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2.

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Die Straße, in der Sibylle und Alexander wohnten, unterschied sich in nichts von anderen Vorstadtstraßen mit ihrem vollkommenen Mangel an Grün, mit hohen, eintönigen Häusern, in deren Erdgeschoß sich kleine Läden befanden, mit einem trübseligen Café an der Ecke, von dem man sich nicht vorstellen konnte, daß es jemals von irgend jemandem besucht wurde.

Aber sie war in Schwabing gelegen, jenem Stadtteil Münchens, der sich eines gewissen Nimbus’ erfreut, dank der Tatsache, daß von jeher Künstler ihn mit Vorliebe zu ihrem Wohnsitz erwählten. Um keinen Preis hätte Sibylle in einer anderen Gegend leben mögen. Ihre Kindheit, die Erinnerung an den Vater, waren auf das engste mit Schwabing verknüpft, ganz abgesehen von dem unbestimmbaren Reiz, der sich ihr mit Ateliers und dämmerigen Künstler-Weinstuben verband.

Die Sonne, am Morgen von frühlinghaftem Glanz, war hinter Dunstschleiern verschwunden, ein rauher Wind fegte durch die Straßen. Sie wanderten eilig und schweigsam dahin, überschattet von der Gewißheit, zu spät zu kommen. Aber wie immer, wenn sie durch das Siegestor in die Ludwigstraße kamen mit ihren strengen, klassizistischen Fassaden, die von den beiden spitzen Türmen der Ludwigskirche unterbrochen wurden, ging ihnen das Herz auf ob der herben Schönheit der Stadt, die ihre Heimat war.

Als sie das alte Haus in der Nymphenburgerstraße betraten, schlug es ein Uhr. Sibylle seufzte beklommen. Das Mittagessen begann um eins, aber die Tradition erforderte, daß man sich eine halbe Stunde früher einfand, um plaudernd im Salon beisammenzusitzen. In der Tat, die Familie war vollzählig versammelt. Sie saßen und standen umher, die Eltern, Tante Gudula, Wallmosers mit dem fünfjährigen Kurt, Burschi genannt, und der jugendliche Kaspar.

Alexanders und Sibylles Eintritt vollzog sich unter unheilverkündendem Schweigen. Aller Augen waren auf sie gerichtet, die der jüngeren Generation mit einem Gemisch aus Mitleid und Schadenfreude, wie es Schüler beim Zuspätkommen eines Kameraden zur Schau tragen.

„Wir bitten um Verzeihung“, sagte Sibylle zaghaft.

Die Familie sah erwartungsvoll den Zorn wie eine rote Welle in das Gesicht ihres Oberhauptes steigen bis zu den silbernen Schläfenhaaren hinauf. Nur Mama wagte ein begütigendes Lächeln, das jedoch im Keim erstickt wurde, denn der Amtsgerichtsrat setzte zu einer längeren Rede an, in derem Verlauf er erklärte, er dulde keine Bohemewirtschaft in seinem Hause und werde sie niemals dulden.

„Sogenannte Künstlerfreiheiten“, sagte er mit erhobener Stimme, „haben vor meiner Schwelle haltzumachen. Ein für allemal!“

Sibylle sah, wie Alexanders Gesicht sich verfinsterte. Sie versetzte ihm einen kleinen, ermutigenden Puff, bevor sie sich neben Tante Gudula auf einen quastengeschmückten Hocker niederließ. Mit einem Gefühl leichter Benommenheit, wie man es beim Betreten von Museen zu empfinden pflegt, atmete sie die Atmosphäre des Birkschen Salons. Alles verriet jahrzehntelange Überlieferung, die schweren Portieren an Fenstern und Türen ebenso wie die samtgepolsterten Sessel, um einen hochbeinigen Tisch gruppiert, der eine silberne Visitenkartenschale im Jugendstil trug. Verstaubte Visitenkarten ruhten auf ihrem Grunde; zuoberst lagen seit Jahr und Tag Herr und Frau Direktor Melander mit einem zierlichen p. p. c. in der rechten unteren Ecke.

Die olivgrüne Tapete des Salons war durch eine Überfülle von Ölgemälden den Blicken fast ganz entzogen. So wenig der Amtsgerichtsrat von jeder Art von Kunstbetätigung hielt, der Malerei brachte er eine ebenso große wie wahllose Neigung entgegen. Vor allem liebte er Bilder, auf denen Eßbares in verlockenden Farben und Formen dargestellt war, Stilleben mit Hummern, Fasanen und Früchten, oder fröhliche Zecher, mit überschäumenden Humpen um ein Faß versammelt. Das Prunkstück des Salons aber war das lebensgroße Bildnis einer jungen Frau mit wallendem Goldhaar, die, nur mit einem himmelblauen Lendentuch bekleidet, an einen Marterpfahl gebunden war. Rote Flammen züngelten gierig an ihr empor, sie jedoch lächelte, ein verklärtes Lächeln, als sei es eine Lust, den Flammentod zu erleiden. Das Bild hieß „Die Hexe“; der Amtsgerichtsrat hatte es in einem Anfall von Großmut einem malenden Jugendfreund abgekauft und seine Frau zur zehnten Wiederkehr ihres Hochzeitstages damit überrascht, aber die Familie konnte sich nicht des Argwohns erwehren, als habe nicht allein Großmut, sondern in erster Linie die anmutige Beschaffenheit der Hexe eine Rolle beim Kauf des Bildes gespielt.

Die Unterhaltung kam wieder in Gang.

„Du solltest Susannchen Fencheltee geben“, sagte Mama zu Ella. Ella Wallmoser, geborene Birk, zuckte die Achseln. Sie sah blaß und glanzlos aus, so, als habe das Leben nichts von allem gehalten, was sie sich von ihm versprochen hatte.

„Burschi war leichter zu haben“, seufzte sie und strich ihrem Ältesten über den runden Kopf.

„Burschi ist ganz der Großpapa“, bemerkte Otto Wallmoser mit einem öligen Lächeln an Papas Adresse.

Alexander warf seinem Schwager einen feindseligen Blick zu. Er und Sibylle hatten ihn den „Kastanienkopf“ getauft, seines runden Gesichts wegen, das, von bräunlicher Glätte, immer wie auf Hochglanz poliert aussah.

Der „Kastanienkopf“ bewies dem Amtsgerichtsrat eine gleisnerische Unterwürfigkeit, er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, sich bei ihm in Gunst zu setzen. Unbegreiflich, daß Ella diesen Mann geheiratet hatte! Schließlich war sie einmal ein ganz hübsches Mädchen gewesen, wenn auch immer ziemlich farblos. Es war erstaunlich, wie wenig man von seinen Geschwistern wußte, sobald man erwachsen wurde. Kaspar war ja um vieles jünger als Alexander, aber mit Ella hatte es Zusammenhänge gegeben, gemeinsame Freuden, gemeinsame Kümmernisse, das Verbündetsein den Erwachsenen gegenüber. Alexander erinnerte sich, wie er einmal eine Ella zugedachte Strafe auf sich genommen hatte; es war ein unbeschreibliches Hochgefühl von Edelmut und Ritterlichkeit gewesen.

Man ging zu Tisch. Das Eßzimmer mit eichenholzvertäfelten Wänden stand dem Salon an Feierlichkeit nicht nach. Das Büfett an der einen Längsseite stellte ein wahres Bollwerk altdeutscher Behaglichkeit dar, während der Kamin ihm gegenüber französische Anklänge aufwies und mit kunstvoll geschichteten Holzscheiten prunkte, die niemals vom Feuer aufgezehrt werden konnten, weil sie mit Gas zu entzünden und dem Gesetz der Vernichtung nicht unterworfen waren.

Eine große Glastür, von Samtportieren umrahmt, bot Ausblick in den kleinen Garten hinter dem Hause. Es nieselte aus einem eintönig grauen Himmel, Bäume und Sträucher reckten feuchte, schwarze Äste in die silbrige Luft.

Sibylle fröstelte; ihre Augen hefteten sich hilfesuchend auf das Porträt der leichtfertigen Urgroßmutter über dem Kamin. Ihr reizendes Lächeln schien das einer Bundesgenossin zu sein. Ich hätte sie sicher liebgehabt, dachte Sibylle.

Nach der Suppe — jeden Sonntag gab es die gleiche Suppe, klare Bouillon mit Markklößchen — wurde ein Roastbeef von unwahrscheinlichen Ausmaßen aufgetragen. Der Amtsgerichtsrat band sich die Serviette um den Hals und griff zu dem blanken Tranchiermesser mit dem Hirschhorngriff.

„Hoffentlich ist das Fleisch zart“, sagte Mama ängstlich.

Das Essen spielte eine große Rolle im Hause Birk; der Amtsgerichtsrat konnte sich stundenlang über dessen Beschaffenheit ergehen, und ein zäher Sonntagsbraten verdarb seine Stimmung auf lange Sicht.

Sibylle sah, wie sich eine dünne, rosige Scheibe nach der anderen vom Braten löste. Warum sagt Alexander kein Wort, dachte sie, wenn Papa es bemerkt, wird er wieder eine boshafte Bemerkung machen. Sie versuchte, ihm einen ermunternden Blick über den Tisch zu schicken, aber Tante Gudula fing ihn auf und lächelte Sibylle gütig zu.

„Wie geht es, Sibylle? Du siehst ein bißchen blaß aus, mein Kind.“

„Nein, nein“, sagte Sibylle hastig, „es geht mir wundervoll.“

„Von der Kunst und der Liebe allein wird niemand satt“, kicherte der Amtsgerichtsrat hinter seinem Braten.

„Aber Kaspar“, sagte Mama mit sanftem Vorwurf, und der „Kastanienkopf“ rief, Sibylle müsse mehr essen, die allzu schlanke Linie sei nicht mehr modern.

„Wie denkst du darüber, Alexander?“

„Ich möchte Sibylle kein bißchen anders haben, als sie ist“, sagte Alexander kurz.

„Siehst du!“ rief Ella ohne ersichtlichen Grund und richtete die blaßblauen Augen anklagend auf den „Kastanienkopf“.

Der Amtsgerichtsrat nahm die Serviette ab und versah sich reichlich mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Er wünschte „Guten Appetit allerseits“ und begann, mit Hingabe zu essen. Die Familie schickte sich an, seinem Beispiel zu folgen, aber bei Burschi gab es eine Stockung. Er wollte durchaus keinen Spinat essen.

„Er mag ihn nicht“, erklärte seine Mutter verzagt. „Schon als Baby —“

„Unsinn!“ rief der Amtsgerichtsrat dazwischen, seine Eichhörnchenaugen funkelten zornig in dem roten Gesicht, „Kinder haben alles zu essen!“

Alexander lächelte ingrimmig in sich hinein. So war es von jeher gewesen: man hatte alles zu essen, man hatte dem Amtsgerichtsrat bedingungslos zu gehorchen, man hatte keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung zu haben! Vielleicht war man darum zu einer Art von Igel geworden, der beim geringfügigsten Anlaß die Stacheln hervorkehrte; man fühlte sich immer und überall in Verteidigungsstellung gedrängt.

Burschi hatte sich inzwischen bewegen lassen, ein winziges bißchen Spinat zu essen, unter Hinweis auf eine doppelte Portion Schokoladenpudding zum Nachtisch.

„Eine Erziehung ist das heutzutage“, brummte der Amtsgerichtsrat, „so etwas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben!“

Burschi verzog weinerlich das Gesicht.

„Wir sind am Mittwoch bei Osterwalds eingeladen“, sagte Sibylle, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, „Alexander wird spielen.“

„Oh, wie schön!“ rief Tante Gudula erfreut, Mama stimmte zaghaft zu, während der Amtsgerichtsrat sich mißtrauisch erkundigte, ob etwas dabei „herausspringen“ werde.

Geld, Geld, und nochmals Geld! Es schien das einzige zu sein, worauf es in diesem Hause ankam!

Alexander tat schon den Mund auf zu einer ungeduldigen Antwort, aber Sibylle winkte ihm mit den Augen, zu schweigen.

„Schneekopf wird dort sein“, sagte sie hastig. „Wenn er Alexander erst einmal gehört hat, wird er sich bestimmt für ihn einsetzen.“

„Schneekopf? Ist das der von der Oper?“ fragte der Amtsgerichtsrat, indem er eine zweite Portion Spinat auf seinen Teller häufte.

„Professor Schneekopf“, sagte Alexander, „dirigiert die Odeonkonzerte und leitet außerdem die Kapellmeisterklasse an der Akademie.“

„So, so“, machte der Amtsgerichtsrat und fügte hinzu, er kenne sich unter diesen Musikbonzen nicht aus. „Wozu geht man überhaupt noch in Konzerte, nachdem man heutzutage Musik per Radio viel gemütlicher und billiger haben kann?“

Der „Kastanienkopf“ ließ ein meckerndes Beifallsgelächter hören; Alexander erstarrte in hochmütiger Verschlossenheit.

Wäre nur erst das Essen vorüber, dachte Sibylle verzweifelt. Es galt, noch den traditionellen Schokoladenpudding zu überstehen, die Krönung des sonntäglichen Familienessens. Die Unterhaltung ging zu allgemeinen Dingen über. Es war vom Einkochen die Rede.

„Morgen fange ich mit der Orangenmarmelade an“, verkündete Mama, und Ella erwog, ob sie Susannchen schon ein wenig Orangensaft geben dürfe. Papa und der „Kastanienkopf“ gerieten in eine geschäftliche Debatte, und der jugendliche Kaspar vertraute Sibylle flüsternd an, er habe im Osterzeugnis mit Bestimmtheit einen Fünfer im Latein zu erwarten.

Endlich hob der Amtsgerichtsrat die Tafel auf. Man begab sich wieder in den Salon, um einen Mokka einzunehmen, bevor die Eltern und Tante Gudula sich zum Mittagsschläfchen zurückzogen.

„Gehen wir einen Augenblick in den Garten!“ schlug Sibylle nach einem Blick in Alexanders blasses Gesicht vor.

Sie stiegen die feuchten Stufen hinab. Er war ein kleines Wunder, dieser Garten hinter dem alten Biedermeierhaus, eingeschlossen von den Brandmauern benachbarter Mietskasernen. Efeu kletterte an ihnen empor, ein mit rotem Sand bestreuter Weg umrundete den Rasenplatz; in seiner Mitte befand sich ein Springbrunnen mit einer halbverfallenen Sandsteinfigur, eine Nixe darstellend, aus deren emporgehobenen Händen im Sommer ein silberner Wasserstrahl in die Lüfte sprang.

Sibylle atmete tief auf. Es rieche nach Frühling, behauptete sie.

„Sieh nur, die Schneeglöckchen kommen schon!“

Aber Alexander stand mit hängenden Armen, seine blauen Augen waren müde und glanzlos.

„Ach“, sagte er, „diese Sonntage!“

Es klang so hoffnungslos, daß Sibylle lachen mußte.

„Sie meinen es nicht so schlimm“, sagte sie begütigend. „Du darfst dich nicht zu sehr beeindrucken lassen.“

„Es ist ja immer das gleiche.“ Alexander steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden. „Für sie gilt nur der äußere Erfolg. Künstler werden in Bausch und Bogen als Faulpelze und Taugenichtse abgetan. Schon Menschen, die Bücher lesen, sind dem Amtsgerichtsrat verdächtig. Wie oft habe ich das gehört: ,Was, du liest schon wieder? Du hast wohl nichts Besseres zu tun?‘ “

Sibylle griff nach seiner Hand. „Warum nimmst du es tragisch? Eines Tages wirst du auch Papa von dir überzeugen.“

„Ich lege keinen Wert darauf“, behauptete Alexander verbissen. Aber Sibylle wußte, wie er nach Anerkennung hungerte und immer aufs neue unter dem Unverständnis der Seinen litt.

„Du wirst es schaffen“, sagte sie mit Nachdruck, „und wenn du eines Tages ganz groß dastehst — —“

„Dein Glaube an mich ist rührend“, unterbrach Alexander spöttisch, aber der warme Druck, mit dem seine Hand die ihre umschloß, widerlegte den Klang seiner Worte.

Schweigend umkreisten sie das Rasenrondell; ein Sonnenstrahl stahl sich durch die Wolkendecke, die dünne Eisschicht am Boden des Brünnleins glitzerte, und der steinerne Leib der Nixe schimmerte feucht. „Im Hofgarten gibt es gewiß schon Krokusse“, sagte Sibylle träumerisch.

„Optimist!“ knurrte Alexander.

Liebe in Gefahr

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