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PROFESSOR AMBROSIUS
ОглавлениеAls ich aus dem Hause trat, war der Himmel grau in grau. Ein rauher Wind wirbelte ein paar bunte Blätter durch die Luft, die Berge waren hinter einer Wolkenwand verschwunden. Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch und ging schnell den Pfad zum Dorf hinab, den ein windschiefes Schild als Benediktenwandstraße bezeichnete. Eine kühne Bezeichnung übrigens, denn wenn man es recht besah, konnte von einer Straße nicht die Rede sein. Aber der Gemeinderat war offenbar der Ansicht gewesen, daß das Vorhandensein von Häusern das Vorhandensein von Straßen bedinge. So waren die schmalen Pfade, die sich durch die Wiesen zogen, vermittels Beschriftung in den Straßenstand erhoben worden. In der Benediktenwandstraße wohnte außer Pompe funèbre und uns Professor Ambrosius; Quantes Haus stand an der Zugspitzstraße und das von Frau Willbrandt-Schrödl an der Ludwig-Thoma-Straße. Den Vogel aber hatten Sörensens abgeschossen, denn der liebliche Wiesenpfad, der sich an der »Hundehütte« vorbei zum Waldrand hinaufschlängelte, hieß Immanuel-Kant-Straße. Wir schrieben diesen genialen Einfall der Anwesenheit des Bäckermeisters Senftl im Gemeinderat zu. Herr Senftl war ein Mann, dessen Neigungen über das Bäckcereigewerbe hinaus den Bezirken des Geistigen zustrebten. Sein von paradiesischen Düften erfüllter Laden gegenüber dem Schulhaus war ein Magnet, der die Kinder unwiderstehlich anzog. Den Mittelpunkt des Dorfes aber bildete der Gasthof »Zum grünen Baum«, »ausgeübt« von Herrn Emanuel Holzeder. Hier hatten sowohl die Einheimischen als auch die Bewohner der »Kolonie« ihren Stammtisch; Höhepunkte des menschlichen Daseins als da sind Hochzeits-, Taufund Begräbnisschmaus, spielten sich im »Grünen Baum« ab; an stillen Abenden hörte man das Rollen der hölzernen Kugeln auf der Kegelbahn bis zum Walde herauf.
Neben dem Gasthof »Zum grünen Baum« betrieb Herr Holzeder einen Laden, von uns »Holzeders Bazar« genannt, denn es gab dort alles zu kaufen, angefangen bei Geräten für die Landwirtschaft bis zu kolonialen Erzeugnissen, wollener Unterwäsche, buntgeblumten Dirndlstoffen, Geschirr, Spielzeug, Nähnadeln und Ansichtskarten. Herr Holzeder durfte sich mit Recht rühmen, der reichste Mann des Dorfes zu sein, aber auch er hatte sein Kreuz zu tragen in Gestalt seiner einzigen Tochter, die eine schwere Erkrankung in früher Kindheit zum Krüppel gemacht hatte.
»Unser Herrgott sorgt schon dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen«, pflegte Pompe funèbre im Hinblick auf Herrn Holzeders Tochter zu sagen, mit einer Miene triumphierender Gerechtigkeit, die ich aus Herzensgrund verabscheute.
Elf Uhr! Aus dem Schulhause strömten, schreiend und lachend, die Kinder. Meine Augen entdeckten Michael inmitten einer Schar raufender Buben, und mein Herz schlug höher beim Anblick seiner kleinen, festen Gestalt in der ausgewachsenen Lederhose. Ich liebte meine drei Kinder mit der gleichen Zärtlichkeit, in einem verborgenen Winkel meines Herzens jedoch war der kleine Michael unumschränkter Herrscher. Vielleicht weil er der Jüngste war, vielleicht aber auch aus dem unterbewußten Gefühl einer besonderen Verbundenheit zwisehen Mutter und Sohn heraus, deren Ursprung zu den Rätseln der Natur gehört.
»Mick hat niemals aufgehört, Mumis Schoßkind zu sein«, hatte Corinna einmal gesagt. Natürlich war es übertrieben, aber ein Körnchen Wahrheit steckte doch darin.
Nachdem ich meine Einkäufe bei Herrn Holzeder, beim Bäckermeister Senftl und in der Metzgerei des Herrn Alois Brunnhuber erledigt hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Der Wind warf sich mir entgegen, er zerrte an meinen Kleidern und zwang mich, den »Unverwüstlichen«, einen altersgrünen Filz, den ich unter hemmungslosem Verzicht auf jede Eitelkeit hier draußen trug, tiefer in die Stirn zu ziehen. In der Benediktenwandstraße kam mir der Professor entgegen. Er wehte vor dem Winde daher, wie eine Fledermaus anzusehen in seinem flatternden Lodencape und mit den dünnen, grauen Haarsträhnen, die wirr seinen Kopf umstanden. Es gab schwerlich einen häßlicheren Menschen als ihn, und schwerlich einen, der ein gütigeres Herz besessen hätte. Unsere Freundschaft hatte ihren Ursprung in der Zeit, als ich sein Buch über ostasiatische Kultur las. Nie zuvor, so schien mir, war ein wissenschaftliches Thema bei vollkommener Durchdringung des Stoffes so kurzweilig und lebensnah angepackt worden. Hingerissen forschte ich von Stund an in Buchhandlungen und Zeitschriften nach Arbeiten von Professor Gregor Ambrosius. Nach einem Vortrag in der »Gesellschaft für Völkerkunde« faßte ich mir ein Herz und suchte ihn auf. Ich fand mich dem sonderbarsten kleinen Manne gegenüber, der mir jemals begegnet war. Graue Augen von durchdringender Klugheit beherrschten ein kleines, vogelähnliches Gesicht, dessen Häßlichkeit man, gefesselt von einer ungeheuren Beweglichkeit des Ausdrucks, alsbald vergaß. Die Kleidung des Professors war nicht dazu angetan, den ungewöhnlichen Eindruck seiner Erscheinung herabzumindern. Damals trug er zu einem Cut von vorsintflutlichem Schnitt einen gebatikten Flatterschlips. Er gestand mir später, daß es sich um den »Anzug für besondere Gelegenheiten« handle, während er auf dem Lande im »Wind- und Wetteranzug« einherging, einem zeitlosen Gebilde aus graugrünem Lodenstoff. Aus der Bekanntschaft wurde bald eine Freundschaft. Wenn der Professor nicht in seiner Eigenschaft als Ethnologe in fernen Ländern weilte, ging er fast täglich bei uns ein und aus. Stefan und er schätzten einander, obwohl oder vielleicht gerade weil sie so verschieden geartet waren. Die Kinder hingen ihm mit großer Liebe an, und mir wurde seine immer bereite Freundschaft zu einem nicht mehr fortzudenkenden Bestandteil meines Lebens. Vor etwa drei Jahren hatte er sich das kleine Heim in Riedling geschaffen, für den »Lebensabend«, wie er mit einem spöttischen Zwinkern sagte, aber wir waren überzeugt, daß es ihn noch mit siebzig wieder in die Welt hinaustreiben würde, unverwüstlich jung und springlebendig, wie er war.
»Hallo, Frau Elisabeth«, rief er mir zu, während er eine der zahllosen Unebenheiten der »Benediktenwandstraße« mit einem Sprung überwand, »woher des Weges? Nein, sagen Sie nichts. Lassen Sie meiner Phantasie freien Lauf! Wetten, daß Sie aus ›Holzeders Bazar‹ kommen?«
»Erraten!« sagte ich lachend. »Wetten, daß Sie sich auf dem Wege zu ›Holzeders Bazar‹ befinden?«
»Unser Scharfsinn ist bewundernswert. Stellen Sie sich einen Haushalt ohne Schraubenzieher vor! Gestern hatten wir noch einen, heute ist er wie vom Erdboden verschwunden. Ich faßte mir ein Herz und fragte Veronika, ob sie ihn vielleicht verlegt habe. Seitdem würdigt sie mich keines Wortes mehr.«
Wir lachten beide. Gekränktheit war ein chronischer Zustand bei des Professors betagter Haushälterin. Gott sei Dank machte er sich nichts daraus. Er nannte sie eine Prinzessin auf der Erbse, ein wahrhaft grotesker Name für die fünfzigjährige Veronika, die aussah wie ein braver Ackergaul.
»Übrigens traf ich vorhin den Major«, plauderte der Professor angeregt weiter, »er barst vor Neuigkeiten. Seit gestern ist die Gattin eines Walfischfängers bei ihm zu Gast.«
»Wer ist bei ihm zu Gast?«
»Eine Dame, deren Gatte als Funkoffizier bei einer Walfangflotte den Winter in der Arktis verbringt. Bevor er in See stach hat er seine Frau den Verwandten in die Arme gelegt, damit sie nicht so lange allein sei. Dem Major zufolge soll sie eine ›charmante Person‹ sein.«
Der Professor ahmte vortrefflich Herrn Quantes militärisch knappen Tonfall nach.
Also so verhielt sich das! »Und Pompe funèbre wußte schon von einer geschiedenen Frau zu berichten!«
Nein, von Scheidung war nicht die Rede gewesen. Im Gegenteil! Der Walfischfänger schien eher zu befürchten, daß die »charmante Person« während der langen Strohwitwenzeit auf Abwege geraten könnte. Im übrigen war der Major entzückt von seinem Gast. Er hatte dem Professor einen aufschlußreichen Vortrag über Walfische, Fangboote und Harpunen gehalten.
»Und was sagt Frau Quante?«
»Sie wird einen Tee veranstalten, um uns die Walfischfängersgattin vorzuführen.«
Ich mußte lachen. Es war Frau Quantes Leidenschaft, etwas zu veranstalten: Tees, Bridgepartien oder zwanglose Zusammenkünfte nach dem Abendessen, bei denen sie, jeder Zoll Regimentsdame, auf dem Sofa thronte.
Vom Kirchturm in Riedling kamen verwehte Glockenklänge.
»Um Himmels willen, zwölf Uhr!« Der Professor förderte von irgendwoher einen zerbeulten Hut zutage und drückte ihn auf seinen Vogelkopf. »Ich muß mich beeilen. Die Prinzessin auf der Erbse würde es nicht überleben, wenn ich zu spät zum Essen käme! Auf Wiedersehen, teure Freundin!«
»Auf Wiedersehen, Professor! Besuchen Sie uns bald!«
»Grüßen Sie Stefan und die Kinder.« Seinen grotesken Hut schwingend, verschwand er flatternd um die Wegbiegung, während ich, durch Löcher und Spurrinnen stapfend, die Benediktenwandstraße erklomm. Als ich das Gatter zum Vorgarten öffnete, begann es zu regnen. Die Hühner kauerten aufgeplustert und unansehnlich im Schutze der Hauswand. Orpheus hatte stark an Wohlgestalt verloren; sein Kamm hing wie eine Jakobinermütze herab. Grämlich hockte er inmitten seines Harems und gönnte nicht einmal der bunten Eurydike die kleinste Aufmerksamkeit.