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Оглавление[16][17]I. | Wozu Mediensoziologie? |
LEITENDE FRAGEN:
Was kann man unter Medien verstehen?
Warum soll sich die Soziologie für Medien interessieren?
Was kann man unter einem Medium verstehen? Auf diese Frage gibt es so viele Antworten, wie es theoretische Zugriffe auf Medien gibt. Die Kulturwissenschaften (wie etwa die Literaturwissenschaft), die eine lange medientheoretische Tradition aufweisen, beantworten die Frage anders als die Kommunikationswissenschaft. Letztere versteht unter Medien gemeinhin Massenmedien, womit die Beschreibung von Prozessen der Informationsvermittlung zwischen einem Sender und einem Empfänger gemeint ist. Die Kulturwissenschaft wiederum verfügt über einen sehr breiten Medienbegriff. Darunter fallen nicht nur Massenmedien, wie etwa Pressewesen, Fernsehen und Internet, sondern auch Kleidung, Technik oder Sprache, Schrift und Bilder. Diese Einführung in die Mediensoziologie will einen dezidiert soziologischen Zugang zum Thema vermitteln. Sie fragt also nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Medien: Wie wirken sich Medien auf soziale Prozesse aus? Verändern Medien soziale Praktiken?
In diesem ersten Kapitel wollen wir uns zunächst überlegen, was man unter einem Medium verstehen kann. Um dem näherzukommen, greifen wir auf die lange medientheoretische Tradition in den Kulturwissenschaften zurück. Denn dort kam die Rede vom sozialen Einfluss der Medien zum ersten Mal als wissenschaftliches Thema auf. In einem weiteren Schritt werden wir fragen, was an der kulturwissenschaftlichen Tradition der Medientheorie für die Soziologie von Interesse ist: Wozu brauchen wir überhaupt eine Mediensoziologie? Warum soll sich die Soziologie mit dem Gegenstand der Medien beschäftigen?
1. | Prägen Medien soziale Praktiken? |
Ausgangspunkt ist der Vorschlag, mediale Prozesse als Übertragungsverhältnisse (Krämer 2008) zu fassen, die bestimmte Phänomene sichtbar und erfahrbar machen. Dabei weisen Medien sowohl eine materiale als auch eine symbolische Seite auf. So sind etwa Mobiltelefone und Computer technische [18]Apparaturen, die aber auch als Medium fungieren können. Denn Medien vermitteln Informationen, die über Symbole hergestellt werden, also sprachliche Zeichen und Zahlen. Der Computer kann deshalb Medium sein, weil er mittels Schrift, Bild oder Ton symbolische Werte transportiert.
Abb.1: Materiale und symbolische Medien Foto: Gabi Blum
[19] Infobox
Mediale Prozesse sind Übertragungsverhältnisse, die soziale Phänomene erfahrbar und sichtbar machen. Medien weisen eine materiale und eine symbolische Seite auf.
Wie bereits erwähnt, finden sich die ersten Arbeiten, in denen Medien überhaupt zu einem eigenständigen Thema gemacht worden sind, in den Kulturwissenschaften. Die Medientheorie der Literaturwissenschaft befasste sich zunächst damit, dass die materiale Ausstattung des Mediums eine eigenständige Rolle für die Wirkung der übertragenen Information spielt. So hat zum Beispiel die materiale Ausstattung eines Buches mehr Bedeutung für die Veränderung von sozialen Praktiken als das, was darin zu lesen ist. Wenn ein Text als Buch erscheint, kann er massenhaft hergestellt und vertrieben und damit einem weitaus größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Der Autor eines Textes und seine Leser können sich auf veränderte Weise aufeinander beziehen. So war das Lesen von Texten vor der Erfindung des Buchdrucks allein einigen wenigen Gelehrten vorbehalten. Die vergleichsweise wenigen vorhandenen Schriftstücke galten als heilige Texte. Mithilfe des Buchdrucks konnten nicht nur mehr Menschen an den Inhalten teilhaben, Leser konnten auch selbst zu Autoren werden und die einstmals heiligen Texte in eigenen Veröffentlichungen kritisieren. In der Medientheorie der Kulturwissenschaften geht man deshalb davon aus, dass die Einführung des Buchdrucks die Entwicklung von demokratischen Tendenzen unterstützt hat. Weil es mittels Buchdruck zu einer massenhaften Verbreitung von Informationen und Texte kam, konnten sich Personen auf neuartige Weise verständigen und gemeinsame Inhalte formulieren. Es entwickelten sich bis dahin unbekannte soziale Praktiken. So entstanden im 18. Jahrhundert zahlreiche Lesegesellschaften und Lesesalons, in denen man sich über das von allen Gelesene ausgetauscht und unterhalten hat. Zudem führte die Verbreitung von Büchern schließlich auch zu einer Alphabetisierung der Bevölkerung – immer mehr Personen waren des Lesens und Schreibens kundig.
Kurz: Medien übertragen nicht einfach nur Informationen, sondern schleichen sich in die Informationsvermittlung mit ein und verändern dabei die Formen der Wahrnehmung der übertragenen Informationen.
Man nennt diesen Zusammenhang auch die Generativität des Mediums. Generativität meint dabei einerseits, dass Medien Botschaften nicht einfach neutral übertragen, sondern Teil des Prozesses der Informationsvermittlung sind und die Botschaften auf spezifische Weise prägen. Medien sind [20]also keine neutralen Vermittler, sondern Prägeinstanzen, sie fügen ihren Botschaften etwas hinzu. Gleichzeitig heißt Generativität auch, dass soziale Veränderungen auf Medienwechsel zurückgeführt werden. Dahinter steht die These von der Veränderung sozialer Praktiken, wenn ein (neues) Medium zum Einsatz kommt. Der Literaturwissenschaftler und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan hat diese These insbesondere im Zusammenhang mit der Einführung des Buchdrucks diskutiert (s. a. Kap. II.1).
Übungsvorschlag:
Versuchen Sie einmal, einen Tag lang auf die Nutzung von Medien zu verzichten. Benutzen Sie weder Mobiltelefon noch Computer, öffnen Sie keine Briefe, schreiben Sie keine E-Mails und SMS. Sie werden beobachten können, welchen Einfluss Medien auf unsere täglichen Alltagspraktiken haben (können). Auch andere haben sich schon dieser Entzugspraxis ausgesetzt. So verabschiedete sich der Journalist Christoph Koch für 58 Tage von seinem Mobiltelefon und dem Internet, um hautnah zu erfahren, wie es sich ohne neue Medien leben lässt und schrieb darüber einen Erfahrungsbericht (Koch 2010). Seine Reaktion auf den Wiedereinstieg ins Internet nach gut zwei Monaten: »Ich fühle mich wie ein Junkie, der nach langem Leiden, nach einem Cold-Turkey-Entzug mit Blut, Schweiß und Tränen endlich wieder zurück in die Arme seiner Droge flieht.« (Koch 2010, S. 5)
Wir werden auf den folgenden Seiten immer wieder auf die beiden Thesen, die die Generativität des Mediums ausdrücken, zurückkommen. Jetzt soll es zunächst noch einmal um die Tradition gehen.
2. | Harold A. Innis: Medientheorie der Kulturwissenschaft |
Worauf bezieht man sich, wenn man von der Medientheorie der Kulturwissenschaften spricht? Zunächst taucht hier das Center of Culture and Technology an der Universität von Toronto in Kanada auf. Die frühe Medientheorie trägt deshalb auch das Label Toronto School oder Kanadische Schule. Dort versammelte sich eine Gruppe von – zum Teil auch nicht aus Kanada stammenden – Kultur- und Sozialanthropologen, Ethnologen, Literaturwissenschaftlern, Philologen und Historikern: Eric A. Havelock war Visiting Professor [21]bei McLuhan und arbeitete außerdem an der Yale University. Der im amerikanischen Missouri geborene Walter Ong studierte bei McLuhan. Jack Goody war Engländer und lehrte in Cambridge.
Eric A. Havelock gilt als ein wichtiger Vertreter der Toronto School. In seinem Werk Preface to Plato (1963) beschreibt er auf beeindruckende Weise, wie durch die Einführung der Schrift so etwas wie ein soziales Gedächtnis entsteht, weil Ereignisse und Vorkommnisse nun festgehalten – und gleichzeitig auch vergessen – werden können. Man ist von da an nicht mehr darauf angewiesen, dass sich jemand Ereignisse merkt und sich an sie erinnert oder dass sie nur durch mündliches Erzählen weitergegeben werden können. Den prominentesten Status der Kanadischen Schule haben sicherlich die Arbeiten von Marshall McLuhan. Seine These, dass das Medium die Botschaft sei (the Medium is the Message) verschaffte ihm ungeheure Popularität (siehe Kap. II.1). Deshalb werden die Arbeiten der Toronto School auch oftmals ihm allein zugerechnet. Zwar hat Marshall McLuhan mit seinen Werken The Gutenberg Galaxy und Understanding Media zwei große Werke vorgelegt, die sich mit dem Wandel von Gesellschaften durch den Einsatz von Medien befassen. Doch auch Jack Goody und Ian Watt trugen mit ihrer Studie Consequences of Literacy (1963) entscheidend dazu bei, eine Medientheorie zu etablieren. In ihrem Werk beschreiben sie, wie die Einführung der Schrift zur Ausbildung eines Verwaltungssystems im Ägypten der Frühzeit geführt hat.
Infobox:
Center of Culture and Technology, University of Toronto:
Harold A. Innis (1951): | The Bias of Communication |
Eric A. Havelock (1963): | Preface to Plato |
Marshall McLuhan (1962): | The Gutenberg Galaxy |
Marshall McLuhan (1964): | Understanding Media |
Jack Goody & Ian Watt (1963): | Consequences of Literacy |
Pionier der Medientheorie ist ohne Zweifel Harold A. Innis. Er war ein Wirtschaftshistoriker, der Politik, Sozialstruktur, Technik und die Wirkung von Medien zusammendachte. McLuhan, Goody und Watt haben mit ihren Beiträgen dazu beigetragen, Innis Werk in den 1960er- und 1970er-Jahren nachvollziehbar und bekannt zu machen. Medientheorie versteht sich seither auch als Zeitdiagnose, in deren Rahmen man Medienumbrüche und technische Entwicklungen als Taktgeber sozialer und kultureller Veränderungen ansieht. Ausgangspunkt für die Arbeiten von Harold A. Innis waren [22]seine wirtschaftshistorischen Forschungen über Eisenbahnnetze, Fischerei und Pelzhandel. Unter Medien verstand Innis insbesondere die materiellen Träger von Kommunikation wie Stein, Ton, Papyrus, Pergament und Papier oder Transport- und Schifffahrtswege. Er analysierte ihre formbildenden und verhaltenskonstituierenden Kräfte in Bezug auf gesellschaftliche Organisationsformen. So interessierte sich Innis etwa dafür, welchen Einfluss die Einführung veränderter Transportwege auf die Gesellschaft hatte. Die Übertragungswege von Kommunikationspraktiken stehen generell im Zentrum von Innis Arbeiten. Verändern sich diese, kommt es zu einem kulturellen Wandel. Dies analysiert Innis am Beispiel der Einführung der Schrift und des Buchdrucks.
Mediale Prozesse sind für Harold A. Innis Übertragungsprozesse mit einer materialen Basis. Diese materiale Basis schreibt sich in die Form der Wissensübertragung ein und verändert sie. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Wissenskulturen, die jeweils vom materialen Träger der Kommunikation abhängig sind. Innis bezeichnet diesen Umstand auch als Bias of Communication – so lautet jedenfalls der Titel seines 1951 erstmals erschienenen bekannten Hauptwerks. Er formuliert folgende These: »Wir können wohl davon ausgehen, dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt.« (Innis 1997, S. 96) Seine medientheoretische Perspektive impliziert aber auch eine Technikkritik, die sich vordringlich gegen Mechanisierung richtete. Jeder technische Fortschritt ruft laut Innis auch destruktive Kräfte hervor, hier ein von ihm gewähltes Beispiel: »Die überwältigenden Zwänge, die von der Mechanisierung ausgehen und sich bei den Zeitungen und Zeitschriften bemerkbar machen, haben gewaltige Kommunikationsmonopole entstehen lassen. Ihre tiefe Verwurzelung bringt eine anhaltende, systematische und rücksichtslose Zerstörung jener Grundbausteine des Fortbestandes mit sich, die so unerlässlich für das kulturelle Leben sind.« (Innis 1997, S. 204) Mechanisierung von Kommunikation führt also gemäß Innis zu Machtmonopolen. Genaueres dazu im folgenden Abschnitt.
2.1 | Kritik der mechanisierten Kommunikation |
Mediale und materiale Bedingungen der Kommunikation erweisen sich aus Innis’ Perspektive als entscheidend für die Etablierung, Verankerung, Durchsetzung und Verbreitung von Wissen. Dabei interessiert sich Innis, wie bereits erwähnt, vor allen Dingen für den Wandel, der unter dem Einfluss der Schrift und des Buchdrucks entstanden ist. Er hält in seinen Schriften an der ursprünglichen Bedeutung von Oralität, also Mündlichkeit, für soziale [23]Beziehungen fest. Unmittelbare Präsenz und die Nähe mündlicher Kommunikation gelten ihm als authentischere, wirklichere Form der Informationsübertragung: »Das mündliche Gespräch setzt persönlichen Kontakt und die Berücksichtigung der Gefühle anderer voraus, und es steht in krassem Gegensatz zu der grausamen mechanisierten Kommunikation und den Tendenzen, die wir in der heutigen Welt am Werke sehen (…). Ich möchte für die mündliche Tradition Partei ergreifen, besonders wie sie sich in der griechischen Zivilisation offenbart hat, und für die Möglichkeit, ihren Geist ein Stück wiederzubeleben.« (Innis 1997, S. 182 f.) Innis beschreibt eine zunehmende »Eskalation« der Verschriftlichung, an deren Ende die Mechanik des Buchdrucks entsteht. Dieser Entwicklungsprozess beinhaltet nicht nur die Entstehung und Veränderung von Wissen, sondern auch von Machtverhältnissen. Innis beobachtet in der zunehmenden Modernisierung von Übertragungswegen auch eine Monopolisierung von Wissen, woraus wiederum Machtverhältnisse entstehen. Als Beispiel verweist Innis auf die Einführung von Tontafeln in Altbabylonien. Gemäß ihm wurden diese Tontafeln von einer sich neu bildenden schreibenden Priesterklasse genutzt, die mit gesellschaftlicher Macht ausgestattet war: »Als Grundlage der Bildung unterstand die Schreibkunst der Kontrolle von Priestern, Schreibern, Lehrern und Richtern, so dass Allgemeinwissen und Rechtsentscheidungen religiös geprägt waren. Die Schreiber führten die umfangreichen Geschäftsbücher der Tempel und hielten die Beschlüsse der Priestergerichte in allen Einzelheiten fest. Mehr oder weniger jede Transaktion des täglichen Lebens war eine Rechtsangelegenheit, die aufgezeichnet und mit Hilfe der Siegel der Vertragspartner und Zeugen bestätigt wurde. In den einzelnen Städten bildeten die Gerichtsentscheidungen die Grundlage des Zivilrechts. Je mehr die Tempel anwuchsen und die Kulte an Einfluss gewannen, desto größer wurde die Macht und Autorität der Priester.« (Innis 1997, S. 65) Folgt man Innis, so gehen medientheoretische Überlegungen mit Aspekten der Technikkritik einher.
2.2 | Unterschiedliche Qualitäten von Medien |
An früherer Stelle kam schon der Hinweis, dass mediale Prozesse sowohl eine materiale wie eine symbolische Seite aufweisen. Innis unterscheidet Medien nach zwei Kategorien. Da gibt es zum einen bewegliche Medien wie etwa Papier. Diese Medien sorgen für räumliche Veränderungen. So ermöglicht Papier uns, jemandem einen Brief zu schreiben, der sich nicht am gleichen Ort befindet, was zu einer Erweiterung des Raums führt. Außerdem verweist Innis auf feste Medien, wie etwa Stein. Diese sorgen für zeitliche Veränderungen. Mittels eines Gebäudes aus Stein präsentiert sich eine Regierungsform als dauerhaft. Die Architektur ist deshalb ein interessantes mediensoziologisches [24]Forschungsfeld. Innis beschreibt die Eigenschaften von Medien wie folgt: »Jedes einzelne Kommunikationsmittel spielt eine bedeutende Rolle bei der Verteilung von Wissen in Zeit und Raum, und es ist notwendig, sich mit seinen Charakteristiken auseinanderzusetzen, will man seinen Einfluss auf den jeweiligen kulturellen Schauplatz richtig beurteilen. Je nach seinen Eigenschaften kann solch ein Medium sich entweder besser für die zeitliche als für die räumliche Wissensverbreitung eignen, besonders wenn es schwer, dauerhaft und schlecht zu transportieren ist, oder aber umgekehrt eher für die räumliche als für die zeitliche Wissensverbreitung taugen, besonders wenn es leicht und gut zu transportieren ist. An der relativen Betonung von Zeit und Raum zeigt sich deutlich seine Ausrichtung auf die Kultur, in die es eingebettet ist.« (Innis 1997, S. 95) Noch einmal zusammengefasst: Innis konzeptualisiert gesellschaftlichen Wandel als medientechnologisch induziert. Die räumliche Expansion sowie die zeitliche Stabilisierung von Herrschaft sind laut Innis verbunden mit dem Einsatz bestimmter Kommunikationsmedien. Es geht Innis bei seinen theoretischen Überlegungen in Bezug auf Medien also nicht nur um den Prozess der Informationsübertragung, sondern ganz generell um die Möglichkeiten und die Bedingungen der Wahrnehmung, die durch Medien geprägt sind. Innis interessiert sich dabei vor allen Dingen für den Wandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. In seinem Werk The bias of communication (1951) entwickelt Innis die These, dass die politische Organisation von Gesellschaften entscheidend von der jeweils dominanten Medientechnologie abhängt. Dass geht so weit, dass Innis die Bildung des modernen Nationalstaates und das Entstehen bürgerlicher Gesellschaften als Resultate der Ablösung der Manuskriptkultur durch den Buchdruck interpretiert. Inwiefern diese Annahmen für die Soziologie plausibel sind, wollen wir in einem nächsten Schritt diskutieren.
3. | Medien und Gesellschaft |
Die Medientheorie der Kulturwissenschaft hat die These von der Generativität des Mediums auf sehr unterschiedliche und komplexe Weise bearbeitet, worauf wir im Laufe des Buches immer wieder zurückkommen werden. Zur Erinnerung: Unter der Generativität des Mediums wird zum einen verstanden, dass Medien ihren Gegenstand nicht neutral übermitteln, sondern ihm etwas hinzufügen und ihn dadurch prägen. Weiterhin sind Medien als entscheidende Generatoren eines sozialen und kulturellen Wandels anzusehen. Wenn sich Medien verändern, so die These der Medientheorie, ändern sich auch soziale Praktiken. Warum aber sollte sich die Soziologie hiermit beschäftigen? Wozu brauchen wir überhaupt eine Mediensoziologie? Und inwiefern sollte man sich an der Tradition der Kulturwissenschaften orientieren?
[25]Die spezifische Beschäftigung der Kulturwissenschaften mit Medien ist für die Soziologie interessant, weil diese sich für die Entstehung und für die Veränderung von sozialer Ordnung interessiert. Die entscheidenden Fragen der Soziologie lauten: Wie ist soziale Ordnung möglich? Wie kommt es zu Regelmäßigkeiten im sozialen Ablauf? Wie entstehen Strukturen von Erwartungen, die uns helfen, uns in sozialen Situationen zu orientieren? Für die Mediensoziologie stellt sich hieran anschließend die Frage: Welche Rolle kommt Medien bei der Entstehung und dem Wandel von sozialen Erwartungen zu, also für die Genese und die mögliche Veränderung sozialer Ordnung? Welche Sozialformen entstehen durch Medien? Und wie kann man diese (medien-)soziologisch beschreiben?
Die Mediensoziologie nähert sich dieser Fragestellung auf unterschiedlichen Wegen. Die Rezeptionsforschung beobachtet etwa, welche medialen Inhalte in den Medien dargestellt werden und welche Wissensformen hierdurch entstehen. Exemplarisch könnte man hier die Arbeiten von Angelika Keppler (2006) nennen. Sie zeigt in ihrer Studie zu Gewaltdarstellungen im Fernsehen, wie dieses durch eine permanente Differenzierung zwischen dem Realen und dem Fiktiven den Realitätssinn heutiger Gesellschaften formt. Die Anwendungsforschung untersucht, wie die Inhalte der Medien jenseits ihrer Darstellungsformen etwa im Fernsehen wieder auftauchen. Jo Reichertz (2006) beispielsweise interessiert sich nicht nur für die Analyse medialer Inhalte, sondern auch für deren Gebrauch im praktischen Leben. Er fragt beispielsweise, wie sich im Fernsehen gezeigte Hochzeitsshows auf das Heiratsverhalten von Personen auswirken. Es geht also um die Frage nach dem Wissenstransfer von medialen Inhalten. Die Publikumsanalyse der Cultural Studies (im Überblick Hepp / Krotz 2009; Hepp / Winter 2008) geht wiederum der Frage nach, wie Medien das Publikumsverhalten verändern. Wer kann was wie sagen? Und wer kann das Gesagte auf welche Weise verstehen? Welche Rolle spielt das Medium dabei? Schließlich gehört zur Mediensoziologie auch noch der Forschungsbereich Internet. Zahlreiche Autoren haben sich mit Virtualität und Realität in computerisierter Kommunikation beschäftigt. Diese Perspektiven erscheinen deshalb so interessant, weil der Eigenleistung des Mediums eine angemessene Rolle bei Herstellung und Wandel von Kommunikationspraktiken zugesprochen wird.
Dieses Buch schließt sich der These der Medientheorie an, dass Medien etwas verändern, wenn sie zum Einsatz kommen. Genauer: Hier wird die medientheoretische Annahme, dass Medien ihren Informationen etwas hinzufügen und die Wahrnehmung der Information dabei verändern, als empirische Frage aufgenommen und als Forschungsfrage formuliert: Woran wird der Einfluss von Medien konkret und im Einzelfall sichtbar? Verändern Medien tatsächlich die Wahrnehmung der von ihnen vermittelten Informationen? [26]Wie zeigt sich dies empirisch? In der empirischen Zugangsweise liegt die genuine Eigenleistung einer mediensoziologischen Perspektive. Indem sie mediale Prozesse zunächst relativ schlicht als Übertragungsverhältnisse, die bestimmte Phänomene sichtbar und erfahrbar machen, begreift, löst sie mindestens zwei Probleme: Sie kann auf einen Medienbegriff zurückgreifen, der es ihr ermöglicht, überhaupt erst einmal zu benennen, was man in den Blick nimmt, wenn man von Medien spricht. Gleichzeitig hält sie sich offen genug dafür, unterschiedliche Dinge als Medien zu deklarieren. Gelten nicht nur Massenmedien als Medien, ergibt sich die Frage, was überhaupt zu einem Medium gemacht wird. Was taucht empirisch als Medium auf? Wann wird etwas zu einem Medium gemacht – und wann nicht?
4. | Der Arabische Frühling: eine Facebook-Revolution? |
Aber wie plausibel ist die Herangehensweise der bis hierher nur kurz skizzierten Medientheorie aus soziologischer Perspektive? Dass Medien soziale Ordnung verändern können, wurde am Beispiel der Demonstrationen in Ägypten, die dort seit Dezember 2010 stattgefunden haben, diskutiert. Der sogenannte Arabische Frühling erlangte auch als Facebook-Revolution eine gewisse Berühmtheit. Formate wie Facebook, YouTube und Twitter sollen zum Erfolg der Revolution beigetragen haben. Wir wollen diese vor allen Dingen in den Feuilletons geführte Debatte im Folgenden dazu nutzen, unsere These von der Generativität des Mediums zu diskutieren. Anhand der Arbeiten von Harold A. Innis stellen wir zur Diskussion, inwiefern die These von der Generativität des Mediums am konkreten Fall plausibel wird. Ist es tatsächlich das Medium, das soziale Praktiken prägt? Oder sind es nicht vielmehr die über Medien vermittelten sozialen Praktiken selbst, die für eine Transformierung sozialer Ordnungen sorgen?
Abbildung 2 zeigt eine Facebook-Solidaritätsseite für den ägyptischen Widerstand vom April 2011. Man kann sich anhand dieser Seite fragen, inwiefern sich die Rede von der Generativität des Mediums empirisch bewährt. Was verändert zum Beispiel der Einsatz von Facebook an der politischen Ordnung in Ägypten? Ist es wirklich das soziale Netzwerk, das als Medium für eine veränderte Ordnung sorgt? Oder sind es nicht vielmehr die Zugangsweisen zu der Webseite, die es ohnehin gegeben hätte? Inwiefern tragen Netzwerke wie Facebook zur Transformation von Wahrnehmungsformen bei? Inwiefern werden Personen hier neu aufeinander bezogen?
Ohne diese Fragen an dieser Stelle im Einzelnen zu beantworten, kann man sich zunächst einmal eine soziologische Zugangsweise mit Hilfe der [27]Medientheorie der Kulturwissenschaften erarbeiten. Inwiefern überzeugen deren Thesen noch, wenn man sie auf aktuelle empirische Prozesse anwenden will? Harold A. Innis stellt jedenfalls für das Ägypten der Frühzeit fest: »Die tiefen Erschütterungen, denen die ägyptische Zivilisation beim Übergang von einer absoluten Monarchie zu einer demokratischen Staatsform ausgesetzt war, gingen mit einer Schwerpunktverlagerung von Stein als Kommunikationsmittel (…) auf Papyrus einher.« (Innis 1997, S. 56)
Abb. 2: Facebook Öffentlichkeit Quelle: facebook.de; 04/2011.
Trifft diese These vom Medienwechsel auch für die heutige Gesellschaft zu? Haben soziale Netzwerke im Internet tatsächlich so viel Veränderungspotenzial, dass sie dazu beitragen können, Revolutionen zu befördern? Mediensoziologische Forschungen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während die einen davon ausgehen, dass die Web 2.0-Formate im Internet bedeutend daran beteiligt waren, die Protestbewegungen zu unterstützen (Cohen 2011; Webster 2011), sind andere skeptisch. Sie vermuten eher, dass die Protestbewegungen auch ohne die Unterstützung des Internets stattgefunden hätten (Rich 2011). Wir wollen diese Debatte nicht im Einzelfall nachverfolgen (einen guten Überblick bieten Lim 2012 und Alexander 2011). Spannend ist [28]an dieser Stelle allein der Umstand, dass die medientheoretischen Annahmen der Toronto School aus dem vorigen Jahrhundert nach wie vor relevant sein können, wenn es um die Beschreibung aktueller sozialer Phänomene geht.
FAZIT
Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen:
1. | Mediale Prozesse sind Übertragungsverhältnisse, die Phänomene erfahrbar und sichtbar machen. Medien weisen eine materiale und eine symbolische Seite auf. Die Medientheorie der Kulturwissenschaft nimmt mit der Erkenntnis ihren Anfang, dass die Materialität des Mediums eine wichtige Rolle für die Wirkung der übertragenen Information spielt. |
2. | Die frühe Medientheorie der Toronto School hat dazu beigetragen, einen eigenständigen Blick auf Medien als Forschungsgegenstand zu eröffnen. |
3. | Harold A. Innis versteht unter Medien die materialen Bedingungen von Übertragungsverhältnissen (Bias of Communication), die sich in Kommunikationsabläufe einschreiben und damit Wissens- und Machtkulturen erzeugen können. Innis zeichnet in seinen Schriften die Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft unter den Bedingungen veränderter Kommunikationsmittel nach. An eine veränderte Medialität wird also eine veränderte Zeitlichkeit, Geschichte und Epochenbildung gebunden. |
4. | Diese Perspektive ist für die Soziologie interessant, weil sie sich für die Genese sozialer Ordnung interessiert. Die entscheidende Frage der Mediensoziologie lautet also: Wie ist soziale Ordnung möglich und welche Rolle spielen Medien dabei? |
Literatur:
Innis, Harold A. (1951/1997): »Die Medien in den Reichen des Altertums«. In: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Kreuzwege der Kommunikation. Wien. S. 56–66.