Читать книгу Nebelschleier - Ella Danz - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеAngermüller schreckte hoch. Was war das für ein Geräusch? Wie spät war es überhaupt? Er angelte seine Armbanduhr vom Nachttisch. Sieben Uhr. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, stammte von einem Traktor. Es entfernte sich schon wieder, wurde leiser und kurz darauf war es nicht mehr zu hören. Zufrieden sank er zurück auf das Kissen und drehte sich in seinem Bett noch einmal um. Er hatte Urlaub, und niemand schrieb ihm vor, wann er aufzustehen hatte.
Sanft war er wieder eingedämmert, da drang plötzlich aufdringliches Türenschlagen und Geschirrklappern an sein Ohr, jemand sorgte im Haus für unüberhörbare Betriebsamkeit. Wie konnte er das nur vergessen? Noch nie hatte seine Mutter etwas für Langschläfer übriggehabt. Mittlerweile war es fast acht und in ihren Augen die letzte Möglichkeit für einen anständigen Menschen, seine Schlafstatt zu verlassen. Mit einem Seufzer schlug er die Bettdecke zurück, trat ans Fenster und öffnete es weit.
Kalte Luft strömte herein, von weit her hörte man ein Hämmern, kein Vogelsang, kein Sonnenlicht, der Himmel von einem undurchdringlichen Grau und über dem Tal ein Nebelschleier. Dahinter zeichnete sich schwach über den Bäumen die Silhouette der Rosenau ab. Enttäuscht von diesem unerfreulichen Anblick, stieg Angermüller aus der Dachkammer, die einmal sein Jugendzimmer gewesen war, die Treppe hinunter.
Je weiter er gestern von Lübeck nach Süden gelangte, desto besser hatte sich das Wetter gestaltet. Als er nach viermaligem Umsteigen endlich in dem Bummelzug saß, der mit metallischem Scheppern und dramatischem Bremsen durch die sanften Hügel in Richtung Coburg ruckelte, dehnte sich der Himmel in makellosem Blau. Nächster Halt Seehof – Angermüller wusste gar nicht mehr, dass ein Ort dieses Namens hier existierte. Die ungewohnte Annährung an seine Heimat genoss er wie ein fremder Besucher. Es war schon sehr lange her, dass er allein und mit der Bahn nach Oberfranken gereist war.
In den letzten Jahren, mit Astrid und den Kindern, hatten sie immer das Auto benutzt. Auch diesmal waren ein paar gemeinsame Tage anlässlich des 70. Geburtstages seiner Mutter geplant gewesen. Aber Judith, die wildere Hälfte der 13-jährigen Zwillinge, musste vorgestern unbedingt in die höchsten Äste des Birnbaumes klettern, um die Früchte ganz oben abzuernten. Dabei war sie abgestürzt und hatte sich den Fuß gebrochen. Da es ein komplizierter Bruch war, sollte sie einige Tage im Krankenhaus bleiben, und die Reise war für sie gestrichen. Astrid wollte das Kind natürlich nicht allein lassen, und Julia sah ihre Chance gekommen, die Herbstferien mit ihrer Freundin im Wochenendhaus von deren Eltern auf Fehmarn verbringen zu können. Zwar hatte Astrid versprochen, vielleicht doch noch mit Julia nachzukommen, aber so richtig glaubte Angermüller nicht daran.
Schade, sie hätten ein paar erholsame Ferientage gut brauchen können. Es gab so einiges, worüber er sich mit Astrid einmal in Ruhe austauschen wollte. Natürlich redeten sie über vieles miteinander, doch in der Routine des Alltags ging manches unter, und das wiederum führte zu Missverständnissen, die sich dann zu echten Problemen auswachsen konnten. Gerade in den letzten Monaten hatte er diesbezüglich so einige Erfahrungen gemacht.
Auch wenn sie es nie so gesagt hätte, Georg Angermüller wusste, dass seine Frau nicht böse war, die Reise nach Niederengbach ausfallen zu lassen. Ihre gemeinsamen Besuche dort waren in letzter Zeit immer seltener geworden – zu viel Arbeit, sonstige Verpflichtungen, einfach zu wenig Zeit – Gründe gab es viele. Astrid bewunderte die Schönheit der Landschaft, die zahlreichen Schlösser und Burgen, die Städtchen voll von Zeugnissen aus der Vergangenheit und sie hatte auch die malerischen Dörfer mit ihren gemütlichen Gasthöfen schätzen gelernt – sie mochte seine fränkische Heimat. Doch als richtigen Urlaub wertete sie die Zeit dort nie. Sie fand die Besuche bei seiner Familie immer sehr anstrengend, die gut gemeinte Gastfreundschaft engte sie ein und im Haus seiner Mutter fühlte sie sich schon gar nicht heimisch.
»Georg? Wo bleibstn? Es is scho spät! Des Frühstück steht fei scho lang aufm Disch!«
Seine Schwester und seine Mutter sprachen im Gegensatz zu Angermüller ihren gewohnten Dialekt. Die auffälligsten Eigenheiten waren, dass P und T hier wie B und D gesprochen wurden, das A stets dunkel klang und scheinbar unnötige Vokale häufig einfach wegfielen. Angermüller hatte zwar vieles davon bereits abgelegt, doch gerade im Norden wurde er an seiner immer noch weichen Aussprache oft als Franke erkannt.
»Ich komm gleich, Mamma! Ich geh nur noch schnell duschen!«
In der Küche seiner Mutter hatte sich seit seinem Weggang aus Niederengbach fast nichts verändert. In der einen Ecke der Herd und die Spüle, daneben eine Anrichte mit Arbeitsplatte, gegenüber der Kühlschrank, der Küchenschrank mit Aufsatz und danach die Eckbank mit ihren bunten Sitzkissen und der Tisch mit dem unvermeidlichen Wachstuch. Darüber an der Wand irgendein bebilderter Kalender, das Weihnachtsgeschenk aus der Apotheke, und daneben das Foto von seinen Schwestern, der Mutter mit dem kleinen Georg auf dem Arm neben dem früh verstorbenen Vater. Da eine Gardine vor dem einzigen Fenster das ohnehin spärliche Tageslicht noch weiter reduzierte, war es unter der niedrigen Decke ziemlich dunkel.
»Einen wunderschönen guten Morgen, ihr zwei!«, schmetterte Georg in den düsteren Raum. Marga lächelte ihm von der Eckbank entgegen und grüßte fröhlich zurück. Seine älteste Schwester, die nie zu Hause ausgezogen war und im nächsten Jahr 50 wurde, hatte sich für die Zeit seines Besuches freigenommen. Mutters Geburtstag am Wochenende, die geplante Feier aus diesem Anlass und seine Anwesenheit waren für sie ganz besondere Ereignisse. Seine Mutter brummte ein »Morchn«, drehte ihm den Rücken zu und werkelte weiter energisch an der Kaffeemaschine. Er setzte sich auf den Platz auf der Eckbank, den er schon in seiner Kindheit immer eingenommen hatte.
»So. Des wird ja ach Zeit!«
Die Mutter stellte die orangefarbene Isolierkanne auf den Tisch, die unübersehbare Spuren ihrer langjährigen Dienste trug und auch Georg wohlvertraut war. Ihm fiel ein, dass sie ihr vor Jahren so eine schicke, silberne geschenkt hatten, da Astrid das orangefarbene Ungetüm nicht nur hässlich, sondern auch ziemlich unappetitlich gefunden hatte. Offensichtlich war das neue Modell noch nicht in den täglichen Gebrauch gelangt.
Ein Korb frischer Brötchen stand bereit, von Marga in aller Frühe besorgt, und daneben lag ein Stück kräftiges Bauernbrot, wie man es nur hier zu backen wusste. Die von seiner Mutter selbst eingekochten Marmeladen waren da, ein paar Scheiben saftiger Kochschinken, herzhafte Bauernleberwurst, geräucherte Rote und der Coburger Butterkäse, den Georg so liebte. Seine Mutter schlurfte immer noch geschäftig in der Küche hin und her. Seit ihrem leichten Schlaganfall vor ein paar Monaten zog sie kaum merklich das linke Bein etwas nach und auch die linke Hand hatte nicht mehr die Kraft und Beweglichkeit wie früher.
»So. Hier is noch e bissle Klickerleskäs mit Schnittlauch ausm Garten.«
Endlich setzte sie sich auch zu ihnen und stellte den Schnittlauchquark auf den Tisch. Georg, der wusste, dass dieses üppige Frühstück ihm zu Ehren angerichtet worden war, belohnte die Mühe und langte mit großem Appetit zu.
»Das ist ja wirklich ein Genuss, dieses fränkische Landbrot und der Käse!«
»Könnst des ja öfter ham, wenn de öfters komme dätst.«
Georg nickte stumm und forschte nach, welche Gewürze dieses kräftige Roggenbrot wohl so schmackhaft machten. Er kam auf Kümmel und Anis, aber da musste auch noch ein drittes Aroma sein. Koriander, dachte er dann, wahrscheinlich war es Koriander.
Am Vortag hatte ihn Marga am Nachmittag mit ihrem Wagen vom Bahnhof in Oeslau abgeholt, was einer großen Ehre gleichkam. Seine Schwester fuhr nicht gern Auto, nur wenn es unbedingt sein musste, und die weiteste Strecke, die sie je zurückgelegt hatte, war ein Ausflug nach Bamberg, der schon sehr lange zurücklag. Von dieser aufregenden Fahrt berichtete sie heute noch atemlos. Der Golf, den sie seit 20 Jahren besaß, sah immer noch so makellos aus wie an seinem ersten Tag. Auch wenn sie das Auto kaum benutzte und es meist im Schuppen stand, sie wusch es jede Woche. Marga war schon immer eine besondere Person gewesen und lebte in einer ganz eigenen Welt, die streng geordnet war, damit sie die Übersicht behielt. Nur so fühlte sie sich sicher. Warum das so war, hatte Angermüller nie herausgefunden. Aber sie meisterte ihren Alltag und schien auf ihre Art glücklich und zufrieden zu sein.
Das Erste, was Marga ihrem Bruder in ihrer ernsthaften Art sagte, war, wie schade sie es fand, dass ihre Schwägerin nicht mitgekommen war, vor allem, weil sie noch etwas zum Anziehen für die Geburtstagsfeier am Sonntag benötigte. Astrid war schon mehrmals mit ihr nach Coburg gefahren und hatte ihr beim Kauf neuer Garderobe beratend zur Seite gestanden. Marga hatte weder ein Händchen noch einen Nerv für den Kleiderkauf und vertraute Astrid blind.
Als sie auf den Hof fuhren, wartete die Mutter schon im Eingang unter der hölzernen Veranda, um die sich ein immer noch blühender Rosenstrauch rankte. Ein Gefühl der Rührung überkam Georg Angermüller beim Anblick seiner Mutter: Kleiner als in seiner Erinnerung und rundlich wie eh und je, in eine ihrer unvermeidlichen Kittelschürzen gekleidet, stand sie da. Ihre Schultern waren leicht nach vorn gebeugt und das weiße Haar praktisch kurz geschnitten. Er hatte sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen und sie war in diesem Zeitraum merklich gealtert. Schnell stieg er aus dem Wagen, um sie zu begrüßen.
»Na endlich! Warum hat des denn so lang gedauert? Ich wart ja schon e halbe Ewigkeit …«
Sie streckte ihm ihre Hand zur Begrüßung hin, die sich genau wie früher anfühlte, hart und rau.
»Hallo, Mamma! Ich freu mich so, dich zu sehen!«
Georg ließ ihre Hand los und umarmte sie fest. Nur kurz ließ sie ihn gewähren, er konnte ihr gerade noch einen Kuss auf die Wange drücken, dann schob sie ihn energisch beiseite.
»Nu komm rein! Du wirscht en Hunger ham – ich hab an Käskuchen gebacken.«
»Mensch, Mamma! Wunderbar!«
Er lief zu Marga, die mit seinem Koffer über den Hof kam, und nahm ihn ihr ab.
»Hier sieht’s aus wie immer! Schön!«
»Du bist fei gut!«, protestierte seine Schwester. »Haste net gsehn, dass des Dach vom Schuppn neu gmacht worden is? Und die Dür hab ich selber gstrichn!«
An der linken Seite des gepflasterten Hofes befand sich das Wohnhaus, dessen erster Stock bis unters Dach mit blauen und weißen Schieferschindeln verkleidet war, gegenüber der Schuppen, an dessen einer Wand sich Feuerholz stapelte, die andere dicht bewachsen mit Knöterich. Vorm Haus, zwischen Veranda und Küchenfenster, stand immer noch die alte Holzbank, auf der Mutter und Schwester an warmen Abenden zu sitzen pflegten. An der Rückseite des Hauses, wo sich ein weitläufiger Obst- und Gemüsegarten erstreckte, gab es einen viel schöneren Platz mit Blick in die Felder und Wiesen des Itztales bis zu dem Wäldchen, über dem sich das Schloss Rosenau erhob, doch die beiden Frauen zogen den Blick auf die Dorfstraße vor, wo hin und wieder einmal jemand vorbeikam und sich ein Schwätzchen ergab.
Während des Kaffeetrinkens erzählte Georg von den jüngsten Heldentaten seiner Zwillingstöchter, entschuldigte noch einmal Astrids Fernbleiben und erwähnte ihr vages Versprechen, nachzukommen, wenn irgend möglich. Natürlich war der Käsekuchen seiner Mutter die reine Sünde: ein großes Rad aus lockerem Hefeboden, darauf süßer Quark mit reichlich Rahm, Zimt und aromatischen Rosinen und nach dem Backen großzügig mit gebräunter Butter bepinselt – köstlich! Allerdings wären zwei Stück davon auch genug gewesen. Anschließend verteilte er seine Mitbringsel, eine große Packung echtes Lübecker Marzipan für die Mutter und eine Schneekugel mit dem Holstentor für Marga – sie sammelte Schneekugeln mit Leidenschaft.
Als die Mutter sich wieder in die Küche zurückzog und jegliche Hilfe beim Abwasch ablehnte, machte sich Georg mit Marga zu einem Spaziergang durch die Wiesen auf. Das ruhige, warme Wetter der vergangenen Wochen ließ diesen Oktobertag noch wie Spätsommer erscheinen, wenn sich auch mehr und mehr orangegelbe Flammen in das Grün der Laubbäume mischten. Obwohl die Sonne schon recht tief stand, wärmte sie mit unverminderter Kraft. Plötzlich fand er es gar nicht mehr so schlecht, allein hierher gekommen zu sein – das Wetter war wie gemacht für ein paar wunderbar entspannte Ferientage. Lange Spaziergänge durch den Park, ein Bummel durch Coburgs schöne Altstadt, Bratwurst essen auf dem Markt, den Schlossplatz bewundern, erleichtert seine alte Lehranstalt am Salvatorfriedhof von außen betrachten und dann ein Latte macchiato in der Eisdiele. Außerdem hatte er endlich einmal Zeit, alte Freunde zu treffen, was er seit Jahren mit Rücksicht auf Astrid und die Kinder und deren Bedürfnisse nicht mehr geschafft hatte. Die Einzigen, zu denen der Kontakt nie abgerissen war, waren Johannes und seine Frau Rosi, deren Bauernhof am anderen Ende des Dorfes lag. Jedenfalls würde er die unverhoffte Zeit für sich allein gut zu nutzen wissen.
Trotz des genossenen Käsekuchens verspürte er schon wieder Appetit, als ihm beim Nachhausekommen der Duft eines kräftigen Bratens in die Nase stieg. Georg steckte seinen Kopf in die Küchentür.
»Mmh, was machst du denn da Schönes, Mamma?«
»Riechst es denn net? Klöß und Sauerbroutn!«
Das klang unwirsch. Georg aber verstand den Aufwand ihm zu Ehren mitten in der Woche schon richtig. Er nahm es als ein Zeichen mütterlicher Zuwendung. Seine Mutter konnte noch nie besonders gut ihre Zuneigung ausdrücken und schien alles an Gefühl und Liebe beim Kochen zu verbrauchen. So war sie schon immer gewesen. Da Coburger Klöße für ihn mittlerweile etwas ganz Besonderes waren, ließ er sich gern damit verwöhnen. Als er noch in Niederengbach lebte, war im Haus seiner Mutter ein Sonntag ohne Klöße nicht denkbar – wie auch in fast allen anderen Haushalten im Dorf. Klöße gehörten zu einem Sonntag einfach dazu. Aber wenn ihn jetzt in Lübeck danach gelüstete, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie selbst zu machen.
»Kommst grad recht. Der Deich muss jetzt gebrüht werden.«
Das war jener spannende und seltene Moment, in dem gewöhnlich auch der Mann im Haus einmal in der Woche in der Küche in Aktion trat. Der kochend heiße Kartoffelbrei musste mit viel Fingerspitzengefühl auf die geriebenen rohen und mit Stärke gemischten Kartoffeln gegossen werden und schnellstens mit kräftigen, aber gleichmäßigen Schlägen zu einem homogenen Teig verarbeitet werden. Da Angermüller meist wenig Zeit hatte, bereitete er zu Hause eine Variante, die seine Mutter abfällig »Faule-Weiber-Klöß« nannte und die im Gegensatz zum Original statt mit rohen Kartoffeln mit Kartoffelmehl zubereitet wurde.
Auf dem Herd brodelte schon ein großer Topf mit Wasser, in Butter geröstete Weißbrotbröckchen standen bereit und daneben ein Topf mit kaltem Wasser. Seine Mutter tauchte die Hände hinein, nahm eine Portion des heißen Teiges, drückte ein paar Bröckchen in die Mitte, formte schnell eine apfelgroße Kugel und ließ sie ins heiße Wasser gleiten.
Zum Abendessen wechselte man ins Wohnzimmer. Angermüller bekam eine riesige Scheibe von dem appetitlich duftenden Sauerbraten auf den Teller gelegt und daneben einen Kloß. Wie es sich gehörte, riss er den lockeren, hellen Teig mit Messer und Gabel auseinander und gab dann reichlich von der hellbraunen Soße darüber. Gleich nach dem ersten Bissen versank er in hingebungsvolle Andacht. Die Klöße luftig und leicht, der Braten zart und aromatisch, der ausgewogene Geschmack der Soße einfach unbeschreiblich! Welch eine perfekte Kombination! Und im Norden aßen sie Salzkartoffeln zum Braten … Seine Mutter hatte sogar für jeden noch einen Salatteller mit gekochten Möhren, Gurke und grünem Salat bereitet. Es war ein echtes Sonntagsessen und Angermüller genoss es von der ersten bis zur letzten Gabel. Auch Marga und seiner Mutter schien es zu schmecken, denn auch sie sagten nicht viel.
Kaum hatten sie ihr köstliches Abendessen beendet und den Tisch abgeräumt, wurde der Fernseher angestellt. Der Ton war ziemlich laut gedreht, denn seine Mutter hörte nicht mehr so gut, was sie allerdings vehement abstritt. An eine ernsthafte Unterhaltung war bei diesem Nebengeräusch nicht zu denken. Da Angermüller aus Erfahrung wusste, dass seine Mutter sehr empfindlich reagierte, wenn er gleich am ersten Abend ausging, fügte er sich und blieb bei den beiden Frauen sitzen. Er trank sein Bier, das im Dorf gebraut wurde und das für ihn immer noch das beste war, das man finden konnte, und sah sich einen schlechten Krimi an. Gegen halb zehn, als man sich der Aufklärung des Falles näherte, war seine Mutter mit leisem Scharchen auf dem Sofa eingeschlafen. Gerade sah man die beiden Kommissare die elegante Ehefrau eines reichen Reeders in einer Villa in Blankenese befragen.
»Bist du ach schon emal bei em Mord in so einer Villa gwesn?«
»Kann schon sein.«
Georg Angermüller sprach nicht gern über seine Arbeit. Seit 15 Jahren war er bei der Bezirkskriminalinspektion Lübeck tätig, mittlerweile als Kriminalhauptkommissar, und er wusste, dass die meisten Leute dachten, sein Job sei so überschaubar, unterhaltsam und sauber wie bei diesen Fernsehkommissaren. Dass man aber oft auch am Rand der Gesellschaft ermittelte, wo die Verwahrlosung und Hoffnungslosigkeit hautnah zu spüren war, die hilflose Gewalt, mit der ein Mensch daraus auszubrechen versuchte, und dass Gut und Böse sich im Lauf der Zeit zu sehr relativen Werten wandelten, das sahen die Leute nicht. Und nur er und seine Kollegen wussten, wie schwer diese Erfahrungen zu verdauen waren. Die anderen fanden es einfach nur spannend, wenn sie erfuhren, dass er bei der Kripo war. So auch seine Schwester.
»Ich stell mir des ja aufregend vor, immer so mit Mördern und Verbrechern.«
»Es gibt Schöneres, kann ich dir sagen!«
»Ja, schon. Aber des is wenigstens net langweilig. In unserm Kaff hier bassiert ja nie was!«
Als seine Mutter sich um zehn ins Bett zurückgezogen hatte, war er mit seiner Schwester noch einmal durch das Dorf spaziert. Sie begegneten keinem Menschen, nur ein einziges Auto fuhr an ihnen vorbei. Es war jetzt richtig kalt und in der Luft lag Holzfeuergeruch. Kurz hatte er daran gedacht, noch bei Johannes und Rosi vorbeizuschauen, als sie an dem Bauernhof mit dem großen Bioland-Schild vorbeigekommen waren, aber hier wie in den meisten anderen Häusern war es schon dunkel. Nur aus dem schicken Landhotel, das früher einmal ein einfacher Braugasthof gewesen war, fiel ein heller, warmer Lichtschein auf die Straße. Erst als sie sich daraus entfernt hatten, konnten sie wieder den Nachthimmel sehen, der sternenklar war.
»Morchn wird’s wieder schö!«, versprach Marga.
Georg Angermüller nahm sich eines der knusprigen Brötchen und bestrich es mit Butter.
»Was ist denn mit dem Wetter los? Ich dachte, heute wird’s wieder gut, Marga?«
»Des wird scho! Die letzten Dage hammer oft Hochnebel ghabt am Morgen, wirst scho sehn, spätestens gegen halb elf, elf kommt die Sonn durch.«
Marga behielt recht. Als sie ihr ausgedehntes Frühstück beendet hatten, der Tisch abgedeckt und das Geschirr abgewaschen war, was Georg gegen den Protest seiner Mutter mit seiner Schwester erledigt hatte, klarte es auf. Georg nahm sich die Coburger Zeitung, die, solange er denken konnte, hier im Haus gelesen wurde, und setzte sich auf die Bank, die hinterm Haus in dem großen Garten stand. Um ihn herum blühten die Dahlien in kräftigen Farben. Er vergaß zu lesen und versank in den Anblick der sanften grünen Hänge unter dem blassblauen Himmel, zwischen denen sich die Itz schlängelte, nur zu erkennen an den Bäumen, die ihre Ufer säumten. Er war völlig entspannt. Nichts war zu hören außer Vogelzwitschern, Insektengesumm und ab und zu ein ärgerliches Murmeln seiner Mutter, die im Garten das heruntergefallene Obst aufsammelte. Die Äpfel und die Birnen packte sie in einen großen Weidenkorb. Als er sah, dass sie den Korb allein schleppen wollte, sprang er auf, ihr zu helfen.
»Ist viel dran an den Bäumen, was?«
»Da is so viel dran dies Jahr, des könne mir ja gar net alles verbrauchn.«
Es klang fast ein wenig vorwurfsvoll. Er nahm ihr den Korb ab.
»Wo soll der hin?«
»Stell ihn emal vorn ans Hoftor. Vielleicht nimmt ja wer was mit davo.«
»Das schöne Obst! Da freut sich doch bestimmt jemand drüber!«
»Von wechn! Die Leut kaufen ihr Zeuch heut doch lieber alle im Supermarkt. Dei Schwester Lisbeth will ja ach nix davo. Des is dene alles zu viel Arwed!«
Seine Schwester Lisbeth hatte in die Stadt geheiratet und ihre dörfliche Herkunft abgestreift wie eine alte Haut – dazu gehörten auch ihre Mutter und ihre Schwester. Lisbeths Mann war Abteilungsleiter bei einer großen Versicherung, und sie hatte dort als Sachbearbeiterin gearbeitet, bis sie schwanger wurde. Sie lebte mit Mann, zwei Kindern und Hund in einem großen Haus im Süden von Coburg und war immer sehr beschäftigt mit sportlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten. Ihr Kontakt nach Niederengbach beschränkte sich auf unumgängliche Pflichttermine und auch Georg telefonierte mit ihr höchstens an Geburtstagen und zu Weihnachten.
»Vielleicht kümmt ja der Dürk wieder vorbei – der nimmt des Obst immer gern!«
Georg wusste sofort, dass die einzige ausländische Familie gemeint war, die sich im Dorf niedergelassen hatte und die mit ihren vielen Kindern und fremdartigen Gewohnheiten ein unerschöpfliches Gesprächsthema für seine Mutter war. Er stellte den Korb neben einem der Pfosten an der Straße ab, die wie ausgestorben dalag. Eine Katze schlüpfte gegenüber durch den Gartenzaun, es roch nach Mist und Silofutter, genau wie früher. Er wollte gerade zu seinem lauschigen Plätzchen im Garten zurückkehren, da störte ein wohlbekanntes Geräusch die Idylle. Seine Schwester kam aus dem Haus gerannt und auch die Mutter lief zum Hoftor, so schnell es ihr mit ihrer eingeschränkten Beweglichkeit möglich war.
»Da wird doch nix bassiert sein!«, rief Marga atemlos und sah der blau blinkenden Karawane aus Zivilautos und Polizeiwagen nach, die mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbeirauschte und dann hinter der nächsten Kurve schon wieder verschwunden war. Nur das Martinshorn war noch zu hören. Die beiden Frauen standen erwartungsvoll in der Hofeinfahrt, als ob diesem Spuk noch etwas folgen müsste.
»Vielleicht is ja beim Steinlein sein Hotel was bassiert.«
»Oder beim Schloss.«
»Ja, vielleicht.«
Unentschlossen drehten sie die Köpfe nach links und rechts. Georg wollte sich jetzt endlich der Lektüre des Coburger Blattes widmen und ging in Richtung Garten.
»Komm, mir gucken emal, was da los is!«
Die alte Frau schien auf Margas Aufforderung nur gewartet zu haben und setzte sich in Kittelschürze und Gartenschuhen sogleich in Bewegung.
»Schorsch, komm doch aa mit! Da is bstimmt was bassiert!«
»Ach nee, Marga! Ich hab Urlaub, ich muss mir das jetzt nicht antun!«
»Komm doch e bissle mit spaziern, Georg!«
Wenn seine Mutter sich zu dieser Aufforderung durchrang, konnte er ihr das natürlich nicht abschlagen, und so folgte er den beiden auf die Dorfstraße, die plötzlich richtig belebt wirkte. Autos fuhren an ihnen vorbei und auch zu Fuß waren ein paar Leute unterwegs, hauptsächlich ältere Männer und Frauen. Marga beschleunigte ihren Schritt. Georg blieb bei seiner Mutter, die nicht so gut zu Fuß war.
»Grüß dich, Frau Angermüller! Is dei Sohn endlich da? Des is ach emal schön, gell?«
Fast jeder, der sie überholte, gab einen ähnlichen Kommentar ab und seine Mutter bestätigte immer mit einem hoheitsvollen Nicken. Das ganze Dorf schien über seinen Besuch informiert zu sein.
Sie erreichten den Schlosspark. In Höhe der Sonnenuhr hatten die Schaulustigen vorschriftswidrig ihre Wagen geparkt, und ein uniformierter Polizist versuchte, sie von dort zu verscheuchen. Schon von Weitem sah Angermüller die rot-weißen Absperrbänder die Straße versperren.
»Mamma, da vorn kommen wir nicht weiter, glaub ich. Da ist gesperrt.«
»Des wär ja blöd!«
Marga, die vorausgelaufen war, kam ihnen entgegen.
»Hier geht’s net weiter! Aber des muss in der Grotten sein. Mir versuchens ma den klein Weg da nunter.«
Als sie sich auf dem Fußweg, der unten im Tal lief, der Felsengrotte näherten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer der Herzöge zur Vervollkommnung seines romantischen Landschaftsparks hatte anlegen lassen, erwies sich Margas Vermutung als richtig. Ein Grüppchen Schaulustiger, von ein paar Uniformierten hinter der Absperrung im Zaum gehalten, reckte da schon die Hälse, um einen Blick zu erhaschen. Am Grund der Grotte, in die über bemooste Felsen ein bescheiden kleiner Wasserfall plätscherte, um sich dort zu einem Bächlein zu sammeln, bewegten sich mehrere Personen in weißen Anzügen vorsichtig hin und her.
»Morchn, Erwin! Was is denn bassiert?«, fragte Angermüllers Mutter atemlos den Mann neben sich, als sie die Stelle erreicht hatten.
»Morchn, Traudl! Da is einer abgstürzt.« Er machte eine dramatische Pause und deutete an der Felswand nach oben. »Des Gelänner da om is ja völlig kabutt!«
»Aber des ham die doch grad erscht neu gmacht!«
»Von allein is des net zerbrochn, deswechen is ja wohl auch die Kripo da! Was da wohl passiert sein mag?«
Der aufgeregte Eifer des Sprechers war nicht zu überhören und vor Wichtigkeit traten ihm die Augen aus den Höhlen. Jetzt starrte er Angermüller mit unverhohlener Neugierde, aber wohlwollend an, seine Sprache wurde weich und schmeichelnd.
»Des is wohl dei Sohn?«
»Ja freilich!«
Der Blick seiner Mutter, der in diesem Moment auf Angermüller fiel, konnte nur gleichzeitig stolz und zärtlich genannt werden. Der alte Mann streckte ihm eine schwielige Hand hin.
»Kennste mich noch? Früher habt ihr immer bei uns aufm Hof gspielt, obwohl des eichentlich verboten war, ihr Lausbubn!«
Das musste der alte Motschmann sein, dem einer der größten Höfe im Dorf gehörte und vor dem er als Kind mächtig Respekt hatte, weil der sich immer unglaublich aufspulte und rumbrüllte, wenn er jemanden auf seinem Gelände entdeckte.
»Sie sind der Herr Motschmann, oder?«
»Reschpekt! Des hätt ich fei net gedacht, dass du mich alten Krauter noch erkennst!«, er senkte vertrauensvoll seine Stimme. »Gell, du bist e Kommissar? Dann is des da ja was Interessants für dich«, er deutete in Richtung Grotte. »Ob den wohl einer da nuntergstoßen hat?«
»Das werden die Kollegen hier schon herausfinden.«
»Kannst dene ja e paar Tipps geben!«, kicherte der alte Motschmann.
»Ich bin hier im Urlaub, Herr Motschmann, und ich bin froh, dass mich das hier mal nichts angeht.«
Inzwischen war die Zuschauergruppe auf etwa 20 Leute angewachsen, viele, die aus dem Dorf gekommen waren, und auch ein paar Touristen waren darunter. Angermüller hielt sich hinter all den anderen, die er mit seinen fast zwei Metern ohnehin überragte. Außerdem kannte er solche Art Szenerie zur Genüge und riss sich nicht darum, grässliche Details zu erfahren. Es war eh nicht viel zu erkennen, da im Hintergrund der Grotte alles mit weißen Planen abgedeckt war. Ein ziemlich dicker Mann in Zivil, dessen Kopf zwischen seinen Schultern zu verschwinden schien, stand in der Mitte des Geschehens. Eine Lesebrille baumelte an seinem linken Ohr und am rechten telefonierte er mit dem Handy. Zwischendurch gab er den Leuten um sich herum seine Anweisungen, ab und an warf er einen Blick in Richtung der Schaulustigen. Plötzlich ging ein Raunen durch die Umstehenden. Die Plane war angehoben worden und ganz deutlich war jetzt ein Rollstuhl zu erkennen. Drei Beamte kamen herzu und schleppten das offensichtlich schwere Gefährt zu einem auf dem Weg bereitstehenden Transporter.
»Haste des gsehn?«, flüsterte der alte Motschmann beeindruckt. »Des is doch der Rollstuhl vom Steinleins Bernhard!«
»Ja, des isser!«, bestätigte Angermüllers Mutter ebenfalls flüsternd. »Was da wohl gschehn is? Georg, siehst du denn a nix?«
»Nein, tut mir leid, aber das ist alles gut abgedeckt.«
Marga, die ein paar Meter weiter weg stand, streckte sich auf die Zehen, wie überhaupt jedermann versuchte, einen Blick auf den geheimnisvollen Fund zu ergattern. Was fanden die Menschen daran nur so interessant? Wäre er auch so voller Sensationslust und Neugier gewesen, wenn er nicht seinen Beruf gehabt hätte, fragte sich Angermüller? Wahrscheinlich musste man verstehen, dass hier in Niederengbach das Leben wirklich ziemlich ereignislos war und auch so ein Unglück eine willkommene Abwechslung darstellte.
Ganz in Gedanken hatte er seinen Blick auf dem Dicken ruhen lassen, der immer noch seine Lesebrille lässig mit einem Bügel am Ohr baumeln ließ, als er plötzlich den Eindruck hatte, dass dieser angestrengt zurückschaute. Nun setzte er sich in Bewegung, und zwar genau in seine Richtung, ja, er kam direkt auf ihn zu.
»Grüß Gott! Können Sie sich ausweisen?«
»Wie bitte?«, fragte Angermüller irritiert und angelte in seiner Gesäßtasche nach dem Portemonnaie mit seinen Papieren. Deutlich erkannte er unter dem ziemlich engen Jackett des Mannes die Beule, die seine Dienstwaffe unter der linken Schulter in den Stoff drückte. Neugierige Blicke hefteten sich auf Angermüller, und seine Mutter sagte aufgebracht: »Mei Sohn is bei der Polizei, was wolln Sie denn von dem?«
Kommentarlos fasste ihn der Dicke, der bestimmt einen Kopf kleiner war als Angermüller, am Arm.
»Kommen Sie bitte mal mit!«
Was waren das denn für Bräuche? Angermüller wurde sauer. Wo war er hier eigentlich? Waren das die Methoden der bayerischen Kollegen? Er wollte sich gerade gegen diese Art der Behandlung aufs Schärfste verwahren, da sprach ihn der andere an.
»Mensch, Schorsch? Kennst mich nimmer?«
Irritiert sah Angermüller sein Gegenüber an: ein gebräuntes Gesicht, in dem die hellen, kleinen Augen, die von dicken Brauen überspannt wurden, fast zwischen den fleischigen, roten Wangen verschwanden, das weißgraue Haar dicht und lockig – irgendwie kam der Mann ihm schon bekannt vor.
»Ich bin der Rolf – Bohnsack, Rolf. Ich hab mich schon e bissle verändert, geb ich zu«, er deutete hilflos an seinem mächtigen Umfang herunter. »Aber du hast auch emal anders ausgschaut!«
Er ließ ein sonores Lachen hören und tippte Angermüller gegen den sich leicht wölbenden Bauch.
»Rolf Bohnsack, ja klar! Du warst an unserer Schule. Zwei Klassen über mir, oder?«
»Na siehste, geht doch! Was treibt dich denn hierher?«
»Ich mach ein paar Tage Urlaub hier in Niederengbach. Und als meine Mutter und meine Schwester eure Kolonne sahen, wollten sie unbedingt gucken, was hier los ist, und ich musste mitkommen. Bist du hier der Leitende?«
»Genau, Kollege! Du bist in Lübeck, gell?«
Angermüller schaute Bohnsack erstaunt an.
»Da wunderst dich, was ich alles weiß, gell?«
Bohnsack schnaufte hörbar, fast nach jedem Satz, als ob ihm wegen seines Umfanges ein tiefes Durchatmen nicht möglich war.
»Die ganzen ehemaligen Schulkameraden, die hiergeblieben sind – wir treffen uns halt öfter mal, und dann plaudert man so: Weißt du eigentlich, was der und der macht, und dann hat man ja so seine Recherchemöglichkeiten, du verstehst?«
Er schnaufte wieder und verzog den breiten Mund zu einem wissenden Lächeln.
»Ist denn schon klar, was sich hier zugetragen hat?«
»Das ist natürlich noch absolut interne Verschlusssache, aber dir als Kollegen …«, Bohnsack warf Georg einen abschätzenden Blick zu. »Also, der alte Mann da …«, er deutete in Richtung der weißen Abdeckplanen im Hintergrund der Grotte, »der ist mit seinem Rollstuhl von da oben über die Felsen hier heruntergestürzt. Ein paar Arbeiter von der Schloss- und Gartenverwaltung haben ihn vorhin gefunden, da war er schon tot. Wir müssen jetzt rausfinden, ob Unfall oder Selbstmord oder – na du weißt schon. Es gibt da einige Anzeichen.«
Bohnsack deutete vage in Richtung Kehle.
»Und die muss euer Rechtsmediziner erst mal überprüfen. Ja, klar!«, nickte Angermüller.
»Leider haben wir vor Ort keinen eigenen, da kommt einer von außerhalb. Der Tote wird jetzt erst mal auf den Glockenberg geschafft.«
»Glockenberg? War da nicht der Coburger Friedhof?«
»Der ist immer noch da und da gibt’s für solche Fälle einen kleinen Sektionsraum.«
»Entschuldigung, wenn ich störe!«
Eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren kam auf die beiden Männer zu.
»Rolf! Die vom Bestattungsunternehmen sind da, wegen des Abtransports. Kannst du bitte noch mal kommen?«
»Klar, Sabine, wenn du mich so nett bittest«, grinste Bohnsack. »Das ist die Frau Kommissar Zapf, sehr tüchtig, das Mädle! Hier Sabine, das ist der Angermüller Schorsch, ein alter Schulkollege von mir.«
Sabine Zapf nickte Georg freundlich zu.
»Na, habt ihr auch so nette Kolleginnen?«, wollte Bohnsack wissen. »Der Schorsch ist nämlich ein Kollege, droben in Lübeck bei der Kripo.«
Angermüller, dem Bohnsacks Sprüche peinlich waren, zuckte nur verlegen mit der Schulter.
»Ach übrigens, der Tote ist ein gewisser Bernhard Steinlein aus Niederengbach. Du kommst doch auch daher – hast du den gekannt?«
»Das weiß im Dorf jeder, dass dem die Brauerei und der Gasthof gehören, aber kennen … zumal ich ja schon ein paar Jährchen von hier weg bin …«
»Na gut Schorsch, das wissen wir auch alles schon. Dann wollen wir dich in deinem Urlaub nicht länger stören. Wenn’s dich interessiert, kannst uns ja mal in der Neustadter Straße besuchen. Die Sabine kocht uns bestimmt gern einen Kaffee, gell Sabine?«
Sabine Zapf verdrehte nur genervt die Augen.
»Und wenn wir mit dem Fall nicht weiterkommen, dann kannst du uns ja als Sonderermittler unterstützen.«
Bohnsack lachte gönnerhaft und schlug Angermüller auf die Schulter.
»Mach’s gut, du Nordlicht!«
Da Mutter und Schwester nicht vom Ort des Geschehens wegzulotsen waren, drehte Angermüller allein eine Runde durch den weitläufigen Schlosspark. Außer an Sonn- und Feiertagen oder wenn vielleicht Busse mit Touristen haltmachten, lag eine angenehm entspannte Ruhe über Park und Schloss, nur ganz vereinzelt sah man Spaziergänger über die Wege promenieren oder auf den Hügel zum Schloss steigen. Georg suchte all die besonderen Plätze auf, die ihm in Kindheit und Jugend so vertraut gewesen waren. Er ging hinauf zum Schloss, das nach einer aufwendigen Renovierung in neuem Glanz erstrahlte, spähte durch die Fenster in den Marmorsaal und schwor sich, bei nächster Gelegenheit mal wieder an einer Führung durch das Gebäude teilzunehmen. Von der hübschen Terrasse aus, auf der noch die Rosen blühten und ein zierlicher Brunnen plätscherte, eröffnete sich ihm ein weiter Rundblick auf das sonnenbeschienene Itztal.
Dann spazierte er hinüber zum Schwanensee, der eigentlich nur ein etwas größerer Teich war, auf dem aber immerhin stolz ein schwarzes Schwanenpaar dahinglitt, und ließ sich im Schatten auf einer der verwitterten Steinbänke nieder. Dieses ganze Gelände bis hinüber zur Turniersäule, an der sich die Sonnenuhr befand, hatte ihnen als Revier für ihre Räuber-Schander- oder Ritter-Spiele gedient. Später war die alte Bank der Treffpunkt für so manches heimliche Rendezvous gewesen. Er war 13 oder 14 damals und zum ersten Mal verliebt. Angermüller seufzte und fühlte sich plötzlich ziemlich alt. Julia und Judith durchlitten jetzt wahrscheinlich ähnliche Wonnen und Seelenqualen wie er damals.
Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, dass er ja noch einmal zu Hause anrufen wollte, denn er hatte am Vorabend nur dem Anrufbeantworter erzählen können, dass er gut angekommen war. Leider hatte er sein Handy im Zimmer liegen lassen. Auf der Straße belebte es sich. Er sah, dass die ersten Polizeiautos den Park verließen, und erhob sich.
Langsam schlenderte die Gruppe der Leute aus dem Dorf wieder Richtung Heimat und natürlich wurde das Geschehen in der Felsengrotte eifrig kommentiert.
»Mich würd’s fei net wundern, wenn da jemand nachgholfen hätt beim alten Steinlein«, sagte jemand.
»Da gibt’s einige, die mit dem noch e Rechnung offen ham«, stimmte Erwin Motschmann zu. »Ich mein, ich bin mit dem immer prima auskomma, aber zum Beispiel der Hofmanns Walter, dem hat er ja praktisch die Existenz zerstört!«
»Des stimmt! Der is wegen dem Steinlein pleitegegangen, musst sei Gastwirtschaft aufgeben, hat des Haus verlorn und hat nur noch des Notwendigste zum Leben!«
»Der hätt des doch gar net machen könne, jemand umbringe. Des is doch e kranker, alter Mann!«, widersprach Angermüllers Mutter. »Und dass du mit dem Steinlein gut gekonnt hast, is ja a net wahr! Ihr habt doch sogar prozessiert wecha dem Waldstück da!«
»Ach Quatsch! Was erzählstn du da!«
Motschmann warf einen Seitenblick auf Angermüller.
»Mir ham des vor Gericht geklärt und dann war’s gut.«
»Ja, aber er hat recht gekriegt und du bist ihm noch vorm Gerichtssaal an die Gurchel gange!«
Seine Mutter war so leicht nicht ruhigzustellen.
»Des is doch e Ewigkeit her!«
»Na und?«
»Vielleicht isses ja auch wecha derer Gentechnik«, mischte sich eine andere Frau ein, die Georg als die Nachbarin von gegenüber erkannte. »Ich hab ghört, der wollt alle seine Grundstücke an irgend so eine Firma verkaufen, die dann da Versuche drauf macht, und eigentlich sind mir ja alle da dagegen.«
»Wieso alle? Da gibt’s ein paar Leut, die dene ihr Land gern verkaufen würden«, widersprach Motschmann.
»Du wohl auch?«
»Ja, warum denn net?«
»Weil des gfährlich is für uns alle!«
»Mir is des doch wurscht!«
Der alte Motschmann wurde immer lauter.
»Was die da machen mit derer Gentechnik, da weiß niemand, wie sich des emal auswirkt!«, warnte die Nachbarin.
»Na und, dann guck ich mir schon längst die Kartoffeln von unten an.«
»Du bist halt scho lang kei Bauer mehr und Kinder haste a net. Des find ich fei schlimm, dass du so redst.«
»Die Else hat recht! Schlimm ist des!«, pflichtete Angermüllers Mutter der Nachbarin bei. Erwin Motschmann hatte schon vor 20 Jahren die Landwirtschaft aufgegeben und als Vertreter für eine Landmaschinenfirma eine Menge Geld verdient. Auf seinem großen Gehöft lebte er mittlerweile allein, seit seine Frau vor ein paar Jahren gestorben war. Und er besaß immer noch reichlich Land. Er warf den beiden alten Frauen einen wütenden Blick zu.
»Ihr alten Waschweiber! Ihr habt doch ka Ahnung von derer Gentechnik!«, er machte eine heftige Wegwerfbewegung mit dem Arm. »Ach, lasst mich doch in Ruh mit euerm blöden Gekäu!«
Und damit rannte er davon. Die beiden alten Frauen schüttelten mit den Köpfen und verbreiteten sich noch eine Weile über das aufbrausende Naturell des Mannes.
»Haste scho ghört, dass der Schwarzens Jung wieder ausm Gfängnis raus is?«, fragte dann die Nachbarin.
»Naa! Is des wahr?«
Angermüllers Mutter blieb vor Staunen stehen und stemmte ihre Arme auf die Hüften, während die Nachbarin heftig nickte.
»Des würd mich fei net wundern, wenn der den Bernhard nei der Grottn gschubst hätt! Es wurd ja immer gsacht, dass er wecha dem überhaupt erscht neis Gfängnis komme is!«, ereiferte sie sich. »Wie spät isn des?«, wollte die Mutter plötzlich wissen. »Was? Scho kurz nach zwölf! Ach Gott, ach Gott, ich hab ja noch gar nix zu Mittag vorbereitet!«
»Das ist doch nicht so schlimm!«, beruhigte sie ihr Sohn. »Wir haben ja ausgiebig gefrühstückt, da langt auch ein Stück Kuchen und ein Kaffee.«
»Oder soll ich e paar Detsch machen? Des geht schnell.«
»Ach, Detsch!? Da hätt ich nix dagegen!«
Kindheitstraum, Wohlfühlessen, Köstlichkeit!
»Na gut, dann mach ma Detsch. Ich hab grad vor e paar Wochn frische Hölberla eigmacht!«
Die Aussicht auf diesen lange vermissten Genuss, Kartoffelpuffer mit Preiselbeeren, ließ Angermüller fast das unangenehme Gefühl vergessen, das ihn beschlichen hatte, als er hörte, dass der gewaltsam zu Tode Gekommene der alte Steinlein war.