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Kapitel III
ОглавлениеMit lautem Quietschen stoppte ein Fahrrad neben ihr, und jemand sagte laut: »Viktoria Johanne Frederiksen! Guten Morgen.«
Erstaunt hob Vicky, die gerade vor ihrer Haustür die Reste einer verhedderten Plastiktüte aus den Fahrradspeichen pulte, ihren Kopf. Ein großer, schlanker Typ stand mit seinem Rad direkt vor ihr und grinste sie an. Ja, er kam ihr bekannt vor. Aber wer war das?
»Dich hab ich ja 100 Jahre nicht gesehen«, stellte er fröhlich fest. Er trug eine schmale Windjacke zu Jeans, und unter seinem Fahrradhelm sah ein dunkler Pferdeschwanz hervor. Auf jeden Fall sah er gut aus. In dem Moment fiel bei Vicky der Groschen, zugleich wurde sie unter ihren weißblonden Locken knallrot und wünschte sich sonst wohin.
»Ach, du bist das, Marten«, sagte sie betont gleichgültig, wohl wissend, dass ihr Erröten nicht zu übersehen war, »hab dich mit der neuen Frisur fast nicht erkannt.«
Was für eine blöde Bemerkung! Bis auf den hervorlugenden Zopf ließ der Fahrradhelm gar keinen Blick auf sein Haar zu. Vicky hätte sich ohrfeigen können! Aber Marten ging darauf gar nicht ein.
»Mensch, sag mal, wie lange ist das her, dass wir uns gesehen haben?«
Vicky hob unentschieden die Schultern. Sie konnte sich immer noch sehr gut erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, auch wenn das ungefähr drei Jahre her sein musste. Das war, als ihre Schwester bei Marten aus- und bei ihrem nächsten Freund eingezogen war. Aber alle Erinnerungen an die Zeit damals und besonders an Marten hatte sie in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt. Zu viel Kummer und Enttäuschung waren für Vicky damit verbunden, und für manches schämte sie sich noch heute.
Marten schaute sie an. Immer noch hatte er diesen Blick, der suggerierte, dass man das Einzige auf dieser Welt war, das ihm wichtig war, dem er seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Und wieder spürte sie, genau wie damals bei jedem Mal, wenn sie mit ihm zusammen traf, wie ihr die Knie weich wurden.
»Wie geht’s dir, Vicky? Wohnst du hier? Was machst du?«
»Äh …«, sie musste erst einmal ihre plötzlich belegte Stimme wieder freikriegen.
»Ja, ich wohne hier in einer Wohngemeinschaft. Alles gut bei mir. Ich mach eine Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin, und nebenher erwerbe ich die Fachhochschulreife, weil ich anschließend noch studieren will«, spulte sie ab, als ob sie in einem Bewerbungsgespräch säße.
Der junge Mann lächelte, spöttisch, wie sie sofort dachte. War ja auch zu peinlich, wie sie reagierte.
»Ich hab jetzt keine Zeit, aber lass uns doch bald mal einen Kaffee zusammen trinken. Hast du noch meine Handynummer?«
»Weiß ich nicht.«
Natürlich hatte sie die nicht gelöscht.
»Also, wenn deine noch die alte ist, müsst ich die noch haben.«
»Ist die alte. Aber ich muss jetzt echt los. Tschüs, Marten.«
Vicky fummelte an ihrem Fahrradhelm, ohne ihn aufzusetzen. Mit dem Ding fand sie sich total doof.
»Super, ich melde mich! Tschüs, Viktoria Johanne, hat mich echt gefreut.« Marten zwinkerte ihr zu, schwang sich auf sein Rad, und weg war er. Auch Vicky setzte ihren Helm auf und fuhr los. Zwei Minuten später bemerkte sie, dass sie in die falsche Richtung fuhr. Oh Mann, sie war ganz schön durch den Wind! Sie musste ja bei der Kardiologenpraxis vorbeifahren, wo Mia heute durchgecheckt werden sollte. Vicky sollte sich Karolines Hausschlüssel abholen, weil Mia erst heute Morgen bemerkt hatte, dass sie ihr Handy in der Wohnung vergessen hatte. Und sie hatte Vicky gebeten, es ihr von dort gleich vorbeizubringen, damit sie auch direkt mitbekam, wenn Karoline sich endlich meldete. Eigentlich fand Vicky das total übertrieben. Ob Mia das Handy nun drei Stunden früher oder später wieder hatte, meine Güte, das änderte doch wirklich nichts! Aber Mia klang so völlig aufgelöst, dass Vicky gar nicht anders konnte.
Von der Arztpraxis fuhr sie also zu der Adresse in der Nähe vom Brink. Sie war nur kurz nach Karolines Einzug einmal in der Wohnung ihrer Schwester gewesen. Es gab jetzt noch ein neues weißes Ledersofa und einen Schminktisch mit einem riesigen, von Glühbirnen umrahmten Spiegel, den Vicky noch nicht kannte. Darüber hing ein professionell gestaltetes Plakat mit einem Porträtfoto von Karoline, riesengroß. Außerdem standen ein paar unterschiedliche Stative herum, daneben zwei Studioleuchten – der Wohnraum und die angrenzende offene Küche waren zum Aufnahmestudio umfunktioniert worden. Vicky hatte schon lange nicht mehr durch Karolines Instagram-Profil gescrollt. Sie hatte durch Arbeit und Ausbildung sehr wenig Zeit, und die Videos ihrer Schwester über Mode, Work-outs, Schminktipps und kalorienarmes Kochen waren nicht so ganz ihre Welt.
Die Küche war sehr aufgeräumt, wirkte ziemlich unbenutzt, auch ein kleines Zimmer, das wohl als Büro diente, sah mit seinen Ordnern, der sortierten Post und dem ordentlichen Schreibtisch gut organisiert aus. Im Schlafzimmer dagegen herrschte Klamottenchaos – das war schon immer so gewesen. Überall lagen Schuhe, Unterwäsche und Kleider herum, dazwischen Pakete von den Modelabels, mit denen Karoline Werbeverträge hatte, die zum Teil noch gar nicht ausgepackt waren. So, wie es aussah, filmte sie sich ständig und immer, ihr ganzer Alltag war öffentlich. Auch im Schlafzimmer stand ein Stativ. Ein solches Leben konnte Vicky sich überhaupt nicht vorstellen. Aber Karoline war schon immer sehr zielstrebig und gleichzeitig kontrolliert gewesen. Sie wollte Karriere machen, berühmt werden, viel Geld verdienen, das waren ihre Ziele. Sie hatte einen Businessplan, dem sie alles andere unterordnete.
Finanziell schien es Karoline ja wirklich ganz gut zu gehen. Sie fuhr ein eigenes Auto, und in dieser Wohnung, die sie offenbar allein bewohnte, war alles schicker und neuer als in Vickys Wohngemeinschaft, deren bunt möblierten Zimmern und der gemütlichen Küche, in der sie oft zusammen kochten oder mit Freunden bis tief in die Nacht klönten – aber irgendwie kam es Vicky hier auch ziemlich unpersönlich vor, und gemütlich war es schon gar nicht. Ob Karoline glücklich war? Sie sahen sich zu Ostern, an Weihnachten und zum Geburtstag ihrer Mutter, selten mal dazwischen. Im Grunde hatte Vicky keine Ahnung, wie es ihrer Schwester ging.
In einem kugeligen Glas auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnraum zog ein einsamer Goldfisch seine Runden. So ein Fisch zur Dekoration – was für eine Tierquälerei! Schnell wechselte Vicky das Wasser für das arme Tier. Neben dem Goldfischglas lag ein aufgeklappter Laptop. Mias Handy fand sich in der Küche auf einer Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Automatisch drückte Vicky den Home Button. Es waren keine neuen Nachrichten oder Anrufe eingegangen. Sie packte das Teil ein und ging zum Ausgang.
»Guten Morgen«, grüßte der große Mann, der aus der gegenüberliegenden Wohnung kam, als sie gerade die Wohnungstür abschloss.
»Guten Morgen«, murmelte Vicky.
»Ist Frau Frederiksen inzwischen zurück?«
Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er hatte dichtes dunkles Haar und einen Dreitagebart, sah eigentlich ganz freundlich aus. Aber was wollte der? Kannte er Karoline besser? Er bemerkte scheinbar ihr Zögern.
»Vorgestern Nachmittag ist mir die Mutter von Frau Frederiksen begegnet«, erklärte er. »Sie schien sich Sorgen zu machen, weil ihre Tochter nicht, wie verabredet, am Montag von einer Reise zurückgekommen ist. Deshalb frage ich.«
Ach stimmt, Mia hatte ja schon der ganzen Nachbarschaft ihre übertriebenen Befürchtungen mitgeteilt.
»Nein, Karoline ist noch nicht zurück. Aber das kommt öfter vor, dass meine Schwester ihre Pläne ändert und sich nicht meldet.«
»Ach so. Na dann …«
Der Nachbar zögerte kurz. Er schien nachzudenken. Schließlich sagte er:
»Mein Name ist Angermüller. Ich bin bei der Kriminalpolizei. Ihre Mutter schien mir sehr beunruhigt wegen des Ausbleibens von Karoline.«
Er holte eine Karte aus der Brusttasche seiner Jacke und überreichte sie Vicky.
»Sollte Ihre Schwester nicht bald auftauchen, kann Ihre Mutter sich gern bei mir melden, wenn sie vielleicht eine Vermisstenanzeige aufgeben will.«
Vicky schaute auf seine Karte. Zumindest sah die aus, als ob sie echt wäre. Aber eigentlich brauchte sie die nicht, denn natürlich würde Karoline bald zurückkommen, daran zweifelte Vicky nicht im Geringsten, und so bedankte sie sich nur kurz.
»Na dann tschüs, mein Kollege wartet. Einen schönen Tag für Sie«, verabschiedete sich der Nachbar.
»Danke, Ihnen auch«, entgegnete Vicky automatisch und las noch einmal genauer auf der Visitenkarte. »Kommissariat 1« stand da. War das nicht immer die Bezeichnung für die Mordkommission? Nahm dieser Polizist Mias übertriebene Befürchtungen etwa ernst, weil Karoline nichts von sich hören ließ und quasi verschwunden war? Auf keinen Fall würde sie Mia davon erzählen, denn dann würde die vollends durchdrehen.
Während sich Angermüller im Dienstwagen den Sicherheitsgurt anlegte, schweifte sein Blick zu der jungen Frau, die sich gerade vor dem Haus auf ihr Rad schwang. Sie schien sich nicht im Geringsten um den Verbleib von Karoline Frederiksen zu sorgen. Angermüller, der an den ihnen bevorstehenden Termin denken musste, an das noch nicht identifizierte Opfer, hoffte, dass ihr Optimismus angebracht war.
Nie wäre er darauf gekommen, dass dies die Schwester seiner Nachbarin sein könnte. Sie war viel kleiner, hatte wilde weißblonde Löckchen und trug sportlich-praktische Klamotten. Immerhin, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Mutter konnte er feststellen – Größe, Figur und auch die Gesichtszüge glichen sich, wenn auch der Jüngeren die von Mia Frederiksen zur Schau getragene herausfordernde Fröhlichkeit fehlte.
»Nanu, was macht der denn schon wieder hier?«, murmelte Angermüller auf einmal.
»Wen meinst du?«
»Na, der Kerl, der da am Gartenzaun lehnt. Der scheint ein hartnäckiger Verehrer meiner Nachbarin zu sein. Der hängt unglaublich oft hier rum.«
Als der junge Mann mitbekam, dass Angermüllers Blick auf ihm ruhte, wandte er sich ab und ging schnellen Schrittes davon.
»Komischer Typ«, kommentierte Angermüller.
Gewohnt rasant legte Jansen den kurzen Weg zum Institut für Rechtsmedizin zurück, während vor Angermüller immer wieder das Bild seiner verschwundenen Nachbarin auftauchte. Die Frage, ob ihre Schwester Brustimplantate trug, hätte einiges klären können, doch wie hätte er die der jungen Frau stellen sollen, ohne sein Motiv zu erläutern? Und eigentlich wollte er sowieso nicht an so einen verrückten Zufall glauben.
Auf den Stufen zum Institutseingang trafen sie auf Staatsanwalt Lüthge.
»Guten Morgen«, erwiderte der den Gruß der Kommissare, »ich hätte mir gestern gern selbst ein Bild vom Tatort gemacht, aber wir stecken mitten in den Vorbereitungen für den Prozess gegen die Eltern des toten Babys …«
»Verstehe.«
Angermüller erinnerte sich, dass die sehr jungen Eltern den medizinischen Notruf gewählt hatten, um eine Totgeburt anzuzeigen, sich bei der Obduktion aber herausgestellt hatte, dass der kleine Junge lebend zur Welt gekommen war. Der Kommissar war froh, mit diesem bedrückenden Fall nicht näher befasst gewesen zu sein.
»Wir wissen bisher nicht, ob die Fundstelle in der kleinen Badeanstalt auch der Tatort ist«, erläuterte er dem Staatsanwalt, »aber vielleicht erfahren wir jetzt ja mehr.«
Jansen hielt ihnen die Tür auf, und wenig später standen die beiden Polizisten mit Lüthge im Sektionsraum, wo Steffen von Schmidt-Elm, Maike Witt, die neue Rechtsmedizinerin, und ein Assistent den durch die Hitze so schrecklich entstellten Körper vermaßen und wogen, oder besser das, was davon übrig war.
Wie immer war es einer der Termine, auf die Angermüller gern hätte verzichten können. Zeuge der Prozeduren in der Rechtsmedizin zu werden, empfand er als echte Zumutung. Mittlerweile bereitete er sich stets bewusst darauf vor, frühstückte am Morgen vor der Obduktion sehr bescheiden mit Knäckebrot und Tee und hatte damit seinen Magen ganz gut im Griff. Außerdem trug er an so einem Tag einen dicken Schal oder ein Tuch, um sich gegebenenfalls gegen die üblen Gerüche zu schützen. Meist allerdings brachte das nicht viel, so wie heute.
Roch es sonst oftmals faulig, süßlich, wenn ein gräulich aufgedunsener Körper auf dem Tisch lag, hing heute ein ausgeprägter Gestank nach verbranntem Fleisch in der Luft, nach Kohle, irgendwie bitter. Doch auch diese Duftnote war ein sehr unangenehmes Gemisch für Angermüllers Nase.
Schmidt-Elm und seine neue Kollegin, eine sehr große, sehr schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren, arbeiteten konzentriert Hand in Hand, verständigten sich mit Blicken und Gesten, nur ganz selten fiel ein Wort. Für Angermüller verging die Zeit quälend langsam, aber irgendwann, mehr als eine Stunde war um, kam Steffen zu einem ersten Resümee.
»Der menschliche Körper brennt nicht so leicht und in diesem Fall auch nicht so lange, ich nehme an, maximal 15 Minuten. Der oder die Täter hatten sich von dem Feuer sicherlich mehr versprochen, wahrscheinlich das Vernichten des Körpers bis zur berühmten Unkenntlichkeit. Was wir bisher wissen: eine junge Frau, schlank, ein Meter 75 groß, wahrscheinlich langes Haar. So, unser Paul hat den Schädel bereits von der Kopfhaut befreit und wird ihn jetzt entlang der Hutkrempenlinie eröffnen.«
Mit fröhlichem Gesicht waltete der Präparator seines Amtes und entfernte mit der Handsäge die Schädeldecke. Der junge Mann hatte vor einiger Zeit seine weibliche Vorgängerin ersetzt, die vor allem durch ihre ausdauernd schlechte Laune aufgefallen war. Paul war das genaue Gegenteil, was Angermüller angesichts des Umfelds und der Tätigkeit immer noch ziemlich irritierte.
»Wenn Sie einmal schauen möchten …«
Der Rechtsmediziner hob die Gehirnschale an.
»Wir haben am hinteren Schädel zwei recht nah beieinander liegende geformte Brüche, verursacht durch äußere Gewalteinwirkung. Da diese oberhalb der Hutkrempenlinie liegen, sind sie nicht mit einem Sturz auf ebenen Boden zu erklären. Sie stammen wahrscheinlich von einem Schlag mit einem harten, kantigen Gegenstand, vielleicht so etwas wie eine große Rohrzange oder ein Scherenwagenheber. Und sehen Sie: Die massiven Schläge gegen den Kopf haben ein großes Epiduralhämatom verursacht, zu erkennen an dieser spindelförmigen Blutansammlung zwischen der harten Hirnhaut und dem Schädelknochen.«
Mit einer Pinzette deutete von Schmidt-Elm auf die entsprechende Stelle und gab dann dem Präparator ein Zeichen. Der trat näher, entnahm vorsichtig das Gehirn und brachte es zur Waage.
»Noch eine wichtige Information, bevor wir den Brustkorb eröffnen«, begann Steffen, »bereits am Fundort hatte ich ja festgestellt, dass das Opfer Brustimplantate trug. Das linke ist durch die Hitzeeinwirkung geplatzt, das rechte nur angeschmolzen. Die Wirkdauer des Feuers hat nicht ausgereicht, um die Kunststoffteile komplett zu zerstören. Dann wollen wir mal, Frau Witt, bitte.«
Die junge Kollegin musste ein wenig Kraft aufwenden, da das Material am Brustkorb haftete, dann hob sie vorsichtig mit ihrer Pinzette ein durch Hitzeeinwirkung leicht verformtes, mit Ruß überzogenes Kunststoffteil ab und hielt es für alle sichtbar in die Höhe. Als Doktor Maike Witt zum ersten Mal das Wort ergriff, war Angermüller erstaunt, wie laut und vor allem wie tief ihre Stimme war.
»Hier, auf der Rückseite findet sich noch gut erkennbar die Hersteller- und Seriennummer, anhand derer man relativ einfach den Hersteller ausfindig machen kann. Über die Seriennummer findet man dann die Klinik, in der der Eingriff vorgenommen wurde, und schließlich auch bei wem.«
Ja, das erleichterte wirklich ihre Nachforschungen, dachte Angermüller. So würden sie viel zügiger die Identität des Opfers aufdecken können, als wenn sie mit dem Zahnstatus und der aufwendigen Nachfrage bei Zahnärzten hätten arbeiten müssen.
»Da ein Brustimplantat nur volljährigen Personen eingesetzt wird, ist die junge Frau also mindestens 18 Jahre alt«, fuhr Maike Witt fort, »vom Zustand der Weisheitszähne her, und da die Wachstumsfugen am Schlüsselbein noch nicht ganz geschlossen sind, grenzen wir das Alter unseres Opfers zwischen 20 und 21 Jahre ein.«
Steffen nickte zustimmend und griff zur Rippenschere, um den nächsten Schnitt in Angriff nehmen. Währendessen bewegten sich Angermüllers Augen unruhig hin und her, auf der Suche nach einer Ablenkung vom Geschehen auf dem Obduktionstisch. Sie blieben an der jungen Rechtsmedizinerin hängen, die mit interessierter Miene das Geschehen beobachtete, bereit, bei Bedarf einzugreifen.
Doch mehr noch als der Anblick auf dem Tisch war es vor allem das knirschende Geräusch der Schnitte, das Angermüller irritierte. Wie beim Tranchieren einer knusprig gebratenen Gans, ging es ihm durch den Kopf. Oh Gott, was für einen schrägen Gedanken hab ich da! Inständig sehnte der Kommissar das baldige Ende dieser schaurigen Vorführung herbei.
»So, Paul hat das Gehirn in Scheiben geschnitten. Die im Hirngewebe sichtbaren Kontusionsblutungen sind definitiv vital durch stumpfe Gewalteinwirkung entstanden. Mit anderen Worten steht fest, dass das Opfer durch Schläge gegen den Hinterkopf zu Tode gekommen ist und man mit der anschließenden Verbrennung versucht hat, sämtliche Spuren zu löschen.«
»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Staatsanwalt Lüthge wissen.
»Tut mir leid«, gab Steffen Auskunft, »durch die Hitzeeinwirkung werden Totenflecke auch an den abhängenden Körperpartien, die nicht verkohlt sind, hitzefixiert, und die eigentlichen Aufliegeflächen weisen ja keine Totenflecke auf. Temperaturmessung ergibt hier ebenfalls keinen Sinn. Klar ist nur, dass sie wohl mindestens seit gestern dort gelegen hat, denn der Leichnam war vom Regen in der Nacht von vorgestern auf gestern durchnässt.«
Erleichtert, dem Sektionsraum mit seiner schauerlichen Szenerie entkommen zu sein, standen Angermüller und Jansen mit Staatsanwalt Lüthge vorm Institut für Rechtsmedizin. Das Grau der vergangenen Tage hatte sich verzogen, es war ein klarer, sonniger Märztag. Immer noch wehte ein eisiger Wind. Bevor sich Lüthge verabschiedete, versprach er, sich schnellstmöglich um eine richterliche Anordnung für die Herausgabe der Daten des Herstellers der Brustimplantate und des Krankenhauses zu bemühen, das den Eingriff vorgenommen hatte. Sie alle hatten ein Interesse daran, möglichst frühzeitig die Identität des Opfers zu erfahren, die sie hoffentlich zu einem konkreten Ermittlungsansatz führen würde.
»Und jetzt fahren wir zum See und schauen, ob nicht jemand was von dem Feuer mitbekommen hat, oder, Claus?«
Jansen zeigte zum Einverständnis seinen hochgereckten Daumen.
»Aber vorher muss ich was essen, sonst kipp ich aus den Latschen. Hab heute Morgen nix gefrühstückt.«
»Mmh, ich hatte auch nur trockenes Knäckebrot zum Tee …«
Angermüller sah auf die Uhr. Ja, er war einem kleinen Imbiss nicht abgeneigt, aber seit der Obduktion hatte er den Kopf voller Fragen. Eine junge Frau um die 20, die an ihrem Körper Eingriffe zur vermeintlichen Optimierung hatte vornehmen lassen – was hatte sie sich davon erhofft? Schon im nächsten Jahr würden seine Töchter volljährig. Welche Wünsche würden sie sich erfüllen, wenn sie alles selbst entscheiden konnten? Was wohl war das Ziel der jungen Frau gewesen, die so abrupt aus dem Leben gerissen worden war, und für die es nun keine Träume, kein Ziel, keine Zukunft mehr gab.
»Wat is? Hast du etwa keinen Hunger?«, riss ihn Jansen aus seinen Grübeleien.
»Doch, doch. Lass uns mal über Niendorf fahren, so eilig haben wir’s ja nicht.«
»Also Fisch zum Frühstück is ja nich so meins«, brummelte Jansen, der die Vorlieben seines Kollegen kannte, »auch wenn ich ab und zu schon mal welchen esse.«
Das ewige Thema bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten. Trotz einiger Lernfortschritte aufgrund der Küche seiner Freundin Anja-Lena und Angermüllers sanfter Versuche von Geschmackserziehung, bevorzugte Jansen nach wie vor Deftigkeiten mit Fleisch, gerne in Form von Burgern oder Currywurst.
»Ach, Claus, du kennst mich doch.«
»Eben drum.«
»Komm, ich bin doch immer kompromissbereit. Wenn du jetzt nicht gerade ein Frühstück mit Marmeladenbrötchen willst, kommst du bestimmt auf deine Kosten, das garantier ich dir.«
Die Kommissare sprachen nicht, während sie den Weg aus der Stadt nahmen. Sie durchquerten den Herrentunnel, tauchten wieder in die helle Sonne und verließen bei Travemünde die Bundesstraße. Durch kleine Ortschaften, vorbei an Feldern und Wiesen, rollten sie nach Norden. Die Bäume und Büsche am Straßenrand umgab ein zarter grüner Schein, der den Frühling ahnen ließ.
»Du sachst ja gar nix«, bemerkte Jansen, der, wie meist, den Wagen lenkte, »was geht dir denn so durch den Kopf?«
Jansen selbst war kein Schnacker und stolz darauf, doch die andauernde Schweigsamkeit seines Kollegen, der sich sonst gern austauschte, schien ihn heute zu irritieren.
»Findest du das eigentlich normal, dass eine so junge Person Brustimplantate trägt?«, fragte Angermüller statt einer Antwort.
»Tscha«, machte Jansen und kaute auf seiner Unterlippe, »hört man ja öfter, dass die Leute sich immer jünger unters Messer legen – und nicht nur die Mädels.«
»Ja, stimmt. Die folgen irgend so einem Körperoptimierungswahn, wollen absolut perfekt sein und lassen einfach korrigieren, was ihnen nicht gefällt. Und wahrscheinlich glauben sie auch noch, mit einer neuen Nase oder einem strafferen Po wären alle Probleme ihres Lebens gelöst.«
»Wenn dat man so einfach wäre. Die sollten uns mal fragen, was, Kollege?«
»Wieso, hast du Probleme?«
»Nee, nur Hunger.«
»Da können wir was gegen tun. Wir sind ja schon in Niendorf. Fahr da mal rein, wo ›Hundestrand‹ auf dem Schild steht«, wies Angermüller seinen Kollegen an und deutete auf die kleine Straße, die rechts abging.
»Na, satt geworden?«
»Gerade so«, grinste Jansen, »nee, war gut der Burger, aber hätte ruhig ’n büschen mehr sein können.«
Angermüller hatte eine Niendorfer Fischsuppe genossen und war damit sehr zufrieden. An dieser recht schlicht aufgemachten Bude, die er vor einiger Zeit entdeckt hatte, schmeckte es ihm besser als in manch einem chic hergerichteten Restaurant.
Sie machten sich auf den Weg zum See, wo sie in der Siedlung neben der Badeanstalt mit ihren Befragungen begannen, allerdings ohne Ergebnis. Wie der Zeuge am Vortag geschildert hatte, standen die meisten Häuser um diese Jahreszeit noch leer, und die wenigen Bewohner, die sie angetroffen hatten, bedauerten, nicht weiterhelfen zu können.
In der Hoffnung auf mehr Erfolg fuhren die Kommissare weiter nach Klingberg, das auf der anderen Seite des Sees lag. Zumindest in dem Teil des hübschen kleinen Ortes, wo die Häuser etwas erhöht an der Uferstraße lagen, hatte man einen freien Blick auf die Badeanstalt am Ufer gegenüber.
Auch hier schienen viele Anwesen nur als Feriendomizile genutzt zu werden und waren momentan unbewohnt. Überall, wo sie bisher die Bewohner angetroffen hatten, äußerte man Bedauern, nicht weiterhelfen zu können. Niemand hatte etwas von einem Feuer bemerkt.
Sie warteten vor der Tür einer kleinen Villa, die wohl aus den 1920ern stammte, und der eine gründliche Restaurierung gutgetan hätte. Das Haus stand auf einem weitläufigen Grundstück in einem etwas verwilderten Garten mit vielen Obstbäumen. Gerade klingelte Jansen ein zweites Mal, da wurde die Tür aufgerissen.
»Wer stört?«
Ein massiger Typ in Jeans und Strickpulli musterte die Beamten missmutig über seine Lesebrille hinweg. Die Kommissare zückten ihre Dienstausweise, und Angermüller sagte zum wiederholten Mal seinen Spruch auf.
»Mein Name ist Angermüller, das ist mein Kollege Jansen. Wir sind von der Kripo Lübeck und würden gern wissen, ob Sie in den letzten Tagen am Pönitzer See etwas Ungewöhnliches beobachtet haben.«
»Ach, zwei echte Kommissare, wie interessant! Was könnte ich denn beobachtet haben?«
Der Mann schaute die beiden mit plötzlichem Interesse an.
»Das wollen wir ja von Ihnen wissen, Herr …«, Angermüller lugte auf das Klingelschild, »Herr Arthur Döpper?«
»Genau. Hat jemand Gift ins Wasser entsorgt? Oder gab’s ein Bootsunglück? Wurde eine Leiche versenkt?«
»Dazu können wir leider nichts sagen«, der Kommissar zeigte zum Hochparterre, »aber Sie haben aus dieser Loggia ja einen perfekten Blick über den See.«
»Aber leider keine Zeit, den ganzen Tag die schöne Aussicht zu genießen.«
»Wie auch immer, haben Sie am gegenüberliegenden Ufer etwas von einem Brand bemerkt, Rauch, Feuer …?«
Nach kurzem Nachdenken verneinte Arthur Döpper mit einem Kopfschütteln und schien auch schon wieder das Interesse an der Unterhaltung verloren zu haben.
»Nee, da kann ich leider nicht mit dienen, meine Herren. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zurück an meinen Schreibtisch.«
Damit wollte er die Haustür schließen, doch Jansen deutete auf die beiden Namenschilder unter der Klingel und fragte schnell:
»Was ist mit diesem Herrn Durand, Ihrem Mitbewohner? Könnten wir den mal sprechen? Vielleicht hat der ja was mitbekommen.«
»Tut mir leid, Alain Durand ist momentan nicht hier. Der ist sowieso eher selten da, hat seinen Hauptwohnsitz in Frankreich. Im Westen, bei Arcachon, wenn Ihnen das was sagt. Also dann, auf Wiedersehen, ich habe zu arbeiten, für Monsieur Durand im Übrigen.«
Er nickte mit einem schiefen Grinsen, das eher überheblich als sympathisch wirkte, und schob die schwere Haustür zu. Erstaunt über das abrupte Ende des Gesprächs sahen Angermüller und Jansen sich an und zogen dann weiter zum Nachbargrundstück, wo hinter einem hohen Zaun ein schickes, modernes Hanghaus mit riesiger Dachterrasse thronte.
»Wohl alle ausgeflogen bei der Familie. Ach so, Familie Bogdanovic«, meinte Jansen, als auf sein Klingeln nichts passierte und sah interessiert zu dem stattlichen Gebäude.
»Du sagst das so, Familie Bogdanovic. Kennst du die?«
»Weiß nicht, keine Ahnung. Ich hatte vor Jahren mal mit einem Bogdanovic zu tun, als ich noch beim Rauschgift war. Von der Terrasse da oben haben die jedenfalls einen Spitzenblick über den See. Schade, dass keiner daheim ist.«
In dem vollkommen von Efeu überwucherten Häuschen nebenan wurde, kaum, dass Angermüller den Klingelknopf betätigt hatte, über dem »Eleonora Dose« auf einem getöpferten Schild stand, sofort die Tür geöffnet.
»Ach, da sind Sie ja. Immer rin in die gute Stube«, forderte sie eine Frau mit langem weißem Haar auf. Sie trug einen auffällig gemusterten Kaftan und um den Hals eine mächtige Glasperlenkette. Es war Angermüller sofort klar, dass sie nicht die Kommissare erwartet hatte, und er zückte seinen Ausweis, auf den sie einen verdutzten Blick warf.
»Kriminalpolizei?«
»Frau Dose, nehme ich an? Mein Name ist …«
»Sind Sie nicht wegen des Interviews hier?« unterbrach sie ihn. »Ich erwarte nämlich ein paar Journalisten, die über meine Forschungen zur Geschichte von Klingberg berichten wollen. Sicher wissen auch Sie nicht, dass unser Ort Anfang des letzten Jahrhunderts als eine Siedlung von Freidenkern entstanden ist. Vegetarismus, Nudismus, organische Architektur, Reformpädagogik – all das hat es hier gegeben, bis dann …«
»Das hört sich sehr interessant an, Frau Dose, aber wir sind wegen anderen Ermittlungen unterwegs und haben nur eine kurze Frage: Haben Sie in den letzten Tagen um den Pönitzer See etwas Auffälliges bemerkt, zum Beispiel ein Feuer, ungewöhnliche Rauchentwicklung?«
»Nichts, gar nichts«, bedauerte Frau Dose. »Ich war zwar fast die ganze Zeit zu Hause, aber so mit meinen Studien beschäftigt, da vergesse ich alles um mich herum, wissen Sie.«
»Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Wiedersehen, Frau Dose«, verabschiedete sich Angermüller.
»Kein Problem. Ja, Wiedersehen, und falls Sie mal das letzte Originalgebäude aus Klingbergs Gründerjahren sehen wollen: Unser sehr reger Kulturverein ist in der Kleinen Waldschänke untergebracht, einfach auf der Seestraße ein paar 100 Meter rechts.«
Mit einem kurzen Winken verschwand Frau Dose hinter ihrer Tür.
»Mann, die konnte ja schnacken«, kommentierte Jansen leicht ermattet, als sie wieder auf die Straße traten.
»Aber war doch ganz interessant. Wusstest du, dass Klingberg mal ein Hort von Freigeistern war? Ich nicht.«
»Nee, ich auch nicht. Aber das bringt doch alles nix hier, wir verdaddeln nur unsere Zeit.«
»Na komm, ein paar Versuche noch.«
»Du kannst manchmal aber auch ’n echter Sturkopp sein!«
Jansens Laune ging immer weiter in den Keller, als sie im Haus nebenan niemanden antrafen und die Bewohner des nächsten wieder nichts mitbekommen hatten.
Ein Van fuhr in den Carport auf dem Nachbargrundstück, die Hintertüren sprangen auf, und drei Jungs rannten lärmend auf die Haustür zu.
»Hey, das geht ja wohl gar nicht! Könnt ihr mal was tragen helfen, ihr Faulbären?«, rief eine junge Frau und stieg aus der Fahrertür. Mit lautem Geheul stürmte die Truppe zurück und stürzte sich auf den Kofferraum.
»Moment! Lino, nimmst du bitte die Tüte mit den Brötchen und Levi die mit den Äpfeln. Leon, mein Großer, du trägst die Limoflaschen. So, Abmarsch!«
»Guten Tag, Sie wohnen hier?«
»Ja«, antwortete zögerlich die Mutter der munteren Kids.
»Entschuldigen Sie …« Angermüller zeigte den Dienstausweis, stellte Jansen und sich vor und stellte ihr die Frage nach Beobachtungen rund um den See. Auch sie schüttelte nach kurzem Nachdenken den Kopf.
»Tut mir leid, da kann ich nicht helfen.«
»Mama, Mama«, rief aufgeregt der älteste, vielleicht zehn Jahre alte Junge, der nicht seinen Brüdern zum Haus gefolgt war und die Frage der Kommissare gehört hatte.
»Ich hab was gesehen, Mama!«
»Was hast du denn schon wieder gesehen, Leon?«, fragte seine Mutter und verdrehte die Augen.
»Wissen Sie, der Leon ist ein sehr fantasiebegabtes Kind und erzählt oft richtig spannende Geschichten«, wandte sie sich an Angermüller und Jansen.
»Ich hab aber ehrlich was gesehen, Mama!«, beharrte der Sohn, sichtlich wütend und enttäuscht von der Reaktion seiner Mutter.
»Verrätst du mir, was du gesehen hast, Leon?«
Das Kind tat Angermüller leid, und außerdem fand er es alt genug, um Beobachtungen genau wiederzugeben.
»Ich habe ein Feuer gesehen«, Leon stockte, »nein, eigentlich kein Feuer …«
»Leon!«
Seine Mutter machte eine ungeduldige Geste.
»Ich habe Rauch gesehen am See. Da drüben habe ich Rauch gesehen.«
Zumindest deutete der Junge in die richtige Richtung.
»Und wann war das?«, wollte Angermüller wissen, »gestern, oder am Montag oder Dienstag?«
Leon schaute erst ein wenig ratlos, die Mutter war schon wieder genervt.
»Jetzt weiß ich, das war mit Papa, als der uns zurückgebracht hat! Und Papa hat das auch gesehen, kannst ihn ja fragen.«
»Dann war das am Dienstag, da hat mein Mann die Kinder am frühen Abend hier abgeliefert. Zu spät natürlich, wie immer. Wir leben nämlich getrennt.«
»Könnten Sie uns Namen, Adresse und Telefonnummer Ihres Mannes geben?«
»Klar.«
Die Frau diktierte Jansen die Kontaktdaten, die Polizisten bedankten sich bei Leon, der mit großen Ohren neben seiner Mutter stehen geblieben war. Der Stolz des Jungen war nicht zu übersehen. Aufrecht und gemessenen Schrittes ging er in Richtung Haustür, wo ihn seine kleinen Brüder neugierig erwarteten.