Читать книгу Esta Sola. Sind Sie allein? - Elke Weickelt - Страница 6
ОглавлениеBariloche
Genug mit Großstadt, ich sehne mich nach der Weite Patagoniens. Jedenfalls habe ich diese Vorstellung vom Süden Argentiniens. Mal sehen, ob das zutrifft.
Meine erste Station ist Bariloche, 1.600 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Die Strecken in diesem Land sind riesig.
Das Zimmer in meiner Hosteria ist einfach, sauber und klein. Die Dusche spendet einen dünnen heißen Strahl. Nachts ist es kalt, aber es gibt eine Heizung. Es wird spät dunkel. Diese Gegend wirkt reich und teuer. Das sieht man an den Häusern und alles ist relativ sauber.
Bariloche, eigentlich San Carlos de Bariloche, liegt in der Provinz Negro in einem Tal der südlichen Anden am See Nahuel Huapi. Blauer Himmel, glasklarer See, schneebedeckte Berge, das Panorama unglaublich schön. Man nennt diese Gegend deswegen auch argentinische Schweiz.
Das Wort „Bariloche“ kommt von „Vuriloche“, das ist ein Mapuche-Wort und heißt „Menschen hinter dem Berg“. Das indigene Volk der Mapuche, „Menschen der Erde“, lebt heute überwiegend in den zentralen und südlichen Regionen Chiles und Argentiniens. „Mapu“ heißt Erde und „che“ Menschen. Die Erde ist den Mapuche heilig. Sie würden sie niemals grundlos oder aus Profitgründen zerstören. Sie sind das einzige indigene Volk, das sich lange Zeit erfolgreich gegen die Inka und auch gegen die Kolonisation der Spanier gewehrt hat und unabhängig geblieben ist. Die Mapuche sind die größte ethnische Minderheit, besonders in Chile, und sie führen immer noch einen zähen Kampf um ihren Grund und Boden.
In Bariloche leben auch viele Deutsche. Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich einige ehemalige SS-Führer hier versteckt. In einem deutschen Viertel entdeckt man Schwarzwaldhäuser, eine deutsche Schule und deutsche Bäckereien mit heimischen Backwaren, z. B. Brezeln und Streuselkuchen.
Das wirkt auf mich befremdlich.
Die Stadt ist bekannt auch für ihre Schokolade. Sie wird in der Hauptstraße in fast jedem Geschäft angeboten, auch in großen Schokoladenkaufhäusern. Ich bin kein Schokoladen- fan, aber probieren muss ich und tatsächlich – schmeckt gut.
Ich könnte stundenlang am See sitzen und auf dieses Bergpanorama starren. Das befriedigt mein Fernweh und erfüllt mich gleichzeitig mit einer inneren Ruhe.
Die vielen frei lebenden Hunde hier werden von den Einwohnern gefüttert. Ein kleiner Hund schleppt eine Plastikflasche von einem Menschen zum anderen und möchte sie geworfen haben, um sie zu apportieren. Fast jeder beteiligt sich. Jetzt bin ich dran. Er steht mit dem Ding im Maul zu meinen Füßen und stupst mich auffordernd an. Ich werfe sie in Richtung eines jungen Paares. Das funktioniert, sie sind als Nächstes dran.
Ein junger Spanier setzt sich zu mir. Er erzählt, dass er hergekommen ist, weil sein Name wie der des Sees ist. Seine Mutter ist Argentinierin und sein Vater Spanier. Er war noch nie hier und ist fasziniert, berührt, wie schön dieser See ist, nach dem er benannt wurde.
Menschen gehen immer wieder weite Wege oder nehmen beschwerliche Reisen auf sich, um ihren Ursprüngen auf die Spur zu kommen. Eigentlich mache ich das auch, weil ich zum Kap Hoorn will, das für mich eine besondere Bedeutung hat, aber dazu später.
Mehrere Ausflüge führen mich in den nächsten Tagen in den Nationalpark Nahuel Huapi, der an dem gleichnamigen See liegt. Dieser Park, der auch an Chile grenzt, gehört zu den ältesten Nationalparks Argentiniens und ist seit 1981 UNESCO-Welterbe.
Mit dem Schiff kann man nach Chile rüber fahren.
Im Bosque Arrayanes, einem Arrayan Myrtenwald wachsen archaisch wirkende Bäume mit einer rötlichen Färbung der Stämme. Sie haben keine Borke. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Dieser Wald ist streng geschützt und einmalig. Die Bäume sind bis zu 600 Jahre alt. Eine märchenhafte Szenerie.
Ausflüge über den See mit dem Schiff bieten schöne Aussichten auf den Park vom Wasser aus und auf die imposanten Berge wie den Cerro Catedral, den Cerro Otto und den Cerro Tronador, mit 3.454 Meter der höchste Berg in diesem Nationalpark. Cerro heißt Berg. Der Cerro Tronador ist ein erloschener Vulkan, bedeckt mit einer dicken Schicht aus Eis und Schnee. In der Umgebung Gletscher und Wasserfälle. Entsprechend gibt es hier über das Land hinaus bekannte große Skigebiete.
Den Cerro Otto erkunde ich mit dem Bus und dann mit der Seilbahn. Der Blick von oben über den See und die umliegenden Berge ist sensationell. Ebenso der vom Cerro Catedral. Oben sitze ich in der Sonne, trinke einen Kaffee. Die Anden sind schneebedeckt, der Himmel stahlblau und in der Sonne ist es warm, natürlich in dicker Kleidung.
Mein Gott – an den ich nicht glaube –, wie schön ist diese Welt.
Es gibt auch noch andere Seen wie aus einem Bilderbuch, zum Beispiel den Lago Gutierrez.
Auf einem meiner Ausflüge lerne ich ein nettes Ehepaar aus Südtirol kennen. Er reist auf den Spuren seines verstorbenen Onkels. Dieser Onkel war Missionar in Argentinien. Die Bewohner haben ihm ein Mausoleum gebaut. Das hat er aufgesucht und mit tiefer Rührung erzählt, wie er die unendliche Dankbarkeit der Menschen erlebt hat und dass sein Onkel, den er selbst gar nicht so gut kannte, dort so beliebt war. Die Indigenen haben ihn verehrt.
Ich habe auf meiner Reise viele Spuren und Zeugnisse von Missionierung früher und auch heute noch gesehen. Ich werde immer skeptisch, wenn ich das Wort Missionierung höre. Mag sein, dass dort auch viel Gutes geschehen ist an der Bevölkerung, dass man die Indigenen geschützt hat vor den spanischen Eroberern, dass man ihnen Arbeit, Bildung und medizinische Versorgung gegeben hat, aber die Berichte über anderes, das Zerstören insbesondere der eigenen Kultur und Religion, ist doch so eine existentielle Vernichtung, dass das absolut inakzeptabel ist. Es bleibt mir unverständlich, wie man meinen kann, dass eine eigene Religion besser ist als die der anderen. Wenn mich etwas in unserer heutigen Zeit beeindrucken kann, dann sind es manche Vorstellungen der Indigenen im Zusammenhang mit dem Glauben an Pachamama (Mutter Erde). Aber dazu komme ich noch später.
Da bin ich vielleicht schon bei diesem Ursprung, den ich suche. Also habe ich schon wieder jemanden getroffen, der hier seinen Ahnen nachspürt. Das werde ich noch öfter erleben. Argentinien ist ein Land der Einwanderer. Ein Großteil der Bevölkerung stammt heute von Einwanderern ab und das hat einen entscheidenden Einfluss auf die Identität des Landes.
Als Argentinien 1816 unabhängig wurde, musste es sich neu definieren, ein neues Selbstbild finden. Das versprach man sich durch die Öffnung für moderne europäische Einflüsse durch die Einwanderung aus Europa 1810 – 1914. Die zwei großen Migrationswellen fanden im 19. und 20. Jahrhundert statt. Europäische Einwanderer erreichten das Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen vor allem asiatische Migranten und Menschen aus den Nachbarländern Bolivien und Paraguay.
Angesichts der vielen ausgewanderten Europäer, Deutschen, Italiener, Franzosen und vielen anderen, frage ich mich, was Heimat ist? Warum wandern Menschen aus? Doch nicht nur die Rentner, die es im Alter im Süden wärmer haben wollen. So auch junge Leute, die sich ein besseres Leben erhoffen, einen Neuanfang. Völkerwanderung, Flucht und Vertreibung. Manchmal muss man auswandern. Aber wenn man nicht muss, wenn man ein gutes Leben hat. Warum tut man es dann?
Heimat ist doch der Ort, an dem man geboren wird, an dem man aufwächst, seine Kultur erfährt, Einstellungen, Weltauffassungen, die einen prägen, eine Vertrautheit, Zugehörigkeit, ein Zuhause eben? Die Orientierung, mit der man in sein Leben startet. Warum verlässt man das?
Cicero sagt: „Ubi bene, ibi patria.“ (Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland, meine Heimat.)
Verlässt man die Heimat nur dann, wenn es einem dort nicht mehr gut geht? Kann man eine neue Heimat finden? Für mich stellt sich die Frage: „Braucht man überhaupt eine Heimat?“
Wenn der Seefahrer sagt: „Meine Heimat ist das Meer“, so beschreibt er eine Lebensweise. Könnte ich sagen: Meine Heimat ist das Reisen? Fühlt sich gut an.
Und was ist Heimweh? Das Sehnen nach eben dieser Heimat. Ich kenne kein Heimweh, habe ich noch nie empfunden, auch nicht auf meiner ersten einjährigen Reise.
Aber Fernweh, das kenne ich sehr wohl, immer, wenn ich zuhause bin, diese Sehnsucht nach fernen Ländern, auch nach Abenteuer. Das ist keine Pubertätserscheinung, schließlich bin ich 65 Jahre alt und damit höchstwahrscheinlich ja aus der Pubertät schon raus. Das Fernweh ist aber immer noch da. Mein Heimweh ist das Fernweh.
Bariloche ist eine wunderschöne kleine Stadt in Patagonien. Wenn alle so sind, dann wird dies eine Traumreise. Es ist unglaublich, wie inspirierend diese Natur ist.