Читать книгу Trugbilder - Ella Danz - Страница 7
Kapitel II
ОглавлениеLustlos stocherte Vicky in ihrem Blumenkohlgratin. Es schmeckte gar nicht schlecht. Doch der intensive Schweinebratengeruch, der über dem Esstisch hing, verdarb ihr den Appetit, genau wie das andauernde Gejammer ihrer Mutter.
»Heute Nachmittag hab ich auch ihren Nachbarn nach Tonya gefragt. Ein netter Mann. Aber der wusste natürlich auch nichts.«
Etwas zu geräuschvoll legte Vicky ihre Gabel auf das Porzellan.
»Mann, Mia, ich versteh nicht, warum du jedes Mal so einen Bohei machst. Gibt doch gar keinen Grund. Sie hat dir am Sonntag diese Nachricht geschickt, dass alles gut ist, sie nur noch etwas länger braucht.«
Bei dem Gedanken an Karolines Nachrichtentext spürte Vicky gleich wieder ihre Wut im Bauch: »Super Location hier! Bin Montag spät zurück. Bitte Goldie füttern, Wasser mal wechseln, Blumen gießen. NICHT MEHR ANRUFEN!!! Hab zu tun.« Und Mia nahm das einfach so hin, tat, was Karoline ihr auftrug, und sorgte sich ohne Ende.
»Außerdem ist sie doch erst einen Tag im Verzug. Ist doch schon öfter vorgekommen, dass Karoline länger wegbleibt als angekündigt, viel länger. Denk nur an die Story mit Mallorca damals! Da ist sie fast zwei Wochen geblieben, ohne sich nur einmal zu melden.«
»Du hast ja recht. Eine Mutter macht sich halt Sorgen«, kam kleinlaut die Antwort.
»Klaro, wird ja auch erst 23, dein Baby.«
»Sie hat schon seit Sonntag nichts mehr gepostet. Dabei wollte sie Aufnahmen machen. Deshalb ist sie doch weggefahren.«
»Wahrscheinlich ist unser Supermodel nicht schön genug auf den Fotos und muss die Bilder erst noch aufpimpen, damit sie ordentlich viele Likes kriegt«, meinte Vicky spöttisch, »wenn Karoline dich für irgendwas braucht, meldet die sich sowieso. Wetten?«
»Ach, Vicky, warum redest du immer so schlecht über deine Schwester? Und warum nennst du sie eigentlich immer Karoline? Du weißt doch, dass sie den Namen nicht mag.«
Genau deswegen, dachte Vicky trotzig und schüttelte unwillig das weißblonde Haar, das sich in einem wilden Gewirr kleinster Löckchen um ihren Kopf bauschte.
»Für mich ist und bleibt sie Karoline. Sie ist meine Schwester. Warum sollte ich sie bei ihrem Künstlernamen nennen?«
Früher war sie für alle Karoline und hatte auch kein Problem damit. Aber als sie begann, sich im Internet auszustellen, fand sie den Namen auf einmal altmodisch und unpassend, und außerdem hatte sie gelesen, es wäre ein Name, den Bauern gern ihren Kühen geben. Und ihr zweiter Name Bertonia klang ihr viel zu sehr nach dicker Berta. Und so wurde sie zu Tonya – mit dem extravaganten Y!
»Ich will doch nur, dass du dir keine Sorgen machst, Mia! Du müsstest inzwischen eigentlich wissen, dass meine große Schwester immer erst mal ihr Ding macht, und alles andere zweitrangig ist. Du wirst sehen, zu deinem Geburtstag am Wochenende ist sie bestimmt zurück.«
»Deine große Schwester kann eben Prioritäten setzen. Tonya will was aus sich machen, im Gegensatz zu dir.«
»Hat dich jemand um deine Meinung gebeten?«
Nur kurz richtete Vicky einen kalten Blick auf Ralf Ziegner, der am Kopfende saß, vor sich eine gewaltige zweite Portion Schweinebraten.
»Glaubst du, ich lass mir von dir in meinem eigenen Haus den Mund verbieten? Ausgerechnet von dir?«
Kurz überlegte Vicky, ihm eine passende Antwort zu geben. Aber es hatte keinen Sinn, und eigentlich wollte sie das auch nicht. Nicht, dass Vicky Angst gehabt hätte, mit ihm zu streiten, ihm an den kahl rasierten Kopf zu werfen, was für ein Idiot er war. Liebend gern hätte sie das getan. Aber sie wusste, wie sehr ihre Mutter unter diesen Auseinandersetzungen litt, die eh nichts brachten außer schlechter Stimmung. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie Mia diesen Mann nur hatte heiraten können. Ob sie ihn wohl wirklich liebte? Oder wollte sie nur einfach nicht allein sein?
Vicky schluckte ihren Ärger runter. Die Klügere gab nach. Sie platzierte ihr Besteck ordentlich auf dem Teller.
»Vielen Dank für das Essen, Mia. Ich muss dann mal wieder.«
»Aber du hast ja kaum was angerührt, Kind! Ich hab doch extra für dich den vegetarischen Gratin gemacht«, beklagte sich ihre Mutter.
»Ach ja, die Dame ist ja Vegetarierin. Verdient man damit eigentlich Geld?«, nuschelte Ralf mit vollem Mund, aus dem ein paar Fleischfasern hingen, deren Anblick bei Vicky einen leichten Brechreiz auslösten. Schnell sah sie weg und atmete einmal tief durch.
»Ich hab zum Nachtisch Æbleskiver gemacht. Weihnachten ist zwar lange vorbei, aber die magst du doch so gern. Ich geb dir wenigstens ein paar davon mit«, sagte Mia und holte aus der Küche einen großen Teller mit dem duftenden Gebäck und eine Plastikdose, in die sie eine ordentliche Anzahl der außen goldbraun gebackenen, innen fluffigen Kugeln schichtete.
»Es gibt auch noch Kanelsnegle, wenn du willst …«
»Vielen Dank für die Æbleskiver, die reichen mir. Und die Zimtschnecken kannst du für Karoline aufheben, die sind doch ihr Lieblingsgebäck. Dann sag ich noch mal danke und tschüs, Mia.«
Vicky gab ihrer Mutter zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
»Bleib ruhig hier, ich finde allein raus. Sollte ich was von Karoline hören, sag ich dir Bescheid.«
»Ja bitte, aber wahrscheinlich hast du recht, und ich bin einfach zu ängstlich.«
Mia Frederiksen lächelte schief.
»Du kommst doch nächsten Dienstag wieder zum Essen?«
»Klar, Mia. Ich komme gern. Aber erst mal sehen wir uns ja an deinem Geburtstag, sofern du mich einlädst«, scherzte Vicky.
»Aber natürlich, Kind, so gegen elf Uhr zum Geburtstagsbrunch!« Geübt sah Vicky über ihren Stiefvater hinweg, als sie zur Tür ging. Auch der beachtete sie nicht, war er doch voll damit beschäftigt, sich die nächste schwer beladene Gabel mit Fleisch und Kartoffeln in den Mund zu schieben.
Vor der Haustür schlang sich Vicky ihren kuscheligen Schal um den Hals, zog den Reißverschluss des Parkas bis ganz nach oben und zog ihre dicken Fingerhandschuhe aus Wolle über. Es wehte immer noch ein unangenehm kalter Wind, und erste feine Tropfen segelten vom Himmel. Sie setzte den Helm auf, stieg auf ihr Rad und blickte zurück zum Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Es war das kleinste in seiner Nachbarschaft, bescheiden und bodenständig zwischen zum Teil recht klotzig wirkenden Bauten.
Vicky fuhr los. Vom Neubaugebiet am Bornkamp waren es knapp 20 Minuten bis zu ihrer Wohnung in der Innenstadt. Warum nur fiel es ihr so schwer, schlicht und einfach einen schönen Abend mit Mia und Ralf zu verbringen? Sie liebte ihre Mutter, aber es tat ihr in der Seele weh, wie sie sich für alle anderen aufribbelte, sich von Ralf kommandieren ließ, wie Karoline sie ausnutzte – und Mia nahm das einfach alles hin und wehrte sich nicht. Das machte Vicky so unglaublich wütend, und Mia schien nicht einmal zu bemerken, wie die anderen mit ihr umsprangen. Auch die Chefin des Cafés, für das sie in den Sommermonaten leckere Torten, Kuchen und andere Backwaren fertigte und wo sie manchmal als Bedienung aushalf, beutete sie nach Vickys Meinung aus und zahlte ihr ein absolut lächerliches Geld.
»Aber ich hab doch viel Spaß dran! Das Geld ist mir dabei gar nicht so wichtig«, sagte Mia immer nur, wenn man sie darauf ansprach.
Dabei konnten sie das Geld gut gebrauchen. Auch wenn Ralf stets den Eindruck erweckte, Geld spiele für ihn keine Rolle, war das Häuschen, in das sie vor fünf Jahren gezogen waren, natürlich noch nicht abbezahlt, und seine Pension war ausreichend, aber nicht üppig. Außerdem ging ein Großteil davon für seinen alten Hummer Geländewagen drauf, den er ehrfurchtsvoll »der General« nannte, und den er mit teuren Originalersatzteilen am Leben erhielt. Fast täglich putzte oder bastelte er daran herum. Okay, jeder hatte das Recht auf ein noch so bescheuertes Hobby, doch mit diesem Spritschlucker tagein tagaus sinnlos durch die Landschaft zu kurven, war allein aus ökologischen Gründen nicht mehr akzeptabel.
Womit Vicky aber überhaupt nicht klar kam, war Ralfs Mackergehabe. Allein wie er mit herausgedrückter Brust stolzierte, statt zu gehen, wie dröhnend er sprach, als ob er Befehle erteilte, das alles rief ihren Widerspruch hervor. Frauen schien er ohnehin keiner vernünftigen Unterhaltung für fähig zu halten. Entweder er flachste nur herum mit blöden Zweideutigkeiten, oder er erklärte ihnen, wo es langging, benahm sich wie der Boss, dem seine Frau und die beiden Stieftöchter sich unterordnen sollten. Natürlich konnte er mit beiden Methoden bei Vicky nicht landen.
Nach dem Unfalltod des Vaters von Vicky und Karoline gab es in Dänemark bis auf ihre Schwiegermutter, zu der sie aber ein recht distanziertes Verhältnis hatte, keine familiären Bindungen mehr für Mia. Also war sie mit ihren Töchtern nach Deutschland gezogen, wo ihr Bruder schon seit mehreren Jahren in Lübeck lebte. Als junge Witwe mit einer vier- und einer sechsjährigen Tochter glaubte sie, nie mehr einen Mann zu finden. Doch dann lernte sie nach ein paar Jahren Ralf Ziegner kennen.
Vicky war neun, als er in ihrem Leben auftauchte. Anfangs kam er nur zu Besuch, und das Kind Vicky fand es merkwürdig, dass man mit diesem Mann überhaupt nicht spielen konnte. Er sagte immer so merkwürdige Erwachsenensachen, die sie nicht verstand, die er aber für lustig hielt, denn er lachte dabei dröhnend, sodass Vicky jedes Mal einen Schrecken bekam. Von Anfang an wahrte sie lieber eine gewisse Distanz diesem eigenartigen Menschen gegenüber.
Nicht, dass Karoline von Mias neuem Freund begeistert gewesen wäre, aber sie behielt für sich, was sie an ihm störte, begegnete ihm stets freundlich, gab keine Widerworte und machte trotzdem, was sie wollte. Das konnte Vicky nicht. Sie sagte schon immer, was sie dachte. Und als Mia und Ralf schließlich heirateten, behielt sie ihre Ablehnung nicht für sich. Es wurde auch genauso schlimm, oder schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Er mischte sich in alles ein, war der Herr im Haus, und Mia wurde immer unselbstständiger, überließ ihm in allem die Regie. Je länger Vicky mit Mia und dem Stiefvater zusammenleben musste, desto mehr sehnte sie sich nach dem Tag, an dem sie endlich volljährig wurde und ausziehen konnte. Karoline war nach dem 18. Geburtstag zu ihrem damaligen Freund gezogen, zu Marten, der … Aber daran wollte Vicky jetzt nicht auch noch denken. Jedenfalls wurde es für sie als Zurückbleibende nicht einfacher. So verschieden sie auch waren, zuweilen fehlte ihr Karoline. Vicky liebte ja ihre Schwester – manchmal – irgendwie jedenfalls.
Tief in ihre Gedanken versunken, trat sie kräftig in die Pedale, auch weil sich der Regen mittlerweile verstärkt hatte. Als plötzlich das Klinkergebäude in der Krähenstraße vor ihr auftauchte, wo sie sich unter dem Dach eine Wohnung mit zwei jungen Frauen teilte, war Vicky überrascht, schon zu Hause angekommen zu sein.
Kaum war sie 18 geworden, hatte Vicky die Schule abgebrochen. Das Lernen von Lateinvokabeln und das Pauken von Matheformeln waren ihr so sinnlos vorgekommen. Sie hatte das Haus am Bornkamp verlassen und war zu ihrer Oma Bente nach Kopenhagen geflohen. Natürlich machte Mia sich Sorgen, wie es mit Vicky weitergehen sollte. Ralf Ziegner dagegen, den das nun wirklich gar nichts anging, regte sich nur mächtig auf, wie sie so dämlich sein konnte, kurz vor dem Abi die Schule zu schmeißen.
»Hau doch ab zu deiner Hippie-Oma! Du wirst schon sehen, wo du noch landest! Aber komm bloß nicht hier an, wenn du Kohle brauchst. Von mir kriegst du nämlich keinen Cent, damit das klar ist!«
Da brauchte sich der Arsch wirklich keine Sorgen zu machen. Niemals würde sie einen wie ihn auch nur um ein Glas Wasser bitten – selbst in der Wüste nicht. Er hatte Oma Bente nie getroffen, schien sie aber für eine heruntergekommene Kifferin zu halten, da sie in den 70ern mit ihrem kleinen Sohn ein paar Jahre unter Besetzern in der Freistadt Christiania gelebt hatte.
Ziegner hatte keine Ahnung! Bente hatte ein in ganz Kopenhagen bekanntes Yoga-Studio, lebte im bunt durchmischten Nørrebro in einer geschmackvoll und gemütlich eingerichteten Wohnung und war eine Frau mit klaren Vorstellungen und Ansagen.
Hatte die Enkelin die ersten Wochen in Kopenhagen ziemlich planlos dahingelebt, lenkte ihre Großmutter immer wieder sehr geschickt ihre Gespräche auf mögliche Perspektiven für ihre Zukunft, ließ Vicky sich selbst befragen, was sie wirklich wollte. Und das war gar nicht so einfach, wenn man gerade mal 18 war. Vicky brauchte eine Weile, doch dann kristallisierte sich heraus, dass sie ein freiwilliges soziales Jahr machen würde, was sicher eine Entscheidungshilfe für ihren weiteren Weg bringen würde.
Vickys Telefon klingelte.
»Hej, Bente! Grade hab ich an dich gedacht.«
»Hej! Na hoffentlich waren es gute Gedanken! Wie geht es dir, min slangekrøller?«
Bente sagte oft »mein Löckchen« zu ihrer Enkelin, genau wie früher zu ihrem Sohn Viggo, von dem Vicky die weißblonde Lockenpracht geerbt hatte. Ihre nicht sehr große und etwas stämmige Statur dagegen hatte sie eher Mia zu verdanken, zu ihrem Leidwesen.
»Ach, alles gut eigentlich. Warte bitte mal einen Moment, es pladdert hier grade wie aus Eimern.«
Schnell schob Vicky ihr Rad in den Hausflur.
»So, da bin ich wieder. Ich war gerade bei Mia zum Essen, wie meistens am Dienstag. Und sonst passiert außer Arbeiten und Lernen nicht viel.«
»Flittige pige! War es nett mit Mia?«
»Geht so. Er war leider auch da.«
»Du scheinst den Mann ja wirklich überhaupt nicht leiden zu können. Ist er wirklich so schlimm? Ich kenne ihn ja nicht.«
»Da hast du auch nichts verpasst.«
»Karoline scheint aber ganz gut mit ihm auszukommen.«
»Wenn Karoline will, und vor allem, wenn es ihr nutzt, kommt sie doch mit allen Menschen aus.«
Vicky merkte, wie sie das Thema aufbrachte. Sie wollte diese negativen Gefühle eigentlich nicht, nicht gegenüber ihrer Schwester und schon gar nicht bei einem Telefonat mit Bente.
»Aber lass uns von was anderem reden, Bente. Wie läuft’s bei dir? Was macht das Studio?«
»Ich kann nicht klagen, es läuft super. Es suchen ja immer mehr Menschen nach Wegen für gesunde Entspannung im ganzheitlichen Sinne. Wir sind immer ausgebucht. Gerade haben wir eine fantastische neue Lehrerin für Kurse in Hormon Yoga gefunden. Also, alles gut. Aber sag mal, ich wollte vor allem fragen, wo deine Schwester steckt?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen. Mia hat auch schon geklagt, dass Karoline sich nicht meldet …«
»Und mir hatte sie eigentlich für Sonntag ihren Besuch angekündigt. Nach fast zwei Jahren immerhin. Aber sie ist hier nicht aufgetaucht und hat auch sonst nichts hören lassen.«
»Hatte sie denn fest zugesagt?«
»Na ja, nicht so ganz. Wenn sie es schafft, kommt sie mal kurz vorbei, hat sie geschrieben. Ich hab ein paar Mal vergeblich versucht, sie anzurufen, und auf meine Nachrichten hat sie auch nicht reagiert.«
»Dann ist doch alles wie immer, Bente. Unsere Influencerin arbeitet an ihrer Karriere. Soweit ich weiß, wollte sie für Modeaufnahmen nach Dänemark. Sie hätten eine super Location gefunden, hat sie am Sonntag an Mia geschrieben.«
»Weißt du, mit wem sie unterwegs ist?«
»Keine Ahnung. Ich kenne kaum jemanden von Karolines Leuten. Vielleicht mit einem Fotografen. Aber mach dir keine Sorgen. Ihre Karriere ist ihr heilig, da vergisst sie alles andere, auch dich und Mia und mich.«
»Nein, ich sorge mich nicht. Ich kenne deine Schwester ja auch ein bisschen. War schön, dich zu hören, aber ich muss jetzt los, treffe mich gleich mit einer Freundin auf ein Glas Wein. Wann kommst du mich denn mal wieder besuchen?«
»Oh, ich würde so gerne kommen! Im Moment stecke ich in Prüfungsvorbereitungen und schaffe das nicht. Aber sobald ich kann, bin ich da, ich versprech’s!«
»Es wäre mir eine solche Freude, dich mal wieder in meine Arme zu schließen, min skat!«
Nach einer verregneten Nacht war der Mittwoch grau, Feuchtigkeit hing in der Luft, und es war kalt. Wie schon die ganzen Wochen seit Angermüllers Rückkunft, gestaltete sich auch dieser Tag im K1 ruhig und unaufgeregt. Sie waren seit Jahresbeginn zu keinem größeren Einsatz gerufen worden und beschäftigten sich vor allem mit der Aufarbeitung alter Fälle. Alles war fast wie früher. Jansen und Angermüller saßen jeder in seinem engen überheizten Büro, bei geöffneten Türen, sodass sie sich über den Verbindungsflur unterhalten konnten, ohne ihre Schreibtische verlassen zu müssen.
Nur eines war anders: Neben dem betagten Filterkaffeeautomaten, der in ihrem kleinen Flur stets leise vor sich hin gurgelte, produzierte jetzt eine ziemlich luxuriöse Espressomaschine aromatische heiße Shots und herrlich dichten Milchschaum. Jansen hatte sich in ihrer Zweiergemeinschaft all die Jahre für die Zubereitung des Kaffees zuständig gefühlt. Er trank das gefilterte Gebräu in rauen Mengen, und ab und zu nahm Angermüller das Angebot seines Teampartners an und ließ sich ebenfalls eine Tasse servieren. Er bereute es jedes Mal. Mit Kaffee hatte die dunkle Flüssigkeit nicht allzu viel zu tun.
Das chromblitzende Teil, das auch die meisten Kollegen gern und häufig nutzten, war die Hinterlassenschaft von Sebastian Eichhorn, der Angermüller während seiner Auszeit vertreten hatte. Der junge Mann hatte sich eine noch luxuriösere Ausgabe zugelegt, als er sich seiner neuen Freundin wegen überraschend nach Kiel versetzen ließ. Seine alte Espressomaschine hatte er großzügig dem Team vom K1 vermacht.
Hinter vorgehaltener Hand und mit einem Grinsen schilderte man Angermüller, wie Jansen dem jungen Kollegen, als der den Filterkaffeeautomaten gerade ausmustern wollte, das Gerät kurzerhand weggenommen hatte. Er hatte es auf seinen gewohnten Platz gestellt und geknurrt: »Ich will keinen Caffè Crema, oder wie dat Zeug heißt, ich will einfach nur einen stinknormalen Kaffee. Verstanden?«
Seither existierten die beiden Teile nebeneinander, und Jansen war und blieb der Einzige, der den altersschwachen Kaffeebereiter nutzte. Nie wieder sprach er das Thema an, aber er brachte der neuen Maschine sture Missachtung entgegen. Und er sah gnädig darüber hinweg, dass Angermüller sich mittlerweile fast täglich am Nachmittag eine große Tasse schaumigen Milchkaffee genehmigte.
»Hallo, Derya, dich wollte ich auch schon anrufen.«
Angermüller ging mit seinem Handy hinaus in den Etagenflur.
»Heute kein Großauftrag? Hast du etwa mal wieder Zeit für dein Privatleben? Und für mich?«
Tatsächlich, seine Freundin wollte heute Abend vorbeikommen.
»Prima, das freut mich! Ich koch uns was Schönes. Worauf hast du Lust? Oder soll ich dich überraschen?«
Er müsse doch nicht extra was kochen, meinte Derya, ein Glas Wein wäre ausreichend.
»Aber ich mach das doch gern, für dich sowieso! Und wenn ich mal die Gelegenheit habe, nach Feierabend noch was einkaufen zu gehen, sollte man das ausnutzen. Also, ich denk mir was Schönes aus, dann sehen wir uns gegen sieben Uhr. Bis dahin – ich freu mich!«
Irgendwie komisch, dass Derya das Essen heute nicht so wichtig war. Das hatte er bisher fast nie bei ihr erlebt. War sie krank? Oder mal wieder auf Diät? Egal, ihm würde schon was einfallen, womit er ihren Appetit wecken konnte. Ja, er freute sich auf den gemeinsamen Genuss und fing sofort an zu überlegen, womit er sie verwöhnen könnte.
Es dämmerte. Versonnen sah Angermüller nach draußen. In ungefähr einer halben Stunde würde er Feierabend machen und anschließend ein paar nette Sachen besorgen, aus denen er ein schönes Abendessen für sie beide zaubern würde. Beim Gedanken an gebratene Nudeln mit Rindfleisch und Pak Choi, kräftig gewürzt mit Sojasoße, Knoblauch und Ingwer, wässerte ihm schon jetzt der Mund. Ein lautes Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch unterbrach ihn in seinen Küchenfantasien.
»Moin, Angermüller, hier Ahrens vom Kriminaldauerdienst! Schluss mit der Gemütlichkeit. Die Streife aus Scharbeutz meldet einen Leichenfund am Pönitzer See. Das kann ich dann wohl direkt an euch weiterleiten. Die Kriminaltechnik hab ich auch schon alarmiert«, teilte der Kollege mit, »gratuliere, geht ja gleich in die Vollen für dich, Angermüller.«
»Wieso, was meinst du?«
»Überraschung! Schön medium«, kicherte Ahrens, »frohes Schaffen!«
Mit einem knappen »Tschüs« legte Angermüller auf. Einige Minuten später saß er auf dem Beifahrersitz des Golf 7, den sie zurzeit als Dienstwagen nutzten, während sich Jansen durch den Lübecker Feierabendverkehr in Richtung Autobahn kämpfte, dabei jede Lücke und jede Möglichkeit zum Überholen gnadenlos nutzend. Endlich erreichten sie die A1, und Jansen trat das Gaspedal durch.
»Überraschung, hat dieser Ahrens gesagt. Komischen Humor hat der. Ich liebe keine Überraschungen, bei Leichenfunden schon gar nicht«, murmelte Angermüller halb zu sich selbst, während draußen die Landschaft vorbeiflog, über die sich nun die Dunkelheit senkte. Leichenfunde waren immer irgendwie Überraschungen, die aber grundsätzlich keine Freude bereiteten. Trotz jahrelanger Erfahrung berührte Georg der Anblick der gewaltsam zu Tode Gekommenen jedes Mal tief in seinem Inneren, und tröstlich war nur der Gedanke, zumindest die aufzuspüren und zur Rechenschaft zu ziehen, die jenes Leben ausgelöscht hatten.
Jansen sagte nichts, sah nur aufmerksam in den Rückspiegel, blieb konsequent auf der linken Spur und ließ alle anderen Fahrzeuge weit hinter sich. Angermüllers erster großer Einsatz seit einem Dreivierteljahr. Er verspürte eine merkwürdige Anspannung, fast so etwas wie Lampenfieber. Nach ungefähr 20 Minuten wechselten sie von der Autobahn auf eine Bundesstraße, bis sie schließlich auf einer schmalen Landstraße landeten, die durch einen dichten Laubwald führte. Als rechts vor ihnen ein heller Lichtschein durch die Bäume schimmerte, hatten sie ihr Ziel erreicht.
Jansen lenkte ihren Wagen an den Straßenrand hinter die bereits hier parkenden Fahrzeuge, und die Kommissare stiegen aus. In den hohen, winterkahlen Bäumen rauschte leise der Wind. Es roch nach feuchter Erde und moderndem Laub. »Seebadeanstalt« stand auf einem Schild. Sie folgten dem unbefestigten Weg, und nach ein paar Schritten tauchten vor ihnen mehrere Flachbauten auf, in deren Mitte sich ein Durchgang öffnete, der mit Flatterband versperrt war. Zwei uniformierte Kollegen hielten Wache, um Unbefugte am Betreten des Geländes zu hindern. Vor ihnen stand ein einzelner Mann mit einem Hund an der Leine, rauchte, redete und reckte neugierig den Hals. Die Kommissare grüßten, und der eine Polizist musterte Angermüller und Jansen skeptisch, hob aber beim Anblick ihrer Dienstausweise wortlos das Absperrband und ließ sie passieren.
»Moin! Der Herr hier hat uns den Fund gemeldet«, meldete sich sein jüngerer Kollege zu Wort und deutete auf den Hundefreund, »wollen Sie mit dem sprechen?«
»Klar, wir werfen aber erst mal einen kurzen Blick«, gab Jansen zurück und folgte Angermüller auf den Platz hinter dem Durchlass, den zwei große Scheinwerfer erhellten. Am Ende des Gebäudes, das augenscheinlich Umkleidekabinen beherbergte, und vor einem dichten Gebüsch kauerte ein Mensch im weißen Schutzanzug, ein zweiter suchte den Boden ab, und etwas entfernt davon umrundete ein dritter die Szene mit einer Kamera und verteilte Markierungsschilder.
Der Bau zur Linken beherbergte ein Café und war, genau wie die Badeanstalt, im Winterhalbjahr geschlossen. Davor lag außerhalb der Scheinwerferkegel eine Rasenfläche, hinter der im Dämmer das Wasser des Sees glitzerte, in den ein langer Steg führte, von dem jetzt nur die Umrisse zu erkennen waren.
Unwillkürlich war Angermüller stehen geblieben, um sich einen ersten Eindruck von der Szenerie zu verschaffen. Im Sommer war dies hier sicher eine beliebte Badestelle voller Erholungssuchender und planschender Kinder, aber um diese Jahreszeit ein sehr einsamer Platz. Und genau deshalb hatte sich jemand diesen Ort ausgesucht, um etwas zu tun, das niemand bemerken sollte. Er straffte sich und sah zu Jansen, der ebenfalls neben ihm verharrt hatte.
Als sie dem weiß gekleideten Grüppchen näherkamen, erkannte Angermüller seinen Freund Steffen. Der Kommissar war freudig überrascht, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass der Rechtsmediziner heute schon wieder seinen Dienst versehen würde. Erst am Vorabend war er von einer ausgedehnten Asienreise mit seinem Mann David zurückgekehrt, weshalb er auch bei Heinis Trauerfeier gefehlt hatte. Angermüller jedenfalls freute sich auf die Zusammenarbeit mit Steffen, der ruhig und präzise agierte und ein echter Meister seines Fachs war. Woran genau der Rechtsmediziner gerade arbeitete, konnte er auf die Entfernung nicht erkennen.
»Stopp! Hier wird mir nicht durchgelatscht. Geht gefälligst da außen rum«, schnauzte der vor ihnen kniende Kriminaltechniker die beiden Kommissare an, »ihr müsst ja nicht noch mehr kaputt trampeln. Der Scheißregen heute Nacht hat sowieso kaum was übriggelassen.«
»Hallo, Andreas, schön, dass wir mal wieder zusammenarbeiten dürfen«, grüßte Angermüller den Mann. Natürlich bekam er keine Antwort. Verbissen fuhr der Kollege fort, am Boden nach Hinweisen zu suchen, die mit dem Leichenfund in Verbindung gebracht werden konnten, was angesichts des durchweichten Rasens ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen war. Jeder hier wusste aber, dass die üble Laune von Andreas Meise nicht am Wetter lag, sondern sein persönliches Markenzeichen war.
»Mann, Ameise wieder. Das Genöle geht mir echt auf die Ketten. Als ob wir was für den Regen könnten«, brummte Jansen.
»Der ändert sich nicht mehr, Claus. Ich hör da gar nicht mehr hin. Ist vergeudete Energie, sich über Ameise zu ärgern. Hauptsache, er macht seine Arbeit ordentlich. Und da kann man ja nicht viel meckern«, meinte Angermüller leise, denn seinen Spitznamen durfte man Andreas Meise – klein von Gestalt, ein penibler Erforscher des Bodens an Fund- und Tatorten, und mit einem Schild »A. Meise« an seiner Bürotür – schon gar nicht hören lassen.
Mit einem freundlichen »Hallo, Kollegen« begrüßte Mehmet Grempel, ein weiterer Kriminaltechniker, um einiges jünger als Ameise, die Kommissare, während er ein Fundstück in einer verschließbaren Plastiktüte sicherte.
»Dein Urlaub schon wieder vorbei?«, fragte Angermüller.
»Tja, geht immer verdammt schnell. Aber hab eh nur meine Bude renoviert und war übers Wochenende mal in Coburg.«
»Ach, in der alten Heimat. Schön.«
Mehmet und der Kommissar stammten aus der gleichen Gegend in Oberfranken.
»Ich hab dir auch was mitgebracht. Kriegst du morgen«, verkündete Mehmet mit geheimnisvollem Lächeln.
»Oh, womit hab ich das verdient? Da bin ich ja gespannt«, freute sich Angermüller, »Und, hast du hier was Interessantes gefunden?«
»Was gefunden, ja. Eine Plastikkappe, wahrscheinlich von einem Kanister. Ob das interessant ist, wird sich noch rausstellen. Kleidung und sonstige persönliche Gegenstände leider bisher Fehlanzeige.«
Angermüller und Jansen waren an der äußeren Ecke der mit Steinplatten ausgelegten Umrandung vor den Umkleidekabinen angelangt, wo Doktor Steffen von Schmidt-Elm hockte und konzentriert seiner Arbeit nachging. Erst jetzt konnten die Kommissare ausmachen, was vor dem Rechtsmediziner lag. Beide stoppten gleichzeitig und starrten auf das gespenstisch anmutende Wesen. Der Anblick löste bei Angermüller mehr als Unbehagen aus. Schließlich räusperte er sich.
»Grüß dich, Steffen! Noch gar nicht richtig angekommen, schon wieder im Dienst.«
»Wat mutt, dat mutt. Grüß dich, Schorsch, hallo, Jansen.«
Mit einem kurzen Lächeln begrüßte Schmidt-Elm die Kommissare. Er war der Einzige hier, der die fränkische Version von Angermüllers Vornamen benutzte.
»Puh, schon ein bisschen heftig als Wiedereinstieg«, meinte Angermüller mit Blick auf die menschlichen Überreste, an denen Steffen gerade erste Untersuchungen vornahm: ein schwarzer Schädel ohne Haare, der Mund mit seinen zwei Reihen Zähnen geöffnet wie zu einem Grinsen, die schwarzen gebeugten Arme wie gestikulierend in die Luft gereckt.
»Da stimme ich dir zu«, bestätigte Steffen und rückte seine Lesebrille zurecht.
»Magst du schon irgendwelche Erkenntnisse weitergeben?«, fragte Angermüller, auch wenn er befürchtete, dass es noch nicht viel sein konnte, und der Rechtsmediziner es ohnehin vorzog, seine Befunde erst durch die Obduktion zu verifizieren.
»Ich kann euch nur zum Offensichtlichen etwas sagen. Man gedachte, diesen Körper zu verbrennen, was sehr hohe Temperaturen, gute Belüftung und einen wirksamen Brandbeschleuniger in ausreichender Menge benötigt. Davon hat man sicher was auf das Opfer geschüttet, am Kopf angefangen, der ja sehr stark betroffen ist. Auch der Oberkörper wurde damit übergossen, und da es sich um eine schlanke Person handelt, haben wir diese typische sogenannte Fechterstellung aufgrund der durch die Hitze verkürzten Muskeln und Sehnen.«
Steffen wies auf die so geisterhaft ins Leere greifenden Arme des Leichnams.
»Doch insgesamt reichte die Menge Brandbeschleuniger nicht aus, denn wie ihr seht, ist der Körper von den Knien abwärts noch einigermaßen unversehrt.«
Den Anblick der zierlichen Füße mit den lackierten Nägeln fand Angermüller fast am schlimmsten, und er schaute schnell woanders hin. Es war ein so eindeutiger Hinweis auf ein Leben, das abrupt und gegen den Willen des Individuums beendet worden war, dass ihn schauderte.
»Im Übrigen handelt es sich eindeutig um eine Frau«, Schmidt-Elm wies auf den ebenfalls weniger versehrten Beckenbereich, »noch recht jung wahrscheinlich. Sie war unbekleidet. Größe so um die 175 Zentimeter.«
Angermüller nickte.
»Ist das Feuer denn auch die Todesursache?«
Steffen hob die Schultern.
»Das, oder ob sie schon tot war, als man sie in Brand gesteckt hat, weiß ich erst nach der Obduktion. Mehr kann ich momentan noch nicht sagen.«
»Vielen Dank, Steffen. Wir versuchen’s dann mal auf gut Glück mit der Vermisstendatei. Und wenn wir morgen den Zahnstatus haben, können wir bei den Zahnärzten eine erste Abfrage starten. Allerdings wird das leider dauern.«
»Mal schauen, ich hab da so meine Kontakte, zumindest hier in der Gegend, vielleicht kann ich das etwas beschleunigen.«
»Das wär natürlich gut. Okay, wir sehen uns hier noch ein wenig um. Dann bis morgen, nehme ich an. So um neun Uhr?«
»Ja, tschüs, bis dahin im Institut.«
Während der Rechtsmediziner sich wieder über sein Untersuchungsobjekt beugte, wandten sich Angermüller und Jansen in Richtung Ausgang, um erst einmal den Mann zu befragen, der den Fund gemeldet hatte.
»Und, Andreas, hast du schon was für uns?«, wollte Angermüller im Vorübergehen wissen.
»Komiker! Wie denn? Kein Schmuck, keine Textilreste, schon gar keine Papiere, und von Schuhabdrücken nur noch Überreste. Dieser bescheuerte Regen hat fast sämtliche Spuren beseitigt.«
»Dann gib dir mal Mühe«, forderte Angermüller ihn auf und schnitt eine Grimasse zu Jansen.
»Ihr könnt mich alle mal«, kam es böse zurück. Sie waren schon ein paar Meter weiter, da rief Ameise ihnen nach: »Im Übrigen, wenn ihr mich fragt: Ist doch noch ein bisschen zu früh zum Angrillen, oder?«
Es folgte ein meckerndes Lachen. Jansen stöhnte genervt. Ohne weiter von Ameise Notiz zu nehmen, gingen die Kommissare zu den Streifenpolizisten, die immer noch mit dem Zeugen zusammenstanden. Der eine überreichte ihnen einen Zettel mit den Daten des Mannes.
»Bitte entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten. Ja, dann erzählen Sie doch mal, Herr …«, Angermüller schaute auf seine Personalien, »Herr Burdinski, wann und wie Sie die tote Person aufgefunden haben.«
»Also, ich bin gestern spätabends hier angekommen. Ich komm aus Essen. Ich hab ein Ferienhaus gleich nebenan in der Siedlung, wissen Sie. Meine Frau hatte keine Lust mitzufahren, sie findet das hier immer so trostlos um diese Jahreszeit. Is ja auch niemand da von unseren Nachbarn. Ja …«
Der Mann im Trainingsanzug nickte selbstvergessen. Sein Rauhaardackel zerrte ungnädig an der Leine.
»Herr Burdinski, könnten Sie uns bitte schildern, wie Sie auf den Fund aufmerksam wurden und wann das war?«, versuchte Angermüller, den Mann zum Kern der Frage zu bringen.
»Ja, also, weil das ja so nass war heute Nacht, hab ich den Hund für sein Geschäft immer nur kurz in unseren Garten gelassen. Dann bin ich am Vormittag erst mal in den Supermarkt gefahren, weil ich hier nix zu beißen hatte. Und kein Bier!«
Er grinste die beiden Beamten an. Angermüller hörte seinen Kollegen schwer atmen. Wahrscheinlich litt der schon wieder Höllenqualen, denn wenn Jansen eine Tugend abging, war das Geduld.
»Und wann und wie sind Sie dann auf das Opfer gestoßen?«, hakte Angermüller noch einmal nach.
»Das war so vor zwei Stunden ungefähr. Ich hatte gut gegessen und dachte, Herbert, es regnet grad nicht, jetzt tust du mal ein paar Schritte, am besten runter zum See. Das tut der Susi gut und dir auch. Ja …«
Der Hund bellte, als sein Name fiel.
»Susi, still!«
»Und weiter?«
»Ach so, ja. Hier, meine Susi hat die Leiche gefunden. War nicht angeleint – ausnahmsweise, Herr Kommissar. Und plötzlich war sie weg und hat gebellt wie verrückt und nicht aufgehört, bis ich hinterher kam. Na, ich hab vielleicht einen Schrecken gekriegt! Sieht ja aus wie aus einem Gruselfilm, dat Dingens! Ich hab sofort mein Handy genommen und den Notruf gewählt. Ihre Kollegen waren zum Glück schon nach einer Viertelstunde hier.«
»Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen, weder am Abend zuvor noch heute?«
»Nee, wat soll mir denn aufgefallen sein?«
»Ungewöhnliche Geräusche, Lärm, fremde Autos oder Leute in der Siedlung«, zählte der Kommissar auf.
Der Zeuge schüttelte den Kopf.
»Nee, nix. Ich sach ja, hier is um die Jahreszeit tote Hose.«
»Ist gut, Herr Burdinski, vielen Dank. Das war dann alles«, resignierte Angermüller. Bei dem Menschen war wohl wirklich nichts mehr zu holen.
»Und wat is da jetzt eigentlich passiert, Herr Kommissar? Wer ist denn dat arme verbrannte Dingens?«
»Wir arbeiten daran, das herauszufinden.«
»Aha. Na ja, auch wenn Sie was wüssten, mehr erzählen Sie mir ja sowieso nich«, bedauerte Herbert Burdinski, »ein Glück jedenfalls, dass meine Frau nich hier ist. Die hätte vor Schreck ’n Herzkasper gekriegt. Na komm, Susi, dann gehen wir mal nach Hause. Tschüsskes!«
»Tschüs. Ihre Kontaktdaten haben wir ja, falls wir noch Fragen haben.«
Die beiden Kommissare wechselten noch einmal zurück auf das Gelände der Badeanstalt. Mit dem neuen Wissenstand, so gering der auch war, ließ jeder für sich die Umgebung erneut auf sich wirken, versuchte, auf seine Art zu ergründen, was sich hinter dem Wenigen, was sie wussten, verbarg, welches Drama sich hier abgespielt haben könnte.
Das Opfer war eine junge Frau, was Angermüller sofort an eine Beziehungstat denken ließ. Eifersucht setzte in manchen Menschen brutale Dämonen frei, die sie zu unvorstellbar grausamen Taten trieben. Wenn das Verbrennen nicht todesursächlich war, dann sollte es sicherlich Spuren verwischen, aber vielleicht auch komplett auslöschen, was der Täter einst geliebt hatte. Und warum hatte er sich genau diesen Ort für sein Tun ausgesucht? Gab es außer der Einsamkeit um diese Jahreszeit noch einen anderen Grund? »Schorsch! Kommst du bitte noch mal?«, unterbrach der Rechtsmediziner Angermüllers Überlegungen.
»Was gibt’s?«
»Ich habe eben etwas entdeckt, was die Identifizierung unseres Opfers sehr beschleunigen kann. Siehst du, hier?«
Steffen deutete mit seinem behandschuhten Finger auf den Brustkorb der Toten. Angermüller schüttelte den Kopf, er sah nur Schwarz.
»Die junge Frau trug Brustimplantate. Und die haben üblicherweise Seriennummern und weitere Herstellerangaben. Zumindest das eine scheint nicht komplett verschmort. So könnt ihr über den Hersteller das Krankenhaus ermitteln und dort den Namen der Patientin – richterlichen Beschluss vorausgesetzt.«
»Na, das ist doch mal eine gute Nachricht.«
»Nicht wahr? Alles Weitere dann morgen. Bei der Gelegenheit wirst du auch die Nachfolgerin von unserem Freiburger Kollegen Eberle kennenlernen, Schorsch. Der Eberle ist ja im letzten Sommer zurück in die Heimat und hat inzwischen promoviert.«
»Und welchen Dialekt spricht seine Nachfolgerin?«, fragte Angermüller augenzwinkernd, da hin und wieder Verständigungsprobleme aufgetreten waren, wenn Manfred Eberle im Eifer des Gefechts in seinen badischen Dialekt verfallen war.
»Wenn überhaupt, dann Mecklenburger Platt. Doktor Maike Witt stammt aus Wismar.«
»Das ist quasi um die Ecke, die Frau spricht ganz normal«, stellte Jansen fest, der die Neue schon kennengelernt hatte.
»Richtig. Insofern dürfte es also keinerlei Verständigungsschwierigkeiten geben. Dann nochmals tschüs und bis morgen.«
»Ja tschüs, Steffen, und danke.«
Zwei Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts tauchten auf. Sie trugen den Metallsarg, in dem die Überreste der Toten ins Institut für Rechtsmedizin transportiert würden. Die Kommissare machten sich auf den Rückweg nach Lübeck. Ruhig lenkte Jansen den Wagen über die leere Autobahn, und sie planten den nächsten Tag. Ein Kollege sollte die Datei für Vermisste und unbekannte Tote durchforsten, auch wenn sie vorerst nur die Kennzeichen »weiblich, jung, Norddeutschland« für den Abgleich hatten. Mehmet sollte bei Tageslicht den weiteren Bereich um den Fundort noch einmal genau absuchen, in der Hoffnung, doch noch auf Spuren, auf Beweismittel zu stoßen. Für sie selbst würde es um 9 Uhr mit der Obduktion beginnen, und anschließend wollten sie sich in der Gegend um den See noch einmal umhören. Vielleicht hatte ja irgendjemand etwas von einem Feuer bemerkt, und sie könnten zumindest den Zeitpunkt des Verbrennens näher bestimmen.
»Na dann, schönen Feierabend. Ich hol dich morgen früh ab«, verabschiedete sich Jansen.
»Danke, dir auch. Bis morgen.«
Es ging gegen 20 Uhr, und als Georg die Wohnungstür aufschloss, spürte er sehr deutlich seinen leeren Magen. Oh ja, nach den Stunden in der unwirtlichen Kälte hatte er sich ein schönes Abendessen verdient. Und auch sein von den schrecklichen Bildern aufgewühltes Gemüt würde der Genuss eines guten Essens beruhigend streicheln.
Er goss sich einen Rotwein ein und inspizierte seine Vorräte, von denen er immer ausreichend vorhielt, um, auch ohne extra einzukaufen, eine köstliche Mahlzeit zubereiten zu können. Gerade begann er zu überlegen, ob es ihn eher nach Pasta oder einem Pfannkuchen mit Speck und Champignons gelüstete, da durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Derya! An seine Verabredung mit ihr um 19 Uhr hatte er überhaupt nicht mehr gedacht!
Aber irgendwie merkwürdig, dass sie gar nicht angerufen hatte. Wenn sie nicht auch den Termin vergessen hatte, was ziemlich unwahrscheinlich war, dann bedeutete das nichts Gutes. Wahrscheinlich war sie sauer, ziemlich sauer sogar. Sofort versuchte er, Derya auf dem Handy zu erreichen, doch immer wieder sprang nur ihre Mobilbox an. Nach dem dritten Mal sprach er drauf:
»Liebe Derya, ich muss mich tausendmal bei dir entschuldigen, aber wir sind gegen Abend zu einem Einsatz gerufen worden, eine unbekannte Tote, verbrannt … ja … sehr unschön das alles. Unsere Verabredung hab ich darüber völlig vergessen. Es tut mir wirklich unheimlich leid. Also, entschuldige noch mal, aber ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Solltest du dich jetzt noch treffen wollen, ruf einfach kurz an – ich komme überall hin. Dann erst mal tschüs. Freu mich, wenn du dich meldest.«
Ach ja, manchmal ging einfach alles schief.