Oder bist du eifersüchtig?«
Pünktchen tippte sich an die Stirn. Dabei wanderte ihr Blick zu Henrik. »Du spinnst.«
»Vielleicht spinnst du auf Jens«, konterte Henrik. »Vielleicht gefällt er dir. Du hast neulich schon gesagt, dass er ’n hübscher Junge ist.«
»So etwas Verrücktes«, entrüstete sich Pünktchen. »Der ist doch viel zu klein für mich.« Sie rümpfte verächtlich die Nase.
Darüber musste Nick lachen. »Kommt, lasst uns weiterspielen«, schlug er vor. »Streiten könnt ihr ein andermal.«
*
Bevor Daniel am Samstagmorgen nach Sophienlust fuhr, rief er noch einmal bei seinem Rechtsanwalt an. Dabei erhielt er eine gute Nachricht. Anjutas Eltern hatten sich bereit erklärt, zuzugeben, dass Jens Anjutas Sohn sei. Nur vor Gericht wollten sie es nicht zugeben. »Aber so weit bringen wir es auch noch«, sagte der Anwalt. »Das ist nur noch eine Zeitfrage.«
Gut aufgelegt und voller Hoffnung begann Daniel seine Fahrt. Das Leben könnte so schön sein, wenn Anjuta wieder gesund werden würde, dachte er. Aber er wusste, dass das unmöglich war. Der Arzt hatte es ihm ja selbst bestätigt. Es bestand keine Hoffnung mehr. Warum nur?, fragte er sich verzweifelt. Aber andererseits, was hätte es ihm geholfen? Er war ja verheiratet.
Daniel dachte an Carsta. Doch der Gedanke an seine eigene Frau kam ihm direkt fremd vor. Seit Tagen hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er wusste auch nicht, ob sie überhaupt noch in Paris war und filmte. Sie hatte seit der Auseinandersetzung nichts mehr von sich hören lassen.
Daniels Gedanken weilten jedoch nicht lange bei ihr. Sie eilten rasch wieder zurück zu Anjuta und zu den Kindern.
Mittags kam Daniel in Sophienlust an. Jens und Ulrike warteten schon vor dem Haus auf ihn.
Während Ulrike dem Vater mit lauten Freudenrufen entgegeneilte, blieb Jens abwartend stehen. Er sah, wie sie sich an Daniels Hals warf, und hätte am liebsten das Gleiche getan.
»Jens, mein Junge«, rief Daniel. Gleich darauf erschrak er über seine eigenen Worte.
Doch da war Jens schon zu ihm geeilt und hatte sich in seine ausgebreiteten Arme geworfen. Daniel hielt ihn ganz fest. Er war einen Moment lang sehr glücklich.
Als er kurz darauf mit Ulrike einen Moment allein war, machte sie ein geheimnisvolles Gesicht. »Vati?«
»Ja?«
»Du musst lieb zu Jens sein.«
Überrascht hielt Daniel in der Bewegung inne.
»Weißt du, weil er doch keinen Vati hat und sich so sehr einen wünscht.«
»Weißt du das bestimmt?«, fragte Daniel.
»Freilich. Er hat’s gesagt.« Ulrike sprach nicht weiter, weil Jens in diesem Moment zurückkam.
»Einsteigen«, rief Daniel aufgeräumt.
Ulrike kletterte auf den Rücksitz.
»Willst du hinten sitzen?«, fragte Daniel.
Sie nickte. »Damit Jens neben dir sitzen kann. Magst du, Jens?«
»Schon …, aber ich will dir deinen Platz nicht wegnehmen.«
»Tust du auch nicht.« Sie freute sich, dass sie ihrem großen Bruder, wie sie ihn heimlich nannte, einen Gefallen tun konnte.
*
Sie erreichten Davos erst am späten Abend.
»Heute können wir nicht mehr ins Sanatorium gehen«, sagte Daniel zu Jens. »Wir werden deine Mutti morgen früh besuchen.«
Am nächsten Morgen war Jens als Erster wach. Es war noch viel zu früh zum Aufstehen. Aber einschlafen konnte er auch nicht mehr. Deshalb blieb er liegen und dachte an seine Mutti. Er stellte sich ihr Gesicht vor und ihre Augen, die so lieb schauen konnten.
Allmählich wurde es dann Tag. Als Jens die ersten Geräusche im Haus hörte, stand er auf.
Anjuta erwartete ihre drei Besucher schon sehnsüchtig. Sie fühlte sich an diesem Morgen besser als sonst und konnte es kaum erwarten, Jens in die Arme zu schließen. So wenig Zeit bleibt mir, mit ihm beisammen zu sein, dachte sie.
Jens hatte ihr einen kleinen Strauß Röschen mitgebracht und umarmte sie so stürmisch, dass sie zu husten anfing.
»Habe ich dir jetzt wehgetan?«, fragte er erschrocken.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Es gelang ihr schließlich auch, den Husten unter Kontrolle zu bringen. Erst in diesem Moment entdeckte sie das kleine Mädchen an Daniels Hand.
»Das ist Ulrike«, sagte Daniel und schob die Kleine zum Bett.
Ulrike machte einen schüchternen Knicks. »Tag, Tante Anjuta.«
»Komm näher zu mir«, bat Anjuta. »Ich möchte dir einen Kuss geben.«
Rasch kam Ulrike zum Bett. Sie ist viel lieber als meine Mutti, dachte sie dabei.
Jens erzählte von Sophienlust. Aus jedem Wort klang seine Begeisterung heraus.
»Es freut mich, dass es dir dort so gut gefällt«, sagte Anjuta. »Dabei warst du anfangs gar nicht begeistert.«
Er nickte. »Das stimmt. Aber ich habe ja auch nicht gedacht, dass es dort so schön ist. Ich meine, dass die Kinder so nett sind.«
»Sind sie das?«
»Ja«, sagte auch Ulrike und erzählte von dem Tierheim, das Jens noch nicht kannte.
Nach einer Stunde kam die Schwester und ermahnte die Besucher, Anjuta nicht zu sehr anzustrengen.
»Wisst ihr was?«, sagte Daniel zu Jens und Ulrike. »Ihr geht jetzt ein bisschen in den Garten hinunter, und ich bleibe noch zehn Minuten hier. Einverstanden?«
Die Kinder nickten und verabschiedeten sich von Anjuta.
»Wir kommen bald wieder, Mutti«, flüsterte Jens. Dann nahm er Ulrike bei der Hand und verließ mit ihr das Zimmer.
»Weißt du, warum mein Vati mit deiner Mutti allein sein will?«, fragte Ulrike, als die beiden vor dem Lift standen.
Noch bevor Jens antworten konnte, öffneten sich die Türen, und ein Bett wurde hereingefahren. Ein alter Mann mit sehr eingefallenen Wangen lag darin. Er sah erschreckend aus.
Schnell nahm Jens Ulrikes Hand.
»Komm, wir laufen die Treppe hinab.«
Dabei verliefen sich die beiden und landeten im Souterrain statt im Parterre.
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte eine Schwester, die mit einer Schüssel in der Hand den Gang entlangkam.
»Raus«, sagte Ulrike mit Panik in der Stimme. Dieses düstere große Haus ängstigte sie plötzlich.
Die Schwester beschrieb den Kindern den Weg. Jens hörte ihr aufmerksam zu und merkte sich alles.
*
Im dritten Stock hatte sich Daniel inzwischen auf Anjutas Bettrand gesetzt. »Ich betrachte den Aufenthalt der Kinder in Sophienlust nur als vorübergehend«, sagte er.
Anjuta schaute ihn ängstlich-fragend an. »Was wird aus unserem Kind, Daniel?«
Da sank sein Kopf herab, auf den Rücken ihrer Hände. Sie spürte, dass er sie küsste. Als er wieder aufschaute, war sein Blick verschleiert und voller Sehnsucht. »Es ist unser Kind. Das hast du ganz richtig gesagt. Deshalb werde ich für Jens sorgen. Genauso, wie ich für Ulrike sorge. Eines Tages, wenn meine häuslichen Verhältnisse wieder in Ordnung sind, hole ich die Kinder zu mir. In meiner Firma geht es jetzt schon wieder bergauf. Ich habe die Krise überwunden.«
Doch die bange Frage in Anjutas Augen blieb. Und da ihr nicht mehr die Zeit blieb, den Lauf der Dinge abzuwarten, musste sie ihre Frage aussprechen: »Deine Frau? Daniel? Was wird sie zu Jens sagen?« Die Vorstellung, dass Jens in der Obhut dieser hysterischen Frau aufwachsen sollte, ängstige Anjuta mehr als alles andere.
»Meine Frau wird sich nie um die Erziehung der Kinder kümmern«, sagte Daniel. »Sie interessiert sich nur für ihre Karriere. Deshalb werde ich Ulrike und Jens der liebevollen Fürsorge einer Erzieherin anvertrauen. Du kannst ganz beruhigt sein, Anjuta. Ich werde selbst darauf achten, dass die Kinder in guter Obhut sind.«
»Ich vertraue dir, Daniel.« Anjuta nahm seine Hand und schmiegte ihre Wange daran. Als sie die Augen schloss, beugte er sich vor und küsste sie sanft auf den Mund.
Anjuta hielt ihn fest. »Das habe ich mir immer gewünscht«, flüsterte sie. »Ich habe so oft an dich gedacht, Daniel.«
»Und ich denke jetzt dauernd an dich. Anjuta, ich ertrage es nicht, dass du …«
»Pst!« Sie legte ihm schnell einen Finger auf den Mund.
In schweigender Umarmung verharrten sie minutenlang.
»Ich komme nächste Woche wieder«, sagte Daniel, als er sich endlich von Anjuta löste. »Mit den Kindern natürlich.«
Anjuta sagte nichts mehr. Ihre großen Augen folgten Daniel bis zur Tür.
Er hatte die Klinke schon in der Hand, da drehte er sich noch einmal um und kam zurück. Anjuta öffnete die Arme und nahm ihn auf. »Ich liebe dich wieder«, flüsterte er.
»Und ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Daniel.« Sie spürte seine Wange, die wie immer ein wenig rau war. »Offensichtlich hast du es noch immer nicht gelernt, dich richtig zu rasieren«, sagte sie scherzend.
Er verstand, was sie damit sagen wollte, und löste sich schnell von ihr.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er aus dem Zimmer.
Ulrike und Jens saßen auf einer Bank im Garten. Sie wagten es nicht, laut zu sprechen oder zu lachen.
»Gehen wir«, sagte Daniel. Dann verließen sie schweigend den Sanatoriumsgarten.
*
Daniel hatte die Kinder in Sophienlust abgeliefert und war noch am gleichen Abend zurück nach München gefahren. Spätnachts kam er müde in seinem Haus an.
Neben dem Telefon hatte die Haushälterin ihm eine Nachricht hinterlassen. Er solle sofort nach seiner Rückkehr seinen Rechtsanwalt anrufen. Es sei dringend.
Daniel schaute auf die Uhr. Gleich zwölf. Das war natürlich schon zu spät. Er entschloss sich, gleich am nächsten Morgen zu telefonieren.
Am nächsten Tag, als er noch im Bett lag, klingelte das Telefon. Daniel hob ab und schaute gleichzeitig auf die Uhr. Es war dreiviertelsieben.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung«, bat der Anwalt. »Aber ich habe so gute Nachrichten, dass ich Sie am liebsten mitten in der Nacht noch angerufen hätte. Harald und Sonja Fabricius sind in Hamburg vor Gericht erschienen.«
Daniel richtete sich im Bett auf und zündete sich eine Zigarette an. Während der Anwalt weitersprach, inhalierte er tief und wurde etwas ruhiger.
»Sie wissen ja, dass ich scharf vorgegangen bin«, fuhr der Anwalt fort. »Mit Ihrer Genehmigung habe ich die Reederfamilie mehr oder weniger unter Druck gesetzt.«
Daniel musste über die Gerissenheit des Anwalts lächeln. »Wie?«, fragte er. Dabei plagten ihn keine Gewissensqualen. Denn das Recht befand sich auf seiner Seite. Nicht nur gesetzlich, auch moralisch gesehen.
»Ich habe ganz einfach mit einem Skandal gedroht«, fuhr der Anwalt fort. »Da hätten Sie einmal sehen sollen, wie sie Angst bekommen haben. Von da an lief alles wie geschmiert. Sie erschienen vor Gericht und gaben alles zu.«
»Was verstehen Sie unter alles?«, fragte Daniel atemlos.
»Nun, dass sie das Kind ihrer Tochter weggenommen und der Familie Nissen in Pflege gegeben haben.«
»Donnerwetter!« Daniel sank erleichtert in die Kissen zurück. »Damit hätten wir es ja fast geschafft.« Er freute sich schon jetzt darauf, diese Nachricht Anjuta überbringen zu können.
»Sie sagen ganz richtig fast«, schränkte der Anwalt ein.
»Wieso? Was fehlt denn noch?«
»Dass der Junge seiner Mutter zugesprochen wird. Aber das ist eigentlich nur noch eine Formsache. Da habe ich gar keine Bedenken mehr.«
»Sie ahnen gar nicht, was für eine Freude Sie mir mit Ihrer Nachricht gemacht haben«, sagte Daniel.
»Ich kann es mir denken. Deshalb wollte ich Sie auch unbedingt gestern noch sprechen.« Der Anwalt verabschiedete sich.
Die zweite gute Nachricht erfuhr Daniel zwei Stunden später in seinem Büro.
»Jetzt sind wir gerettet, nicht wahr, Herr Fernau?«, fragte seine Sekretärin lächelnd. Sie war mütterlich, verständnisvoll und sehr fleißig. Sie hatte Daniel in seiner schwersten Zeit nicht im Stich gelassen. Dafür wollte er sich jetzt erkenntlich zeigen.
»Ja, jetzt sind wir gerettet«, antwortete er. »Mit diesem neuen Auftrag kommt so viel Geld herein, dass ich mir über die Zukunft des Werkes keine Sorgen mehr zu machen brauche. Deshalb bekommen Sie jetzt auch die längst fällige Gehaltserhöhung.«
Das ist ein guter Tag, dachte Daniel, als er schließlich allein in seinem Büro saß. Er wählte kurz entschlossen die Nummer des Sanatoriums in Davos. Eigentlich hatte er Anjuta die erfreuliche Nachricht persönlich mitteilen wollen, aber dann hätte er damit noch bis zum Wochenende warten müssen.
»Anjuta? Bist du es?«
»Ja, Daniel.« Ihre Stimme klang hell und klar. »Gibt es etwas Neues?«
»Und ob.« Er sagte es ihr.
»O Daniel …« Dann herrschte sekundenlang Schweigen in der Leitung.
»Anjuta! Bist du noch da? Weinst du?«
»Nein. Ich bin nur so glücklich, dass ich nicht weitersprechen kann. Das ist die schönste Nachricht seit Langem. Und du meinst wirklich, dass Jens mir nun auch noch zugesprochen wird?«
»Der Anwalt ist davon überzeugt.«
»Wunderbar. Jetzt wird alles gut. Ich spüre es.«
Bei dieser Prophezeiung hätte Daniel am liebsten geheult. Wie konnte alles gut werden, wenn sie nicht gesund wurde? Seine Stimme klang rau, als er weitersprach. »Pass auf dich auf, Anjuta. Wir sehen uns am Wochenende. Aber ich rufe dich vorher noch einmal an.«
Zwei Tage vorher kam unverhofft Carsta nach Hause. Als Daniel spätabends aus dem Büro kam, sah er Licht in ihrem Schlafzimmer.
In einem verführerischen Negligé kam sie herunter in sein Arbeitszimmer. »Du bist ja ein Ausbund an Fleiß«, begrüßte sie ihn.
»Ich habe keine andere Wahl«, sagte er müde. »Bleibst du länger in München?«
»Auf jeden Fall die nächsten acht Tage.« Sie warf sich in einen Ledersessel und schlug ihre attraktiven Beine übereinander. »Die Dreharbeiten in Paris sind beendet. Das heißt, sämtliche Außenaufnahmen sind im Kasten. Die Innenaufnahmen werden im Atelier gedreht. In Rom oder München. Das steht noch nicht fest.«
Daniel betrachtete seine Frau nachdenklich. Wie fremd sie mir geworden ist, dachte er. Carsta erzählte weiter von den Filmarbeiten. Mit keinem Wort erkundigte sie sich nach ihrer Tochter, und Daniel erwähnte Ulrike absichtlich nicht. Er wollte wissen, wann Carsta endlich nach ihr fragen würde.
Doch Carsta berichtete weiter von Paris. Von ihren Erfolgen und von einem neuen Filmprojekt. »Es gibt nur eine weibliche Hauptrolle darin. Und weißt du, welche Gage dafür vorgesehen ist?«
Das interessierte Daniel nicht im Geringsten, doch Carsta sprach schon weiter: »Eine Million. Kannst du dir das vorstellen? Eine ganze Million für eine einzige Person. Für eine Frau.«
»Wie ich dich kenne, ist es dein Ziel, diese Rolle zu bekommen«, sagte er trocken.
»Ich werde sie bekommen.« Ein harter Zug trat in ihr Gesicht.
Das ist ihr wahres Gesicht, dachte Daniel. Es ist geprägt von Geldgier und von dem krankhaften Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen.
Er konnte ihre Gegenwart plötzlich nicht mehr ertragen und sprang auf. »Ich gehe zu Bett.«
Carsta unterbrach sich und starrte ihm entgeistert nach. »Interessieren dich meine beruflichen Pläne nicht?«
»Nein, kein bisschen. Du interessierst dich ja auch nicht für meine Sorgen. Trotzdem könntest du dich wenigstens nach dem Befinden deiner Tochter erkundigen.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Carsta gelangweilt.
»Gut«, sagte Daniel knapp und schlug die Tür hinter sich zu.
In seinem Schlafzimmer ging er noch lange auf und ab. Schließlich blieb er vor dem geöffneten Fenster stehen und schaute hinaus in die windige Herbstnacht. Es war nicht kalt, nur ein wenig kühl. Anjuta, dachte er. Liebe Anjuta. Ich bin überzeugt, dass all deine Gedanken bei mir und bei den Kindern sind. Ich denke auch an dich und werde mit der Erinnerung an deinen Kuss einschlafen.
Am nächsten Morgen erfuhr er, warum Carsta nach München gekommen war. Sie wollte bei einer Premiere glänzen. Ihr letzter Film sollte in München uraufgeführt werden. Das bedeutete ein Riesenaufgebot an Prominenz und Reportern. Carsta sprach während des ganzen Frühstückes nur von dieser Premiere.
»Und wann soll dieses große Ereignis stattfinden?« fragte Daniel sarkastisch.
»Am Freitagabend. Wirst du mich begleiten?«
Dazu verspürte er nicht die geringste Lust.
»Du musst nicht«, sagte Carsta schnell. »Ich kann mich auch von John begleiten lassen. Er ist ohnehin eingeladen.«
»Wer ist John?«, fragte Daniel ohne Interesse.
»Der Partner in meinem neuen Film. In Hollywood kennt ihn jedes Kind. Wenn ich in seiner Begleitung auftauche …«
»Tu das«, unterbrach Daniel sie trocken.
*
Es war am frühen Freitagnachmittag, als Daniel den Anruf aus Sophienlust bekam. Denise selbst war am Apparat. »Ulrike ist von der Schaukel gefallen. Dabei hat sie sich schwer verletzt.«
Daniel erschrak. »Ist sie … Wie schwer ist sie verletzt?«
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wir haben sofort unsere Ärztin angerufen. Aber auch Frau Dr. Frey war sich über den Grad der Verletzung nicht ganz im Klaren und hat das Kind ins Krankenhaus bringen lassen. Von dort erfahren wir spätestens heute Abend mehr. Ich hielt es für richtig, Sie sofort zu informieren, Herr Fernau.«
»Sie haben völlig richtig gehandelt«, bestätigte Daniel ihr.
»Es kann natürlich auch sein, dass sich die Verletzungen als harmlos herausstellen«, fuhr Denise fort.
»Trotzdem. Ich komme sofort nach Sophienlust.«
»Bitte, tun Sie das. Falls sich herausstellen sollte, dass Ulrike innere Verletzungen erlitten hat …« Denise brach unvermittelt ab, weil sie plötzlich begriff, wie quälend das für Daniel sein musste.
»Ich komme, so schnell ich kann«, versprach er.
Daniel verließ sofort sein Werk und fuhr nach Hause. Zuvor hatte er noch schnell Carsta informiert. »Bitte, bleib zu Hause. Ich bin in spätestens zwanzig Minuten bei dir«, hatte er gebeten.
»Was ist denn los?«, hatte sie unwillig gefragt.
»Ulrike ist gestürzt und hat sich schwer verletzt.«
Als Daniel die Villa in Grünwald betrat, war Carsta gerade damit beschäftigt, ihre Ballrobe anzuziehen.
»Lass das! Du wirst nicht zu der Premiere gehen«, sagte er grob. Es reizte ihn, dass sie jetzt überhaupt an so etwas denken konnte.
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«, kam es spitz zurück.
»Weil du jetzt gleich mit mir nach Sophienlust fahren wirst. Ulrike liegt schwer verletzt im Krankenhaus.«
»Wie ist denn das passiert?«
»Sie ist von der Schaukel gefallen.«
»Das kann doch nicht so schlimm sein.«
»Es ist aber schlimm«, schrie er. »Sonst hätte mich Frau von Schoenecker nicht angerufen.«
»Schrei mich nicht so an. Wenn es schlimm ist, dann fahre doch schon endlich los.«
»Soll das heißen …« Daniel brach völlig entgeistert ab.
»Ja. Das soll heißen, dass es ja schließlich genügt, wenn einer von uns fährt. Ich kann ein so wichtiges gesellschaftliches Ereignis wie diese Premiere nicht auslassen.«
Daniel konnte noch immer nichts sagen. Er starrte seine Frau nur an. »Ist das dein Ernst?«, fragte er schließlich.
»Es würde meiner Karriere einen ganz empfindlichen Knacks zufügen«, rief Carsta aufgebracht.
»Unserer Ehe fügt dein Verhalten nicht nur einen Knacks zu. Es ruiniert sie«, sagte Daniel. Er war jetzt ganz ruhig. »Überleg es dir, Carsta. Entweder deine Karriere oder dein Kind. Beides zusammen geht nicht. Wenn du jetzt nicht mit mir nach Sophienlust fährst, reiche ich die Scheidung ein.«
»Willst du mich erpressen?«, kreischte sie.
»Ich überlasse die Entscheidung dir.« Er hoffte noch immer, sie würde ein bisschen Rücksichtsnahme zeigen, ein wenig menschliches Gefühl. Wenn schon nicht für ihn, dann wenigstens für ihr Kind. So kalt konnte doch keine Mutter sein.
Doch Carsta belehrte ihn eines Besseren. »Ich lasse mich nicht von dir erpressen. Reiche meinetwegen die Scheidung ein. Die Ehe mit dir langweilt mich ohnehin. Ich ziehe noch heute hier aus.«
Damit war alles gesagt. Schweigend verließ Daniel das Haus.
Als er in Sophienlust ankam, wurde er von Denise und Jens schon erwartet. Die beiden stiegen sofort zu ihm ins Auto ein und wiesen ihm den Weg zum Maibacher Krankenhaus.
»Ihre Tochter hat Glück gehabt«, sagte der Chefarzt zu Daniel. »Zwar wird sie unter den äußeren Verletzungen noch eine Zeit lang zu leiden haben, aber sie wird keine innerlichen Schäden davontragen.«
Daniel atmete tief und hörbar aus. »Darf ich sie sehen, Herr Doktor?«
»Selbstverständlich. Sie dürfte inzwischen wieder bei Bewusstsein sein. Frau Dr. Frey wird Sie zu ihr bringen.«
Auf dem Weg zu Ulrikes Zimmer schilderte Anja Frey die äußerlichen Verletzungen des Kindes: »Ein verrenkter Daumen, ein verstauchter Fuß, mehrere Prellungen und einige unangenehme Schürfwunden. Das tut alles weh und ist momentan sehr unangenehm, aber es heilt wieder.«
Die Ärztin öffnete eine Tür. Daniel und Jens traten ein, während Denise mit Frau Dr. Frey auf dem Korridor blieb.
Ulrikes Kopf war verbunden, der rechte Arm bandagiert. Sie sah sehr hilflos aus, als sie da in dem großen Bett lag.
»Vati, nimmst du mich mit?«, fragte sie mit ganz schwacher Stimme.
Daniel schluckte. »Heute noch nicht, mein Schatz. Aber bald.«
Jens streichelte Ulrikes gesunde Hand und versprach, sie schon am nächsten Tag wieder zu besuchen. Ihm war ganz elend, weil er sich mitschuldig fühlte. Wenn ich besser aufgepasst hätte, dann wäre das nicht passiert, dachte er.
Noch während Daniel und Jens im Zimmer waren, fielen Ulrike die Augen zu. Sie hatte ein starkes Beruhigungsmittel erhalten, das sie nun einschläferte.
»Gehen wir«, sagte Daniel leise. Und da Ulrike die Augen nicht mehr öffnete, schlichen sie auf Zehenspitzen zur Tür.
Auf dem Gang warteten Denise und Anja Frey.
»Darf sie das Krankenhaus morgen schon verlassen?«, wandte sich Daniel an die Ärztin.
Anja Frey nickte. »Ich denke schon.«
»Gut, dann hole ich sie morgen ab«, sagte Daniel. Er hatte beschlossen, in Maibach zu übernachten. Zwar hatte Denise ihn eingeladen, in Sophienlust zu bleiben, doch er wollte ihre Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen. Deshalb übernachtete er in einem Gasthof in Maibach.
Noch am gleichen Abend telefonierte Daniel mit Anjuta. Er erzählte ihr von Ulrike.
Anjuta zeigte aufrichtige Anteilnahme. »Bist du sicher, dass sie wirklich in Ordnung ist?«, fragte sie besorgt.
»Ja. Zum Glück, ja. Anjuta, ich wollte dir noch etwas sagen.«
»Ja?«
»Ich lasse mich scheiden.«
Sekundenlang herrschte Schweigen. Dann drang Anjutas Stimme ganz leise an sein Ohr. »Bist du ganz sicher, dass das richtig ist, Daniel?«
»Ich bin dessen nicht nur sicher, ich bin wie erlöst, seit ich diesen Entschluss gefasst habe.« Er schilderte ihr die Szene mit Carsta und entschuldigte sich dann auch gleich dafür, dass Carsta bei ihr in Davos aufgetaucht war. »Ich hatte keine Ahnung davon. Das musst du mir glauben.«
»Ich weiß«, sagte Anjuta sanft. »Denke nicht mehr daran, Daniel. Wann … kannst du wiederkommen?«
»So bald wie möglich, Liebste.«
Sie hielt sekundenlang die Luft an, als er sie so nannte. Der Hörer in ihrer Hand begann leicht zu zittern.
»Morgen ist ja leider schon Samstag«, fuhr er fort. »Und Ulrike ist noch nicht transportfähig.«
»Du darfst sie jetzt nicht allein lassen«, sagte Anjuta schnell und rührte ihn damit.
»Wie verständnisvoll du bist, Liebling.« Er schwieg einen Moment und sagte dann leise: »Ich sehne mich so sehr nach dir.«
»Ich auch.«
Er versprach ihr, an dem darauffolgenden Wochenende zu kommen. Dann beendete er das Gespräch. Es ist seltsam, dachte er. Nach jeder Unterhaltung mit Anjuta fühle ich mich gestärkt und gekräftigt.
*
Acht Tage später waren Ulrikes Verletzungen so weit verheilt, dass sie sich ohne Schmerzen bewegen konnte.
Daniel holte die Kinder am Samstagmittag in Sophienlust ab. Bis zum Abend wollte er mit ihnen in Davos sein. Er hatte eine Neuigkeit für Anjuta, die er am Telefon bewusst verschwiegen hatte. Das Gericht hatte ihr Jens zugesprochen.
Dass Carsta ausgezogen war und die Scheidung eingereicht hatte, hatte er Anjuta schon am Telefon erzählt. Nur Ulrike wusste noch nichts davon. Es war Daniel ein bisschen bange vor der Reaktion der Kleinen. Doch einmal musste sie es ja schließlich erfahren. Und deshalb sagte er es ihr gleich.
Ulrike schaute ihn mit großen Augen an und sagte dann erst einmal gar nichts. Besorgt griff Jens, der neben ihr stand, nach ihrer Hand. »Bist du sehr traurig?«, fragte er.
»Warum?«
»Na, weil deine Mutti weg ist.«
»Sie war doch sowieso nie da«, sagte Ulrike. »Und wenn sie da war, hat sie immer gesagt: ›Lass mich in Ruhe, ich habe keine Zeit.‹« Diesen Satz hatte sich Ulrike gut gemerkt.
»Dann bist du also nicht unglücklich?«, erkundigte sich Daniel vorsichtig.
»Nein«, sagte sie unbekümmert und sprach schon im nächsten Moment von etwas anderem.
Daniel war ungeheuer erleichtert. Er wollte nicht, dass seine Kinder unter der Scheidung litten.
Während der Fahrt nach Davos war Daniel sehr schweigsam. Da Ulrike und Jens miteinander beschäftigt waren, fiel ihnen das nicht auf. So konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen.
Diese Gedanken beschäftigten sich mit der Zukunft. Mit einer Zukunft ohne Anjuta. Dass er Jens und Ulrike nach Hause holen würde, stand inzwischen für ihn fest. Denn er hatte eine Erzieherin für sie gefunden. Eine ältere Frau, die erst in zwei Monaten zu ihm kommen konnte. So lange sollten die Kinder noch in Sophienlust bleiben.
Wird Anjuta dann noch leben?, fragte er sich. Vielleicht ist dieser Besuch bei ihr schon der letzte. Er trat abrupt auf die Bremse und lenkte den Wagen auf den nächsten Parkplatz.
»Was ist, Vati?«, fragte Ulrike erschrocken.
»Nichts«, sagte Daniel schnell. »Ich bin nur ein bisschen übermüdet und möchte frische Luft schöpfen.« Er lief ein paar Schritte in den angrenzenden Wald hinein.
Verwundert blickten Jens und Ulrike ihm nach. Doch als Daniel zurückkam, hatte er sich wieder in der Gewalt. Er fuhr weiter.
Kurz vor Davos brach die Dunkelheit herein.
»Wir übernachten hier irgendwo«, bestimmte Daniel. »Für einen Besuch im Sanatorium ist es ohnehin schon zu spät.«
»Schade«, sagte Jens. Er hatte sich schon so auf das Wiedersehen mit seiner Mutti gefreut.
Ulrike griff mitfühlend nach seiner Hand. Diese Geste fand Daniel rührend. Wie gut die beiden sich verstehen, dachte er. Dann erklärte er Jens die Situation. »Die Nachtschwester würde uns wahrscheinlich wieder hinauswerfen«, sagte er.
»Dann gehen wir lieber erst morgen hin«, meinte Jens verständnisvoll.
Obwohl es schon spät war, telefonierte Daniel noch mit Anjuta. »Bitte, entschuldige, Liebling. Hast du schon geschlafen?«
»Nein, ich habe auf deinen Anruf gewartet. Ich dachte mir, dass ihr es heute nicht mehr schafft.«
»Wir sind schon ganz in der Nähe. Morgen früh kommen wir vorbei. Ich habe eine wunderbare Neuigkeit für dich.«
»Verrate es mir«, bat Anjuta.
Doch er blieb fest. »Erst morgen. Ich möchte dein Gesicht dabei sehen. Und jetzt gebe ich dir noch schnell Jens und Ulrike. Sie möchten dir gute Nacht sagen.«
*
Eigentlich müsste ich mich doch freuen, dachte Daniel, als er am nächsten Morgen erwachte. In spätestens zwei Stunden sehe ich Anjuta. Ich werde die Berührung ihrer Hände spüren, ihr Gesicht sehen und sie küssen.
Aber gerade die Sehnsucht nach all diesen Dingen machte ihn traurig, weil er wusste, dass es vielleicht das letzte Mal war. Trotzdem gelang es ihm, sich vor den Kindern zusammenzunehmen. Jens und Ulrike merkten nichts. Sie freuten sich auf das Wiedersehen mit Anjuta. Ulrike genauso wie Jens. Und sie sprachen von der Zeit, da Anjuta wieder gesund sein und nach Hause kommen würde.
»Wann holst du uns nach München, Vati?«, fragte Ulrike.
»In ein bis zwei Monaten.«
»Wie lange ist das?«, wandte sich Ulrike an Jens.
»Nicht so lange«, antwortete er stolz. Dass Ulrike in ihm den großen Bruder sah, verlieh ihm ein ganz neues Selbstwertgefühl. Es hatte ihm geholfen, seine Unsicherheit zu überwinden. »Spätestens zu Weihnachten sind diese zwei Monate vorbei«, sagte er und schaute fragend zu Daniel.
Der nickte nur. Die Vorstellung, Weihnachten vielleicht ohne Anjuta verbringen zu müssen, tat ihm entsetzlich weh. »Lasst uns gehen«, sagte er und stand auf.
Die Kinder kamen seiner Aufforderung mit Freuden nach.
Zu dritt erreichten sie das Sanatorium in Davos kurz nach zehn. Freudig erregt stürmten die Kinder die Treppe hinauf. Auf den Lift konnten sie nicht warten.
Jens riss die Tür des Krankenzimmers auf. »Mutti!«
»Tante Anjuta!« Ulrike prallte auf Jens, der abrupt auf der Schwelle stehen geblieben war. Über seine Schultern konnte sie nicht blicken. Erst als er weiterging, erkannte sie, was ihn so überrascht hatte: Anjuta lag nicht im Bett. Sie saß in einem Hausmantel vor dem Fenster. Auf einem Liegestuhl.
»Mutti!« Im nächsten Moment lag Jens in Anjutas Armen.
Ein wenig hilflos blieb Ulrike stehen. Doch Anjuta vergaß die Kleine nicht. »Komm«, sagte sie mit einem zärtlichen Blick und streckte einen Arm nach Ulrike aus.
So fand Daniel Anjuta. Mit zwei Kindern im Arm. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass sie im Hausmantel am Fenster saß. »Du bist leichtsinnig, Anjuta«, sagte er mahnend und begrüßte sie mit einem freundlichen Kuss auf die Wange.
»Der Arzt hat es mir erlaubt«, erklärte sie strahlend.
Im gleichen Moment öffnete sich die Tür. »Haben Sie einen Moment Zeit?«, bat die Schwester.
Daniel nickte verwundert und folgte ihr.
Die Schwester brachte ihn zum Chefarzt des Sanatoriums. Der schien nur auf Daniels Besuch gewartet zu haben.
»Das ist ein seltener Fall in unserem Sanatorium.« Er bat Daniel, Platz zu nehmen.
Daniel wusste nicht, was er davon halten sollte. Er setzte sich und blickte sein Gegenüber abwartend an.
Lächelnd sprach der Arzt weiter.
»Sie sind überrascht. Das sehe ich Ihnen an. Aber ich selbst war genauso überrascht, als ich die Röntgenaufnahmen sah.«
»Welche Röntgenaufnahmen?«, fragte Daniel. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl.
»Von Frau Fabricius. Wie gesagt, es grenzt fast an ein Wunder. Die Patientin hat ihre Krankheit überwunden.«
Daniel war so erregt, dass ihm die Zigarette aus der Hand fiel.
»Natürlich wird sie immer anfällig bleiben«, fuhr der Arzt fort. »Auch schwach und empfindlich. Aber sie ist geheilt.«
Daniel konnte nicht sprechen. Er saß nur da und starrte den Arzt an. Geheilt, dachte er. Anjuta ist gesund. »Ist das wirklich wahr, Herr Doktor? Ich flehe Sie an, mir die ganze Wahrheit zu sagen. Ich könnte es nicht ertragen …«
»Es ist die Wahrheit«, unterbrach der Chefarzt ihn. »Sonst hätte ich Sie gar nicht zu mir gebeten. Ich beobachte die Patientin schon lange. Aber erst in den letzten Tagen konnte ich mir Gewissheit verschaffen. In spätestens einem Monat können Sie Frau Fabricius mit nach Hause nehmen.«
Daniel taumelte von seinem Stuhl hoch. Das Glück und die Freude machten ihn benommen. Ich muss zu ihr, dachte er. Ich muss sie in die Arme nehmen, muss es ihr sagen.
Er schaute den Arzt fragend an. »Weiß sie es?«
»Ja. Wir haben es ihr gesagt. Gehen Sie zu ihr, Herr Fernau. Sie erwartet Sie sehnsüchtig.«
Daniel stürmte in Anjutas Zimmer. So impulsiv und plötzlich, dass die Kinder aufsprangen und zurückwichen. »Anjuta!« Er nahm sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Du bist gesund. Du wirst leben.«
»Ich weiß es«, flüsterte sie. »Ich weiß es seit zwei Tagen. Aber ich wollte es dir persönlich sagen. Nicht am Telefon.« Sie küsste die Tränenspur von seinen Wangen. Dann streckte sie die Arme nach den Kindern aus. »Kommt zu mir. Ich muss euch etwas Wichtiges sagen.«
Scheu kamen Ulrike und Jens näher. Sie begriffen noch nicht, worum es ging. Warum war der Vater plötzlich so unwahrscheinlich fröhlich?
»Hast du im Lotto gewonnen?«, fragte Ulrike. Sie wusste, dass sich die Leute darüber immer besonders freuten.
Daniel musste lachen. Dann nickte er. »Ich habe das große Los gewonnen. Aber nicht im Lotto.« Er schaute Jens an und legte ihm beide Arme auf die Schultern. »Ich möchte deine Mutti heiraten. Hast du etwas dagegen?«
Jens begann vor Aufregung zu stottern, und Anjuta hielt die Luft an. Nur Ulrike antwortete ganz nüchtern: »Aber du bist doch verheiratet, Vati.«
»Richtig«, antwortete er lachend. »Aber deine Mutti hat uns verlassen. Sie will sich scheiden lassen. Hast du das vergessen?«
Ulrike schüttelte den Kopf. »Dann habe ich keine Mutti mehr.«
»Du kriegst meine«, sagte Jens schnell und griff nach Ulrikes Hand. »Magst du?«
Die Kleine schaute Anjuta an. Sie sah, dass diese lächelte, und dachte daran, wie lieb sie sein konnte. Spontan nickte sie und ließ sich willig von Anjuta in die Arme schließen.
»Von jetzt an musst du Mutti zu mir sagen«, bat Anjuta leise. Sie war so unendlich glücklich und wollte auch die Menschen, die sie liebte, glücklich sehen.
»Mutti«, wisperte Ulrike verschämt und drückte ihr Gesicht in Anjutas Armbeuge.
Daniel sah das alles und konnte nur immer eines denken: Jetzt sind wir eine glückliche Familie. Anjuta wird bei uns bleiben.
Währenddessen dachte Anjuta an etwas ganz anderes. »Hör mir einmal aufmerksam zu«, bat sie Jens. »Ich möchte dir etwas Wichtiges sagen.«
Jens setzte sich auf ihren Schoß.
»Du weißt jetzt, dass ich deine Mutti bin«, fuhr Anjuta fort.
Jens nickte. »Und wenn du Onkel Daniel heiratest, dann wird er mein Vati.«
»Er braucht es gar nicht erst zu werden«, sagte Anjuta. »Er ist es schon, Jens. Daniel ist dein Vati. Er hat es dir bis jetzt nur nicht gesagt.«
Jens war von Anjutas Schoß geglitten. »Ist das wirklich wahr?«
»Ich muss es doch wohl wissen«, bestätigte Anjuta ihm lächelnd. »Deshalb habe ich ihn ja auch gebeten, dich zu suchen.«
Daniel streckte die Hände nach seinem Jungen aus. Ich werde dir ein guter Vater sein, dachte er, während er Jens umarmte.
»Jetzt habe ich wieder eine Mutti, und du hast einen Vati«, sagte Ulrike zu Jens, als die Kinder Hand in Hand das Krankenzimmer verließen. Sie wollten im Park spielen, bis Anjuta und Daniel alles besprochen hatten.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal bei meinen richtigen Eltern sein würde«, sagte Jens leise.
»Jetzt darfst du es aber«, rief Ulrike ausgelassen.
»Ja. Und sie sind so wunderbar.« Der Abglanz eines stillen inneren Glücks lag auf den Zügen des Jungen. Er dachte daran, wie oft er sich nach einem vorbildlichen Vater gesehnt hatte. Nach einem Vater, auf den er stolz sein konnte, und nach einer Mutter, die er lieben konnte, weil sie eben eine richtige Mutter war.
»Jetzt bist du wirklich mein großer Bruder«, sagte Ulrike leise.
»Ja.« Jens nickte überrascht. »Wir sind jetzt richtige Geschwister und dürfen immer beisammenbleiben.«
Er sprang auf und ließ sich übermütig in einen zusammengetragenen Blätterberg fallen.
*
Zwei Monate später, einen Tag vor Weihnachten, in Sophienlust lag schon Schnee, holte ein glückliches, frisch getrautes Paar seinen Sohn und seine Tochter von Sophienlust ab.
Hand in Hand verließen Jens und Ulrike das Kinderheim und fuhren mit ihren Eltern einer sorglosen Zukunft entgegen.
»Morgen kommt schon der Weihnachtsmann«, sagte Jens auf dem Rücksitz zu Ulrike.
Anjuta, die vorn neben ihrem Mann saß, schmunzelte. Sie dachte an den großen Weihnachtsbaum, den sie in der Villa in Grünwald aufgestellt hatten. Und sie freuten sich schon auf die überraschten Gesichter der Kinder.