Читать книгу Sophienlust Staffel 15 – Familienroman - Elisabeth Swoboda - Страница 9

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Pünktchen trug einen Hosenrock aus Jeansstoff – im gleichen Farbton wie Nicks Hose. Darauf war Pünktchen besonders stolz. Sooft sie an dem Spiegel im Herrenhaus von Schoeneich vorüberkam, betrachtete sie zufrieden ihr Bild. Auch jetzt wieder. Doch als Nick nach ihr rief, eilte sie schnell weiter. In den Händen trug sie eine Schüssel mit Salzgebäck.

»Stell es dort drüben hin«, bat Nick und deutete zum Ende der langen Tafel, die im Park von Gut Schoeneich stand. Sie war für die Kinder von Sophienlust gedeckt. Nick hatte die Kinder zu einem Fest eingeladen.

Nick zählte schon zum dritten Mal die Stühle und stellte zum dritten Mal fest, dass zwei fehlten. »Henrik«, rief er und drehte sich um. Doch sein jüngerer Halbbruder war nicht da.

»Ich möchte bloß wissen, wo er wieder ist«, sagte Nick. »Schon vor zwanzig Minuten habe ich ihm gesagt, er soll noch zwei Stühle holen.«

»Ich kann mir schon denken, wo er ist«, meinte Pünktchen und kostete ein Salzplätzchen.

»Wo?«

»Bei deinem Pferd.« Nicks neues Pferd war der Anlass zu diesem Fest. Seine Eltern hatten es ihm aus Spanien mitgebracht. Einen zwei Jahre alten Andalusier. Nick hatte sich auf den allerersten Blick in den Schimmel verliebt und sofort beschlossen, dieses großzügige Geschenk mit einem Fest zu feiern. Alle Kinder sollten sich mit ihm freuen und gemeinsam mit ihm einen Namen für das Pferd auswählen. Das war der eigentliche Anlass des Festes. Martha hatte eine Kinderbowle zubereitet und Salzgebäck gebacken. Außerdem gab es noch Kaffee, Kakao und Kuchen.

Endlich brachte Henrik die fehlenden Stühle. Pünktchen trug nun gemeinsam mit Vicky eine große Kuchenplatte aus dem Haus.

»Da fehlt doch schon wieder ein Stück«, frotzelte Nick. Dabei schaute er Vicky an, von der alle wussten, dass sie gern naschte.

Doch diesmal wies das Mädchen die Verdächtigung entrüstet von sich. »Ist überhaupt nicht wahr. Keinen einzigen Krümel habe ich gegessen. Frag Pünktchen.«

Die nickte. »Stimmt. Diesmal ist Vicky wirklich unschuldig.« Sie stellten die Kuchenplatte ab. »Ich glaube, jetzt haben wir alles.«

Aus der Ferne erklang nun Lachen und Singen.

»Ich glaube, sie kommen.« Nick lief zum Tor. Pünktchen und Vicky folgten ihm.

»Sie kommen per Fahrrad«, staunte Nick.

Auf jedem Fahrrad saßen zwei Kinder. Die älteren Kinder fuhren und hatten jeweils ein kleines Kind auf dem Gepäckträger sitzen.

»Hallo!« Nick winkte den Gästen entgegen.

Mit lautem Echo antwortete die Schar. Dann sprangen die Kinder von den Rädern. Dabei fiel Heidi hin. Sie überlegte einen Moment lang, ob sie weinen sollte. Doch da war Pünktchen schon bei ihr. »Komm, ich helfe dir auf. Hat’s wehgetan?«

»Nur ’n bisschen.« Heidi rieb sich das Knie. Aber außer einem winzigen Kratzer war nichts zu sehen. Und nach ein paar Minuten hatte sie den kleinen Unfall bereits wieder vergessen.

Die Kinder stellten ihre Räder ab und liefen zu der Tafel im Park. »Es gibt Kuchen«, rief Fabian. Schon wollte er nach einem Stück greifen, doch Vicky schlug ihm auf die Finger.

»Erst wenn wir alle sitzen, wird gegessen.«

»Wo ist Tante Isi?«, fragte Heidi.

Irmela wollte aber etwas anderes wissen. »Wo ist der Schimmel, Nick? Im Stall?«

»Ja«, sagte Nick.

»Wenn wir gegessen haben, führe ich ihn euch vor.«

Irmelas Augen begannen zu leuchten. »Ich kann es kaum erwarten.«

»Was wirst du mit dem Schimmel alles machen, Nick?«, fragte Fabian. »Bringst du ihm auch ein paar Kunststücke bei? Du hast doch gesagt, dass Andalusier oft auch als Zirkuspferde dressiert werden.«

»Das stimmt. Aber ich glaube nicht, dass ich ein Zirkuspferd aus ihm machen kann.« Nick hatte da seine Zweifel.

»Warum nicht? Du kannst es doch einmal versuchen«, riet Henrik ihm. »Mann, das wäre vielleicht lustig.«

»In erster Linie möchte ich mit dem Schimmel reiten«, erklärte Nick. »So, und jetzt wird erst einmal gegessen. Martha bringt schon den Kakao.«

Gleichzeitig mit der Köchin kamen auch Denise und Alexander von Schoen­ecker aus dem Haus. Sie hatten den Kindern versprochen, bei ihrem Fest dabei zu sein. Wenigstens eine Stunde lang. Schließlich hatten sie das Pferd für Nick während ihres Spanienurlaubes gekauft.

»Erzähl uns ein bisschen von Spanien, Tante Isi«, bettelte Pünktchen. Sie hatte es so eingerichtet, dass sie neben Denise von Schoenecker saß. Nun lauschte sie fasziniert Denises Schilderung. Ich möchte auch einmal das Meer sehen, dachte sie dabei.

Vicky sprach diesen Gedanken aus. »Das Meer muss schön sein. Ich möchte gern einmal darin baden.«

»Du bist noch jung«, sagte Alexander von Schoenecker. »Irgendwann in deinem Leben wirst du das Meer sehen und darin baden.«

Henrik warf den Mädchen einen verächtlichen Blick zu. Das Meer interessierte ihn im Moment überhaupt nicht. Wie konnten sie nur vom Meer träumen, wenn gleich hinter dem Haus im Stall ein so wunderschöner Schimmel stand? »Wann holst du das Pferd, Nick?«

»Nicht so ungeduldig, kleiner Bruder. Jetzt wird erst einmal gegessen.«

»Ich bin schon fertig.« Henrik schob seinen Teller zurück.

»Ich glaube, du kannst die Kinder nicht länger auf die Folter spannen«, sagte Alexander schmunzelnd.

Nick stand auf. »Okay, Vati. Ich hole den Schimmel.«

Sofort entstand ein Aufruhr an der Tafel. Sämtliche Kinder sprangen gleichzeitig auf. Ein jedes wollte das Pferd zuerst sehen.

Als Nick den Schimmel dann brachte, herrschte sekundenlang staunendes Schweigen. »Ich habe noch nie ein so schönes Pferd gesehen«, sagte Irmela andächtig und trat langsam zu dem Schimmel. Mit vorsichtigen Bewegungen, um ihn nicht zu erschrecken, begann sie seinen Hals zu streicheln.

Jetzt kamen auch die anderen näher, und alle wollten das Pferd streicheln. Doch das mochte der Schimmel nicht. Er begann rückwärts zu trippeln und wäre wohl ausgebrochen, wenn Nick ihn nicht festgehalten hätte.

»Er muss sich erst an euch gewöhnen«, meinte der stolze Pferdebesitzer. »Vorerst ist er noch nervös.«

»Schade«, sagte Irmela. »Ich dachte, du würdest uns eine Runde vorreiten.«

»Morgen«, versprach Nick. »Er muss mich erst kennenlernen.«

Darin pflichtete Alexander von Schoenecker seinem Stiefsohn bei. »Gewöhne ihn langsam an dich«, riet er Nick. »Dann wird sein Vertrauen später umso größer sein.«

Alexander ging zurück in sein Arbeitszimmer zu seinen Abrechnungen. Denise blieb dagegen noch bei den Kindern, die nun abstimmten, wie der Schimmel heißen sollte.

Fast jedes Kind machte einen Vorschlag, sodass sich Nick einen Moment lang lachend die Ohren zuhielt. »Demnach könnte ich dem Schimmel mindestens zwanzig Namen geben.«

»Kannst du ja auch«, meinte Henrik.

»Ja, aber rufen kann ich ihn trotzdem nur mit einem.«

»Mit dem schönsten«, sagte Heidi.

»Vicky und ich, wir haben uns einen ganz schönen ausgedacht.« Sie nannte den Namen.

Ein Teil der Kinder brach spontan in schallendes Gelächter aus.

»Ruhe«, donnerte Nick, obwohl auch er sich das Lachen verkneifen musste. Aber er stellte sich schützend neben Heidi. »Hört auf zu lachen und macht lieber weitere Vorschläge.«

»Soll ich dir meinen Namen sagen?«, fragte Henrik.

»Sag ihn schon«, drängte Nick. »Mach es nicht so spannend.«

»Silberpfeil.«

Wieder lachten ein paar Kinder.

»Da gibt’s überhaupt nichts zu lachen«, schimpfte Henrik, »Silberpfeil ist ein schöner Name.«

»Ja, aber ein Indianername«, stellte Irmela fest. »Na und?« Henrik drehte sich angriffslustig zu ihr um. »Warum soll Nicks Pferd keinen Indianernamen bekommen?«

»Weil es kein Indianerpferd ist, sondern ein spanisches. Ein Andalusier.«

»Dann geben wir ihm doch einen spanischen Namen«, schlug Pünktchen vor.

Damit war Nick sofort einverstanden. »Die Idee ist gut. Lasst uns über einen spanischen Namen nachdenken.«

Die Kleineren maulten. »Wo wir uns doch so schöne Märchennamen ausgedacht haben.«

»Ihr mit euren Märchennamen.« Irmela winkte ab. »Die sind doch viel zu kindisch.«

»Silberpfeil ist überhaupt nicht kindisch«, rief Henrik rebellisch.

Pünktchen schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du hast doch gehört, dass Nick seinem Pferd einen spanischen Namen geben will. Also hör endlich mit deinem Indianerzeug auf.«

Nick musste lachen. »Ich will einmal zusammenfassen«, sagte er laut. »Fest steht, dass der Schimmel weder Putzi noch Silberpfeil heißen soll. Er soll einen spanischen Namen kriegen. Also lasst uns weiter überlegen.«

»Nenne ihn doch Don Quichote«, riet Irmela ihm.

Nick überlegte. Aber Vicky und Angelika protestierten sofort. »Der ist viel zu schwierig. Den kann man ja nicht einmal richtig aussprechen.«

»Don Quichote gefällt mir irgendwie«, meinte Nick. »Aber Angelika hat recht. Ein bisschen schwierig ist er schon. Besonders für die Kleineren zum Aussprechen. Außerdem wäre mir ein Name lieber, der aus einem Wort besteht.«

»Ich hab’s«, rief Pünktchen. »Nenne ihn Pedro.«

Einen Moment lang schwiegen alle. »Pedro ist nicht schlecht«, sagte Nick langsam. »Gar nicht schlecht. Im Gegenteil. Sogar sehr gut.«

Irmela nickte. »Finde ich auch. Pedro ist kurz und klingt gut. Mir gefällt der Name.«

»Mir auch«, sagten sofort drei andere Kinder.

Sogar Henrik vergaß seinen Silberpfeil und stimmte dem Vorschlag zu. Nick schaute Denise an. »Du sagst ja überhaupt nichts, Mutti. Wie gefällt dir der Name Pedro?«

»Gut. Er passt auch zu dem Schimmel.«

»Ja, er passt zu ihm.« Nick schaute in die Runde. »Stimmen wir doch einfach ab. Wer für Pedro ist, hebt die Hand.«

Fast alle Arme flogen hoch. Nur zwei oder drei Kinder zögerten, ließen sich aber schließlich auch noch für Pedro bekehren.

»Also heißt der Schimmel Pedro«, sagte Nick. »Die Mehrheit hat’s beschlossen.«

»Aber der Name muss dir auch wirklich gefallen.«

Pünktchen schaute ihren Freund prüfend an.

»Er gefällt mir ja«, antwortete Nick lächelnd. Dann ging er mit den Kindern in den Stall.

»Wir haben dich getauft«, sagte er zu dem Schimmel. »Du heißt ab sofort Pedro.« Das Pferd richtete seine großen dunklen Augen auf Nick. Dieser streichelte die Mähne des Pferdes und wiederholte immer wieder den Namen Pedro.

Plötzlich begann der Schimmel zu wiehern. Die Kinder brachen sofort in helle Begeisterung aus. »Er hat dich verstanden. Er hat den Namen akzeptiert!«, riefen sie durcheinander.

Durch diesen Trubel wurde das Pferd schließlich so unruhig, dass Nick die Kinder aus dem Stall hinausschickte. Er selbst blieb noch bei seinem Pferd. »Ich glaube, wir zwei werden uns gut verstehen«, sagte er leise. »Auf jeden Fall werde ich meinen Teil dazu beitragen.«

Wieder musterte der Schimmel ihn aufmerksam. Ich glaube, er versteht mich wirklich, dachte Nick und streichelte Pedros schönes weißes Fell. Morgen werde ich ihn reiten, beschloss er.

Als Nick in den Park zurückkam, hatten sich die Kinder in einzelne Gruppen aufgelöst. Ein paar spielten Ball. Die Kleineren saßen im Gras und flochten Blumenkränze. Und Irmela räumte zusammen mit Pünktchen den Tisch ab. Denise half ihnen dabei.

*

Es war genau vierzehn Tage nach dem Fest. Wie jeden Tag ging Nick nach dem Frühstück zuerst zum Stall, um Pedro zu begrüßen. Doch Pedros Platz war leer.

Ruckartig blieb Nick stehen. Er schaute sich im Stall um. Doch Pedro blieb verschwunden. »Das gibt’s doch gar nicht«, murmelte der Junge. Er lief schnell aus dem Stall hinaus und in den Park hinein.

Dort spielte Henrik mit sich selbst Federball. »Warum rast du denn wie ein wild gewordener Fliegenfänger durch die Gegend, großer Bruder?«

Nick blieb stehen und fuhr sich mit beiden Händen durch’s Haar. »Pedro ist verschwunden.«

»Waas?« Augenblicklich war das Federballspiel vergessen.

»Wahrscheinlich durchgegangen.«

»Dann müssen wir ihn suchen«, rief Henrik aufgeregt. »Wohin kann er denn gelaufen sein?«

»Keine Ahnung. Ich weiß ja auch gar nicht, wie lange er schon weg ist.« Nick war sichtlich verstört. »Ich möchte bloß wissen, wie er aus dem geschlossenen Stall herausgekommen ist. Sag bitte Vati Bescheid. Ich setze mich auf mein Fahrrad und radle die Umgebung ab.«

»Okay. Ich komme dir nach.« Henrik lief zum Haus. »Vati«, rief er schon in der Halle. »Vati!«

Alexander von Schoenecker trat langsam aus seinem Arbeitszimmer. In Gedanken war er noch bei seinen Rechnungen. »Was ist denn passiert? Warum schreist du so?«

»Pedro ist verschwunden. Nick meint, dass er durchgegangen ist.«

»Das muss er ja wohl, wenn er nicht mehr da ist.«

»Nick ist losgeradelt, um Pedro zu suchen. Darf ich ihm nachfahren, Vati?«

Alexander von Schoenecker nickte. »Fahr schon los. Ich hole mein Pferd aus dem Stall und reite die Felder und Wiesen ab. Allzu weit kann Pedro ja nicht sein.«

Doch das erwies sich als ein Trugschluss. Alexander von Schoenecker ritt die ganze Umgebung ab, aber er fand keinen Hinweis darauf, dass der Schimmel durchgegangen war. Es hatte ihn auch niemand gesehen.

In Sophienlust traf der Gutsherr mit Nick zusammen. Aber schon der besorgte Ausdruck seines Stiefsohnes verriet ihm, dass auch dessen Suche erfolglos geblieben war.

»Hast du ihn gefunden, Vati?«, fragte Henrik. Sein Gesicht war erhitzt vom schnellen Radfahren.

»Nichts, keine Spur.« Alexander stieg ab.

»Wir auch nicht«, sagte Nick. »Verstehst du das, Vati?«

Alexander von Schoenecker schüttelte den Kopf. Er stand vor einem Rätsel. Dass ein Pferd durchbrannte, kam schon einmal vor. Aber dass es dann einfach unauffindbar blieb, war verdächtig.

»Da ist noch etwas Komisches, Vati. Der alte Justus sagt, er hätte heute Nacht so komische Geräusche gehört.«

»Was für Geräusche?«, fragte Alexander.

Doch das wusste Nick auch nicht. »So genau konnte er es nicht erklären. Eben Geräusche, sagte er. Vielleicht kannst du einmal selbst mit ihm sprechen, Vati?«

Das tat Alexander von Schoenecker auch. Er erfuhr von Justus, dass sich die Geräusche wie Pferdegalopp angehört hätten. Das ließ darauf schließen, dass Pedro tatsächlich durchgebrannt war.

Als Alexander zum Herrenhaus zurückkam, hatten sich sämtliche Kinder vor dem Eingang versammelt.

»Sie wollen mir suchen helfen«, sagte Nick. »Wir schwärmen aus und durchsuchen das ganze Gelände. Aber wir haben noch eine Bitte, Vati. Kannst du mich oder Henrik schnell zum Tierheim fahren? Wir möchten Munko mitnehmen. Er kann uns suchen helfen.«

Munko war ein ausgedienter Polizeihund. Bei einem Einsatz war er verletzt worden und lahmte nun. Trotzdem konnte man ihn zum Suchen noch sehr gut verwenden. Seit einiger Zeit lebte er im Tierheim Waldi & Co.

Alexander gab Justus die Zügel seines Pferdes. »Ist ein Wagen frei?«

»Ja«, sagte Nick. »Ein Wagen schon. Nur kein Fahrer. Deshalb dachte ich, du könntest mich schnell hinüberfahren.«

Alexander nickte, »Komm, wir fahren schnell.«

Als Nick mit Munko zurückkam, waren die Kinder schon in das Gelände ausgeschwärmt. Doch Nick holte sie mit seinem Fahrrad schnell wieder ein.

»Vielleicht ist er in den Wald gelaufen«, meinte Pünktchen. »Die Hälfte von uns sollte den Wald durchkämmen.«

Damit war Nick sofort einverstanden. Denn die Felder und Wiesen in der näheren Umgebung hatte er ja schon mit seinem Stiefvater abgesucht. »Such, Munko«, spornte er den ehemaligen Polizeihund an.

Munko begann auch sofort an der Leine zu zerren und loszulaufen. Doch bald schon blieb er wieder ratlos stehen.

Nick legte beide Hände an den Mund und rief nach den anderen. »Hört ihr uns?«

»Ja«, schallte es zurück.

»Irgendeine Spur?«, fragte Nick schreiend.

»Nichts.«

Resigniert ließ Nick die Arme hängen. In diesem Moment fürchtete er zum ersten Mal, dass Pedro für immer verschwunden bleiben könnte. Diese Vorstellung tat ihm weh. Sehr sogar.

Plötzlich spürte Nick, dass Pünktchen ihre Finger in seine Hand schob.

»Wir finden ihn bestimmt, Nick.«

»Aber wir haben doch schon die ganze Umgebung von Schoeneich und Sophienlust abgesucht«, sagte Nick verzweifelt.

»Vielleicht ist er noch weiter weggelaufen. Bis in ein Nachbardorf.« Pünktchen wollte ihren Freund trösten. Nur deshalb sagte sie das.

Nick griff den Gedanken jedoch sofort auf. »Wenn er auch hier im Wald nicht ist, dann setze ich mich aufs Fahrrad und fahre im Umkreis von zwanzig Kilometern alle Dörfer ab.«

»Das schaffst du aber heute nicht mehr«, gab Pünktchen zu bedenken.

»Ja, du hast recht.« Der große Junge schüttelte betrübt den Kopf.

Am späten Nachmittag kamen alle Kinder müde und ohne Hoffnung zurück.

»Habt ihr ihn nicht gefunden?«, fragte Else Rennert, die Heimleiterin.

»Nein.« Irmela schüttelte betrübt den Kopf. »Wir waren überall. Beim See, im Wald. Aber wir konnten den Schimmel nicht finden.«

»Das ist komisch«, meinte die Heimleiterin. »So ein großes Pferd kann doch nicht einfach verschwinden.«

»Wahrscheinlich ist er zu weit weggelaufen«, überlegte Irmela. »Irgendwo muss er ja sein. Schließlich kann sich ein Pferd nicht plötzlich in Luft auflösen.« Sie drehte sich zu Nick um. »Wir suchen morgen weiter.«

»Okay«, sagte Nick. »Ich radle jetzt zurück nach Schoeneich. Vielleicht weiß Vati etwas. Er wollte mit der Polizei telefonieren.«

Dieses Telefonat hatte Denise ihrem Mann abgenommen. Aber auch sie hatte keine positive Nachricht für Nick. »Niemand hat einen Schimmel gesehen«, berichtete sie, als Nick und Henrik nach Hause kamen.

Nick hätte am liebsten geheult, so unglücklich war er. »Ob ich noch einmal mit dem Rad losfahre, Mutti?«

»Heute Abend noch?«, fragte Denise. »Aber, Nick, dazu ist es doch schon zu spät. Die nahe Umgebung habt ihr doch schon gründlich abgesucht. Da ist er nicht. Und für die weitere Umgebung ist es heute schon zu spät.« Sie strich ihrem Sohn mitfühlend übers Haar. »Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Wir legen morgen zwei zusammenklappbare Räder in den Kofferraum meines Wagens. Damit fahre ich dich und Henrik in die umliegenden Dörfer, und ihr radelt die Umgebung ab. Einverstanden?«

»Einverstanden, Mutti.« Nick setzte sich lustlos an den gedeckten Tisch. Doch er konnte keinen Bissen essen. Denise zwang ihn auch nicht dazu. Sie konnte ihm nachfühlen, was er empfand.

Nach dem Abendessen verließ Nick noch einmal das Herrenhaus und ging hinüber zum Stall. Bevor er die Stalltür öffnete, stellte er sich vor, Pedro stünde wieder auf seinem Platz. Mit geschlossenen Augen betrat er den Stall. Doch als er die Augen öffnete, sah er enttäuscht Pedros leeren Platz. Wo bist du?, fragte er sich hilflos. Warum bist du weggelaufen? Oder bist du gar nicht freiwillig davongerannt?

Ein entsetzlicher Verdacht schoss Nick durch den Kopf. Dieser veranlasste ihn, sofort zurückzulaufen. Mit erhitztem Gesicht riss er die Wohnzimmertür auf. »Mutti, Vati, wenn Pedro nun gestohlen wurde?«

Denise schüttelte sofort den Kopf. »Nun warte doch erst einmal den morgigen Tag ab, bevor du eine solche Vermutung aussprichst, Nick.«

Doch Alexander von Schoenecker war anderer Meinung. Auch er hatte schon an die Möglichkeit eines Diebstahls gedacht. »Wenn das Pferd unauffindbar bleibt, dann kann es nur gestohlen worden sein«, erklärte er.

Besorgt schaute Denise ihren Sohn an. Natürlich schloss auch sie einen Diebstahl nicht aus. Aber solange noch die Hoffnung bestand, dass Pedro nur davongelaufen war, wollte sie nicht von einem Diebstahl sprechen, um Nick nicht noch unglücklicher zu machen.

Nick durchschaute jedoch den Schachzug seiner Mutter. »Lass nur, Mutti. Ich weiß doch, dass du genauso denkst wie Vati. Und wenn ich es mir richtig überlege, dann glaube ich eigentlich auch nicht mehr daran, dass Pedro nur durchgebrannt ist. Wie hätte er denn allein aus dem Stall herauskommen sollen?«

Die Frage konnte Denise auch nicht beantworten. »Das ist fast unmöglich«, gab sie zu.

»Und wenn man dann auch noch bedenkt, dass Justus gestern Nacht verdächtige Geräusche gehört hat«, sprach Alexander von Schoenecker seine Gedanken laut aus.

»Aber du fährst doch trotzdem morgen mit uns die Umgebung ab, Mutti?«, fragte Nick besorgt.

Denise versprach es; und hielt auch ihr Versprechen.

Den ganzen nächsten Tag war sie mit Nick und Henrik unterwegs, um Pedro zu suchen. Die drei fuhren die ganze Umgebung ab. So weit es ging, mit dem Wagen. Und dort, wo das unmöglich wurde, setzten sich Nick und Henrik auf ihre Klappräder und fuhren weiter.

In der Zwischenzeit erkundigte sich Denise überall, ob irgendwo ein herrenloser Schimmel gesehen worden sei. Doch das war vergebens. Niemand hatte einen Schimmel gesehen.

Müde und enttäuscht fuhr Denise schließlich mit ihren Söhnen gegen Abend nach Sophienlust zurück.

*

In der Halle des Herrenhauses war es mucksmäuschenstill. Und das, obwohl sich sämtliche Kinder darin aufhielten. Sie hatten sich um das Radio geschart und lauschten aufmerksam der Stimme des Märchenonkels. Er las gerade eine Geschichte über die Schnecke vor.

»Ihr wisst ja, dass die Schnecke ihr Haus auf dem Rücken trägt. Das ist keine leichte Last für sie. Manchmal schaut sie traurig zu den anderen Tieren, die hüpfen und springen können und viel schneller vorwärtskommen. Aber dann erinnert sie sich stets daran, warum sie sich einstmals entschlossen hatte, ihr Haus mitzunehmen.«

Die Stimme im Radio räusperte sich. Gespannt warteten die Kinder auf die Fortsetzung der Geschichte.

»Vor langen, langen Zeiten stand das Haus der Schnecke im Laub«, fuhr der Märchenonkel fort. »Sie verließ es, wenn sie Ausflüge machte, und kehrte dann froh wieder zurück. Doch eines Tages fand sie die Tür aufgebrochen. Im Haus war schreckliche Unordnung. Einbrecher hatten die Zeit genutzt, während die Schnecke unterwegs gewesen war, und hatten alles durchwühlt. Mitgenommen hatten sie natürlich auch vieles, denn Einbrecher wollen ja immer Beute machen. Am schlimmsten traf die Schnecke jedoch die Tatsache, dass ihr mühselig gesammelter Vorrat verschwunden war. Und die Beleuchtung hatten die Einbrecher auch gestohlen. Die arme Schnecke musste nun im Dunkeln sitzen. Sie weinte und klagte, denn die Ordnung in ihrem Haus war ihr das Liebste auf der Welt.

Niemand konnte der Schnecke helfen. Die anderen Tiere hatten genug eigene Sorgen. Sie sagten nur: ›Ja, so etwas kann eben passieren. Was musst du auch ein eigenes Haus haben? Das erweckt immer Aufsehen. Eines Tages werden die Einbrecher wiederkommen und noch einmal in dein Haus eindringen. Vielleicht schleppen sie es dann sogar fort!‹

Bei solchen Worten erschrak die Schnecke sehr. Sie dachte angestrengt darüber nach, was sie tun könnte, um ihr Haus nicht zu verlieren. Und dann versuchte sie das Haus auf den Rücken zu nehmen. Die anderen Tiere lachten sie deshalb aus, aber die Schnecke schaffte es schließlich. Und allmählich gewöhnte sie sich an die Last. Wenn ihr Gefahr drohte, verkroch sie sich schnell in ihr Haus. Überhaupt, so fand sie, hatte es viele Vorteile, auf allen Wegen sein Haus bei sich zu haben. Man konnte schnell ein kleines Nickerchen machen oder sich vor Feinden im Haus verkriechen.

Nur eines hat die Schnecke in ihrer Aufregung über die Einbrecher vergessen: Für neue Beleuchtung im Haus zu sorgen. Aber das lässt sich nun nicht mehr ändern. Sie kann das Haus nicht mehr von ihrem Rücken stürzen. Sie hat Angst, dass es dabei zerbrechen würde. Also hat sie sich damit abgefunden, ohne Licht in ihrem Haus zu leben. Und dabei ist sie ganz zufrieden.«

Die Geschichte war zu Ende. Im Stuttgarter Rundfunk verabschiedete sich der Märchenonkel Eugen Luchs von seinen vielen kleinen Zuhörern in ganz Deutschland.

Vor dem Senderaum wartete die kleine schwarze Peggy auf ihn. Das kleine Negermädchen sprang ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Endlich öffnete sich die Tür des Senderaumes, und Eugen Luchs, der Märchen­onkel, trat heraus.

Peggy lief ihm entgegen und griff nach seiner Hand. »Ich habe die Geschichte mithören dürfen, Onkel Luchs. Bestimmt hat sie den Kindern in Sophienlust gefallen.« Peggy wusste, dass ihre kleinen Freunde in Sophienlust keine Geschichte des Märchenonkels ausließen. »Wann fahren wir zurück nach Swasiland, Onkel Luchs?« Damit meinte sie die kleine Oase bei Sophienlust, wo sie mit Eugen Luchs in dessen Wohnwagen meist lebte.

»Gleich morgen früh, Peggy. Heute ist es schon zu spät.«

Gemeinsam verließen die beiden das Sendehaus. Am nächsten Morgen fuhren sie sehr früh mit dem Wohnwagen los. In Richtung Sophienlust. Aufmerksam musterte Peggy während der Fahrt die Landschaft, die an ihr vorbeiflog. Ihrem scharfen Kinderblick entging nichts. Jede Kleinigkeit registrierte sie.

»Ich bin neugierig, wie den Kindern deine Geschichte von der Schnecke gefallen hat«, plapperte sie munter drauflos. »Ich werde sie gleich fragen, wenn wir ankommen. Aber bestimmt hat sie ihnen genauso gut gefallen wie mir.«

Schmunzelnd hörte Eugen Luchs ihr zu. Ein Leben ohne Peggy könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, dachte er dabei.

Er nahm Peggy fast auf alle seine Reisen mit. Wenn er wirklich einmal allein wegfahren musste, dann fehlte sie ihm ganz entsetzlich.

»Wann sind wir in Sophienlust?«, fragte sie.

Eugen Luchs schaute auf die Uhr und begann zu rechnen, da stieß Peggy plötzlich einen spitzen Schrei aus. Ihr kleiner Arm deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Fenster hinaus. »Pedro«, rief sie dabei erhitzt.

Eugen Luchs verstand nicht sofort, was Peggy meinte. Bis ihm einfiel, dass Nicks Schimmel Pedro hieß. Er trat auf die Bremse und lenkte den Wagen rechts heran.

Völlig außer sich riss Peggy die Wagentür auf und sprang hinaus. Das ging so schnell, dass der Schriftsteller ihr kaum folgen konnte. Als er sie eingeholt hatte, sah er gerade noch einen Wagen mit einem Pferdeanhänger davonfahren. In dem Anhänger stand ein Schimmel. Eugen Luchs sah nur noch den Kopf des Pferdes.

»Das war Pedro«, sagte Peggy aufgeregt.

Eugen Luchs musste schmunzeln. »Wie sollte denn Pedro hierherkommen, Peggy?«

»Es war Pedro.« In ihrer temperamentvollen Art stampfte Peggy mit dem Fuß auf.

»Es war ein Schimmel. Aber außer Pedro gibt es schließlich noch mehr Schimmel in Deutschland.«

Doch Peggy schüttelte störrisch den Kopf. »Ich kenne doch Pedro. Er war es. Das musst du mir glauben, Onkel Luchs.« Sie griff nach seiner Hand und schaute ihn an. Mit großen ernsten Augen. »Ich habe ihn gesehen, als er in den Wagen einstieg. Ganz genau so wie Pedro.«

Allmählich wurde Eugen Luchs unsicher. Er selbst hatte ja das Pferd hier nicht richtig gesehen. Nur ganz kurz im allerletzten Moment. Aber wie sollte ausgerechnet Nicks Schimmel hierherkommen? »Pedro steht auf Gut Schoen­eich im Stall«, beruhigte er Peggy.

Doch sie ließ sich nicht beruhigen. Und vor lauter Eifer traten ihr sogar Tränen in die Augen. »Du willst mir nur nicht glauben. Es war Pedro. Ich habe ihn wiedererkannt.«

Eugen Luchs seufzte. »Nehmen wir einmal an, es war tatsächlich Pedro. Dann gibt es sicher einen guten Grund dafür, dass er hier war. Vielleicht hat Nick ihn wieder verkauft.«

Peggy gab einen entrüsteten Laut von sich. »Nick würde niemals seinen Schimmel verkaufen. Er hat ihn doch erst geschenkt gekriegt.«

»Na, dann verrate mir doch, wie Pedro hierhergekommen sein soll?«

»Geklaut«, platzte Peggy heraus. »Bestimmt hat ihn jemand geklaut.« Sie nahm Eugen Luchs’ Hand und zog ihn mit sich. »Du musst fragen, wohin sie ihn gebracht haben.«

»Aber, Peggy!«

»Bitte, Onkel Luchs. Bitte!« Die kleine Schwarze ließ nicht locker, sondern zog immer stärker an seinem Arm, bis er schließlich mitkam.

Die Auktion war noch im vollen Gang. Es wurden Pferde und Ponys versteigert. Eugen Luchs musste bis zum Schluss warten. Erst dann konnte ihm jemand sagen, wer den Schimmel ersteigert hatte.

»Der Verwalter von Gut Riederau hat den Schimmel gekauft«, sagte ein junger Mann. Er beschrieb auch in aller Eile den Weg zu diesem Gut Riederau.

»Fahren wir hin?«, fragte Peggy, als sie mit ihrem Pflegeonkel wieder zum Wohnwagen ging.

Abrupt blieb Eugen Luchs stehen.

»Jetzt ist aber Schluss, Peggy«, sagte er mit sanfter Strenge. »Wir können nicht einfach zu fremden Leuten gehen und behaupten, sie hätten ein Pferd gestohlen.«

»Aber das haben sie doch«, beharrte Peggy eigensinnig.

»Wenn du so etwas behauptest, dann musst du es auch beweisen können«, belehrte der Schriftsteller das kleine Mädchen. »Sonst können diese Leute zur Polizei gehen und dich anzeigen. Wegen Verleumdung.«

Dieses Wort verstand Peggy zwar nicht ganz, aber sie begriff, dass sie ihren Onkel Luchs nicht dazu überreden konnte, zu diesem Gut Riederau zu fahren und nach Pedro zu fragen. Schmollend kletterte sie wieder in den Wohnwagen und beschloss, Nick alles zu erzählen.

Während Peggy sich diese Szene in Gedanken ausmalte, beschäftigte sich Eugen Luchs schon wieder mit anderen Dingen. Das Gut Riederau, das angeblich einer Jutta Rauscher gehörte, hatte er schon wieder vergessen. Er glaubte auch nicht daran, dass der Schimmel wirklich Pedro gewesen war. Wie hätte Nicks Schimmel auf eine Pferdeauktion kommen sollen?

Den Rest der Fahrt legten die beiden schweigend zurück. Peggy rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Sie konnte es kaum erwarten, nach Sophienlust zu kommen.

Eugen Luchs parkte den Wohnwagen in Swasiland, der friedlichen Oase zwischen Sophienlust und dem Tierheim. Doch an diesem Nachmittag beachtete Peggy den fröhlich murmelnden Bach und die schattigen Bäume, über die sie sich sonst bei jeder Rückkehr freute, nicht. Sie sprang aus dem Wagen. »Darf ich nach Sophienlust laufen, Onkel Luchs?«

»Geh nur«, erlaubte er.

Atemlos erreichte Peggy das Kinderheim. Sie stürmte die Freitreppe hinauf, traf aber nur Schwester Regine in der Halle an.

»Guten Tag, Peggy«, sagte die Kinderschwester erfreut.

»Tag. Wo sind alle?«

»Draußen im Park«, antwortete Schwester Regine. Dann schaute sie der Kleinen verwundert nach, die wie ein Wirbelwind wieder aus dem Haus stürmte. Sie platzte in die Runde der Kinder hinein und überfiel Nick sofort mit der Frage nach Pedro.

»Woher weißt du, dass Pedro verschwunden ist?«, fragte Nick verwundert zurück. »Ihr seid doch eben erst zurückgekommen. Hat Tante Ma es dir erzählt?«

Peggy schüttelte den Kopf. »Ich hab’s gar nicht gewusst. Aber ich habe Pedro gesehen.«

Nick sprang auf – und gleichzeitig mit ihm drei andere Kinder. »Wo?«

»Auf einer Pferdeauktion. Sie haben ihn in einen Wagen geladen und sind weggefahren.«

»Und von wo aus hast du das gesehen?«, fragte Nick.

»Von unserem Wohnwagen aus.« Peggy genoss es sichtlich, dass sie im Mittelpunkt stand.

Nick begann jedoch plötzlich zu zweifeln. »Du hast also vom Fenster eures Autos aus ein Pferd gesehen und erkannt, dass es Pedro war?«, erkundigte er sich misstrauisch. Peggy war allgemein dafür bekannt, dass sie gern flunkerte.

»Das gibt’s ja gar nicht«, mischte sich Henrik ein. »Wie konntest du erkennen, dass es Pedro war, wenn du so weit weg warst?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du gibst wieder einmal an.«

»Gar nicht.« Peggy stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Frag doch Onkel Luchs. Er hat ihn auch gesehen.«

Da schwang sich Nick auf sein Fahrrad, das er seit Pedros Verschwinden immer bei sich hatte. Er radelte geradewegs nach Swasiland zu Eugen Luchs.

»Hast du wirklich meinen Schimmel gesehen, Onkel Luchs?«, fragte er den Schriftsteller.

Eugen Luchs fuhr sich nachdenklich über die Stirn, und diese Geste sagte Nick alles. »Also hat Peggy wieder einmal übertrieben?«

Der Schriftsteller zögerte mit der Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Es kann Pedro gewesen sein. Ich wusste ja nicht, dass er verschwunden ist. Deshalb schloss ich die Möglichkeit, dass dieser Schimmel Pedro sein könnte, von vornherein aus.«

»Aber du hast den Schimmel doch auch gesehen?«, fragte Nick weiter.

Eugen Luchs nickte. »Es war ein Schimmel. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Danke, Onkel Luchs. Das genügt mir schon. Wahrscheinlich hat sich Peggy eingebildet, es sei Pedro.«

*

Während sich Nick über diese Frage mit Eugen Luchs unterhielt, stritt Henrik mit Peggy. »Du willst doch bloß angeben«, warf er ihr vor.

Das machte Peggy noch zorniger. Am liebsten hätte sie Henrik verprügelt. Sie schwor den anderen Kindern, dass es Pedro gewesen sei, den sie gesehen hatte.

»Wie soll Pedro denn plötzlich dorthin gekommen sein, wenn er vorgestern noch hier war?«, fragte Fabian. »So weit hätte er ja gar nicht laufen können.«

»Dann hat ihn eben jemand gefahren«, behauptete Peggy störrisch.

Henrik und Fabian und noch ein paar andere Kinder begannen zu lachen. Nur Pünktchen lachte nicht. Sie nahm Peggy beiseite. »Lass sie doch lachen. Ärgere dich nicht über sie.«

»Ich ärgere mich aber«, schimpfte Peggy. »Weil ich Pedro nämlich wirklich gesehen habe. Aber keiner glaubt mir. Nicht einmal Onkel Luchs.«

»Ich glaube dir«, erklärte Pünktchen.

»Wirklich?« Peggys Augen begannen zu strahlen. Sie erzählte Pünktchen nun in allen Einzelheiten, was sie gesehen hatte.

Darauf hatte Pünktchen nur gewartet. Auch sie war nicht sicher gewesen, ob Peggy die Wahrheit sagte – oder ob sie sich nur einbildete, Nicks Schimmel gesehen zu haben. Aber der kleinste Hinweis war wichtig. Nur so konnte man Pedro wiederfinden. Und weil Pünktchen Nick helfen wollte, hörte sie sich Peggys Schilderung geduldig an. Sie versprach der Kleinen auch, etwas zu unternehmen. Was das sein würde, das wusste sie allerdings selbst noch nicht. Erst Vicky brachte sie auf die richtige Idee.

Es war am gleichen Abend. Die Kinder lagen schon im Bett. Da erzählte Pünktchen, was sie von Peggy erfahren hatte.

Vicky, die auf Pünktchens Bett saß, hörte aufmerksam zu. »Vielleicht hat Peggy doch recht«, sagte sie schließlich. »Vielleicht war es wirklich Pedro.«

Diese Vorstellung machte Pünktchen ganz nervös. »Wir müssen es herausfinden«, sagte sie zu Vicky.

»Und zwar auf eigene Faust. Machst du mit?«

»Klar! Aber wie?«

»Pass auf. Ich habe einen Plan.« Pünktchen richtete sich im Bett auf und knipste die Nachttischlampe neben ihrem Bett an.

»Wenn Tante Ma sieht, dass wir noch Licht haben, gibt’s Krach«, erinnerte Vicky die Freundin.

Doch Pünktchen winkte ab. »Die sitzt jetzt bestimmt mit Schwester Regine in der Halle. Hör zu: Peggy hat gesagt, dass der Schimmel nach Gut Riederau gebracht worden ist.«

»Wo ist denn das?«, wollte Vicky wissen. »Weiß ich auch nicht. Aber ich werde es herausfinden. Ich frage einfach Onkel Luchs. Der weiß das bestimmt. Er reist doch so viel herum.«

»Und dann?«, fragte Vicky atemlos.

»Dann lassen wir uns am Wochenende von Tante Isi freigeben und radeln hin.«

Vicky begann vor Aufregung an ihren Fingernägeln zu kauen. »Und was sagen wir Tante Isi?«

»Dass wir eine Radtour machen wollen. Stimmt doch auch. Wir radeln nach Gut Riederau und sehen nach, ob Pedro dort ist.«

»Und wenn dieses Gut Riederau nun sehr weit weg ist? Wenn wir nun den Hin- und Rückweg an einem Tag nicht schaffen?«

Auch für diesen Fall wusste Pünktchen Rat. »Dann übernachten wir einfach in einer Jugendherberge. Ist doch ganz einfach.«

Vickys Augen begannen zu leuchten. »Das machen wir. Aber hoffentlich erlaubt es Tante Isi auch.«

»Bestimmt«, sagte Pünktchen und löschte wieder das Licht. »Aber du musst mir versprechen, dass du unseren Plan niemandem verrätst.«

Vicky versprach es.

»Auch Nick darf nichts davon wissen«, verlangte Pünktchen.

»Ist doch klar.«

Vicky verließ Pünktchen und legte sich in ihr Bett. Dann schliefen die beiden Mädchen ein.

Schon am nächsten Vormittag sprach Pünktchen mit Denise von Schoenecker. Sie bekam auch die Erlaubnis, mit Vicky am Wochenende eine Radtour zu unternehmen.

»Wollt ihr beiden wirklich allein losradeln?«, fragte Denise lächelnd. Sie wusste ja, dass Pünktchen sonst nur ungern etwas ohne Nick unternahm.

Doch diesmal nickte das Mädchen eifrig. »Ja, Tante Isi. Dürfen wir?«

»Natürlich dürft ihr. Aber seid vorsichtig. Und wenn ihr in einer Jugendherberge übernachtet, dann ruft Frau Rennert an und sagt ihr Bescheid.«

»Machen wir. Ganz bestimmt.« Pünktchen lief los, um Vicky zu suchen. »Wir dürfen!«, rief sie schon von Weitem.

Sofort löste sich Vicky aus der Gruppe, mit der sie gerade spielte.

»Was dürft ihr?«, wollte Henrik wissen.

»Wegfahren. Allein«, antwortete Pünktchen ihm schnippisch. Sie wusste, dass sie ihn damit ärgern konnte. Das ist die Rache dafür, dass er Peggy ausgelacht hat, dachte sie.

»Wohin wollt ihr denn fahren?«, fragte Henrik weiter. Dabei ließ er die beiden Mädchen nicht aus den Augen.

»Verraten wir nicht. Aber wir dürfen über Nacht wegbleiben. Komm, Vicky.« Pünktchen nahm Vickys Hand und lief mit der Freundin davon.

Verärgert blickte Henrik den beiden nach. »Immer diese Weiber«, schimpfte er dann. »Nichts als Geheimniskrämerei. Wahrscheinlich fahren sie einfach nur spazieren.«

*

»Wir machen eine Tour ins Blaue«, sagten Pünktchen und Vicky am Samstagmorgen, bevor sie losradelten.

»Wann kommt ihr zurück?«, wollte Irmela wissen.

»Keine Ahnung.« Vicky zuckte mit den Schultern. »Vielleicht heute Abend. Vielleicht aber auch erst morgen. Tante Isi hat uns erlaubt, über Nacht wegzubleiben.«

»Na, dann viel Spaß.«

Pünktchen und Vicky stiegen auf ihre Räder und fuhren los. Sie trugen beide Shorts und ärmellose T-Shirts. Auf dem Gepäckträger hatten sie kleine Rucksäcke mit Waschzeug, langen Hosen und einem warmen Pullover. Außerdem hatten sie ihre Schlafanzüge mitgenommen. Für alle Fälle.

»Hast du dir den Weg von Onkel Luchs auch genau beschreiben lassen?«, fragte Vicky.

Pünktchen nickte. »Ja doch. Ich hab’ mir’s sogar auf einen Zettel aufgeschrieben. Das Gut heißt Riederau und liegt unterhalb der Schwäbischen Alb.«

»Ist das arg weit?«, fragte Vicky, während sie kräftig in die Pedale trat.

»Überhaupt nicht. Spätestens am Nachmittag sind wir dort.« Pünktchen fuhr sich über die Stirn. »Wenn es nur nicht so heiß wäre. Dabei ist es jetzt noch früh. Wie soll das erst heute Mittag werden?«

Vicky blinzelte in die Morgensonne. »Mich stört die Hitze nicht, solange ich etwas zu trinken habe.« In ihrem Gepäck hatte sie eine Thermosflasche mit kaltem Tee. »Und wenn der Tee alle ist, kann ich Wasser hineinfüllen«, sagte sie zu sich selbst.

Pünktchen musste lachen. »Ich glaube, du lebst in der ewigen Angst, zu verdursten.«

Vicky reagierte ein bisschen beleidigt. »Du trinkst bestimmt auch von meinem Tee. Und dann wirst du froh sein, dass ich ihn mitgenommen habe.«

Hinter ihnen hupte ein Auto, Vicky blieb zurück und Pünktchen radelte nach vorn, sodass die beiden jetzt hintereinander fuhren. Dadurch war die Unterhaltung für einige Zeit unterbrochen.

»Können wir nicht eine kleine Pause einlegen?«, rief Vicky nach zwei Stunden. Sie radelten gerade durch ein Waldstück, und Vicky hatte an einer schattigen Stelle eine Quelle entdeckt.

Pünktchen war einverstanden. Erschöpft stiegen die beiden von den Rädern.

»Ist das eine Plagerei. Ich bin schon ganz durchgeschwitzt«, stöhnte Pünktchen. Dann sah sie die Quelle. »Schau mal! Ganz klares Quellwasser kommt da heraus. Das kann man bestimmt trinken.«

»Klar«, bestätigte Vicky. »Deswegen wollte ich doch hier halten.« Sie lief zu der Quelle. »Du, Pünktchen, hier steht sogar, dass man das Wasser trinken kann.«

»Toll.« Pünktchen trank aus den hohlen Handflächen. »Fantastisch schmeckt das, wenn man Durst hat.« Sie setzte sich auf den Brunnenrand und fuhr sich mit den nassen Händen übers Gesicht. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. »Schon gleich halb zwölf. Wollen wir etwas essen?«

Damit war Vicky sofort einverstanden. »Klar. Ich habe schon richtigen Hunger.« Sie holte bereits ein Päckchen mit belegten Broten aus ihrem Rucksack. Nach einer halben Stunde radelten die beiden Mädchen weiter. Pünktchen hatte sich den Zettel, auf dem der Weg beschrieben war, in die Tasche ihrer Shorts gesteckt. Bei jeder größeren Kreuzung kontrollierte sie, ob sie sich noch auf dem richtigen Weg befanden. »Eigentlich ganz einfach«, meinte sie. »Ich hätte es mir schwieriger vorgestellt.«

Am Nachmittag legten sie nach jeder Stunde eine Pause ein. »Ich habe bestimmt schon ein Pfund abgenommen«, meinte Vicky.

Pünktchen lachte. »Ist doch gut. Du bist sowieso zu dick.« Sie kontrollierte wieder ihren Zettel. Dann deutete sie zum nächsten Wegweiser, der nur ein paar Meter entfernt stand. »Sieh mal, darauf steht Riederau. Du, wir müssen bald da sein.«

Vicky stand auf und ging zu dem Wegweiser. »Noch fünf Kilometer.«

»Hurra!« Pünktchen klatschte in die Hände. »Wir haben’s geschafft!« Sie schaute auf ihre Uhr. »Dabei ist es erst kurz vor vier. Onkel Luchs hat gesagt, dass wir wahrscheinlich erst so gegen fünf hinkommen werden.«

»Noch sind wir ja nicht dort. Noch fünf Kilometer.«

Pünktchen winkte ab. »Ist doch ’ne Kleinigkeit.« Ungeduldig lief sie zu ihrem Rad. »Komm, wir beeilen uns.«

Vicky folgte ihr jedoch nur langsam. »Was sagen wir eigentlich, wenn wir hinkommen?«

Das hatte sich Pünktchen schon ganz genau überlegt. »Gar nichts. Wir fragen bloß, ob wir etwas zu trinken kriegen können, und schauen nach, ob wir Pedro sehen.«

Auf einer kleinen Anhöhe stiegen die beiden Mädchen von den Rädern.

Pünktchen deutete ins Tal hinab, wo ein großes Haus mit einigen Nebengebäuden stand.

»Das ist es bestimmt.«

»Klar. Es steht ja hier auf der Tafel.« Vicky klopfte auf ein Schild, neben dem sie stand.

»Gut Riederau«, las Pünktchen. Wieder schaute sie nach unten. »Das also ist es. Ganz schön groß, findest du nicht auch?«

»Ja. Fast so groß wie Sophienlust. Aber nicht ganz. Sieh einmal die schönen Wiesen ringsherum.«

Pünktchen nickte. »Die sind bestimmt nicht arm. Komm, wir lassen unsere Räder hinunterrollen.« Sie stieg wieder auf und fuhr voran. Vicky folgte ihr.

Die beiden Mädchen wollten ihre Räder bis in den Gutshof rollen lassen. Aber etwas hielt sie davon ab. Ein kleines Mädchen.

Die Kleine mochte etwa fünf Jahre alt sein. Sie stand plötzlich mitten auf dem Weg und schaute die zwei fremden Mädchen mit großen ängstlichen Augen an.

Pünktchen und Vicky hielten an. Da wollte die Kleine davonlaufen.

»Bleib doch da«, rief Pünktchen. »Wir tun dir nichts.« Sie lachte das Mädchen freundlich an.

Jetzt blieb die Kleine. Sie hatte weißblondes Haar, das zu zwei mittellangen Zöpfen geflochten war. Ihre großen blauen Augen blickten unsicher und ängstlich. »Kommt ihr zu uns?«, fragte sie schüchtern. Pünktchens freundliches Gesicht flößte ihr sichtlich Vertrauen ein.

»Wir wollen zum Gut Riederau«, sagte Pünktchen und stieg vom Rad. »Gehörst du dorthin?«

Die Kleine nickte. Dabei drehte sie sich ängstlich um.

Verwundert folgte Pünktchen dem Blick des Mädchens. Er ging zurück zum Haus. Aber dort war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Das Haus wirkte fast unbewohnt.

»Wie heißt du?«, fragte Vicky.

»Angelika. Aber alle rufen mich Angi«, sagte die Kleine schüchtern. Danach drehte sie sich schon wieder um.

Sie muss vor irgendetwas Angst haben, dachte Pünktchen. Laut sagte sie: »Ich heiße Pünktchen, und das hier ist Vicky.«

Bei dem Namen Pünktchen begann die Kleine zaghaft zu lächeln. »Das klingt aber lustig.« Sie vergaß ihre Angst und setzte sich neben Pünktchen und Vicky ins Gras. »Bleibt ihr lange bei uns?«

Vicky und Pünktchen schauten sich an. »Nein«, sagte Pünktchen. »Wir wollten nur fragen, ob wir etwas zu trinken kriegen können.

»Schade«, meinte Angi. »Könnt ihr nicht noch ein bisschen bleiben? Ich habe niemanden zum Spielen. Und allein fürchte ich mich auch ein bisschen.«

Überrascht schaute Pünktchen auf. »Wovor fürchtest du dich denn? Hier tut dir doch bestimmt niemand etwas. Es ist doch ganz ruhig und friedlich hier.« Sie wollte Angi zum Sprechen bringen. Und das gelang ihr auch.

»Wenn meine Mutti da ist, habe ich ja keine Angst«, sagte Angi. »Aber jetzt ist sie in die Stadt gefahren. Ich bin allein.«

»Ganz allein?«, fragte Vicky verständnislos. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Angi ganz allein auf dem großen Gut war. »Habt ihr gar keine Leute hier, die euch helfen?«

»Doch«, antwortete Angi einsilbig.

»Wann kommt denn deine Mutti wieder?«, erkundigte sich Pünktchen.

»Heute Abend vielleicht. Aber manchmal bleibt sie auch ein paar Tage in der Stadt.« Angi schüttelte sich, als friere sie. Dabei saß sie in der warmen Nachmittagssonne.

»Und dein Vati?«

Verwundert schaute Angi zu Pünktchen auf. »Ich habe doch keinen Vati mehr. Er ist verun…, verun…«

»Verunglückt«, half Vicky aus.

»Ja. Mit dem Auto. Schon vor vielen Wochen und Monaten.« Angi zupfte am Saum ihres Röckchens. »Als er noch lebte, war es viel schöner. Da hat sich der Lüscher das nicht getraut.«

Vicky und Pünktchen horchten auf. »Was hat er sich nicht getraut?«

»Mich zu schimpfen und zu schlagen«, antwortete Angi kläglich. »Er ist richtig gemein. Deswegen habe ich Angst vor ihm.«

Mitfühlend strich Pünktchen der Kleinen übers Haar. »Du Arme. Aber sag einmal, wer ist eigentlich dieser Lüscher?«

»Unser Verwalter.« Schon wieder schaute Angi ängstlich hinüber zum Gut.

»Ist er jetzt da?«, fragte Vicky.

Angi nickte. »Deswegen bleibe ich ja draußen.«

»Aber irgendwann musst du doch wieder hineingehen.«

Unglücklich nickte die Kleine. »Könnt ihr nicht mitkommen?«, fragte sie dann plötzlich. »Wenn ihr dabei seid, traut er sich bestimmt nicht, mich zu schimpfen oder zu schlagen.«

»Wir kommen mit«, sagte Pünktchen und schaute Vicky an. Sie dachte dabei an den Schimmel, den sie suchten. Schließlich waren sie aus diesem Grund zu dem Gut gefahren.

Angi sprang befreit auf. »Kommt ihr gleich mit?«, fragte sie.

»Ja.« Pünktchen griff nach ihrem Rad und schob es neben sich her. So gingen sie langsam zum Gut hinüber.

»Sag einmal, Angi, warum erzählst du es nicht deiner Mutti, wenn dich dieser Herr Lüscher so schlecht behandelt?«, fragte Vicky.

Hilflos schaute die Kleine zu den beiden älteren Mädchen auf. »Mutti ist doch krank und darf sich nicht aufregen.«

»Ach so.« Pünktchen griff nach Angis Hand. Die Kleine tat ihr leid. Es musste furchtbar sein, dauernd Angst zu haben. Wenn ich ihr nur irgendwie helfen könnte, dachte Pünktchen.

Die drei erreichten den Gutshof und erkannten erst jetzt, wie groß Gut Riederau war. Die Stallungen neben dem Hauptgebäude waren fast so groß wie auf Gut Schoeneich. »Wo sind denn eure Pferde?«, fragte Vicky.

Angi deutete zu dem linken Nebengebäude. »Dort drin. Wollt ihr sie sehen?«

»Ja«, sagten Pünktchen und Vicky gleichzeitig. Sie stellten ihre Fahrräder ab und wollten mit Angi zu den Pferdeställen gehen. Doch plötzlich blieb die Kleine ruckartig stehen. Ängstlich tastete sie nach Pünktchens Hand. »Das ist er.«

Aus dem Pferdestall war ein etwa vierzigjähriger Mann gekommen. Er hatte die drei Mädchen entdeckt und überquerte nun mit energischen Schritten den Hof. »Wen bringst du denn da schon wieder?«, fuhr er Angi an. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Seine Augen funkelten zornig.

»Das …, das sind zwei Freundinnen von mir«, stotterte Angi. »Sie haben Durst und möchten gern etwas trinken.«

Fritz Lüscher wischte die zaghaft vorgetragene Bitte mit einer unwilligen Geste aus der Luft. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich keine Fremden hier auf dem Gut sehen will.«

Unwillkürlich wichen die Mädchen einen Schritt zurück.

»Aber – es sind doch Freundinnen von mir«, verteidigte sich Angi mit weinerlicher Stimme. Ihre Finger krallten sich in Pünktchens Handfläche.

Pünktchen vergaß, dass sie nach Pedro hatten fragen wollen. Schützend legte sie ihren Arm um Angi.

»Spielt woanders«, fuhr der Verwalter die Mädchen an. »Hier ist kein Platz für euch. Na los! Worauf wartet ihr noch? Macht, dass ihr weiterkommt!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrten Vicky und Pünktchen den Grobian an. Dann drehten sie sich um und verließen den Gutshof.

Angi lief ihnen nach, obwohl Fritz Lüscher sie zurückrief. Doch sie hörte nicht auf ihn. Erst außerhalb des Gutes holte sie Vicky und Pünktchen wieder ein. »Jetzt habt ihr es selbst gehört. So ist er immer. Manchmal noch viel schlimmer.«

»Geh lieber zurück«, riet Pünktchen der Kleinen. »Wir möchten nicht, dass du unseretwegen Ärger kriegst.«

Hilflos drehte Angi sich um. Fritz Lüscher stand in der Haustür und wartete auf sie.

»Geh schon«, riet Pünktchen der Kleinen. »Es ist besser.«

Angi zögerte jedoch noch immer. Aber nicht nur aus Angst. Es tat ihr leid, dass die beiden netten Mädchen schon wieder gehen wollten. »Kommt ihr wieder?«, fragte sie.

»Ich glaube nicht«, meinte Vicky. »Du hast doch gehört, was euer Verwalter gesagt hat.«

»Das traut er sich nur, weil Mutti nicht da ist«, sagte Angi. »Aber morgen ist meine Mutti wieder hier. Da könnt ihr mich besuchen. Sie schickt euch bestimmt nicht fort.« Sie sah Vicky und Pünktchen bittend an.

»Gut. Wir kommen morgen Nachmittag wieder«, versprach Pünktchen. »Aber jetzt musst du wirklich zurückgehen.«

Sie schaute Angi nach, bis diese im Haus verschwunden war.

»Und jetzt?«, fragte Vicky. »Wir konnten nicht einmal in den Stall gucken und nachprüfen, ob Pedro drinsteht.«

»Das holen wir nach. Später.« Pünktchen stieg auf ihr Rad. »Jetzt müssen wir erst einmal wegfahren. Sonst wird der Verwalter misstrauisch.«

Die beiden radelten bis zum Fuß des Hügels. Dann stiegen sie ab und schoben ihre Räder.

»So ein Ekel«, platzte Vicky heraus. »Wie der uns angeschnauzt hat …«

Pünktchen nickte. »So gemein hat mich noch nie jemand behandelt.«

»Mich auch nicht. Mir tut bloß die kleine Angi leid. Stell dir vor, sie ist dauernd in der Nähe dieses Grobians. Ich würde das nicht aushalten.«

»Ich auch nicht. Aber sie muss ja. Was soll sie machen?«

»Ach, du dickes Ei«, platzte Vicky heraus. »Stell dir doch vor, wenn der uns erwischt. Er kann doch jeden Moment aus dem Haus herauskommen.«

»Irgendetwas müssen wir schon riskieren«, sagte Pünktchen ungeduldig. »Deswegen sind wir ja schließlich hergefahren. Sei doch nicht gar so feig.«

»Ich bin gar nicht feig«, verteidigte sich Vicky, »bloß vorsichtig.«

»Das bin ich auch. Wir warten jetzt erst einmal.« Pünktchen setzte sich ins Gras und rieb ihre schmerzenden Waden. »Hast du in deiner Thermosflasche noch einen Schluck Tee?«

Vicky schüttelte den Kopf. »Alles ausgetrunken. Dabei habe ich solchen Durst …« Sie brach ab, als Pünktchen sie plötzlich beim Arm packte.

»Sieh einmal!«

Vicky schaute hinunter zum Gut. »Da kommt jemand aus dem Haus.«

»Das kann bloß der Grobian sein.«

Es war tatsächlich der Verwalter. Er verließ das Herrenhaus und ging hinüber zu den Stallungen. Dass die beiden Mädchen ihn beobachteten, ahnte er nicht.

Nach fünf Minuten führte er ein gesatteltes Pferd aus dem Stall. »Er reitet weg«, rief Pünktchen atemlos. »Das ist unsere Chance. Hoffentlich kommt er nicht hier vorbei.«

Erschrocken duckte sich Vicky tiefer in das hohe Gras.

Doch der Verwalter verließ das Gut in der anderen Richtung.

»Komm!« Pünktchen sprang auf.

»Sollen wir unsere Räder hierlassen?«, fragte Vicky.

»Klar. So können wir uns doch viel besser verstecken, wenn er plötzlich zurückkommt.«

»Bloß nicht!« Vicky bekam schon wieder Angst, doch sie riss sich zusammen und folgte Pünktchen, die bereits den Hang hinablief.

Bevor die beiden den Gutshof betraten, blieben sie noch einmal lauschend stehen. »Nichts«, sagte Pünktchen. »Weit und breit kein Mensch.« Sie nahm Vickys Hand. »Jetzt laufen wir ganz schnell über den Hof zum Stall. Eins, zwei, drei!«

Die beiden Mädchen spurteten los.

Sie erreichten atemlos das Stallgebäude und drückten sich an die Wand.

»Niemand hat uns gesehen«, flüsterte Pünktchen. »Dort vorn ist die Tür. Hoffentlich ist sie nicht verschlossen.«

Die Tür war offen. Vorsichtig drückte Pünktchen die Klinke herunter, öffnete die Tür einen Spalt und schob sich hinein. Vicky folgte ihr.

Es standen fünf Pferde im Stall. Zwei Fuchsstuten, ein schwarzer Hengst, ein geflecktes Fohlen und ein Schimmel – in der letzten Box. Vicky deutete mit ausgestecktem Arm zu ihm.

»Pedro«, flüsterte Pünktchen. »Er sieht genauso aus wie Pedro.« Vorsichtig schlich sie zu ihm. »Pedro!«

Das Pferd spitzte die Ohren.

»Pedro«, wiederholte Vicky. »Pedro!«

Der Schimmel begann zu wiehern. So laut, dass sich die Mädchen erschrocken umdrehten.

»Es ist Pedro«, sagte Pünktchen. »Sieh ihn dir doch nur an.«

Vicky nickte. »Und er hört auch auf den Namen. Wir haben ihn gefunden, Pünktchen.«

Pünktchen begann den Schimmel zu streicheln. So, wie sie ihn damals bei Nicks Fest gestreichelt hatte.

Doch plötzlich erstarrten die beiden Mädchen. Vor dem Stall erklang Hufgetrappel. »Er kommt zurück«, rief Vicky. »Nichts wie weg hier.« Sie lief zur Tür. Pünktchen folgte ihr.

Vicky öffnete die Tür einen winzigen Spalt und schreckte zurück. »Er steht direkt vor dem Stall«, flüsterte sie. »Wenn er jetzt absteigt und hereinkommt, sind wir geliefert.« Sie zitterte am ganzen Körper.

»Beruhige dich doch«, mahnte Pünktchen. »Er kann uns schließlich nicht fressen.«

»Dem traue ich alles zu.« Vicky klammerte sich an Pünktchens Hand.

Nun hörten die beiden, dass das Pferd des Verwalters weitertrabte.

Um den Stall herum. Dort sprach der Verwalter mit irgendjemandem.

»Raus!«, befahl Pünktchen und öffnete die Tür.

Rasch schlüpften die beiden Mädchen aus dem Stall und liefen über den Hof. Jetzt war es ihnen egal, ob sie gesehen wurden oder nicht. Sie wollten nur weg. Doch niemand entdeckte sie. Ungesehen erreichten sie die Wiese, auf der ihre Räder lagen.

Atemlos sank Vicky in das hohe Gras. »Mann, habe ich jetzt Ängste ausgestanden. So etwas mache ich nie wieder.« Sie japste noch immer nach Luft.

Pünktchen erging es genauso. »Aber wir haben Pedro gefunden«, sagte sie. »Das war die Angst wert. Ich freue mich schon darauf, es Nick erzählen zu können.«

Vicky dachte dagegen an nächstliegendere Dinge. »Ich habe solchen Hunger. Und ganz entsetzlichen Durst. Komm, wir suchen die Jugendherberge. Hier können wir ja doch nicht bleiben.«

Die beiden Mädchen radelten zum nächsten Dorf. Dort fragten sie ein älteres Mädchen nach dem Weg zur Jugendherberge.

*

Am nächsten Morgen packten Pünktchen und Vicky ihre Rucksäcke auf die Gepäckträger der Räder und verabschiedeten sich von der Leiterin der Jugendherberge.

Pünktchen fuhr voraus und schlug den Weg nach Gut Riederau ein.

»Was sagen wir, wenn wieder nur der Verwalter da ist?«, fragte Vicky.

Über diese Frage dachte Pünktchen schon die ganze Zeit nach. »Gar nichts. Wir gehen einfach wieder.«

Durch das hohe Gras der Wiese sprang ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen. Es war Angi. »Hallo«, rief sie und schwenkte einen Blumenstrauß durch die Luft. »Kommt herüber.«

»Angi ist nicht allein«, sagte Vicky. »Eine Frau ist bei ihr.«

Pünktchen schaute zu den beiden hinüber. »Vielleicht ist es ihre Mutti. Komm, wir gehen hin.« Sie lief mit Vicky durch die Wiese.

Jutta Rauscher schaute den beiden Mädchen neugierig entgegen.

»Das sind Pünktchen und Vicky, Mutti. Die beiden, die gestern schon hier waren«, sagte Angi.

Jutta Rauscher lächelte die beiden Mädchen freundlich an.

»Das ist meine Mutti«, sagte Angi.

Pünktchen und Vicky knicksten und reichten Jutta Rauscher die Hand.

»Was für schöne Blumen«, staunte Vicky und schaute auf den Strauß in Jutta Rauschers Hand. »Vom Weg aus sieht man gar nicht, dass sie hier wachsen.«

»Das stimmt«, sagte Angis Mutter freundlich. »Man muss schon bis in die Mitte der Wiese gehen, um sie zu finden.«

Wie freundlich sie ist, dachte Pünktchen. Sie fasste sofort Vertrauen zu Angis Mutter.Vicky ging es nicht anders. »Sie ist richtig lieb«, flüsterte sie der Freundin ins Ohr.

Pünktchen nickte. Dann pflückte sie eine besonders große Margarite und gab sie Angi.

»O ja, die ist schön. Hilf mir ein bisschen pflücken, Pünktchen. Mein Strauß ist noch nicht groß genug.«

»Ich helfe dir auch«, sagte Vicky und sprang suchend durch die Wiese, um besonders schöne Blumen für Angi zu finden.

Schmunzelnd schaute Jutta Rauscher den Kindern zu. Dann blinzelte sie in die Sonne, die jetzt noch angenehm war. Um die Mittagszeit würde die Hitze jedoch kaum zu ertragen sein. Dann würde sie ins Haus zurückgehen und sich ins kühle Schlafzimmer legen müssen. Ich wollte, ich wäre völlig gesund, dachte sie in einem plötzlichen Anflug von Unmut. Doch da kamen die drei Mädchen zurück und ließen sie ihre trüben Gedanken vergessen.

»Schau, Mutti, was für einen schönen großen Strauß ich jetzt habe.«

Jutta Rauscher nickte. »Der ist wirklich schön. Und so bunt. Ihr habt ja sogar Rittersporn gefunden.«

»Der wächst dort ganz hinten.« Pünktchen deutete zum Ende der Wiese. Dann setzte sie sich neben Jutta Rauscher ins Gras. »Schön ist es hier.«

Jutta nickte. »Besonders im Sommer. Dafür ist es in den Wintermonaten ein wenig einsam.«

»Das ist bei uns in Sophienlust genauso«, sagte Vicky.

»Sophienlust?«, fragte Jutta Rauscher.

»Ja. Von dort kommen wir. Das ist ein Kinderheim. Aber kein normales.« Sie begann von Sophienlust zu erzählen.

Aufmerksam hörten Jutta Rauscher und Angi ihr zu. Dabei begannen die Augen der Kleinen zu leuchten. »Das muss aber schön sein. Hast du gehört, Mutti? Sie haben sogar ein Heim mit lauter Tieren und einem richtigen Bären.«

Jutta nickte. »Das ist allerdings kein normales Kinderheim. Ihr seid zu beneiden«, sagte sie zu Vicky und Pünktchen. Dann schaute sie zu den Rädern, die immer noch am Wiesenrand lagen. »Habt ihr heute einen Radausflug gemacht?«

Pünktchen zögerte, ob sie weitersprechen sollte oder nicht. Dann riskierte sie es und erzählte Angi und ihrer Mutter von Nicks Schimmel, der eines Morgens plötzlich verschwunden war und den die kleine schwarze Peggy dann auf einer Pferdeauktion wiederentdeckt hatte. Jutta dachte an den Schimmel, der in ihrem Stall stand. »Wir haben auch einen Schimmel«, sagte sie. »Mein Verwalter hat ihn auf einer Auktion ersteigert.«

»Der Schimmel, den Peggy auf der Auktion gesehen hat, ist nach Gut Riederau gekommen«, sagte Vicky. Doch als sie sah, wie Jutta Rauscher auf diese Nachricht reagierte, erschrak sie.

Jutta war blass geworden. Ihr vorher noch so fröhlicher Blick überschattete sich. Pünktchen entdeckte sogar, dass Juttas Hände zitterten.

»Ich kümmere mich normalerweise nicht um diese Dinge«, sagte Jutta. »Das macht alles mein Verwalter.«

Die Erinnerung an diesen Mann erschreckte nun wieder Vicky und Pünktchen. Ganz instinktiv erfassten die beiden, dass auch Jutta Rauscher sich vor dem Verwalter fürchtete.

Schweigend erhob sich Jutta und strich ihren Rock glatt.

Da beugte sich Vicky vor und flüsterte Pünktchen zu: »Wir sollten lieber nach Hause radeln.«

Pünktchen nickte. Sie hielt das auch für besser. »Wir können ja Nick und seinem Vati alles erzählen.«

»Kommt doch mit ins Haus«, schlug Jutta den beiden Mädchen vor. Sie hatte sich inzwischen wieder gefasst.

Pünktchen nickte. »Gern. Aber nur einen Moment. Wir müssen nämlich zurückfahren. Sonst schaffen wir es nicht bis zum Abend. Es ist ziemlich weit bis Sophienlust.«

»Ich werde euch auch gar nicht lange aufhalten«, versprach Jutta.

»Aber vielleicht wollt ihr noch eine Kleinigkeit essen und trinken, bevor ihr losfahrt, damit ihr die lange Reise auch gut übersteht?« Jetzt konnte sie schon wieder lächeln. Und sie überlegte, ob sie den Mädchen irgendwie helfen konnte, was den Schimmel anbetraf. Denn schließlich waren die beiden nur deswegen so weit gefahren.

Als Jutta noch einmal davon sprach, schüttelten Pünktchen und Vicky den Kopf. »Nein, wir möchten nicht mit dem Verwalter sprechen«, sagte Pünktchen schnell. »Wir haben auch gar keine Zeit mehr. Wir müssen zurück. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, dann erzählen wir Nicks Vati, warum wir hier waren.«

»Natürlich dürft ihr das«, sagte Jutta sofort. »Ich werde auch noch einmal mit meinem Verwalter sprechen. Aber – keine Angst – nicht in eurer Gegenwart«, fügte sie schnell hinzu. Danach entschuldigte sie sich für das schlechte Benehmen ihres Verwalters.

»Sie ist wirklich richtig nett«, sagte Vicky leise, als die Gutsherrin aus dem Zimmer gegangen war.

Gleich darauf kam Jutta mit einem Krug kühler Limonade zurück.

»Dürfte ich mir davon wohl etwas in meine Thermosflasche füllen?«, fragte Vicky. Die Limonade sah so kühl und frisch aus.

»Aber natürlich«, sagte Jutta sofort. »Gib mir deine Flasche. Ich fülle sie dir.«

Die beiden Mädchen verabschiedeten sich herzlich von Angi und deren Mutter. Es war nun schon kurz vor elf. Die Sonne stand schon fast senkrecht am Himmel.

Pünktchen trat kräftig in die Pedalen. »Jetzt müssen wir aber wirklich einen Zahn zulegen.«

»Das auch noch«, klagte Vicky. Aber sie blieb Seite an Seite mit Pünktchen.

*

Kaum hatten Pünktchen und Vicky das Gut Riederau verlassen, kam Fritz Lüscher von einem Ausritt zurück.

Angi spielte im Hof. Als sie den Verwalter sah, nahm sie ihren Puppenwagen und verließ den Gutshof. Erst dann, als der Verwalter sie nicht mehr sehen konnte, setzte sie sich auf eine Wiese und packte ihre Puppen aus. Sie war gewohnt, allein zu spielen. Normalerweise machte ihr das auch nichts aus, aber an diesem Sonntagvormittag war sie ein bisschen traurig. Sie dachte an das Kinderheim Sophienlust, von dem Vicky und Pünktchen ihr erzählt hatten. Es musste schön sein, so viele Freunde zum Spielen zu haben – und sogar Tiere.

Angi begann von dem Kinderheim zu träumen. Dabei taufte sie ihre älteste Puppe um. »Du heißt von jetzt an Pünktchen«, sagte sie zu ihr. »Weil das so ein lustiger Name ist.« Dann nahm sie die Puppe bei der Hand und lief mit ihr durch das hohe Gras. »Komm, Pünktchen, komm«, rief sie dabei.

Zur gleichen Zeit betrat Fritz Lüscher das Wohnzimmer des Gutshauses. »Guten Morgen, Frau Rauscher.« Er musterte die zierliche Gestalt am Fenster ungeniert. Sie besitzt keine Widerstandskraft, dachte er. Und krank ist sie außerdem.

Jutta drehte sich um. »Guten Morgen«, grüßte sie flüchtig. Sie mochte Fritz Lüscher genauso wenig wie Angi. Aber sie brauchte ihn. Seit dem Tod ihres Mannes vor einem Jahr war sie völlig auf ihn angewiesen.

Allein konnte sie das riesengroße Gut nicht bewirtschaften.

»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte der Verwalter.

Jutta nickte stumm.

»Ich auch. Aber der morgendliche Ausritt hat mich durstig gemacht. Ich werde das Mädchen bitten, noch einmal Tee zu kochen. Für Sie auch?«

»Nein, danke«, wehrte Jutta ab.

»Aber Sie leisten mir doch Gesellschaft?« Fritz Lüscher neigte unterwürfig den Kopf. Seine Frage sollte eine Bitte sein, aber sie wirkte mehr wie ein Befehl.

Jutta stimmte ergeben zu. Vielleicht kann ich ihn bei dieser Gelegenheit nach dem Schimmel fragen, dachte sie.

Die beiden gingen ins Esszimmer. Fritz Lüscher rückte für Jutta den Stuhl zurecht. Als das Mädchen mit dem Tee eintrat, nahm er ihr das Tablett ab.

Unwillig schaute das junge Mädchen zu Jutta Rauscher hinüber. Er benimmt sich, als sei er schon der Herr auf Gut Riederau, dachte es. Und Frau Rauscher scheint überhaupt nichts zu merken.

Jutta merkte tatsächlich nichts. Sie ließ zu, dass der Verwalter den Tee einschenkte und ihr eine Tasse reichte. »Das warme Getränk wird Ihnen guttun, Frau Rauscher. Sie sehen ein wenig blass aus heute Morgen.«

»Vielen Dank für Ihre Fürsorge«, erwiderte Jutta kühl. »Aber ich fühle mich ausgezeichnet.«

Das war eine Lüge, aber nie und nimmer hätte Jutta dem Verwalter gestanden, wie schwach sie sich fühlte. Das ging ihn nichts an, fand sie.

Jutta trank einen Schluck Tee. Dann schaute sie Fritz Lüscher an. »Woher kommt eigentlich der Schimmel, der seit einer Woche in unserem Stall steht?«

Mit einem leisen Knall setzte Fritz Lüscher seine Teetasse zurück auf die Untertasse. »Wie kommen Sie plötzlich auf den Schimmel?«, fragte er zurück.

Wäre Jutta im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, hätte sie ihn zurechtgewiesen und ihm befohlen, ihre Frage zu beantworten, statt ihr eine Gegenfrage zu stellen. Aber in ihrer kränklichen Verfassung fühlte sie sich einer Auseinandersetzung nicht gewachsen. Deshalb sagte sie ihm ganz schlicht die Wahrheit. »Zwei kleine Mädchen waren heute hier.«

»Die waren gestern schon da«, fiel er ihr ungehörig und respektlos ins Wort.

»Ja, und Sie haben die Kinder sehr grob und unhöflich behandelt.«

»Natürlich. Schließlich ist das hier kein Kindergarten, sondern ein Gut«, erwiderte er gereizt.

Jutta fühlte, dass sie viel zu nachgiebig war. Deshalb überging sie seine grobe Antwort einfach. »Diese Mädchen behaupteten, der Schimmel in unserem Stall heiße Pedro und sei auf Gut Schoeneich gestohlen worden.«

Mit einem lauten Poltern fiel der Stuhl des Verwalters um. Fritz Lüscher war aufgesprungen. »Diese verdammten Gören!«

»Bitte, wählen Sie Ihre Ausdrücke etwas sorgfältiger«, verlangte Jutta.

Fritz Lüscher achtete nicht auf diesen Einwand. »Ich habe das Pferd auf einer Auktion ganz reell ersteigert«, erklärte er mit allem Nachdruck und mit einem Gesichtsausdruck, dass Jutta wieder unsicher wurde. Sie kannte ja nur die Version der beiden Mädchen.

»Am liebsten würde ich den beiden Gören nachfahren und ihnen eine gehörige Tracht Prügel verpassen«, fuhr der Verwalter erregt fort. »So eine Räubergeschichte hier zu erzählen! Wahrscheinlich lesen sie zu viele Krimis.«

Jutta wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Wenn Lüscher den Schimmel ganz offiziell gekauft hatte, dann konnte er das Pferd zumindest nicht gestohlen haben. »Können Sie mir den Namen des Verkäufers nennen?«, fragte sie.

Einen Moment lang schien es, als zögere der Verwalter. »Natürlich kann ich das«, sagte er dann. »Er heißt Übler. Hermann Übler.«

Der Name machte Jutta stutzig. Sie kannte diesen Mann, aber sie mochte ihn nicht. Er kam immer heimlich zu ihrem Verwalter, murmelte, wenn Jutta ihm zufällig einmal begegnete, einen flüchtigen Gruß und verschwand danach schleunigst. Er benahm sich immer so, als sei er vor irgendjemandem auf der Flucht.

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich diesen Übler nicht mag und ihn hier nicht sehen will«, sagte Jutta. Doch es geschah ohne Nachdruck.

Das merkte Fritz Lüscher genau. Er kam zu ihr, stützte sich auf dem Tischrand und auf ihrer Stuhllehne ab und beugte sich über sie. »Sie misstrauen mir doch nicht etwa, Frau Rauscher?«

Jutta gab keine Antwort, und sein Lächeln wurde breiter. »Ich würde niemals etwas tun, was Sie in Misskredit bringen könnte. Auf mich können Sie sich voll und ganz verlassen.«

»Dann ist es ja gut.« Jutta stand abrupt auf, sodass er zurücktreten musste.

»Ist die Sache damit erledigt?«, fragte er.

Sie nickte. »Falls keine weiteren Beschwerden kommen, ja.«

Jutta verließ das Zimmer mit dem unguten Gefühl, dass sie die Sache nicht richtig angepackt hatte. Aber sie fühlte sich einer weiteren Auseinandersetzung mit Fritz Lüscher einfach nicht gewachsen.

Müde ging sie in ihr Zimmer. Inzwischen war es Mittag geworden. Die Sonne stand direkt über dem Gutshaus. Jutta schloss die Fensterläden. In dem dämmrigen kühlen Zimmer legte sie sich so, wie sie war, aufs Bett. Wieder meldeten sich die ziehenden Schmerzen in der Magengegend. In der letzten Zeit kamen sie immer häufiger. Meist nach Aufregungen. Sie presste beide Hände auf den Leib. Doch erst nach einer halben Stunde ließ der Schmerz nach. Dann schlief sie ein.

*

Müde und erhitzt erreichten Pünktchen und Vicky Sophienlust gerade noch rechtzeitig zum Abendessen. Im Speisesaal erzählten sie dann die große Neuigkeit.

»Hört einmal alle her!« Pünktchen legte ihren Löffel aus der Hand.

Augenblicklich hörten auch alle anderen Kinder zu essen auf.

»Wir haben Pedro gefunden«, verkündete Pünktchen.

Sekundenlang herrschte Schweigen. Doch dann redeten alle auf einmal. »Glaub ich nicht! Wo denn? Wie?« Unzählige Fragen erklangen, und alle auf einmal. »Ruhe!« Alle schauten zur Tür. Dort stand Nick. Er war mit dem Fahrrad von Schoeneich herübergeradelt, ging jetzt zu Pünktchen und setzte sich neben sie. »Erzähl einmal. Ich denke, ihr habt nur einen Radausflug gemacht? Und dabei wollt ihr zufällig Pedro gefunden haben?« Seine Stimme klang ein wenig zweifelnd, obwohl er Pünktchen sonst alles glaubte.

»Wir haben ihn nicht zufällig gefunden«, widersprach Vicky ihm.

»Sie haben ihn auf Gut Riederau gesucht, weil ich sie dorthin geschickt habe«, mischte sich Peggy ein.

Nick schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« Er wandte sich an Pünktchen. »Erzähl einmal genau. Aber bitte der Reihe nach.«

Peggy mischte sich jedoch schon wieder ein. »Den Anfang muss ich erzählen, weil ich Pedro zuerst gesehen habe. Als ich mit Onkel Luchs von Stuttgart zurückfuhr, da haben sie einen weißen Schimmel eingeladen und weggebracht. Und das war Pedro.«

»Warum hast du das nicht gleich erzählt?«, fragte Nick.

Peggy zog einen Flunsch. »Habe ich ja. Aber alle haben mich ausgelacht. Nicht einmal Onkel Luchs hat mir geglaubt. Jetzt laufe ich aber gleich zu ihm und erzähle ihm das.«

»Jetzt bleibst du erst einmal hier«, befahl Schwester Regine. Alle Kinder hatten aufgehört zu essen und scharten sich nun um Pünktchen und Vicky. Normalerweise hätte die Kinderschwester das nicht erlaubt. Aber diesmal machte sie eine Ausnahme. Vor lauter Neugier und Aufregung hätten die Kinder jetzt ohnehin nichts gegessen. Erst mussten sie die ganze Geschichte erfahren. Und die erzählte ihnen Pünktchen jetzt. Mit allen Einzelheiten.

»Und es war wirklich Pedro?«, fragte Nick. »Seid ihr ganz sicher?«

Vicky und Pünktchen nickten. »Absolut. Er hat ja sogar gewiehert, als wir seinen Namen riefen.«

»Und die Ohren gespitzt«, fügte Vicky hinzu. »Außerdem hat er auch den kleinen dunklen Fleck hinterm Ohr.«

»Dann war es Pedro.« Nick sprang auf. »Das muss ich sofort Vati erzählen.«

Im nächsten Moment standen Vicky und Pünktchen neben ihm. »Wir kommen mit.« Sie schauten die Kinderschwester an. »Bitte, Schwester Regine, lassen Sie uns mitgehen. Wir müssen doch Nicks Vati alles genau erzählen.«

»Also ausnahmsweise«, gestattete Schwester Regine lächelnd.

Zwanzig Minuten später saßen Vicky und Pünktchen vor Denise und Alexander von Schoenecker und erzählten ihre Geschichte noch einmal.

»Und ihr seid ganz sicher, dass es Pedro war?«, fragte auch Denise, als die Mädchen am Ende ihres Berichts angelangt waren.

»Ganz, ganz sicher, Tante Isi. Das kann ich beschwören«, bestätigte Pünktchen eifrig. Und Vicky pflichtete ihr bei.

Denise schaute ihren Mann an. Sie sah, dass er bereits einen Entschluss gefasst hatte. »Was wirst du tun?«

»Ich werde mit Nick zu diesem Gut Riederau fahren«, sagte er.

Erleichtert atmete Nick auf. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, du würdest nichts unternehmen.«

»Man kann so eine Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen«, erklärte Alexander von Schoenecker.

Denise gab ihm recht. »Wenn dieses Pferd Pedro ist, dann ist es uns gestohlen worden. Und ein Pferdediebstahl ist schließlich kein Spaß mehr.«

Am nächsten Morgen, sofort nach dem Frühstück, lief Peggy nach Swasiland zu Eugen Luchs. Schon von Weitem sah sie, dass er vor seinem Wohnwagen am Bach saß und las.

Als er ihre trippelnden Schritte hörte, schaute er auf und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Hast du es in Sophienlust nicht mehr ausgehalten? Ich dachte, du wolltest mindestens drei Tage bleiben?«

Keuchend begann Peggy zu sprechen. »Und ich habe doch recht gehabt. Es war Pedro. Aber du wolltest mir ja nicht glauben.«

Eugen Luchs verstand nicht sofort, was Peggy meinte. »Würdest du einmal von Anfang an erzählen?«

»Na, ich erzähle doch von Anfang an.« In ihrer temperamentvollen Art stampfte die Kleine mit dem Fuß auf.

Diese Geste amüsierte Eugen Luchs immer wieder aufs Neue. »Also gut, ich höre zu. Aber setz dich doch erst einmal. Oder willst du mir die ganze Geschichte im Stehen erzählen?«

Peggy nickte. Sie war viel zu aufgeregt, um still sitzen zu können. »Ich habe damals den Schimmel gesehen und dir gesagt, dass es Pedro ist«, begann sie. Und dann folgte die ganze Geschichte von Pünktchen und Vicky.

Mit wachsendem Erstaunen hörte Eugen Luchs zu. »Nicht zu fassen«, murmelte er dann.

»Siehst du. Und du hast mir nicht geglaubt. Wenn wir den Dieben gleich nachgefahren wären, dann hätte Nick seinen Pedro jetzt vielleicht schon wieder.«

»Damit hast du recht. Ich verspreche dir also, künftig auf dich zu hören«, versicherte er feierlich.

Peggy fiel ihm spontan um den Hals. »Du bist doch der Allerbeste, Onkel Luchs.«

»Du hast mir also verziehen?«, erkundigte er sich schmunzelnd. »Darüber bin ich aber sehr froh.«

*

Zwei Tage später fuhr Alexander von Schoenecker mit Nick nach Gut Riederau. Sie hatten sich telefonisch bei Jutta Rauscher angekündigt.

Am Nachmittag erreichten sie das Gut in der Schwäbischen Alb. Jutta Rauscher begrüßte Alexander von Schoenecker und Nick vor der Tür des Herrenhauses, obwohl der Arzt ihr eigentlich verboten hatte aufzustehen. Sie sollte liegen.

Jutta fand Alexander von Schoenecker und dessen Sohn sofort sympathisch. Sie bat die beiden ins Wohnzimmer und bot ihnen eine kleine Erfrischung an.

»Mein Verwalter muss jeden Augenblick hier sein«, sagte sie zu Alexander von Schoenecker.

In diesem Moment klopfte es, und Fritz Lüscher trat ein. Jutta Rauscher machte ihn mit Alexander von Schoenecker und Nick bekannt. Dann schlug sie vor, in den Stall zu gehen. Nur widerwillig stimmte Fritz Lüscher diesem Vorschlag zu.

Nick betrat nach seinem Vater den Stall. Als er den Schimmel sah, wusste er sofort, dass es Pedro war. Es gab da unverkennbare Merkmale. »Pedro«, sagte er in normalem Ton.

Sofort spitzte das Pferd die Ohren. Und als Nick mit ihm zu sprechen begann, wieherte es sogar.

Nick trat zu Pedro und begann ihn zu streicheln. »Er ist es, Vati. Es ist mein Pedro.«

Alexander von Schoenecker nickte. »Daran kann kein Zweifel mehr bestehen«, sagte er zu Jutta Rauscher.

»Ich bitte Sie, mit Ihren Äußerungen vorsichtig zu sein«, brauste Fritz Lüscher auf.

Doch Jutta brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Ich schlage vor, wir besprechen alles Weitere in meinem Wohnzimmer«, sagte sie zu Alexander von Schoenecker.

Nick folgte den Erwachsenen ins Haus, obwohl er eigentlich viel lieber bei seinem Pferd geblieben wäre. Aber andererseits interessierte ihn auch, wie es nun weiterging.

Jutta Rauscher wandte sich an ihren Verwalter. »Bitte, erklären Sie uns, wo und von wem Sie diesen Schimmel gekauft haben.«

»Ich habe das Pferd reell auf einer Auktion ersteigert«, antwortete er in anmaßendem Ton, wobei er sich ausschließlich an Jutta wandte. Alexander von Schoenecker überging er gänzlich. »Hier ist die Quittung, die gleichzeitig die Kaufbestätigung darstellt.« Er knallte ein Blatt Papier auf den Tisch, strich es mit der Hand glatt und schob es zu Jutta. »Ich verstehe nichts davon. Bitte, lesen Sie es, Herr von Schoenecker.« Sie reichte ihm das Papier.

Alexander überflog die wenigen Sätze. »Die Quittung ist in Ordnung«, sagte er dann zu Jutta. »Ihr Verwalter hat das Pferd rechtmäßig erworben. Daran kann kein Zweifel bestehen.«

»Das habe ich doch gleich gesagt«, fauchte Fritz Lüscher arrogant.

»Aber genauso klar ist, dass es sich bei dem Schimmel um das Pferd meines Sohnes handelt«, fuhr Alexander von Schoenecker fort. »Und da wir das Pferd nicht verkauft haben, kann es uns nur gestohlen worden sein.«

»Das ist eine Unverschämtheit«, fuhr der Verwalter auf.

Jetzt griff Jutta ein. »Bitte, mäßigen Sie sich, Herr Lüscher. Herr von Schoen­ecker hat Sie in keiner Weise beschuldigt. Er stellt nur Tatsachen fest.«

»So ist es, gnädige Frau.« Alexander von Schoenecker bemühte sich, ruhig zu bleiben, obwohl ihn die Anmaßung und Arroganz des Verwalters aufregten. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, erklärte er Jutta. »Entweder haben die Leute, von denen Herr Lüscher das Pferd gekauft hat, Pedro gestohlen …«

Fritz Lüscher sprang auf. Doch Alexander von Schoenecker fuhr unbeirrt fort: »… oder die Kette von Zwischenhändlern ist noch länger. Das weiß ich nicht. Ich kann nur behaupten, dass der erste der Händler ein Dieb gewesen sein muss.«

Nachdenklich wandte sich Jutta an ihren Verwalter. »Sie haben das Pferd von einem Herrn Übler gekauft?« Er nickte. »Von Hermann Übler. Er kann es Ihnen bestätigen.«

»Dann rufen Sie diesen Herrn an, damit ich mit ihm sprechen kann«, verlangte Jutta.

»Das habe ich bereits vor einer Stunde versucht. Leider kann ich ihn nicht erreichen.«

»Dann schlage ich vor, dass wir uns morgen noch einmal darüber unterhalten«, sagte Alexander von Schoenecker. »Vielleicht ist dieser Herr bis dahin wieder aufgetaucht.«

»Kommt gar nicht infrage«, widersprach Jutta ihm. »Sie können das Pferd selbstverständlich sofort mitnehmen oder es abholen lassen, wann immer Sie wollen, Herr von Schoenecker.«

Alexander schüttelte den Kopf. »Das wäre ein Verlust für Sie, Frau Rauscher. Immerhin haben Sie das Pferd bezahlt.«

»Das ist mir egal. Lieber nehme ich einen Verlust in Kauf, als dass ich mir ein Pferd auf diese Weise aneigne. Verfügen Sie über den Schimmel. Er gehört Ihnen.« Den empörten Blick ihres Verwalters übersah Jutta mit Absicht.

»Einigen wir uns auf einen Mittelweg«, schlug Alexander vor. »Ich habe noch bis morgen Mittag hier in der Gegend zu tun und werde morgen Nachmittag noch einmal bei Ihnen vorbeikommen. Vielleicht ist dieser Herr Übler bis dahin aufgetaucht.«

»Gut«, Jutta nickte.

»Wenn nicht, gehört das Pferd trotzdem wieder Ihnen.« Sie schaute Nick an. »Ich glaube, Ihr Sohn hängt sehr an dem Tier.«

Nicks Augen leuchteten auf. Spontan erzählte er Jutta, aus welchem Anlass er den Schimmel von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte, dass er für die Kinder von Sophienlust ein Fest gegeben hatte und sie sich alle gemeinsam einen Namen ausgedacht hatten. Fritz Lüscher hatte das Wohnzimmer inzwischen verlassen. Jutta war mit ihren Gästen allein. So ergab es sich ganz von selbst, dass sie von ihren familiären Verhältnissen erzählte. Als das Hausmädchen den Kaffee brachte, kam auch Angi.

Neugierig schaute die Kleine Nick an. Sie überlegte dabei, ob er wohl auch zu dem Kinderheim gehöre. Als die erste Scheu von ihr gewichen war, fragte sie ihn schließlich danach.

»Ja«, sagte Nick. »Und ich soll dir auch schöne Grüße von Vicky und Pünktchen ausrichten.«

»Warum sind sie nicht mitgekommen?«, fragte Angi. Obwohl Nick viel älter war als sie, hatte sie sofort Zutrauen zu ihm gefasst. Sie schlug ihm vor, mit ihr in den Stall zu gehen.

Damit war Nick sofort einverstanden. Er ließ sich von Angi das ganze Gut zeigen. Dann gingen die beiden in den Stall zu Pedro.

»Reitest du auch auf ihm?«, fragte Angi neugierig.

Der große Junge nickte. »Klar. Er ist ja ein Reitpferd. Soll ich dich einmal auf Pedro setzen?«

»Nein«, wehrte Angi erschrocken ab. Sie hatte Angst vor Pferden.

»Warum nicht?«

Angi schaute unsicher zu dem Pferd empor. »Weil er mich dann bestimmt herunterwirft.«

»Nein. So etwas tut Pedro nicht, wenn ich dabei bin.«

»Dann mag er dich wohl?«, fragte die Kleine.

»Ich glaube schon«, sagte Nick schmunzelnd. Er tätschelte Pedros Fell. Ich bin sehr froh, dass wir ihn gefunden haben, dachte er dabei.

Angi beobachtete den großen Jungen neugierig. »Redest du manchmal auch mit ihm?«

»Sehr oft sogar.«

»Und was sagst du dann zu ihm?«

Nick überlegte. »Zum Beispiel, dass er sehr brav gelaufen ist. Wenn er allerdings bockig war, dann sage ich ihm das auch.«

»Ist er dann traurig?«, wollte Angi wissen. Dabei trat sie einen Schritt zurück, weil Pedro den Kopf gewendet hatte. »Guckt er mich jetzt an?«

Nick musste lachen. »Du kannst einem wirklich ein Loch in den Bauch fragen.«

Erschrocken schaute Angi auf Nicks Bauch. Dann lachte sie mit ihm. »Doch nur, weil ich sonst niemanden habe, den ich fragen kann.«

Das machte Nick nachdenklich.

»Kannst du deine Mutti nicht fragen?«

Die Kleine schüttelte den Kopf. »Mutti ist immer müde. Und der Onkel Doktor hat gesagt, ich darf sie nicht ärgern.«

»Aber wenn du sie etwas fragst, ärgerst du sie doch nicht«, meinte Nick.

Angi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«

»Und wie ist es mit deinen Freundinnen?«, fragte Nick. Es musste doch in der Nachbarschaft gleichaltrige Kinder geben.

Angi schüttelte jedoch den Kopf. »Ich habe keine Freundinnen.«

Das klang so traurig, dass Nick dem kleinen Mädchen unwillkürlich übers Haar strich.

Da hob Angi den Kopf. Sie wurde ein bisschen rot, als sie nun die Frage stellte, die ihr so viel bedeutete. »Könnt ihr mich nicht mitnehmen in euer Kinderheim?«

»Aber …« Nick wusste nicht sofort, was er antworten sollte.

Angis Augen wurden sofort noch trauriger. »Wollt ihr keine Kinder mehr haben? Habt ihr schon genug?«

»Nein, nein, so ist es nicht«, sagte Nick schnell. »Wir haben zwar schon genug, das stimmt. Aber trotzdem können wir immer noch jemanden aufnehmen.«

»Dann könnt ihr mich mitnehmen?« Hoffnungsvoll begannen Angis Augen zu leuchten.

Jetzt wusste Nick überhaupt nicht mehr, was er sagen sollte. »Willst du denn nicht hierbleiben?«, fragte er. »Bei deiner Mutti?«

»Nein. Mutti geht ja weg. Ins Krankenhaus. Und dann bin ich ganz allein. Und wenn ich allein bin, fürchte ich mich vor ihm.«

Nick verstand nur die Hälfte. »Vor wem fürchtest du dich?«

»Na, vor dem Lüscher. Du hast ihn doch gesehen.«

»Ach so!« Erst jetzt verstand Nick die Kleine. Er überlegte. Wenn Angis Mutter wirklich ins Krankenhaus musste, dann wäre das Grund genug, die Kleine vorübergehend nach Sophienlust zu holen. »Ich verstehe dich«, sagte er zu Angi. »Ich mag euren Verwalter auch nicht. Weißt du was? Ich werde mit meinem Vati sprechen. Er soll deine Mutti fragen, ob du vorübergehend mit nach Sophienlust darfst.«

Vor Freude klatschte Angi in die Hände. »Komm, wir gehen gleich hinein und fragen.«

Doch als die beiden aus dem Stall traten, verabschiedete sich Alexander von Schoenecker vor der Haustür gerade von Jutta. »Zu spät«, stellte Nick fest. »Aber mach dir nichts daraus. Ich werde heute Abend mit meinem Vati sprechen. Und wenn wir morgen Nachmittag wiederkommen, fragen wir deine Mutti.«

»Wirklich?«

»Ganz bestimmt«, versprach Nick. Dann lief er zu den Erwachsenen und verabschiedete sich ebenfalls von Jutta Rauscher.

*

Fritz Lüscher hatte das Gut verlassen. Drei Stunden lang wartete Jutta vergeblich auf seine Rückkehr. Als er endlich kam, teilte er ihr kurz und unhöflich mit, Hermann Übler sei vor­übergehend verreist, sodass er ihn jetzt nicht erreichen könne.

»Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?«, fragte Jutta erregt. »Was soll ich Herrn von Schoenecker morgen antworten?«

»Dass er sich zum Teufel scheren soll«, knurrte Fritz Lüscher. Er hatte es leise gesagt und geglaubt, sie habe es nicht verstanden. Doch Jutta hatte es nur zu deutlich gehört. Vor Zorn röteten sich ihre Wangen. Ich werde ihn hinauswerfen, dachte sie. Auf der Stelle. Entrüstet sprang sie auf. Doch kaum stand sie, da fiel sie in sich zusammen und presste die Hände auf den Leib.

»Was ist?«, fragte Fritz Lüscher. »Haben Sie Schmerzen? Soll ich den Arzt rufen?«

Jutta schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Er will heute Abend ohnehin vorbeikommen, um mir das Ergebnis der Untersuchung mitzuteilen.« Sie schleppte sich mühsam in ihr Schlafzimmer. Die Hilfe ihres Verwalters lehnte sie dabei ab. Nur Angi durfte mitkommen.

Scheu streichelte die Kleine die verkrampften Hände der Mutter. »Tut es weh, Mutti?«

Jutta nickte nur. Erst als der Schmerz allmählich abzuebben begann, konnte sie wieder sprechen. »Hol mir bitte ein Glas Wasser und meine Medizin.«

Angi lief davon. Sie holte ein Arzneifläschchen aus dem Nachtschränkchen und aus dem Bad ein Glas lauwarmes Wasser.

Mit zitternden Fingern zählte Jutta zwanzig Tropfen ab. Zehn Minuten später hörten die Krämpfe auf. Als der Arzt dann endlich kam, fühlte sie sich schon wieder besser. Deshalb erwähnte sie den Anfall gar nicht erst.

Der Arzt zog sich einen Stuhl ans Bett. »Wie fühlen Sie sich, Frau Rauscher?«

»Gut«, log sie.

Doch ihre Antwort hellte seine besorgte Miene nicht auf. »Ich muss Ihnen leider sagen, dass das Ergebnis der röntgenologischen Untersuchung gar nicht gut ausgefallen ist.

Sie werden sich operieren lassen müssen. Und zwar möglichst bald.«

Jutta erschrak.

»Ich versuche ja schon seit Wochen, Sie zu einer Operation zu überreden«, fuhr der Arzt fort.

»Ich möchte es nicht«, sagte Jutta leise.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sie haben jetzt keine andere Wahl mehr, Frau Rauscher. Sie müssen sich operieren lassen. Sie haben zwei Geschwüre im Zwölffingerdarm.«

Juttas schöne dunkle Augen weiteten sich entsetzt. »Zwei?«

Der Arzt nickte nur. Er hielt nichts davon, seine Patienten anzulügen. Und in Juttas Fall wäre es ganz und gar unangebracht gewesen, weil sie sich dann erst recht gegen die Operation gewehrt hätte. Sie musste sich aber operieren lassen. Wenn sie es nicht tat … Der Arzt zögerte, diesen Gedanken zu Ende zu führen. »Es ist keine schwere Operation«, versuchte er sie zu trösten.

»Wann …«, räusperte sie sich. »Wann soll ich ins Krankenhaus?«

»So schnell wie möglich. In drei Tagen wird in einer Privatklinik in Stuttgart ein Bett frei. Ich habe Sie angemeldet.«

»So schnell.« Jutta erschrak. »Das geht nicht. Was soll ich mit meinem Kind machen? Ich kann Angi doch nicht einfach allein hier lassen.«

»Das weiß ich im Moment auch nicht. Ich weiß nur eines: Dass Sie sich operieren lassen müssen, Frau Rauscher. Versuchen Sie, Ihre Tochter bei Bekannten oder Verwandten unterzubringen.«

Der Arzt erhob sich. Als er sich von Jutta verabschiedete, schloss Angi ganz leise wieder die Schlafzimmertür. Niemand sollte wissen, dass sie gelauscht hatte.

Als der Arzt aus dem Zimmer trat, fuhr die Kleine sich schnell über die feuchten Augen und trat zu ihm. »Onkel Doktor?«

»Ja, Angi?« Er beugte sich zu ihr herab.

»Ist meine Mutti sehr krank?«

»Es ist nicht so schlimm, Angilein. Sie muss nur für ein paar Wochen ins Krankenhaus. Danach ist alles wieder gut.«

Angi steckte den Finger in den Mund und schaute dem Arzt nach, als er die Treppe hinabstieg. Dann lief sie schnell zur Mutter ins Schlafzimmer. »Schläfst du, Mutti?«

»Nein, mein Schatz. Ich denke nach.«

»Warum? Weil du ins Krankenhaus musst?«

»Ja«, sagte Jutta. Sie fragte sich verzweifelt, wo Angi in dieser Zeit bleiben sollte.

»Mutti?« Angi setzte sich auf den Bettrand und legte ihren Kopf neben den der Mutter. »Ich kann doch mit Nick und seinem Vati nach Sophienlust fahren. In das Kinderheim. Du weißt schon, von dem Pünktchen und Vicky erzählt haben.«

»Ja, ja, ich erinnere mich.« Die Idee war gar nicht schlecht, fand Jutta. Aber würde man Angi dort aufnehmen?

»Ich habe Nick heute Nachmittag schon gefragt, ob ich hinkommen darf«, sagte Angi.

»Du hast ihn schon gefragt?« Erstaunt richtete sich Jutta im Bett auf.

»Ja. Und er hat gesagt, er will seinen Vati fragen. Darf ich mit, wenn sein Vati ja sagt?«

Es wäre die beste Lösung, dachte Jutta. »Möchtest du?«

»Ja«, antwortete Angi spontan.

»Gut. Dann werde ich morgen mit Herrn von Schoenecker sprechen.«

*

Alexander von Schoenecker erklärte sich sofort bereit, Angi mit nach Sophienlust zu nehmen. Er machte den Vorschlag sogar von sich aus.

Jutta stimmte erleichtert zu. »Ich habe erst gestern von meinem Arzt erfahren, dass ich schon in drei Tagen nach Stuttgart ins Krankenhaus muss«, sagte sie. »Natürlich kann Angi nicht allein hierbleiben.«

Das verstand Alexander. Er schlug vor, Angi sofort mitzunehmen.

Davon war Angi hell begeistert. Sie lief sofort in ihr Zimmer, um Spielsachen einzupacken, die sie mitnehmen wollte. Das Hausmädchen packte einen Koffer mit Kleidern und Wäsche.

Ein Transportunternehmen, das sich auf Pferdetransporte spezialisiert hatte, sollte Pedro am nächsten Tag abholen und nach Sophienlust zurückbringen. Das hatte Jutta sogar schriftlich veranlasst, damit sich Fritz Lüscher ihren Anordnungen auf keinen Fall widersetzen konnte.

Beim Abschied klammerte sich Angi weinend an die Mutter. »Du kommst doch wieder, Mutti? Du musst doch nicht für immer im Krankenhaus bleiben?«

»Nein, mein Liebling, ich komme bestimmt bald wieder. Und wenn es mir besser geht, dann darfst du mich ja auch besuchen.«

Das beruhigte Angi. Sie trennte sich von der Mutter und stieg zu Alexander von Schoenecker ins Auto ein. Dabei genierte sie sich ein bisschen vor Nick. Jetzt hält er mich bestimmt für eine Heulsuse, dachte sie. Rasch fuhr sie sich mit dem Ärmel über die Nase.

»Hier, nimm das!« Nick reichte ihr sein Taschentuch.

Geräuschvoll putzte Angi sich die Nase und schaute dann scheu zu Alexander und Nick. Sie war das erste Mal allein mit Fremden und konnte sich gegen ein beklemmendes Gefühl nicht wehren.

Nick spürte das irgendwie. Um Angi die Situation zu erleichtern, erzählte er ihr pausenlos lustige kleine Geschichten, bis sie endlich lachte. Nach einer weiteren halben Stunde fielen ihr jedoch die Augen zu. Sie schlief ein und erwachte erst wieder, als der Wagen vor dem Herrenhaus von Sophienlust hielt. Verwirrt schaute sie aus dem Wagenfenster.

»Wir sind da«, sagte Nick.

»In Sophienlust?« Angi rieb sich verschlafen die Augen.

»Ja. Es steht direkt vor dir.« Nick deutete zum Herrenhaus.

In diesem Moment öffnete sich die große Tür, und drei Kinder sprangen die Freitreppe herab. Darunter waren Vicky und Pünktchen.

Als Pünktchen das kleine Mädchen auf dem Rücksitz von Alexanders Wagen sah, blieb sie abrupt stehen. »Angi! Vicky, schau mal! Das ist Angi!« Sie kam zum Wagen gestürmt und riss die Tür auf. »Angi!«

Noch immer ein wenig schlaftrunken kletterte Angi aus dem Wagen. Sofort wurde sie von Vicky und Pünktchen stürmisch umarmt. Das tat ihr gut. Gleich fühlte sie sich zu Hause und gar nicht mehr fremd.

Doch als sie dann in der Halle von Sophienlust den vielen fremden Kindern gegenüberstand, bekam sie doch wieder Angst. Vielleicht mögen sie mich gar nicht, dachte sie. Hilfesuchend blickte sie zu Vicky und Pünktchen.

Die beiden nahmen sie auch sofort in die Mitte und stellten sie den anderen Kindern vor. »Das ist Angi von Gut Riederau«, sagte Pünktchen laut. »Wir haben euch schon von ihr erzählt.«

»Sind das die, die unseren Schimmel geklaut haben?«, fragte Fabian leise – und handelte sich damit einen kräftigen Rippenstoß von Henrik ein.

»Spinnst du?«, zischte Henrik entrüstet. »So etwas zu sagen, wo die Kleine doch gerade erst angekommen ist und bestimmt nichts dafür kann.«

»Was flüstert ihr denn da?«, wollte Irmela wissen.

»Ach, nichts.« Henrik warf Fabian einen drohenden Blick zu. Sei ruhig, sollte das heißen. Und Fabian verstand es.

Erschrocken zuckte Angi zusammen, als plötzlich der Gong ertönte. »Was ist das?«

»Der Gong«, erklärte Pünktchen. »Er ruft uns zum Abendessen. Hast du Hunger?«

Angi nickte. Sie hatte seit dem Mittagessen nichts mehr gegessen, und da auch nur ganz wenig, weil sie viel zu aufgeregt gewesen war.

»Schwester Regine, darf Angi beim Abendessen neben mir und Vicky sitzen?«, fragte Pünktchen.

Die Kinderschwester gestattete es.

Nach dem Essen zeigte sie Angi ihr Zimmer. »Du wirst mit Heidi zusammen schlafen.«

Angi nickte. Sie wusste schon, wer Heidi war. Ein lustiges kleines Mädchen, das ihr sofort gefallen hatte.

»Ich freue mich, dass ich nicht mehr allein schlafen muss«, sagte sie zu Heidi.

Die nickte. »Glaube ich dir. Ich schlafe auch nicht gern allein. Da fürchte ich mich.«

Das erinnerte Angi daran, dass sie sich sehr oft gefürchtet hatte, wenn die Mutter nicht im Haus gewesen war. Sie erzählte Heidi davon. »Manchmal bin ich vor Angst unter die Bettdecke gekrochen und erst am Morgen wieder herausgekommen.«

Mitfühlend griff Heidi nach Angis Hand. »Bei uns brauchst du keine Angst zu haben. Hier bist du nie allein.«

Das ist schön, dachte Angi. Sie packte ihr Spielzeug aus, um es Heidi zu zeigen. »Die Puppe hier ist von meiner Mutti. Sie heißt Gitti.«

»Was sie für schöne Haare hat«, staunte Heidi. Andächtig strich sie über die langen blonden Locken.

Schwester Regine betrat das Zimmer. »Schlafenszeit«, verkündete sie. »Jetzt wird das Licht gelöscht. Schnell in die Betten.«

Folgsam kuschelte sich Angi unter die bunt geblümte Bettdecke. »Darf meine Gitti bei mir schlafen?« Sie zeigte Schwester Regine ihre Puppe. »Aber natürlich. Sei nur vorsichtig, dass du sie nicht zerdrückst.«

Angi schüttelte den Kopf. »Ich schlafe immer mit Gitti. Aber ich habe mich noch nie auf sie gelegt.«

*

Am Mittwoch war Jutta ins Krankenhaus eingeliefert worden. Am Freitag hätte sie operiert werden sollen. Doch ihr Zustand war so schlecht, dass der Chefarzt die Operation verschob. »Sie ist einfach zu schwach«, erklärte er dem neuen Stationsarzt, Dr. Jürgen Werner, der erst seit einem halben Monat in dem Krankenhaus arbeitete. »Frau Rauscher ist eine Jugendfreundin von mir«, sagte Dr. Werner zu seinem Chef. »Ich habe sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Deshalb hat mich ihr Zustand besonders erschreckt. Früher war sie immer so lustig, kräftig und lebensfroh. Und jetzt ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst.«

Der Chefarzt nickte. »Das sind die Geschwüre. Die setzen ihr schwer zu. Ich nehme allerdings an, dass es sich hier mehr um ein seelisches als um ein körperliches Leiden handelt.«

»Vermuten Sie, dass Frau Rauscher die Geschwüre aus Kummer oder Ärger bekommen hat?«, fragte Jürgen Werner. Er gab sehr viel auf die Meinung des erfahrenen Chefarztes.

Der nickte. »Ich bin davon überzeugt. Wissen Sie, ob die Patientin in den letzten ein oder zwei Jahren schwere Schicksalsschläge überstehen musste?«

»Sie hat vor einem Jahr ihren Mann verloren«, berichtete Jürgen Werner.

Der Chefarzt nickte. »Bereiten Sie alles für den Montag vor. Wir müssen Frau Rauscher operieren. Trotz ihres schwachen Zustandes.«

Dr. Werner nickte. »Ich werde alles vorbereiten.« Er sagte der Oberschwester Bescheid. Dann ging er zu Jutta, um sie seelisch auf die Operation vorzubereiten.

Die junge Frau war erster Klasse untergebracht. Zwar war das Zimmer nur klein, aber sie lag allein darin.

Als Jürgen Werner leise eintrat und sah, dass sie schlief, wollte er wieder gehen. Doch da öffnete sie die Augen und rief ihn zurück. »Jürgen!«

Er drehte sich um und kam zum Bett. »Ich dachte, du schläfst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Auch nachts nicht. Immer wieder wache ich auf.«

»Ich werde der Schwester sagen, dass sie dir etwas bringen soll.« Er zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?«

»Im Moment nicht.« Jutta schaute ihn an.

Ihre Augen sind noch genauso groß und schön wie früher, dachte der Arzt. Nur haben sie damals immer ein wenig schelmisch geblickt. Jetzt sind sie traurig. Er griff nach ihrer Hand. »Wir werden dich am Montag operieren, Jutta.«

Sie zuckte zusammen.

»Keine Angst«, fuhr er schnell fort. »Das ist keine schwierige Operation. In ein paar Wochen kannst du das Krankenhaus wahrscheinlich schon wieder verlassen.«

Sie schaute ihn zweifelnd an. »Meinst du das im Ernst? Oder willst du mich nur trösten?«

»Ich sage dir die Wahrheit, Jutta. Eine Magenoperation ist heutzutage nichts Besonderes. Du wirst hinterher kaum etwas spüren. Und bald wirst du auch wieder zu Kräften kommen. Du musst nur wollen.« Er schaute sie eindringlich an. »Das ist sehr wichtig. Glaube es mir. Alles darfst du verlieren, nur nicht den Mut und die Hoffnung.«

»Du bist ein guter Psychologe«, antwortete sie lächelnd. »Ich frage mich nur, worauf ich noch hoffen soll.«

»Auf eine gesunde Zukunft. Auf eine fröhliche Zukunft mit deiner Tochter«, sagte er eindringlich. »Du kannst doch nicht einfach aufgeben, Jutta.« Sein Blick war ernst und gleichzeitig bittend.

»Du bist ein guter Arzt«, erwiderte sie leise.

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. »Du bist eine Patientin, deren Schicksal mir am Herzen liegt, Jutta. Ich habe den festen Willen, dich wieder ganz gesund zu machen. Aber du musst mir ein bisschen dabei helfen. Versprichst du mir das?«

Sie nickte und lächelte sogar ein bisschen. Das wertete er als ein gutes Zeichen. »Du wirst sehen, in zwei bis drei Monaten bist du wieder eine gesunde und glückliche Frau.«

Gesund vielleicht, dachte sie. Aber glücklich? Glücklich war ich, als mein Mann noch lebte. Mit seinem Tod begannen die Schwierigkeiten.

Jutta merkte kaum, dass Jürgen aufstand und aus dem Zimmer ging. Mit geschlossenen Augen dachte sie nach. Sie kam schließlich zu dem Ergebnis, dass Jürgen recht hatte. Sie durfte nicht aufgeben. Sie musste kämpfen. Für sich und für ihr Kind.

Über diesen Gedanken schlief Jutta ein. Quälende Schmerzen weckten sie nach einer Stunde auf. Sie läutete nach der Schwester und bat um ein schmerzstillendes Mittel. Als sie nach Jürgen fragte, erfuhr sie, dass er das Krankenhaus bereits verlassen hatte.

Bald darauf bekam Jutta ein spärliches Abendessen, das nur aus einer Haferschleimsuppe bestand. Aber nicht einmal diese Suppe konnte sie aufessen.

»Essen Sie doch wenigstens noch ein paar Löffel«, bat die Schwester. »Sonst wird die Operation Ihre letzten Kräfte aufzehren.«

Jutta zwang sich und aß noch zwei Löffel. Dann schob sie den Teller zurück. Die Schmerztablette enthielt gleichzeitig ein Mittel, das einschläferte. Nur so konnte sie die Nacht durchschlafen.

Drei Tage später wurde Jutta operiert. Alles verlief normal. Aber nach der Operation waren ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. Zwei Tage lang wurde sie künstlich ernährt und bekam Bluttransfusionen. Erst danach besserte sich ihr Zustand geringfügig.

Jürgen sorgte sich sehr um sie. Er schaute alle drei bis vier Stunden nach ihr und schärfte den Schwestern ständig ein, ihm jede Veränderung zu berichten.

Die ersten Tage nach der Operation verschlief Jutta. Sie hatte starke Betäubungsmittel bekommen und spürte keine Schmerzen. Erst als Jürgen diese Tabletten absetzte, war sie tagsüber wach und ansprechbar. Aber gleichzeitig begann sie über Schmerzen zu klagen.

Jürgen tröstete sie. »Das ist ganz normal. Nach jeder Operation treten Schmerzen auf. In acht bis zehn Tagen wird das allmählich aufhören.«

Juttas Augen weiteten sich erschrocken. »So lange noch?«

Er griff nach ihren Händen. »Im Moment kommt dir das entsetzlich lange vor. Ich weiß. Aber die Zeit wird schneller vergehen, als du denkst.«

Sie bemühte sich, seinen Worten zu glauben, obwohl das nicht ganz einfach war. Die Tage und Nächte wollten einfach nicht vergehen. Sie hatte manchmal das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Besonders dann, wenn die Schmerzen sie Stunde um Stunde quälten.

»Es wird besser werden«, versicherte Jürgen immer wieder. »Mit jedem Tag ein kleines bisschen.«

Jutta spürte seinen vertrauten Blick und den Druck seiner Hände. Sie nickte. »Ja, Jürgen. Ich bin so froh, dass du hier bist. Das hilft mir sehr.«

*

Der sechsunddreißigjährige Arzt war noch Junggeselle und der Schwarm aller ledigen Schwestern. Denn Jürgen Werner sah gut aus. Aber fast noch anziehender wirkte seine charmante und liebenswürdige Art. »Er hätte nicht Arzt, sondern Diplomat werden sollen«, sagte sein Vorgesetzter über ihn. »Überall findet er ein verbindliches Wort. Nie fällt er aus der Rolle.«

Jürgen bemühte sich jedoch nicht extra darum. Höflichkeit und Freundlichkeit waren ihm angeboren. Dabei hatte er es im Leben nicht immer leicht gehabt. Da er aus keinem wohlhabenden Haus stammte, hatte er sich sein Studium selbst verdienen müssen.

In seinen ersten Studienjahren hatte Jürgen Jutta kennengelernt. Damals waren sie Freunde geworden. Echte Freunde. Aber nicht mehr. Die bildhübsche Jutta war damals sehr umschwärmt worden. Vielleicht hätte ich eine Chance gehabt, wenn ich ihr den Hof gemacht hätte, dachte Jürgen. Doch er hatte nie versucht, mit ihr zu flirten. Dafür hatte er schon damals ihr absolutes Vertrauen besessen. Sie hatte ihm alles erzählt. Wenn ein Freund sie enttäuscht hatte, aber auch, wenn sie glücklich gewesen war. Dann hatte sie ihren späteren Mann kennengelernt und ihr Studium abgebrochen. Dadurch hatte er sie aus den Augen verloren. Und jetzt, nach so vielen Jahren, traf er sie wieder. Schwer mitgenommen vom Schicksal, aber immer noch eine begehrenswert schöne Frau. Trotz ihrer Krankheit.

Ich werde ihr helfen, wieder ganz gesund zu werden, nahm sich Jürgen vor. Genauso, wie ich ihr damals als Jugendfreund immer geholfen habe. Zwar waren ihre Sorgen damals viel geringerer Art, aber sie wogen mehr.

Am nächsten Vormittag kam er nach der Visite noch einmal zu Jutta. »Du siehst heute schon viel besser aus«, sagte er erfreut.

Sie nickte. »Ich habe die erste Nacht ohne Schmerzen geschlafen. Vielleicht habe ich sie schon ganz überwunden.«

Er schüttelte den Kopf. »Da muss ich dich leider enttäuschen. Völlig abgeklungen sind die Schmerzen noch nicht, aber sie werden in immer längeren Abständen zurückkommen und jedes Mal etwas schwächer werden. Bis sie ganz wegbleiben werden.« Er griff nach ihrer Hand. »Aber ich freue mich, dass du deinen Lebensmut zurückgefunden hast, Jutta. Das ist sehr viel wert!«

Sie lächelte. Ein wenig schelmisch, wie früher. »Das verdanke ich dir und deiner Kopfwäsche. Sie war nötig. Ich war nämlich auf dem besten Weg, mich einfach gehenzulassen. Und das darf ich nicht. Schließlich habe ich eine Tochter, die mich noch braucht.«

»Wie heißt sie eigentlich?«, fragte Jürgen.

»Angi.« Jutta tastete nach der Nachttischschublade. »Da drin ist ein Bild von ihr.«

Jürgen fand es. Nachdenklich betrachtete er das süße Mädchengesicht. »Komisch, sie sieht dir gar nicht ähnlich. Sie hat zwar genauso große Augen wie du, aber sie sind blau. Und dieses hellblonde Haar, hat sie das von ihrem Vater?«

Jutta nickte. Dann erzählte sie ihm von Sophienlust.

»Du hast Angi in einem Kinderheim untergebracht?«, fragte Jürgen. »Das arme Mädchen.«

Jutta widersprach ihm lächelnd. »Sie ist gern dort. Es war ja ihre Idee. Sie wollte nach Sophienlust. Du hättest nur hören sollen, wie die beiden Mädchen von dem Heim geschwärmt haben. Dort gibt es einen Riesenpark, genügend Kinder zum Spielen und sogar ein Tierheim.«

Jürgen musste lachen. »Du schwärmst ja selbst schon von diesem Sophienlust. Wie hast du dieses Kinderheim eigentlich entdeckt?«

Da erzählte Jutta ihm von dem gestohlenen Schimmel und von ihrem Verwalter, der das Pferd angeblich reell erworben hatte. Sie erwähnte auch, dass sie das Tier schließlich wieder zurückgegeben hatte.

Stirnrunzelnd hörte Jürgen ihr zu. Mit diesem Verwalter stimmt doch etwas nicht, dachte er. Aber er sprach es nicht aus. Jutta durfte sich nicht aufregen. Dazu war ihre Konstitution noch viel zu schwach. Deshalb wechselte er das Thema. Er erzählte von sich und seinem Leben in den vergangenen zehn Jahren.

»Warum hast du nie geheiratet?«, fragte Jutta.

Jürgen lächelte, zuckte mit den Schultern. »Das ist eine Frage, die ich mir selbst manchmal stelle. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weil ich der richtigen Frau noch nicht begegnet bin.« Er sprach ganz offen und unbefangen.

»Und wie müsste deine Traumfrau aussehen?«, fragte Jutta. Vorübergehend hatte sie ihre Schmerzen vergessen. Die Ablenkung tat ihr gut.

Deshalb brach Jürgen das Gespräch auch nicht ab, obwohl er nun fast ein wenig verlegen wurde. »Rein äußerlich müsste sie so aussehen wie du«, sagte er.

»Oh Jürgen«, wehrte sie lachend ab. »Du willst mir doch nur Komplimente machen, damit ich schneller wieder gesund werde. Ich bin eine alte kranke Frau.«

Er schaute sie nachdenklich an. »Wenn ich richtig rechne, bist du zweiunddreißig. Das ist nicht alt. Und deine Krankheit geht vorbei. Dann solltest du auch wieder heiraten, damit deine Tochter einen Vater bekommt – und du einen Mann, der dir bei der Verwaltung deines Gutes hilft.«

»Dann müsste ich einen Landwirt heiraten«, sagte sie.

»Na und? Was hast du gegen Landwirte?«

»Gar nichts. Ich kenne bloß keine.«

Jürgen war aufgestanden. »Dann werde ich mich einmal ein bisschen umsehen. Vielleicht kann ich dir ein paar vorstellen.«

»Hör bloß auf«, drohte sie ihm. »Ich lasse mich nicht verkuppeln.«

Schmunzelnd ging er zur Tür. »Wir werden ja sehen. Aber jetzt musst du ruhen. Ich habe dich schon genug aufgeregt.«

»Das hast du allerdings.« Ihre Wangen glühten, und in ihren Augen entdeckte er einen Abglanz des alten Feuers. Sie wird wieder gesund werden, dachte er, als er den blank gebohnerten Korridor entlangging. Und diese Gewissheit erfüllte ihn mit ganz besonderer Freude.

Zwei junge Lernschwestern gingen an ihm vorbei und begannen hinter ihm zu tuscheln. »Hast du seinen verklärten Gesichtsausdruck gesehen?«, fragte die eine. »Bestimmt war er wieder bei seiner Lieblingspatientin.«

»Meinst du die Rauscher?«

»Klar. Wen sonst? Bei der sitzt er doch dauernd.«

»Na, sie ist ja schließlich auch schwerkrank. Außerdem kennt er sie von früher. Ist angeblich ’ne Jugendfreundin von ihm.«

Von solchen Unterhaltungen ahnte Jürgen nichts. Aber er machte auch kein Hehl daraus, dass ihm Juttas Schicksal besonders am Herzen lag. Obwohl er sonst die Höflichkeit in Person war, konnte er sehr ungehalten werden, wenn er irgendeine Nachlässigkeit in Juttas Krankenzimmer entdeckte. Das wussten die Schwestern inzwischen. Deshalb gaben sie sich besonders viel Mühe mit Jutta. Das fiel ihnen allerdings auch nicht schwer, denn Jutta war eine ruhige und angenehme Patientin. Sie klagte nie und verlangte nur selten einen Sonderdienst, obwohl sie als Erste-Klasse-Patientin eigentlich alles verlangen durfte.

*

Angi hatte sich in Sophienlust sehr schnell eingelebt. Sie war ein braves und anschmiegsames Kind und tat alles, was man von ihr verlangte. Diese Gutmütigkeit nutzten manche Kinder aus. Besonders die kleineren Jungen. Sobald sie herausgefunden hatten, dass Angi alles ausführte, was man ihr auftrug, kommandierten sie sie herum. Das wiederum merkten die älteren Mädchen und ergriffen demonstrativ Partei für Angi. Besonders Irmela und Pünktchen.

»Wenn ich noch ein einziges Mal höre, dass ihr Angi herumkommandiert, kriegt ihr es mit mir zu tun«, drohte Irmela Fabian und Henrik.

»Wir kommandieren sie ja gar nicht herum«, verteidigte sich Fabian.

»Doch, das tut ihr«, rief Pünktchen. »Heute nachmittag habe ich es selbst gehört. Ihr wolltet eine Sandburg bauen, und Angi musste das ganze Wasser für euch holen. Bloß weil ihr zu faul wart, selbst zu laufen.«

»Aber sie hat’s doch freiwillig getan.« Sie hatte es auch gar nicht als Schikane empfunden, obwohl sie eigentlich auch ganz gern ein bisschen an der Burg mitgebaut hätte. Aber im Großen und Ganzen war sie schon glücklich, wenn die Kinder mit ihr spielten. Und deshalb tat sie auch alles, was diese verlangten. Das aber empfanden die Älteren als ungerecht. Besonders Irmela hatte sich vorgenommen, Angi ein bisschen in Schutz zu nehmen und darauf zu achten, dass die Gutmütigkeit und Schüchternheit der Kleinen nicht dauernd ausgenutzt wurde.

»Wenn wir morgen baden gehen, darf Angi als Erste in dem Gummiboot mitfahren«, verkündete Irmela laut.

Angis Augen begannen zu leuchten. Sie wartete ängstlich, ob jemand dagegen sein würde. Aber alle erklärten sich einverstanden.

Der Gong zum Abendessen unterbrach die Debatte der Kinder.

»Mann, habe ich einen Hunger. Und heute gibt’s als Nachspeise Pudding«, rief Henrik und stürmte den anderen voran.

»Eines Tages kriegst du einen Riesenpuddingbauch«, neckte Pünktchen ihn.

»Macht nichts. Lieber einen Puddingbauch als keinen Pudding. Wer verkauft mir seinen Pudding?« Er schaute neugierig in die Runde und bemerkte nicht, dass Schwester Regine hinter ihn getreten war.

»Aber, Henrik«, tadelte die Kinderschwester kopfschüttelnd. »Wenn du eine zweite Portion Pudding willst, brauchst du es doch nur zu sagen. Du weißt doch, dass du jederzeit nachfassen kannst.«

»Ja, doch …« Henrik geriet in Verlegenheit. Denn mit der zweiten Portion hatte er ohnehin schon gerechnet. Erkaufen wollte er sich eine dritte Portion, genierte sich aber jetzt, das zuzugeben. Deshalb war er froh, dass er nicht mehr antworten musste. Denn die Kinder gingen schon in den Speisesaal.

Dabei gelang ihm dann doch noch ein Handel. Vicky war bereit, ihren Pudding gegen zwei große bunte gläserne Murmeln einzutauschen. So bekam Henrik seine drei Portionen Pudding doch.

Als das Essen vorüber war, fragte Nick laut: »Wisst ihr, wer von uns allen am gefräßigsten ist?«

Die Kinder überlegten. Henrik aber machte sich auf seinem Stuhl ganz klein.

»Das ist mein Bruder Henrik«, fuhr Nick laut fort.

Henrik sprang sofort entrüstet von seinem Stuhl auf. »Das ist eine Gemeinheit«, rief er empört. »Du frisst ja selbst so viel.«

Es sah ganz nach Streit aus. Doch Pünktchen erstickte ihn im Keim. »Ruhe«, warnte sie, »Tante Ma kommt.«

Sofort setzte sich Henrik wieder auf seinen Stuhl. Er wusste, Else Rennert konnte sehr streng werden, wenn beim Essen keine Disziplin herrschte. Und wenn es galt, einer Strafe zu entgehen, hielten die Kinder zusammen wie Pech und Schwefel. So auch jetzt. Der Streit wurde vergessen und die Mahlzeit beendet.

Etwas später waren die Lichter in den Zimmern zwar schon gelöscht, aber die Kinder schliefen noch nicht. »Angi?«, fragte Heidi in die Dunkelheit hinein. »Schläfst du schon?«

»Noch nicht.«.

»Was machst du?«, wollte Heidi wissen.

»Ich streichle meine Puppe.«

Heidi überlegte. »Denkst du manchmal an deine Mutti?«, fragte sie dann.

»Ja«, antwortete Angi leise.

»Bist du dann traurig?«

»Ein bisschen. Aber ich bin auch froh, dass ich hier sein kann.«

»Möchtest du nicht zu Hause auf eurem schönen Gut sein?«, fragte Heidi weiter. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, wie es war, wenn man ein ganzes Gut besaß.

»Nein, möchte ich nicht«, antwortete Angi erschrocken. »Dort wäre ich doch ganz allein. Allein mit dem alten Lüscher.« Heidi wusste inzwischen, dass das der Verwalter war. »Und zum Spielen hätte ich auch niemanden«, fuhr Angi fort. »Da ist es hier viel schöner. Gehen wir morgen nach Swasiland zu Peggy?«

Heidi nickte in der Dunkelheit. »Ja. Pünktchen und Vicky kommen auch mit. Wir haben es Peggy nämlich versprochen. Vielleicht erzählt uns Onkel Luchs sogar eine Geschichte.«

*

Am nächsten Tag, gleich nach dem Mittagessen, meldeten sich die vier Mädchen bei der Heimleiterin ab. Else Rennert hatte ihnen erlaubt, nach Swasiland zu gehen. »Aber seid zum Abendessen wieder zurück.«

Die vier fassten sich bei den Händen und gingen fröhlich singend über die Wiesen. Als sie den kleinen Bach erreichten, konnten sie auch schon den Wohnwagen sehen. »Hoffentlich ist jemand da«, meinte Vicky.

Da erklang hinter ihnen unerwartet ein wildes Geheul. Erschrocken schnellten die vier Mädchen herum – und schauten direkt in Peggys lachendes Gesicht. Die kleine Schwarze hatte sich einen Indianerkopfschmuck aufgesetzt und gestikulierte wild mit den Armen.

»Hast du uns erschreckt!« Vicky war so aufgeregt, dass sie sich ins Gras setzen musste.

Heidi und Angi setzten sich zu ihr. Nur Pünktchen blieb stehen. Sie begutachtete Peggys Kopfschmuck. »Wo hast denn den her?«

»Hat mir Onkel Luchs mitgebracht.« Peggys schwarze Augen strahlten. Ihr krauses schwarzes Haar hatte sie ausnahmsweise am Hinterkopf zu einem winzigkleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. »Habt ihr gedacht, dass eine ganze Horde Indianer hinter euch her ist?«, fragte sie schelmisch.

Pünktchen nickte. »Haben wir. Hast du eine neue Frisur?«

Peggy nickte stolz. »Das ist ein Pferdeschweif.«

»Schwanz«, korrigierte Pünktchen. »Man sagt Pferdeschwanz. Und außerdem hast du ihn nicht richtig gemacht. Der muss viel höher sitzen. Ganz oben am Kopf.«

»Mach ihn mir richtig«, bat Peggy. »Ich möchte einen richtigen Pferdeschwanz haben.«

Sie setzte sich ins Gras und ließ sich von Pünktchen frisieren. Dabei erzählte sie die letzten Neuigkeiten. Dass es in Swasiland ein zahmes Eichhörnchen gab und dass sie im Fluss einen besonders großen Fisch entdeckt hatte. »Den zeige ich euch«, versprach sie aufgeregt. »Wenn er da ist, natürlich.«

»Wo soll er denn sein?«, fragte Vicky verständnislos. »Ein Fisch kann doch nur im Wasser herumschwimmen.«

»Nein«, rief Peggy und sprang auf.

»Bleib sitzen«, befahl Pünktchen. »Wie soll ich dich denn frisieren, wenn du herumspringst wie ein Kaninchen?«

»Bin kein Kaninchen.« Peggy zog einen Schmollmund. Das sah bei ihr sehr lustig aus. Ihre vollen dunklen Lippen bildeten dann fast einen Kreis.

»Kaninchen sind aber lieb«, meinte Heidi. »Fast so lieb wie Häschen – wie mein Schneeweißchen und Rosenrot.«

»Jetzt hört auf von Kaninchen zu reden«, verlangte Vicky. »Ich möchte wissen, wo der Fisch ist, wenn er nicht im Wasser ist.« Sie schaute Peggy fragend an.

Die kleine Schwarze setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Soll ich es verraten?«, fragte sie Pünktchen.

Da wurde Vicky ungeduldig. »Wenn du es nicht gleich erzählst, gehe ich selbst zum Bach und sehe nach.«

»Du findest ihn ja doch nicht.« Peggy wollte schon wieder aufspringen. Doch Pünktchen drückte sie ins Gras zurück.

»Bleib sitzen und sag, wo der Fisch ist.«

»Unter einem Stein«, platzte Peggy heraus.

»Was?« Vickys Augen wurden groß und ungläubig. »Wie soll denn der Fisch unter einen Stein kommen?«

»Weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass er darunter ist. Weil ich gesehen habe, wie er wieder hervorgekommen ist.«

»Also, wo ist er denn nun wirklich?«, verlangte Pünktchen zu wissen. »Unter dem Stein oder nicht unter dem Stein?«

Peggy seufzte wie ein überarbeiteter Generaldirektor. »Vorhin war er noch unter dem Stein. Er bleibt immer lange darunter. Und dann kommt er plötzlich wieder heraus. Ich glaube, er schiebt den Stein mit der Schnauze hin und her.«

Da brach Vicky in schallendes Gelächter aus. »Ein Fisch hat doch keine Schnauze.«

»Was denn sonst?«, fragte Peggy beleidigt.

»Ein Maul.«

»Als ob das nicht dasselbe wäre!«

»Nicht ganz«, korrigierte Pünktchen. »Nur Tiere haben Schnauzen.«

»Aber ein Fisch ist doch ein Tier.« Peggy drehte genau im falschen Augenblick den Kopf, sodass der Pferdeschwanz wieder einmal nicht gelang.

»Ein Fisch ist ein Fisch«, sagte Vicky eigensinnig.

Pünktchen schlichtete schließlich den Streit, indem sie vorschlug, Onkel Luchs zu fragen. Doch vorher gingen sie zum Bach und entdeckten tatsächlich Peggys Fisch in dem klaren Wasser.

»Der ist aber wirklich groß«, staunte Heidi.

Angi steckte vorsichtig die Hand ins Wasser. Blitzschnell verschwand der Fisch.

»Jetzt ist er weg«, stellte Angi enttäuscht fest.

»Du hättest die Hand nicht ins Wasser stecken dürfen«, explodierte Peggy, sodass Angi erschrocken zusammenzuckte.

»Schnauze Angi doch nicht so an.« Pünktchen wusste, wie empfindlich Angi war. »Schließlich hat sie den Fisch nicht mit Absicht verjagt.«

Da griff Peggy schnell nach Angis Hand. »Ich wollte nicht ekelhaft sein. Bleib mir nicht böse.« Und mit dem ihr eigenen Temperament umarmte sie Angi und drückte sie fest an sich.

Die anderen lachten, und Pünktchen korrigierte: »Das heißt, sei mir nicht böse, Peggy.«

»Und was habe ich gesagt?«

»Bleib mir nicht böse.«

Vicky und Pünktchen mussten über Peggys verdutztes Gesicht lachen. Aber dann stieß Heidi einen spitzen Schrei aus. »Der Fisch ist wieder da!«

Alles andere war vergessen. Interessiert beugten sich die vier Mädchenköpfe über den glatten Wasserspiegel.

»Ich sehe keinen Fisch mehr, ich sehe mein Gesicht«, staunte Angi und schnitt eine Grimasse.

So fand Eugen Luchs die Mädchen. Schmunzelnd blieb er hinter ihnen stehen.

Peggy entdeckte ihn als Erste und sprang auf. »Wie lange stehst du schon da, Onkel Luchs?«

»Lange genug, um eure Debatte über den Fisch mit anzuhören.«

»Was für ein Fisch ist das?«, fragten Vicky und Pünktchen fast gleichzeitig.

Angi stand ehrfürchtig da. Das also war der berühmte Märchenonkel, dessen Geschichten sie schon so oft im Radio gehört hatte. Als er ihr die Hand reichte, wurde sie rot.

»Das ist Angi, von der wir dir erzählt haben, Onkel Luchs«, sagte Pünktchen.

»Freut mich, dass ich dich kennenlerne, Angi«, sagte Eugen Luchs freundlich. »Gefällt es dir in Sophienlust?«

Angi nickte eifrig. »Ja.«

»Was für ein Fisch ist das, Onkel Luchs?«, wollte Heidi wissen.

Eugen Luchs zuckte mit den Schultern und beugte sich dann ebenfalls über den Bach. Aber der Fisch war wieder einmal verschwunden. »Es könnte eine Forelle sein. Aber auch eine Schleie. Beide gibt es in den hiesigen Gewässern.«

Da wandte sich Peggy an Angi. »In Afrika gibt es so große Fische.« Sie riss beide Arme weit auseinander. »Und so kleine«, zeigte sie mit Daumen und Zeigefinger.

Staunend hörte Angi ihr zu. Vicky aber gab Pünktchen einen heimlichen Rippenstoß.

»Jetzt wird sie gleich wieder zu flunkern anfangen«, sagte sie leise, aber doch nicht leise genug.

Peggy hatte es gehört. Empört schnellte sie herum. »Ich flunkere gar nicht. Frag doch Onkel Luchs. Es gibt so große Fische. Und auch ganz kleine.«

»Stimmt«, bestätigte Onkel Luchs.

Peggy triumphierte. »Seht ihr! Aber mir wollt ihr ja immer nicht glauben. Ich habe nämlich auch schon Krokodile gesehen«, sagte sie zu Angi. Dass das Mädchen eine geduldige und dankbare Zuhörerin war, hatte sie schon herausgefunden.

»Ich habe auch schon ein Krokodil gesehen«, sagte Heidi. »Im Zoo.«

Peggy winkte ab. »Im Zoo ist’s ja nicht gefährlich. Ich habe wilde Krokodile im Fluss gesehen. Ganz viele aufeinander.«

»Beieinander«, korrigierte Eugen Luchs schmunzelnd.

»Haben sie dir nichts getan?«, fragte Angi.

Peggy schüttelte sorglos den Kopf. »Ich habe keine Angst vor Krokodilen.«

Damit flößte sie Angi einen Riesenrespekt ein. Für Angi waren Krokodile entsetzliche Monster, die ihr schon Angst machten, wenn sie nur an sie dachte.

Plötzlich unterbrach Peggy die Unterhaltung. »Seid einmal ruhig«, verlangte sie gebieterisch. »Ich höre etwas.«

Alle lauschten. »Ich höre nichts«, sagte Pünktchen.

»Ich auch nicht.«

»Aber es kommt etwas getrappelt«, beharrte Peggy eigensinnig. Sie war für ihr überscharfes Gehör bekannt. Besonders Eugen Luchs konnte sich darüber immer wieder wundern. Ebenso erkannte Peggy Personen oder Gegenstände, die sie einmal gesehen hatte, sofort wieder.

Das muss wohl ein Erbteil ihrer als Nomaden lebenden Vorfahren sein, dachte der Schriftsteller auch jetzt wieder. Für diese Afrikaner sind gute Ohren und scharfe Augen noch lebenswichtig.

Pünktchen war aufgestanden. Sie beschattete nun die Augen mit beiden Händen und spähte in die Umgebung. »Diesmal hast du dich getäuscht, Peggy. Weit und breit ist nichts zu sehen und nichts zu hören.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Peggy. Sie lag auf dem Boden und presste das rechte Ohr ins Gras. »Jetzt hat das Gehoppel aufgehört.«

»Richtig«, sagte in diesem Moment jemand hinter ihnen, und aus dem Gebüsch trat Nick. An der Leine führte er Pedro.

»Also doch«, triumphierte Peggy. »Ich habe doch gesagt, ich habe etwas hoppeln gehört.«

»Sag nicht noch einmal, dass ich hopple«, drohte Nick ihr lachend. Dann begrüßte er Eugen Luchs.

Anschließend führte er seinen Schimmel zum Wasser und ließ ihn trinken.

»Pass auf, dass er nicht unseren Fisch frisst«, rief Heidi erschrocken.

»Was?« Nick schaute die vier Mädchen verständnislos an. »Ein Pferd frisst doch keine Fische.«

»Aber er könnte ihn doch aus Versehen mit herunterschlucken«, meinte Peggy.

Nick griff sich an den Kopf. »Hört bloß auf, bevor ich einen Lachanfall kriege.«

»Es ist der einzige Fisch, den wir hier haben«, sagte Peggy schmollend. Dabei ließ sie Pedro nicht aus den Augen. Wie gierig er das Wasser säuft, dachte sie. Da kann der Fisch leicht mit hineinrutschen. Aber das sagte sie nicht laut, um von Nick nicht noch mehr ausgelacht zu werden.

Pünktchen streichelte Pedro und verscheuchte eine Fliege von seinem linken Ohr. »Bist du allein ausgeritten?«, fragte sie dabei.

»Ja«, sagte Nick. »Warum fragst du?«

»Ach, nur so.« Pünktchen zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Irmela ist vielleicht mitgekommen.«

»Dann wäre sie doch hier«, meinte Nick lächelnd. Er wusste, dass Pünktchen insgeheim manchmal ein bisschen eifersüchtig auf Irmela war.

*

Nachdem Jutta Rauscher einmal den Entschluss gefasst hatte, wieder ganz gesund zu werden, erholte sie sich von Tag zu Tag mehr. Dr. Jürgen Werner beobachtete das mit Freude. Er half Jutta, wo er nur konnte. Nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch. Von seiner Freizeit verbrachte er einen großen Teil im Krankenhaus bei Jutta. Meist sprachen die beiden über die Vergangenheit. Über die gemeinsame Vergangenheit, aber auch über die Jahre, in denen sie getrennt gewesen waren. Jutta erzählte von ihrem Leben auf Gut Riederau und den ersten erfüllten Jahren ihrer Ehe. Sie merkte nicht, dass sich Jürgens Gesicht dabei verdüsterte.

»Du warst also glücklich?«, fragte er leise.

Sie nickte. »Ja. Anfangs war ich sehr glücklich.«

»Anfangs?«, fragte er vorsichtig. »Das hört sich an, als seist du später nicht mehr glücklich gewesen.«

Sie senkte den Blick. »Mein Mann und ich, wir hatten sehr unterschiedliche Interessen. Er war Landwirt mit Leib und Seele. Nichts anderes existierte für ihn. Deshalb wollte er zusätzlich zu Riederau noch ein zweites Gut kaufen. Dessen Verwaltung hätte ich übernehmen sollen. Aber ich eignete mich nicht dazu. Schon damals war meine Gesundheit angegriffen. Ich war schwächlich und einfach nicht in der Lage, mit ihm Schritt zu halten. Das hat er mir insgeheim immer ein wenig verübelt, obwohl er nie darüber sprach. Aber ich habe es gespürt.«

Mitfühlend griff Jürgen nach ihrer Hand. Ich verstehe dich, sollte das heißen. Doch er sprach es nicht aus, weil er nichts gegen ihren verstorbenen Mann sagen wollte.

»Jürgen …« Sie hob den Blick und schaute ihn voll an. Sie wollte ihm etwas sagen, wagte es aber dann im letzten Moment doch nicht.

»Was ist?«, fragte er besorgt. »Dich bedrückt doch etwas. Ich sehe es dir an. Willst du nicht mit mir darüber sprechen? Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte sie leise.

»Also doch. Du hast einen Kummer. Dann musst du dich mir anvertrauen.« Er redete so lange auf sie ein, bis sie schließlich nachgab und ihm einen Brief zeigte, den sie von Gut Riederau bekommen hatte. »Bitte, lies.«

»Ein Brief von deinem Rechtsanwalt?«, fragte Jürgen überrascht.

»Er ist zwar Rechtsanwalt«, sagte Jutta, »aber für mich ist dieser Mann ein alter Freund. Eigentlich ein Freund meines verstorbenen Mannes. Seit dessen Tod berät er mich in allen Vermögensfragen.«

»Dann hättest du ihn aber viel öfter konsultieren sollen«, sagte Jürgen, nachdem er das Schreiben gelesen hatte. »So, wie er die Verhältnisse schildert, steht es sehr schlecht um dein Gut. Dein Verwalter muss es in Grund und Boden gewirtschaftet haben. Auf jeden Fall kann ich das hier zwischen den Zeilen lesen.«

Jutta nickte. »Genauso ist es auch gemeint.« Und dann schilderte sie Jürgen ihre Schwierigkeiten mit Fritz Lüscher. »Er hat immer gemacht, was er wollte.«

»Aber warum hast du ihm das nicht verboten?«, fragte Jürgen verständnislos. »Schließlich gehört Riederau dir. Du bist die Besitzerin.«

Jutta seufzte. »Das stimmt. Aber ich konnte mich nie gegen ihn durchsetzen. Und zuletzt ging es mir schon so schlecht, dass mir einfach alles egal war. Ich ließ ihn wirtschaften, wie er wollte.«

Jürgen hörte ihr aufmerksam zu. Und je mehr Jutta ihm von Fritz Lüscher erzählte, umso verhasster wurde ihm dieser Mann.

Er malte sich aus, was dieser Verwalter jetzt allein auf Gut Riederau machen würde. Nämlich genau das, was er wollte.

»Da muss etwas geschehen«, sagte Jürgen laut.

Jutta schaute ihn fragend an.

»Was? So schnell komme ich nicht hier heraus. Und wenn noch ein paar Wochen vergehen, dann bleibt wahrscheinlich nichts mehr von meinem Gut übrig.« Ihre Stimme klang traurig und hatte einen Anflug von Verzweiflung.

Dieser Unterton bestärkte Jürgen in seinem Entschluss. »Wenn du willst, fahre ich für dich nach Gut Riederau und sehe nach dem Rechten«, bot er ihr an.

Juttas Augen wurden groß. »Das würdest du für mich tun?«

Er griff nach ihrer Hand. »Das bin ich meiner alten Freundin schuldig.«

»Aber hast du denn überhaupt so viel Zeit?«, fragte sie.

»Mach dir darüber keine Sorgen. Auch ein Arzt hat ein gewisses Maß an Freizeit. Du brauchst mich nur mit den nötigen Vollmachten auszustatten, dann fahre ich schon morgen nach Riederau.«

Jutta nickte. Plötzlich fühlte sie sich ungeheuer erleichtert. Sie bevollmächtigte Jürgen, in ihrem Namen zu handeln. »Tu das, was du für richtig hältst. Ich bin mit allem einverstanden.«

Als Jürgen das Zimmer verließ, schaute sie ihm mit einem fast glücklichen Lächeln nach. Es ist schön, Freunde zu haben, dachte sie. Wirkliche Freunde, auf die man sich verlassen kann.

*

Jürgen hatte sich drei Tage freigenommen. Zuerst fuhr er zu Juttas Vermögensverwalter und ließ sich die Situation genau schildern. Dabei erfuhr er, dass es noch schlechter um das Gut stand, als er angenommen hatte. »Wie konnte es so weit kommen?«, fragte er den Anwalt.

»Ganz einfach. Frau Rauscher hat sich nach dem Tod ihres Mannes um nichts mehr gekümmert, weil sie dazu nicht mehr in der Lage war. Und das hat dieser Verwalter ausgenutzt. Ich habe einen Verdacht, den ich eigentlich nicht aussprechen dürfte, weil ich ihn nicht beweisen kann.«

»Ich bitte Sie trotzdem darum. Denn ich möchte der Sache auf den Grund gehen«, sagte Jürgen.

Der Anwalt nickte. »Also gut, Herr Dr. Werner. Meiner Meinung nach, hat dieser Fritz Lüscher in den letzten Jahren unterschlagen, was er nur konnte. Das ist auf so einem Gut sehr leicht möglich, wenn ihm niemand auf die Finger sieht.«

Jürgen atmete hörbar aus. »Bitte weiter«, bat er. »Sagen Sie mir alles, was Sie wissen oder auch nur vermuten.«

Der Anwalt kam dieser Aufforderung nur allzu gern nach. Seit Monaten hatte er mitansehen müssen, wie das schöne große Gut allmählich zugrunde ging. Er hatte dagegen nichts unternehmen können, weil er von Jutta nicht die nötigen Vollmachten besessen hatte. Aber dieser junge Arzt hatte die nötigen Ermächtigungen. Ihm konnte es gelingen, Riederau zu retten. Wenn das überhaupt noch möglich war.

»Vielleicht ist noch nicht alles verloren«, sagte der Anwalt abschließend.

»Vielleicht.« Jürgen erhob sich.

»Ich werde tun, was ich kann, um Frau Rauscher zu helfen. Und natürlich halte ich Sie über meine Schritte auf dem Laufenden.«

Jürgen reichte dem Rechtsanwalt die Hand. Anschließend fuhr er nach Riederau. Der Verwalter trat ihm entgegen, als sei er der Besitzer des Gutes. Er war Jürgen vom ersten Augenblick unsympathisch.

Jürgen stellte sich kurz vor und zeigte Lüscher dann die von Jutta unterschriebene Vollmacht. Wohl oder übel musste der Verwalter ihn ins Haus bitten. Er tat es widerwillig und sehr unhöflich. Doch das störte Jürgen nicht. Er hatte sich vorgenommen, der Sache auf den Grund zu gehen, und davon konnte ihn niemand und nichts abhalten. Am allerwenigsten dieser anmaßende Verwalter.

»Darf ich erfahren, wie lange Sie hierbleiben wollen?«, fragte Fritz Lüscher im Wohnzimmer.

»So lange, wie ich es für nötig halte«, antwortete Jürgen im gleichen Ton. Er nahm unaufgefordert Platz und verlangte die Buchführung zu sehen.

Jürgen hatte genau den richtigen Ton angeschlagen. Denn jetzt wurde Fritz Lüscher nervös. »Nach der Buchführung müssen Sie Frau Rauscher fragen.«

Ein eiskalter Blick traf den Verwalter. »Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass Sie dieses Gut verwalten?«

Fritz Lüscher nickte nur.

»Dann ist es traurig genug, dass ich Sie erst über Ihre Pflichten aufklären muss. Als Verwalter sind Sie verpflichtet, über sämtliche Ausgaben und Einnahmen Buch zu führen. Und zwar genauestens. Sonst machen Sie sich strafbar.«

Wütend ging Fritz Lüscher aus dem Zimmer. Gleich darauf kam er mit einem Buch zurück, das er Jürgen wortlos auf den Tisch knallte. »Darin steht alles. Mehr habe ich nicht.«

Jürgen vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Sie waren so unvollständig, dass man sie gar nicht als Buchführung bezeichnen konnte. »Ein Witz ist das.« Jürgen schob das Buch beiseite. Damit konnte er nichts anfangen. Diese Buchführung las sich wie das Übungsbuch eines Schülers. Einnahmen waren fast überhaupt keine eingetragen. Nur Ausgaben. Und zwischendurch fehlten ganze Wochen.

Nachdem Jürgen dieses Buch gesehen hatte, konnte er sich gut vorstellen, wo Juttas Geld geblieben war. Zorn packte ihn. Zorn auf diesen Betrüger, der sich Verwalter nannte. Doch bevor er etwas gegen Fritz Lüscher unternehmen konnte, musste er Beweise haben. Der erste Beweis war dieses Kontobuch.

Jürgen schloss das Buch in seinen Aktenkoffer ein. Dann unternahm er einen Rundgang durch das Gut. Jede Kleinigkeit prägte er sich ein. Zwei Tage lang ging er mit offenen und prüfenden Augen durch das Gut. Dann wusste er Bescheid. Das Ausmaß der Unterschlagungen war viel größer, als er anfangs geglaubt hatte. Fritz Lüscher musste an Jutta ein kleines Vermögen verdient haben.

Aber nur einen Bruchteil dieser Betrügereien konnte Jürgen ihm nachweisen.

Am Morgen des dritten Tages schickte Jürgen das Hausmädchen in das Zimmer des Verwalters. »Sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn sprechen möchte.«

Das Mädchen kam zurück ins Wohnzimmer. »Ich habe es Herrn Lüscher ausgerichtet. Aber er kommt nicht.«

Jürgen sprang auf. Jetzt war seine Geduld zu Ende. Er suchte Fritz Lüscher zuerst in seinem Zimmer. Doch dort war er nicht mehr. Schließlich fand er ihn im Stall. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Aber ich nicht mit Ihnen«, antwortete der Verwalter frech.

Jürgen versuchte höflich zu bleiben, obwohl ihm das schwerfiel. »Ich ersuche Sie ein letztes Mal, mich ins Haus zu begleiten und meine Fragen zu beantworten.«

»Ich denke nicht daran.« Fritz Lüscher fuhr fort, ein Reitpferd zu satteln.

»Gut«, sagte Jürgen. »Wir können auch anders miteinander reden. Kraft meiner Vollmacht als Vertreter von Frau Rauscher entlasse ich Sie hiermit fristlos.«

Fritz Lüscher fiel das Pferdegeschirr aus der Hand. Sprachlos starrte er den Arzt an. Mit einer Entlassung hatte er nicht gerechnet.

»Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich mir das bieten lasse?«, fragte er schließlich und ging drohend auf Jürgen zu.

Der Arzt verlor jedoch keine Sekunde seine Beherrschung. »Wenn Sie nicht bis heute Abend das Gut verlassen haben, informiere ich die Polizei. Dann lasse ich Sie mit Gewalt von hier wegbringen. Außerdem mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich mir vorbehalte, Sie wegen Betrugs und Unterschlagung anzuzeigen.«

Fritz Lüscher schnappte nach Luft. Als er endlich wieder einigermaßen klar denken konnte, hatte Jürgen den Stall bereits verlassen. Er blieb den ganzen Nachmittag im Haus, um Fritz Lüscher zu beobachten.

»Wenn Sie nicht auf ihn aufpassen, dann stiehlt er noch in der letzten Stunde alles zusammen, was nur geht«, hatte die Köchin gesagt.

Deshalb blieb Jürgen im Wohnzimmer sitzen und wartete darauf, dass Fritz Lüscher das Gut verließ. »Sie werden noch von mir hören«, zischte der ehemalige Verwalter, als er mit einem kleinen Koffer aus dem Haus ging.

Jürgen nahm die Drohung nicht ernst. Er vergaß den Betrüger, der Jutta in so erhebliche finanzielle Verluste gestürzt hatte.

Der Gutsbetrieb musste weiterlaufen, wenn die Verluste nicht ins Uferlose steigen sollten. Deshalb fuhr Jürgen noch am gleichen Tag zu einem Mann, der einen Verwalterposten suchte. Dieser war nicht mehr jung, dafür aber verlässlich und erfahren. Jürgen hatte schon vor Lüschers Entlassung mit ihm gesprochen. Jetzt stellte er ihn als neuen Verwalter auf Gut Riederau ein.

Darüber freute sich am meisten die alte Köchin. »Endlich wird Ordnung hier einkehren«, sagte sie zu Jürgen. »Der Neue macht einen ordentlichen Eindruck. Das ist bestimmt kein zweiter Lüscher.«

Der Meinung war auch Jürgen. Er hatte sich den Mann genau angesehen, bevor er sich zu einer Einstellung entschlossen hatte. Das war er schließlich Jutta schuldig.

Jutta! Bei dem Gedanken an sie begann Jürgen zu lächeln. Er freute sich auf das Wiedersehen mit ihr und darauf, dass er ihr sagen konnte, dass ihre Angelegenheiten nun geregelt waren, dass sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Das würde ihre Genesung vorantreiben.

Diese Vorstellung machte Jürgen unglücklich, sosehr er sich auch dagegen wehrte. Langsam stieg er in seinen Wagen ein, der auf dem Gutshof vor dem Herrenhaus stand. Er hatte seinen Auftrag erledigt.

Vor der Haustür stand der neue Verwalter und winkte Jürgen nach. Heinz Hübner hieß der Mann. Er hat ein grundehrliches Gesicht, dachte Jürgen, während er zurückwinkte. Mit ihm habe ich einen guten Griff getan. Er wird Jutta nicht betrügen.

Damit waren seine Gedanken schon wieder bei Jutta. Und sie blieben bei ihr während der ganzen Fahrt.

Als Jürgen das Krankenhaus in Stuttgart endlich erreichte, war es schon später Abend. Trotzdem wollte er noch mit Jutta sprechen. Er musste sie ganz einfach sehen.

Die Nachtschwester schaute vorwurfsvoll auf die Uhr. »Wissen Sie, wie spät es ist, Herr Doktor?«

»Ich weiß es. Kurz vor zehn. Die Nachtruhe der Patienten hat schon begonnen. Aber ich glaube kaum, dass Frau Rauscher schon schläft. Sie wartet bestimmt auf eine Nachricht von mir.«

Über die Art, wie er das sagte, musste die Schwester lächeln. »Ich glaube, Sie könnten sogar den Teufel überreden, Sie in den Himmel zu begleiten«, sagte sie zu Jürgen.

»Das käme auf einen Versuch an.« Schmunzelnd ging er zu Juttas Zimmer.

Jutta schlief noch nicht. Hellwach lag sie in ihrem Bett und fragte sich, wann Jürgen wohl zurückkommen würde – und mit welchen Nachrichten.

Da öffnete sich leise die Tür. Jutta dachte, es sei die Schwester. Nur langsam wandte sie den Kopf. Als sie Jürgen sah, richtete sie sich abrupt auf. »Jürgen!«

»Nicht so laut«, mahnte er. »Und bleib vor allem liegen.« Er drückte sie zurück in die Kissen und setzte sich an ihr Bett. »Wie geht es dir?«, fragte er zärtlich.

»Besser.«

»Das freut mich.« Er erzählte ihr nun von seinem Besuch in Riederau. Dabei hielt er ihre Hände. So spürte er jede Regung, die von ihr ausging. Als er von Lüschers Entlassung sprach, lehnte sie sich erleichtert zurück in die Kissen. »Gott sei Dank«, flüsterte sie. »Dieser Verwalter war ein Albtraum für mich. Er war respektlos und anzüglich.«

Jürgen nickte. »Jetzt hast du einen Verwalter, auf den du dich verlassen kannst. Für diesen Mann verbürge ich mich.«

Sie schaute zu ihm auf. »Wie kann ich dir nur je für alles danken, Jürgen?«

»Indem du möglichst schnell gesund wirst«, antwortete er spontan.

Sie schaute ihn fast enttäuscht an. »Ist das alles? Mehr verlangst du nicht?«

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hätte zwar gern mehr verlangt, wagte es aber nicht. Und so blieb es bei dieser vagen Andeutung gegenseitiger Sympathie.

*

Es war nur ein paar Tage nach Jürgens Besuch auf Riederau. Heinz Hübner, der neue Verwalter, hatte sich sehr schnell eingearbeitet. Er war überall beliebt. Nicht nur bei dem Personal des Gutes, auch bei den Nachbarn. Deshalb kam man ihm entgegen und half ihm, wo es nur ging.

Um über alles genau Buch zu führen, saß er in den ersten Tagen bis spät in die Nacht hinein in seinem Zimmer über seinen Aufzeichnungen.

Es war am sechsten Abend seines Aufenthaltes. Da glaubte er, vor dem Haus verdächtige Geräusche gehört zu haben. Sie waren von der Scheune gekommen.

Das Licht hatte Heinz Hübner kurz zuvor gelöscht. Er war gerade im Begriff gewesen, zu Bett zu gehen, als er dieses seltsame Schlurfen auf dem Gutshof gehört hatte.

Jetzt trat der Verwalter zu dem geöffneten Fenster und spähte hinaus. Aber er konnte nicht viel sehen. Mond und Sterne waren von Wolken verdeckt. Der Gutshof und die Stallungen lagen im Dunkeln.

Wahrscheinlich war es eine Katze, sagte Heinz Hübner sich. Schon wollte er zu Bett gehen, da hörte er das Geräusch ein zweites Mal. Diesmal länger und deutlicher. Das ist keine Katze, erkannte er und trat wieder zum Fenster.

Minutenlang starrte er in die undurchdringliche Dunkelheit. Doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Also trat er wieder zurück ins Zimmer und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

Doch plötzlich, einer ganz impulsiven Eingebung folgend, knöpfte er es wieder zu. Er nahm seine Jacke und verließ das Zimmer. Im Dunkeln ging er die Treppe hinunter. Er tastete sich vorsichtig durch die Halle und sperrte leise die Haustür auf. Auf der Freitreppe verharrte er einige Augenblicke regungslos. Doch jetzt war nichts mehr zu hören.

Trotzdem ging der Verwalter weiter. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Entweder hatte er nur geträumt – oder bei der Scheune hatte sich tatsächlich etwas bewegt und diese seltsamen Geräusche verursacht. Das konnte natürlich auch ein Tier gewesen sein.

Heinz Hübner überquerte den Hof, ohne seine Taschenlampe zu benutzen. Wenn Diebe hier herumschleichen, dürfen sie mich nicht sehen, dachte er. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, denn die Nacht war stockfinster. Zwischendurch blieb er mehrmals lauschend stehen. Aber er hörte nichts mehr.

Vermutlich ist es doch nur ein Tier, das da herumschleicht, sagte er sich. Aber gerade in diesem Moment hörte er Töne, die unmöglich von einem Tier stammen konnten. Menschliche Stimmen waren es, die halblaut miteinander sprachen.

Der Verwalter rührte sich nicht. Er lauschte nur in die Richtung, aus der die Wortfetzen zu ihm herüberflogen. Verstehen konnte er nichts. Nur ausmachen, dass die Laute von der Scheune kamen. Also schlich er dorthin. Welches menschenscheue Gesindel trieb sich hier mitten in der Nacht herum? Das konnte doch nichts Gutes bedeuten. Dass es niemand vom Personal war, wusste er. Alle schliefen bereits.

Als der Verwalter zehn Meter von der Scheune entfernt stand, konnte er zwei dunkle Gestalten ausmachen. Sie flüsterten miteinander. Dann trennten sie sich. Der eine Mann lief rechts um die Scheune herum, der andere wandte sich nach links.

Heinz Hübner folgte dem rechten. Was treiben diese Gestalten hier bloß?, fragte er sich dabei. Wollen sie etwas stehlen? Aber was? Doch kein Heu? Dazu hätten sie einen Lastwagen gebraucht. Und Pferde standen in der Scheune nicht.

Der Verwalter konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dieses nächtliche Treiben zu bedeuten hatte. Aber sicher nichts Gutes. So viel stand fest.

Ganz plötzlich wusste Heinz Hübner jedoch, was da vorging. Er roch es und rannte, wie von tausend Teufeln gejagt, zurück zum Gutshaus. Dort telefonierte er mit der Polizei und der Feuerwehr. Dann holte er sein Gewehr und stürmte damit aus dem Haus.

Von außen wirkte die Scheune völlig normal.

Doch als Hübner die Tür aufstieß, quoll ihm eine konzentrierte Rauchwolke entgegen. Nur schemenhaft konnte er in diesem Qualm die Umrisse zweier Gestalten erkennen.

»Halt! Stehen bleiben und Hände hoch«, schrie er im Befehlston und schoss vorsichtshalber einen Warnschuss in das Dach der Scheune.

Das brachte die beiden Brandstifter augenblicklich zum Stehen. Nur einen Meter vor Hübner. »Keine Bewegung«, warnte dieser. »Diesmal schieße ich nicht nur in die Luft, sondern ziele auf eure Brust.«

»Das bringt Sie ins Gefängnis«, zischte der eine Mann.

»Ganz und gar nicht. Kein Gericht wird mich verurteilen, wenn ich einen Brandstifter erschieße«, knurrte Hübner. Seine Stimme klang dabei gefährlich.

Das schüchterte die beiden Verbrecher ein. Und die Waffe in der Hand des Verwalters tat ein Übriges. Die Brandstifter wagten es nicht davonzulaufen. Fast sieben Minuten hielt der Verwalter sie in Schach.

Dann hörte er von der Straße her die Sirene der Feuerwehr und gleich anschließend die Funkstreife.

Dann ging alles blitzschnell. Im Nu trugen die beiden Verbrecher Handschellen. Der beginnende Brand konnte gelöscht werden.

Der Hauptmann der Feuerwehr gratulierte dem Verwalter. »Wenn Sie uns nicht sofort angerufen hätten, wäre jede Hilfe zu spät gekommen. Dann wäre die Scheune abgebrannt.«

Die Köchin putzte sich geräuschvoll und voller Rührung die Nase. »Nicht auszudenken, wenn die ganze Scheune abgebrannt wäre«, murmelte sie.

Ein Polizist betrat die Halle und wandte sich an den Verwalter. »Kennen Sie die beiden Brandstifter, Herr Hübner?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie ja noch gar nicht richtig gesehen. In der qualmenden Scheune konnte ich keine Gesichtszüge unterscheiden.«

»Dann kommen Sie doch bitte mit«, bat der Beamte und begleitete Hübner vors Haus.

Ein greller Scheinwerfer beleuchtete den ganzen Hof. In dessen Mitte standen die beiden Brandstifter in Handschellen neben dem Polizeiwagen.

Heinz Hübner stieß einen überraschten Schrei aus. »Natürlich kenne ich den einen. Das ist Fritz Lüscher, mein Vorgänger.«

»Und der andere heißt Hermann Übler«, sagte die Köchin. Sie erzählte den Polizisten alles, was sie über Lüscher und Übler wusste.

»Bitte, kommen Sie morgen aufs Revier«, bat der Beamte. »Wir müssen das alles zu Protokoll nehmen.«

Dann verließ der Polizeiwagen mit den beiden Brandstiftern den Hof. Die Feuerwehrleute blieben, bis in der Scheune keine Brandgefahr mehr bestand.

Erst als auch sie abgerückt waren, bemerkte Heinz Hübner die Nachbarn. Sie hatten die Feuerwehr und Funkstreife gehört und waren mit dem Auto hergekommen, um zu helfen.

Der Verwalter lud alle zu einem nächtlichen Umtrunk ein. Auch das Personal. »Frau Rauscher würde bestimmt nichts dagegen haben«, sagte er zur Köchin.

»Im Gegenteil. Immerhin haben Sie durch Ihr rasches Eingreifen die Scheune vor einem Großbrand bewahrt – und Frau Rauscher vor beträchtlichem Schaden.«

»Und ob«, mischte sich ein Nachbar ein.

»Was glauben Sie, wie schnell das Feuer bei diesem Westwind auf das Herrenhaus übergegriffen hätte.«

Die Köchin erschrak. »Nicht auszudenken!«

Sie nahm sich, während sie in die Küche ging, um einen späten Imbiss vorzubereiten, vor, Jutta Rauscher alles ganz genau zu erzählen. Schließlich hatte der neue Verwalter das Gut gerettet und diesen betrügerischen Lüscher endlich dorthin gebracht, wo er hingehörte. Ins Gefängnis.

Bis spät in die Nacht hinein wurde auf Gut Riederau noch diskutiert. Sogar ein Reporter war dabei, der Bilder geschossen hatte und nun die Leute interviewte.

»Wird das morgen in der Zeitung stehen?«, fragte die Köchin.

»Auf jeden Fall. Sogar auf der Frontseite unseres kleinen Blattes«, sagte der Reporter. Er verabschiedete sich danach rasch, um seinen Bericht noch weiterzugeben.

*

Es stand zwar nicht am nächsten Tag in der Zeitung, dafür am übernächsten.

Feuer auf Gut Riederau, war in dicken Lettern auf der ersten Seite zu lesen. Darunter war ein Bild von der qualmenden Scheune.

»Haben Sie das gelesen, Herr Doktor?«, fragte die Oberschwester und zeigte Jürgen die Zeitung.

Jürgen las die Schlagzeile und erschrak. »Um Gottes willen!«

»Kein Grund zur Aufregung«, beruhigte die Schwester ihn schnell. Sie wusste, dass Jutta die Besitzerin von Gut Riederau war. »Es ist nichts passiert. Der Verwalter hat die Brandstifter gefasst und der Polizei übergeben.« Sie reichte Jürgen die Zeitung. »Bitte, lesen Sie selbst.«

Jürgen überflog den Artikel. Dann las er ihn noch einmal. Erst danach atmete er erleichtert auf. »Ich glaube, das können wir Frau Rauscher ruhig sagen. Schließlich ist ja nichts passiert.«

»Aber nur, weil sie einen so tüchtigen Verwalter hat«, sagte die Schwester. Sie wusste ja nicht, dass Jürgen diesen Verwalter eingestellt hatte.

Der Arzt schmunzelte und nickte. »Kann ich die Zeitung behalten?«, bat er dann. »Ich möchte sie gern Frau Rauscher zeigen.«

Die Schwester nickte. »Deswegen habe ich sie Ihnen ja gebracht.«

Jürgen betrat Juttas Zimmer und sah an ihrem Gesicht, dass sie schon informiert war.

Impulsiv streckte sie ihm beide Arme entgegen. »Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin, Jürgen.«

»Mir?«, fragte er überrascht. »Deinem Verwalter musst du dankbar sein. Er hat die Schurken gefasst.«

»Stimmt. Aber du hast den Verwalter eingestellt.«

Jürgen wehrte den Dank ab. Er deutete auf die Zeitung, die neben ihrem Bett lag. »Woher hast du sie?«

»Von einer Patientin. Sie weiß nur, dass mir Riederau gehört. Mehr nicht.« Jutta klopfte entrüstet auf die Zeitung. »Wenn ich mir vorstelle, dass dieser Lüscher mich die ganze Zeit betrogen hat und dann auch noch meine Scheune anzündet!«

»Reg dich nicht auf«, bat Jürgen. »Er bekommt das, was ihm zusteht. Nämlich Gefängnis. Bei Brandstiftung greift die Polizei scharf durch.«

Jutta lehnte sich zurück. »Wenn du mir nicht geholfen hättest, würde dieser Verbrecher jetzt noch immer als Verwalter auf meinem Gut sitzen.« Sie schaute Jürgen direkt in die Augen.

Ihr Blick ging ihm durch und durch. Ich würde gern noch viel mehr für dich tun, dachte er.

Da fragte sie: »Woran denkst du, Jürgen?«

Er schüttelte den Kopf. »An nichts«, sagte er. Aber er dachte daran, dass sie erst einmal gesund werden musste. Das war am wichtigsten. Alles andere war Nebensache.

*

Jutta wurde auch gesund. Sogar schneller, als Jürgen erwartet hatte. Noch bevor er es erlaubte, stand sie auf und ging an einem sonnigen Spätaugusttag im Krankenhausgarten spazieren. Sie fühlte sich so unbeschwert und froh wie schon lange nicht mehr. Die quälenden Schmerzen hatten sie endgültig verlassen. Deshalb kam sie sich wie neugeboren vor. Dazu kam noch die Erleichterung darüber, dass in Riederau alles in Ordnung war. Das verdanke ich einzig und allein Jürgen, dachte sie.

Bei dem Gedanken an ihn verklärte sich Juttas Gesicht. Auf ihn kann man sich verlassen, dachte sie. Er ist ein echter Freund.

Plötzlich blieb Jutta stehen und zerpflückte nachdenklich ein Blatt in ihrer Hand. Eine Frage war in ihr aufgetaucht. Eine Frage, die nur er beantworten konnte.

Im gleichen Moment, als Jutta das dachte, hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um. Vor ihr stand Jürgen.

»Jutta, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stieß er atemlos hervor. »Ich habe dir noch gar nicht erlaubt, aufzustehen. Und du läufst hier allein im Garten herum. Mein Gott, Jutta! Was dabei passieren kann!« Schützend legte er seinen rechten Arm um sie.

»Hast du Angst um mich, Jürgen?«, fragte sie leise und lehnte sich dabei an ihn.

»Ja«, sagte er rau. »Ich habe Angst um dich. Wie leicht kannst du einen Rückfall bekommen.«

Da löste sie sich abrupt aus seinen Armen. »Als Arzt hast du Bedenken, und ich dachte …« Sie brach ab.

»Was dachtest du?«, drängte Jürgen.

Sie schüttelte jedoch nur störrisch den Kopf. »Nichts. Ich verstehe dich. Wenn ich einen Rückfall bekäme, würde man dich zur Verantwortung ziehen.«

»Natürlich würde man das. Aber daran habe ich jetzt nicht gedacht. Ich habe mich nur um dich gesorgt. Versprich mir, dass du nicht wieder allein im Garten herumläufst.«

»Aber ich möchte ab und zu gern an die frische Luft. Außerdem geht es mir wirklich schon gut.« Trotzdem stützte sie sich jetzt auf seinen Arm.

»Was für ein kleiner Trotzkopf du doch bist«, sagte er zärtlich. »Genau wie früher. Das, was du dir in den Kopf gesetzt hattest, das musstest du auch tun.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach sie ihm neckend, obwohl sie genau wusste, dass er recht hatte.

»O doch, meine Liebe.« Er führte sie zur nächsten Bank.

»Hast du so viel Zeit, dass du hier mit einer Patientin im Garten sitzen kannst?«, fragte Jutta schelmisch, während sie sich setzten.

»Ich glaube, du bist tatsächlich schon fast gesund«, erwiderte er lachend. Dann fuhr er ernst fort: »Auch ein Arzt hat ein gewisses Recht auf Freizeit.«

»Ach so. Dann bist du also jetzt nicht im Dienst?«

»Nein.« Sein Blick ließ sie nicht los. »Und als Privatperson kann ich mir einiges erlauben, was ich als Arzt nicht dürfte.«

»Zum Beispiel?«

Statt einer Antwort beugte er sich über sie und küsste sie auf die Schläfe.

»War das so schlimm?«, fragte er leise.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber alle können uns sehen. Sämtliche Patienten, die zum Fenster herausschauen.«

»Deshalb habe ich dich ja auch nur auf die Schläfe geküsst.«

Sie wagte nicht zu fragen, was er sonst getan hätte. Aber eigentlich war das ja klar. Trotzdem wurde sie nicht ganz klug aus ihm. Flirtete er mit ihr aus einer Laune heraus? So, wie er es früher oft getan hatte? Oder machte er sich gar über sie lustig? Sie schaute zu ihm auf. In seinen Augen glitzerte der Schalk.

»Ich werde einfach nicht klug aus dir«, sagte sie und stand auf. Deshalb konnte sie nicht mehr sehen, dass sein Blick plötzlich ernst geworden war.

»Ist das so schwierig?«, fragte er, während er langsam mit ihr zurückging.

Jutta beantwortete seine Frage jedoch nicht. Zwei junge Schwestern kamen ihnen entgegen. Sie musterten Jutta mit eifersüchtigen Blicken. Doch Jürgen sah das gar nicht. Er sah auch nicht den koketten Augenaufschlag, den die eine nur für ihn in Szene setzte.

Jutta registrierte den Blick jedoch. »Du scheinst sehr beliebt zu sein bei den Schwestern.«

Er nickte nur. »Ich komme gut mit ihnen zurecht.«

»Und was tust du dagegen, dass sie dich anhimmeln?«

Er musste lachen. »Gar nichts. Aber ich tue auch nichts dafür.«

Er drehte sich nach den beiden Schwestern um, die jetzt auf der Bank saßen, auf der er eben noch mit Jutta gesessen hatte.

»Hast du das gesehen?«, ereiferte sich die eine Schwester, während sie ihren Fruchtjoghurt löffelte.

»Was? Dass sich die Rauscher bei Dr. Werner untergehakt hat? Natürlich habe ich das gesehen. Angeblich kennt er sie von früher. Das hat mir die Patientin von Nummer Acht erzählt.«

»Ich möchte gern wissen, ob er in sie verliebt ist.«

»Glaub ich nicht.«

»Warum ist er dann dauernd in ihrem Zimmer? Und warum geht er sogar in seiner Mittagspause mit ihr spazieren?«

»Keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht.«

»Lüg nicht. Du bist doch genauso in ihn verknallt wie wir alle.«

»Ja. Und ich weiß genau, dass wir alle überhaupt keine Chance bei ihm haben – und wenn du noch so kokett mit den Wimpern klimperst.«

Solche Gespräche fanden unter den jüngeren Schwestern des Krankenhauses fast täglich statt. Jürgen war ein gut aussehender und noch verhältnismäßig junger Arzt. Und vor allem, er war noch ledig. So etwas regte die Fantasie der Mädchen an. Außerdem war er immer charmant und höflich. Damit nährte er so manche geheime Hoffnung.

*

Über seine Gefühle für Jutta hatte Jürgen sich bis zu diesem Nachmittag keine ernsthaften Gedanken gemacht. Er hatte ihr einfach geholfen. So, wie er es früher immer getan hatte. Und genauso wie damals, hatte er seine Gefühle beiseite geschoben. Bis zu diesem Nachmittag. Doch nach dem Spaziergang mit Jutta saß er allein in seinem Zimmer und dachte nach.

Konnte es sein, dass er sich in Jutta verliebt hatte? Nach all den Jahren? Als junger Student hatte er sie angehimmelt. Doch damals hatte sie ihn als Mann gar nicht beachtet. Und heute? »Ich weiß es nicht«, stöhnte er. »Ich werde einfach nicht klug aus ihr.« Aber schließlich bin ich kein unbeholfener junger Student mehr, sagte er sich. Ich kann sie ja einfach fragen. Aber vorher muss ich mir immerhin über meine eigenen Gefühle im Klaren sein.

Ein Anruf der Ambulanz unterbrach Jürgens Gedanken. Ein neuer Fall war eingeliefert worden. Jürgen wurde gebraucht. Für die nächsten zwei Stunden vergaß er Jutta.

Umso mehr dachte Jutta an ihn. Sie ging unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Ich benehme mich genauso, als hätte ich mich verliebt, dachte sie ärgerlich. Aber das ist doch nur Einbildung. Ich kenne Jürgen viel zu lange und zu gut, um mich jetzt noch in ihn verlieben zu können. Das hätte vor zehn Jahren passieren müssen. In acht oder zehn oder vierzehn Tagen werde ich das Krankenhaus verlassen und ihn niemals wiedersehen.

Bei dieser Vorstellung erschrak Jutta. Sie hörte nicht, dass die Schwester das Zimmer betrat.

»Hier ist Ihr Abendessen, Frau Rauscher.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»In den letzten Tagen haben Sie so schön gegessen«, sagte die ältere Schwester tadelnd.

»Ich weiß. Aber heute habe ich keinen Hunger.« Jutta schaute das Abendessen auf dem Tablett nicht einmal an.

»Und da wollen Sie entlassen werden?«, sagte die Schwester vorwurfsvoll. »Wenn Sie so wenig essen, wird der Herr Doktor den Termin bestimmt hinauszögern.«

Jutta horchte auf. »Heißt das, dass der Arzt den Termin schon festgelegt hat?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie den Herrn Doktor schon selbst fragen.« Beleidigt trug die Schwester das Tablett mit dem Essen wieder hinaus.

Nachdenklich blieb Jutta zurück. Warum hat mir Jürgen davon nichts gesagt?, fragte sie sich. Sie war plötzlich so unruhig, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn zu sehen und ihn danach zu fragen. Er wird ja heute Abend bestimmt noch einmal zu mir hereinschauen, sagte sie sich. So, wie er es in der letzten Zeit immer getan hat.

Also wartete Jutta. Aber Jürgen kam diesmal nicht. Die Schwestern bereiteten die Kranken für die Nacht vor, und Jürgen war nicht da gewesen.

Jutta sah den Arzt erst wieder am nächsten Morgen, als er mit dem Oberarzt zur Visite kam. Aber dabei blieb keine Zeit zu einem persönlichen Gespräch. Jutta konnte den Oberarzt nur nach dem Entlassungstermin fragen.

Er gab ihr keine präzise Antwort auf die Frage. »Wir werden sehen, wie Sie sich in den nächsten Tagen fühlen«, sagte er nur.

»Ich fühle mich jetzt schon gut«, antwortete Jutta eigensinnig.

Damit entlockte sie dem Oberarzt ein nachsichtiges Lächeln. »Alle Patienten, die uns verlassen wollen, behaupten das.«

Kaum war die Visite vorüber, kam Jürgen allein zurück. »Was soll das, Jutta? Wieso fragst du den Oberarzt nach deinem Entlassungstermin? Kannst du das nicht mit mir besprechen?«

Jürgen spürte, wie gereizt sie war und setzte sich zu ihr. »Bitte, versteh mich richtig, Jutta. Ich will doch nichts vor dir verheimlichen. Natürlich habe ich mit der Oberschwester über deinen Entlassungstermin gesprochen.«

»Du bist also der Meinung, dass ich entlassen werden kann, und wagst es mir nicht zu sagen?«, fragte Jutta fassungslos.

»Du bist gesund. Ich könnte es verantworten, dich zu entlassen. Aber …« Er brach ab und schaute sie an.

»Aber was?«, fragte sie leise.

»Ich möchte dich noch nicht gehen lassen, Jutta. Ich sorge mich um dich.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich habe dir Unrecht getan«, brachte sie schließlich hervor.

»Das macht nichts, solange du mir nicht böse bist.« Er stand auf. »Ich muss leider gleich wieder gehen. Heute Nachmittag habe ich mehr Zeit. Ändere bitte bis dahin nicht gleich wieder deine Meinung«, fügte er neckend hinzu.

Sie schüttelte den Kopf und schaute ihm nach, als er zur Tür ging. Der Rest des Tages bestand dann für sie nur noch aus Warten. Warten auf den Nachmittag und auf Jürgen.

Doch es wurde fünf, bis er endlich ins Zimmer trat. Gleichzeitig mit ihm kam die Schwester, die das Abendessen servierte. Es war eine der beiden jungen Lernschwestern, die ihnen am Vormittag im Park begegnet waren. Jürgen hielt ihr galant die Tür auf. Und die Schwester bedankte sich dafür mit einem koketten Augenaufschlag.

Schon regte sich wieder Eifersucht in Jutta. Doch Jürgen ließ ihr keine Zeit dazu. Er setzte sich zu ihr aufs Bett und griff nach ihren Händen. Dass die Schwester zusah, störte ihn nicht. »Wenn du willst, entlasse ich dich nächste Woche«, begann er.

Jutta schaute ihn überrascht an. »Wirklich?«

»Du scheinst dich darüber zu freuen«, sagte er leise.

Jutta wartete, bis die Schwester das Zimmer wieder verlassen hatte. Erst dann antwortete sie. »Jeder Patient freut sich, wenn er entlassen wird, stimmt’s?«

Das musste er zugeben. »Aber nicht jede Patientin hat schließlich einen alten Freund zum Arzt, der sich noch dazu in sie verliebt hat.«

»Verliebt …?« Jutta hielt unwillkürlich die Luft an. Doch als Jürgen sich zu ihr hinabbeugte, streckte sie ihm beide Arme entgegen. Sie glaubte schon seinen Atem an ihrer Wange zu spüren, doch da ging prompt wieder die Tür auf. Erschrocken fuhren sie auseinander.

Es war die Schwester, die den Abendrundgang machte. Sie holte das Thermometer und fühlte Juttas Puls. »Alles in Ordnung, Herr Doktor«, meldete sie dann.

Jürgen nickte. »Ich habe nichts anderes erwartet. Ich glaube, wir können die Patientin sogar schon früher entlassen«, sagte er zu Jutta.

Da wurden ihre Augen groß und rund und wirkten fast schwarz. »Vorhin hast du behauptet, du willst mich möglichst lange hierbehalten«, warf sie ihm vor, sobald sie wieder mit ihm allein war. »Und jetzt kannst du mich gar nicht schnell genug loswerden!«

»Begreifst du denn nicht, warum?« Er setzte sich wieder zu ihr. Doch diesmal nahm er sie nicht in die Arme. »Ich möchte möglichst bald allein mit dir sein. Allein und ungestört. Denn ich habe dir sehr viel zu sagen.«

Juttas Puls begann schneller zu schlagen. Sie nickte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dabei hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als noch einmal seine Nähe zu spüren. Aber sie wusste auch, dass das im Krankenhaus unmöglich war, dass jeden Augenblick wieder die Tür aufgehen und jemand hereinkommen konnte.

»Weißt du was?«, begann Jürgen. Seine Augen leuchteten plötzlich vor Begeisterung.

So glücklich habe ich ihn noch nie gesehen, dachte Jutta. Er muss verliebt sein. Und ich bin es auch. Ich bin in ihn verliebt. Das habe ich nie deutlicher gespürt als gerade jetzt.

Jutta tastete nach seinen Händen. »Was wolltest du mir sagen?«

»Ich habe einen Plan, wie wir schon an diesem Wochenende zusammen und allein sein könnten.«

»Wie?«, fragte sie atemlos.

»Ich entlasse dich schon am Freitag und nehme mir übers Wochenende frei. Dann kann ich dich selbst nach Riederau bringen.«

»Oh, Jürgen, das wäre einfach wundervoll!«, rief sie begeistert. Impulsiv lehnte sie sich an ihn. »Glaubst du, dass das gehen wird?«

»Warum denn nicht? Schließlich bin ich der Stationsarzt. Nur ich entscheide über deine Entlassung. Und nur ich bin dem Chefarzt gegenüber für dich verantwortlich. Du brauchst nichts anderes zu tun, als ja zu sagen.«

Er schaute ihr in die Augen. Rasch nickte sie. »Ja, Jürgen.«

Da küsste er sie schnell auf die Stirn und löste sich von ihr, denn er hatte auf dem Gang schon wieder Schritte gehört. Er warf ihr eine Kusshand zu und verließ das Krankenzimmer. Gleich darauf trat die Nachtschwester ein.

*

Die wenigen Tage bis zu ihrer Entlassung konnte Jutta kaum noch ertragen. Jürgen war in diesen Tagen sehr beschäftigt, sodass sie ihn nur bei den Visiten sah.

»Werde ich morgen auch wirklich entlassen?«, fragte sie am Donnerstag die Oberschwester. Bange wartete sie auf die Antwort.

»Aber natürlich. Der Herr Doktor hat die Entlassungspapiere schon ausgefüllt.«

Jutta atmete erleichtert auf. Es bedrückte sie nun nur noch die bange Frage, ob Jürgen sie auch wirklich nach Riederau begleiten würde. Oder hatte er es sich inzwischen wieder anders überlegt? Warum hatte er sich in den ganzen letzten Tagen kein einziges Mal bei ihr sehen lassen?

Jutta wartete ungeduldig auf den Abend. Spätestens da musste er doch kommen und ihr Bescheid sagen.

Aber es wurde fünf Uhr, und die Schwester servierte das Abendessen. Dann wurde es sechs. Als die Uhr sieben zeigte, glaubte Jutta nicht mehr an Jürgens Besuch. Sie nahm die Schlaftablette, die die Schwester ihr gebracht hatte, und löschte das Licht.

Jutta dämmerte gerade hinüber in die Bewusstlosigkeit des Schlafes, als sie ein Geräusch im Zimmer vernahm. Erschrocken fuhr sie auf. »Ist da jemand?«

»Allerdings.« Das Licht flammte auf. Vor ihr stand Jürgen. Er trug nicht mehr seinen weißen Arztmantel, sondern einen leichten Straßenanzug. »Entschuldige, dass ich so spät komme.«

»Ich habe überhaupt nicht mehr mit dir gerechnet.« Jutta richtete sich schlaftrunken auf.

»Bleib liegen«, bat er und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Ich hatte bis jetzt zu tun. Sonst wäre ich schon früher gekommen.«

»Hauptsache, du bist überhaupt gekommen«, murmelte sie. Dabei fielen ihr die Augen schon wieder zu.

Gerührt küsste er sie auf die Stirn. Dann auf den Mund. Aber nur ganz sacht. Denn er spürte, wie müde sie war.

»Werde ich morgen entlassen?«, fragte sie und öffnete mühsam wieder die Augen.

»Selbstverständlich«, sagte er lächelnd. »Um neun hole ich dich ab. Dann fahren wir los. Schlaf jetzt schön, damit du morgen bei Kräften bist.«

Mit einem glücklichen Lächeln schloss sie die Augen und war im nächsten Moment eingeschlafen.

Jürgen löschte leise das Licht und verließ das Krankenhaus. Draußen empfing ihn die milde Luft einer lauen Sommernacht. Pfeifend ging er zu seinem Auto, das in einer Seitenstraße unter hohen alten Kastanienbäumen stand. Morgen früh wird Jutta hier in meinen Wagen einsteigen. Dann werden wir losfahren, dachte er und spürte, wie ihn bei dieser Vorstellung ein warmes Glücksgefühl durchrieselte. Ich fange jetzt erst an zu leben, überlegte er. Zu leben und zu lieben. Noch nie habe ich mich so auf ein Wochenende gefreut.

Er stieg ein. Während des kurzen Weges zu seiner Wohnung sah er wieder Juttas schlaftrunkenes gelöstes Gesicht vor sich. Sie ist noch genauso schön wie vor zehn Jahren, dachte er, korrigierte sich aber gleich wieder. Eigentlich ist sie jetzt schöner, reifer und fraulicher. Gleich morgen werde ich sie fragen, ob sie mich heiraten will, nahm er sich vor. Aber wenn sie nun nein sagt? Dieser Gedanke erschreckte ihn so, dass seine fröhliche Stimmung schlagartig verflog. Ungeduldig, aber auch ängstlich erwartete er den nächsten Morgen. Was würde er ihm bringen? Das ersehnte Glück oder eine Enttäuschung?

*

Jutta machte an diesem Morgen besonders sorgfältig Toilette. Die tadelnden Blicke der Schwester übersah sie dabei. Ihr ging es einzig und allein um Jürgen. Ihm wollte sie gefallen. Wenn sie an die drei gemeinsamen Tage dachte, die vor ihnen lagen, hätte sie vor Glück singen können. Aber sie summte nur. Leise und glücklich. Und ihre Augen leuchteten so wie seit Jahren nicht mehr.

»Fertig?«, fragte da eine tiefe Stimme hinter ihr.

Jutta wirbelte herum. In der geöffneten Tür stand Jürgen. In einem offenen Sporthemd. Die Jacke trug er über der Schulter. Er wirkte sehr lässig mit dem geöffneten Hemd, aus dem ein Stück seiner gebräunten Brust herausschaute.

»Fertig«, antwortete Jutta strahlend. Sie trug ein leichtes Sommerkostüm und Schuhe mit hohen Absätzen. Darin wirkte sie nicht nur fraulich, sondern auch elegant.

Jürgen, der sie vorher nur immer in flachen Hausschuhen gesehen hatte, registrierte es mit einem bewundernden Blick. Er nahm ihren kleinen Koffer und ging voraus. Am Empfang wartete er, bis Jutta sich von den Schwestern verabschiedet hatte. Er amüsierte sich über die neidvollen Blicke der jungen Lernschwestern, als sie Jutta an Jürgens Arm das Krankenhaus verlassen sahen.

Strahlen der Morgensonne tröpfelten durch die Blätter der Kastanienbäume, als Jutta zu Jürgen ins Auto einstieg. Ich bin so glücklich, dachte sie und lächelte ihm zu.

Langsam lenkte Jürgen den Wagen aus der Stadt hinaus. Dabei sprach keiner der beiden. Erst auf der Landstraße griff Jürgen nach Juttas Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Wann willst du deine Tochter wieder zu dir holen?«, fragte er.

Damit hatte er die Frage angeschnitten, die auch Jutta stark beschäftigte. »Möglichst bald«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten, Angi wiederzusehen.«

»Ich möchte sie auch bald kennenlernen. Wenn du willst, fahren wir am Sonntag gemeinsam nach Sophienlust.«

Jutta nickte. »Sehr gern. Vielleicht kann ich Angi gleich mit nach Hause nehmen.«

Da warf er ihr einen besorgten Blick zu. »Nimm dir nicht gleich zu viel vor. Du wirst dich in den nächsten Wochen noch sehr schonen müssen.«

Sie nickte. »Ich weiß. Aber ich habe ja Personal auf dem Gut. Und vor allem einen Verwalter, auf den ich mich verlassen kann. Eigentlich mache ich mir keine Sorgen mehr um die Zukunft. Und Angi ist ja schon sehr vernünftig.«

»Gut, wir werden sehen«, sagte Jürgen. »Auf jeden Fall fahren wir am Sonntag nach Sophienlust. Willst du deine Tochter überraschen, oder rufst du vorher an?«

»Ich glaube, es ist besser, ich rufe an. Sonst sind die Kinder womöglich gar nicht da. Es könnte ja sein, dass sie gerade einen Ausflug machen.«

Sie sprachen nun über alles Mögliche, nur nicht über die eine Frage, die Jürgen so sehr am Herzen lag. Aber darüber wollte er nicht während der Fahrt sprechen. Diese Frage wollte er sich für einen feierlicheren Moment aufheben.

Als sie in die Nähe von Riederau kamen, wurde Jutta ein wenig unruhig. Sie hatte ihre Ankunft telefonisch angekündigt, aber trotzdem überraschte es sie, dass das Personal geschlossen vor dem Herrenhaus stand und sie mit einem Blumenstrauß erwartete. »Herzlich willkommen zu Hause, Frau Rauscher«, sagte die Köchin und überreichte Jutta das kunstvolle Bukett.

Jutta bedankte sich herzlich und begrüßte dann den neuen Verwalter, den Jürgen ihr vorstellte. Nach der Begrüßung bedankte sie sich bei ihm für die Rettung des Gutes.

»Das war doch eine Selbstverständlichkeit«, wehrte Heinz Hübner bescheiden ab.

Aber Jutta dachte anders. »Ganz im Gegenteil. Mit Ihrem Eingreifen haben Sie Mut und Geistesgegenwart bewiesen. Ich werde mich dafür noch besonders erkenntlich zeigen.«

An Jürgens Arm betrat sie das Haus. Wohin sie auch sah, überall blitzte und glänzte es.

»Ihr habt wohl alles auf den Kopf gestellt?«, fragte sie lächelnd.

Die Köchin und das Hausmädchen nickten stolz.

Die Gardinen waren gewaschen, und in sämtlichen Vasen standen frische Schnittblumen. Dann hob Jutta schnuppernd die Nase. Es roch nach Sauerbraten, ihrem Lieblingsessen. Der Tisch im Esszimmer war auch schon gedeckt.

Gemeinsam mit dem Verwalter aßen sie zu Mittag. Anschließend wollte Jutta einen Rundgang machen. Doch Jürgen bestand darauf, dass sie sich hinlegte. »Wenigstens für zwei Stunden. Danach kannst du immer noch deine Runde machen. Ich begleite dich.«

»Also gut.« Seufzend stieg Jutta hinauf in ihr Schlafzimmer. Doch als sie dann im Bett lag, spürte sie, dass Jürgen recht gehabt hatte. Die Fahrt, die Begrüßung und das Mittagessen hatten sie doch angestrengt. Sie schlief sofort ein und wachte nach zweieinhalb Stunden erfrischt auf.

Es ist ein wunderbares Gefühl, wieder gesund zu sein, dachte Jutta. Und vor allem, keine Schmerzen mehr zu spüren. Der Gedanke, dass Jürgen da unten im Wohnzimmer saß und auf sie wartete, beflügelte sie beim Ankleiden. Sie zog eine leichte Bluse an und dazu ihre Reithose, obwohl sie genau wusste, dass sie sich einen Ausritt noch nicht zumuten konnte. Aber in der Reithose kam ihre schlanke, gut gewachsene Figur am besten zur Geltung. Sie wollte Jürgen doch gefallen, wollte hübsch und anziehend für ihn sein. Vielleicht würde er sich darin endlich dazu hinreißen lassen, über die Zukunft zu sprechen. Ich weiß schließlich noch immer nicht, woran ich mit ihm bin, dachte sie in einem plötzlichen Anflug von Unmut. Wie soll es mit uns weitergehen? Oder denkt er gar nicht an ein gemeinsames Leben?, fragte sie sich erschrocken. Will er mir nur helfen, in den Alltag zurückzufinden?

Nervös trat Jutta zu dem großen Spiegel und fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar. Dann eilte sie rasch die Treppe hinab.

Jürgen erwartete sie im Wohnzimmer. Seine Augen leuchteten auf, als er sie sah. »Du siehst aus, als wärst du nie krank gewesen«, sagte er und beugte sich galant über ihre Hand.

Jutta spürte ein leichtes Kribbeln unter der Haut. Burschikos nahm sie seinen Arm. »Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«

»Gern. Das kann ich verantworten.«

Sie schaute ihn fragend an. »Und was kannst du nicht verantworten?«

»Einen Ausritt«, kam es prompt zurück.

Sie schaute ihre Reithose an und musste lachen. »Nein, das habe ich auch nicht vor. Aber gestatte mir wenigstens, dass ich meinen Pferden guten Tag sage.«

Gemeinsam inspizierten sie den Hof und die Ställe. Dann wollte Jutta noch einen kurzen Gang über die nahen Wiesen machen. »Danach habe ich mich in all den Wochen im Krankenhaus gesehnt«, erklärte sie.

Er nahm sie bei der Hand. »Gut, spazieren wir durch Felder und Wiesen.«

Zwischen Rittersporn und Margariten und hohem Gras blieb Jutta stehen. »Auf dieser Wiese hat Angi die beiden Mädchen aus Sophienlust kennengelernt. Ich habe dir doch die Geschichte mit dem Schimmel erzählt?«

Jürgen nickte. Dann zog er Jutta in seine Arme. Ihr frisch gewaschenes Haar duftete verführerisch. »Wie sehen deine Pläne für die Zukunft aus, Jutta?«

Ihre Augen wurden groß, als sie zu ihm aufblickte. »Du fragst mich immer so entsetzlich nüchterne Dinge, Jürgen.«

»Na, hör mal, wenn das nüchtern ist!«, protestierte er.

»Natürlich ist das nüchtern. Es hört sich so an, als wolltest du ein Geschäft abschließen.«

Schmunzelnd hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn. »In gewisser Hinsicht ist auch eine Ehe ein Geschäft.«

»Was?« Sie trat zurück.

»Erschreckt dich das so sehr? Die Ehe ist ein Versprechen, das zwei Menschen auf Lebzeiten aneinander bindet – wenn sie es ernst meinen. Und ich meine es ernst.«

»Jürgen …« Jutta kam zögernd näher. »Könntest du das nicht ein klein wenig romantischer sagen?«

»Gut, Jutta. Selbst auf die Gefahr hin, dass du mich auslachst. Ich liebe dich. Ich liebe dich wahnsinnig. Und ich habe keinen sehnlicheren Wunsch, als dich zu heiraten.«

»Küss mich«, bat Jutta flüsternd. Sie schloss die Augen. Und als sie Jürgens Lippen spürte, vergaß sie die Welt, das Gut und die Wiese, in der sie standen. Nur die milden Strahlen der späten Nachmittagssonne durften ihr Glück bestaunen.

*

Zwei Tage später, am frühen Nachmittag, stieg Jutta vor dem Herrenhaus von Sophienlust aus Jürgens Wagen.

Fast gleichzeitig sprang Angi die Freitreppe herab. »Mutti! Mutti!« Sie breitete die Arme aus und lief auf Jutta zu. »Du warst so lange weg«, flüsterte sie in den Armen der Mutter. »Bist du jetzt wieder ganz gesund?«

»Ja«, sagte Jutta und strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Angi schaute auf und entdeckte Jürgen. »Wer ist das, Mutti?«

»Das ist Onkel Jürgen. Er hat mir geholfen, wieder gesund zu werden.«

»Dann ist das der Onkel Doktor aus dem Krankenhaus?«, fragte Angi mit großen Augen.

Jürgen nickte und beugte sich zu der Kleinen hinab. »Bin ich. Guten Tag, Angi.«

Schüchtern streckte Angi ihm die Hand entgegen. Eigentlich sieht er ja ganz lieb aus, dachte sie dabei. »Warum hast du den Onkel Doktor mitgebracht, Mutti? Will er dich hinterher wieder ins Krankenhaus bringen?«

Jutta schüttelte lachend den Kopf. »Nein, er hat mich nach Hause gebracht.«

»Du bist wieder zu Hause?« Sehnsüchtig klammerte sich Angi an die Mutter. Plötzlich stellte sie es sich sehr schön vor, wieder zu Hause und bei der Mutter zu sein. »Nimmst du mich mit?«

Erleichtert nickte Jutta. Sie hatte schon befürchtet, Angi würde in Sophienlust bleiben wollen. »Wir sind nur hergekommen, um dich abzuholen.« Sie küsste Angis leicht gerötete Wangen.

Angi wurde nachdenklich. Plötzlich schaute sie misstrauisch zu Jürgen auf. »Ihr alle zwei?«, fragte sie.

Jutta nickte.

»Dann hast du den Onkel Doktor auch mit nach Hause genommen?«

Wieder nickte Jutta und schaute Jürgen an. Beide spürten, wie kritisch der Moment war. Jetzt mussten sie Angi sagen, dass sie heiraten wollten.

»Warum hast du ihn mitgenommen, Mutti? Willst du ihn behalten?«

Jürgen konnte nur mit Mühe das Lachen zurückhalten. Wie drollig sie ist, dachte er. Schon wusste er, dass er sie lieb hatte.

Jutta antwortete Angi ganz ernst.

»Ja, Angi. Onkel Jürgen und ich möchten für immer beisammen bleiben.«

»Bei uns zu Hause?«, fragte Angi erschrocken. Sie schaute Jürgen an. Aber sein Lächeln nahm ihr sofort wieder die Angst. So schlimm wie der Lüscher war dieser Onkel bestimmt nicht. Vielleicht konnte es sogar ganz lustig mit ihm werden. »Wird Onkel Jürgen dann unser neuer Verwalter, Mutti?«

Jutta stutzte, dann schaute sie Jürgen hilflos an.

Die drei waren inzwischen langsam durch den Park von Sophienlust spaziert und setzten sich nun auf eine Bank.

Jürgen erkannte, dass Jutta der Situation nicht ganz gewachsen war, und nahm die Sache in die Hand.

»Hör mir einmal gut zu, Angilein.« Er zog die Kleine auf seinen Schoß.

Das war für Angi ein ganz neues Gefühl. Aber kein unangenehmes. Sie betrachtete aufmerksam Jürgens Gesicht und stellte fest, dass er lustige Augen hatte.

»Ich möchte nicht der Verwalter deiner Mutti werden«, begann Jürgen vorsichtig – und verwirrte Angi damit noch mehr.

»Aber du hast doch gesagt, du willst bei uns bleiben«, warf sie ein. Nun hatte sie sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass er blieb. Würde es nun doch nicht so sein, würde ihr das leidtun.

»Das möchte ich ja auch«, bestätigte Jürgen. »Aber nicht als Verwalter, sondern als dein Vati.«

»Dann …, dann willst du meine Mutti heiraten?«, fragte Angi.

Jürgen nickte. Dann gab er Angi spontan einen Kuss. »Möchtest du mich nicht als Vati haben?«

Verlegen senkte Angi den Blick und betrachtete ihre Fingernägel. Dann nickte sie und wurde rot dabei. »Doch«, nuschelte sie. »Ich möchte schon gern wieder einen Vati haben.«

»Gott sei Dank.« Jutta seufzte erlöst auf und umarmte Jürgen und Angi gleichzeitig. Jetzt wird alles gut, dachte sie.

Angi überlegte angestrengt, ob sie ihrem neuen Vati wohl die Wange streicheln dürfte. So, wie sie es früher immer bei dem alten Vati getan hatte, an den sie sich eigentlich kaum noch erinnern konnte. Sie hob zaghaft die Hand und versuchte es. Erstaunt stellte sie fest, dass Jürgens Wange genauso stachelig war wie die ihres früheren Vatis. Das beruhigte sie und gab ihr seltsamerweise das Gefühl, geborgen zu sein. Deshalb störte es sie auch gar nicht, dass sich Jürgen zu Jutta vorbeugte und diese auf den Mund küsste. Hoffentlich vergisst er mich nicht, dachte sie nur. Aber da fühlte sie auch schon, wie Jürgen sie fest in die Arme nahm und ihr einen herzhaften Kuss gab.

*

Zwei Stunden später verabschiedete ganz Sophienlust die frisch gebackene Familie. Alle winkten, als Jürgen mit Jutta und Angi davonfuhr. Und Nick eskortierte den Wagen noch ein Stück mit seinem Schimmel.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, Pedro!« Angi beugte sich aus dem Wagenfenster und winkte mit beiden Armen.

Sophienlust Staffel 15 – Familienroman

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