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Kapitel 2

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Rosi, in Jeans und T-Shirt gekleidet, wie meist bei der Arbeit, hockte vor einem Beet und erntete eine bunte Mischung Küchenkräuter. Es war gleich Mittagszeit, und die Sonne brannte heiß, viel zu heiß für den Oktober. Sie strich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem dicken Knoten gelöst hatte, zu dem sie das braune Haar praktischerweise aufgebunden hatte. Heute Abend musste der Garten auf jeden Fall noch einmal richtig gewässert werden.

Der Gemüsegarten und vor allem seine Produkte waren Rosis ganzer Stolz. Sie zog Pastinaken, Mangold, Bohnen, Salat und noch einiges andere mehr – fast alles, was sie zum Leben auf dem Hof brauchten. Es gab einen Kräutergarten und in einem Gewächshaus gediehen auch Tomaten und Auberginen. Jetzt war die Zeit der Kürbisse und die Hokkaidos prangten draußen in den Beeten in sattem Orange. Was sie nicht für den Eigenbedarf benötigten, verkaufte Rosi in ihrem Laden.

Die Besucherglocke schlug laut und vernehmlich an. Eigentlich war der Hofladen um diese Zeit geschlossen, doch die Städter, die bei ihr einkauften, gewöhnt an durchgehend geöffnete Läden, stets zeitlich unter Druck und mit dem Bewusstsein ausgestattet, als Kunde König zu sein, kannten da kein Pardon und klingelten einfach an der Haustür. Sie wechselte von den Gummistiefeln in ihre bequemen offenen Latschen und eilte zu sehen, welchen unaufschiebbaren Kundenwunsch sie diesmal erfüllen sollte.

Dass der Dicke in dem viel zu engen Anzug und die sportlich gekleidete jüngere Frau neben ihm, nicht zu ihrer üblichen Klientel gehörten, sah Rosi ihnen sofort an.

»Grüß Gott! Kann ich Ihnen helfen?«

»Guten Tag! Wir würden gern die Frau Sturm sprechen.«

Die Frau sprach, der Mann machte ein ernstes Gesicht, atmete schwer und beobachtete Rosi mit Augen, die tief zwischen seinen feisten Wangen lagen.

»Das bin ich. Worum geht’s denn?«

»Frau Sturm, wir sind von der Kripo Coburg.«

Sie zeigten ihre Dienstausweise und stellten sich vor.

»Wir haben eine traurige Nachricht.«

Rosi merkte, wie alles Blut in ihre Mitte strömte.

»Ist was passiert?«, fragte sie mit rauer Stimme.

»Dürfen wir reinkommen?«

Rosi spürte eine unerträgliche Anspannung und ließ die Beamten wortlos eintreten. Schnell ging sie durch den Flur in die geräumige Küche voraus, wo ein junges Mädchen am Herd stand, das mit großen Töpfen hantierte, und ein junger Mann dabei war, mit einer Vielzahl Teller gerade den Tisch zu decken. Sie schickte die beiden jungen Leute hinaus.

»Also, sagen Sie schon! Was ist passiert?«

»Frau Sturm, wie gesagt, eine traurige Nachricht: Ihr Vater – er hatte einen schweren Unfall – es tut mir leid«, sagte der Mann, der sich als Kriminalhauptkommissar Bohnsack vorgestellt hatte.

»Er hatte einen Unfall? Was ist denn passiert?«

»Ihr Herr Vater ist heute Morgen mit seinem Rollstuhl an der Felsengrotte im Schlosspark abgestürzt.«

»Oh Gott! Wie geht es ihm? Ist er im Krankenhaus? Weshalb kommen Sie von der Kripo hierher?«

Bohnsack räusperte sich.

»Wie gesagt, es tut mir leid. Er ist tot, und es gibt deutliche Hinweise, dass es kein Unfall gewesen ist.«

»Oh nein«, Rosi machte einen Schritt zum Tisch und sackte auf einen der Stühle. Unter ihrer Sonnenbräune war sie blass geworden und Tränen traten ihr in die Augen.

»Können wir etwas für Sie tun, Frau Sturm?«, fragte mitfühlend die Beamtin und fasste Rosi sanft an der Schulter. Rosi schüttelte hilflos den Kopf.

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Ich bin ganz durcheinander. Mein Mann kommt bestimmt gleich. Und die anderen kommen auch alle zum Mittagessen.«

»Wir müssten Ihnen auch noch ein paar Fragen stellen, aber wir kommen lieber später noch einmal wieder, ja?«, fragte die Kollegin des Dicken.

»Das wäre wahrscheinlich besser. Sagen Sie, weiß meine Schwester schon Bescheid?«

»Die Paola Steinlein meinen Sie?«, Bohnsack verneinte. »Im Gasthof waren wir zuerst, haben sie aber nicht angetroffen, und von dort hat man uns zu Ihnen geschickt. Gut, wir verabschieden uns dann mal. Frau Zapf, gibst du der Frau Sturm mal unsere Nummern, falls sie uns erreichen will.«

Sabine Zapf zog eine Karte aus ihrer Jackentasche und legte sie auf den Tisch.

»Dann wollen wir mal. Wiedersehen, Frau Sturm!«

Rosi brachte die Beamten zur Tür. Eine Frage brannte ihr noch auf den Nägeln:

»Haben Sie schon einen Verdacht, wer …?«

»Wir ermitteln, Frau Sturm, und wir sind ganz am Anfang. Wir informieren Sie, sobald wir Genaueres wissen. Und wir melden uns dann später noch einmal bei Ihnen.«

Langsam ging Rosi zurück in die Küche. Hell strahlte die Sonne durch die Fenster. Über dem Tisch summten ein paar Fliegen, die trotz des bunten Vorhangs aus Glasperlenschnüren vor der Tür zum Blumengarten ihren Weg herein gefunden hatten. Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Seit sie gehört hatte, dass ihr Vater wahrscheinlich umgebracht worden war, hatte sich ihrer eine unglaubliche Angst bemächtigt. Wo Johannes nur so lange blieb?

»Mahlzeit!«, Florian stürmte herein. »Hab ich einen Hunger! Gibt’s noch nix?«

Rosi fuhr aus ihren Grübeleien hoch.

»Doch, doch Florian, gleich! Holst du bitte die Hanna und den Tobias herein, die haben Küchendienst. Sie sind hinterm Haus. Ich muss die Kräuter noch fertig machen …«

Sie ging zur Spüle, wusch die Mischung aus Schnittlauch, Dill, Boretsch und Ysop und wiegte sie auf dem großen Holzbrett zu einem aromatisch duftenden, grünen Gemisch. Mit ihren Gedanken war sie nicht dabei.

»Mamma! Warum sagst du denn nichts? Was wollte die Kripo vorhin hier?«

Florian stand wieder im Raum. Wahrscheinlich hatten ihm Hanna und Tobias vom Besuch der Beamten erzählt. Florian war ihr Ältester, sie hatten gerade seinen 21. Geburtstag gefeiert. Er hatte fast seine ganzen Semesterferien hier verbracht und musste nun am Wochenende wieder zum Studium nach München. Florian wollte Tierarzt werden, und für ihn war klar, dass ein echter Tierarzt nur auf dem Lande praktizieren konnte – er hatte keine Lust auf Wellensittiche, Meerschweinchen und hysterische Großstadtkatzen. Auf dem Hof seiner Eltern fühlte er sich so richtig wohl, und außerdem waren hier immer eine Menge junger Leute, Praktikanten, die einen sozialen Dienst leisteten oder später Agrarwissenschaften studieren wollten und für Unterkunft, Verpflegung und ein Taschengeld auf dem Hof arbeiteten, und so war hier immer was los und die Arbeit machte umso mehr Spaß.

»Ach, Flori! Der Opa ist gestorben.«

»Echt? Das tut mir leid für dich, Mamma!«

Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Er überragte seine Mutter um mehr als Haupteslänge.

»Aber der Opa war doch sowieso ziemlich krank, oder?«

Es wunderte Rosi nicht, dass der Junge nicht besonders betroffen war – er hatte seinen Großvater so gut wie nicht gekannt. Nie hatte er mit ihm gesprochen, ihn höchstens hin und wieder aus der Ferne gesehen, wenn er mit seinem Rollstuhl durchs Dorf rollte.

»Und wieso kommt deswegen eigentlich gleich die Polizei hierher?«

»Er ist mit dem Rollstuhl in die Felsengrotte gestürzt«, Rosi zögerte. »Es scheint Hinweise zu geben, dass es kein Unfall war.«

»Boah! Mord?«

Florian ließ sie los und riss die großen, braunen Augen noch weiter auf, und Hanna und Tobias, die nach ihm hereingekommen waren, machten große Ohren.

»So, ihr macht jetzt schnell das Mittagessen fertig! Hanna, du rührst die Kräuter, den Knoblauch, die Zwiebeln, die anderen Gewürze und die Sahne in den Quark, und ihr Jungs deckt den Tisch fertig und schält die Kartoffeln. Ich bin gleich wieder da!«

Rosi lief hinaus, um zu sehen, ob Johannes zurück war. Schon seit dem frühen Morgen war er draußen, um das Grünfutter für das Milchvieh einzubringen. Nach einem verregneten September herrschten jetzt endlich die richtigen Erntebedingungen. Der Geländewagen schoss auf den Hof, dass es staubte. Johannes, in einem ausgeblichenen grünen Overall, sprang aus der Beifahrertür. Er hatte Linus, einem der Praktikanten, das Steuer überlassen, und der gab in seinem jugendlichen Überschwang öfter mal mehr Gas, als er sollte. Johannes versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, Linus grinste und rannte davon.

»Machst du heute mein persönliches Begrüßungskomitee, mein Schatz? Das find ich ja nett.«

Johannes umarmte seine Frau und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Auch er war mindestens einen Kopf größer als sie.

»Du weißt’s noch nicht?«, fragte Rosi, als er sie wieder losgelassen hatte. Sie sah Johannes ernst an, der fragend mit den Schultern zuckte.

»Was denn?«

»Der Papa ist tot!«

»Woher soll ich’s wissen? Ich war den ganzen Vormittag auf dem Feld!«

Rosi schloss die Augen, doch es nutzte nichts, die Tränen liefen einfach so unter ihren Lidern hervor.

»Du Arme! Das ist bestimmt nicht leicht für dich. Komm her!«

Johannes schloss sie wieder in seine Arme, legte sein Kinn auf ihren Kopf und sah in die Ferne. So standen sie eine ganze Weile.

»Aber du erwartest jetzt nicht, dass ich trauere, oder?«, murmelte Johannes in ihr Haar, und als Rosi nicht antwortete: »Jetzt kann der alte Mistkerl wenigstens kein Unheil mehr anrichten.«

Sie schob ihn von sich weg und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Du brauchst mir nicht zu sagen, was du von ihm hältst. Keinem musst du das sagen. Jeder im Dorf weiß, dass ihr nie Freunde wart.«

»Aber Rosi! Ich wollte dir doch nicht wehtun! Es ist nur – soll ich lügen, weil der Alte jetzt gestorben ist?«

»Er ist nicht gestorben! Er ist ermordet worden!«

»Ach.«

»Ja! Er ist ermordet worden und die Kripo war hier und die kommen auch noch mal wieder!«

Rosi schrie fast diesen letzten Satz. Johannes sah sie aufmerksam an. Er erkannte seine sonst so ruhige, gelassene Frau nicht wieder und suchte nach einer Erklärung für ihre plötzliche Hysterie. Dann begriff er langsam.

»Das ist ja hoffentlich nicht dein Ernst, Rosi!«

Aber sie antwortete darauf nicht mehr und lief ins Haus.

»Ooh! War das gut!«, Georg Angermüller strich sich über den gewölbten Bauch. »Jetzt brauch ich aber mal ein bissle frische Luft.«

Er zwängte sich aus der Eckbank und fing seine Mutter ab, die sich schon wieder emsig zwischen Spüle und Tisch hin und her bewegte.

»Vielen Dank, Mamma! Das waren die besten Detsch, die ich seit Jahren gegessen hab!«

»Des warn halt ganz normale Kartoffeldetsch, wie immer«, sagte seine Mutter ungerührt und wehrte sich gegen seine Versuche, ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Da sind ja noch zwei übrig, die schmecken ach kalt.«

Sie ließ die letzten beiden Kellen des dünnflüssigen Teiges in das heiße Schmalz fließen, dass es knisterte, und wendete sie, als sie eine goldbraune Farbe angenommen hatten und am Rand knusprig aussahen.

Angermüller nahm sich die Zeitung, die er immer noch nicht zu Ende gelesen hatte, und ging hinters Haus zur Gartenbank. Die helle Sonne tat gut nach der dunklen Küche seiner Mutter und die Luft war auch besser hier draußen. In seinen Kleidern hing der Rauch vom Schweineschmalz. Georg rollte die Ärmel seines Hemdes hoch und beschloss, erst einmal bei Astrid in Lübeck anzurufen.

»Ach, hallo Georg! Du bist also gut angekommen. Das hattest du ja gestern schon auf den AB gesprochen – gibt’s sonst noch was? Ich bin etwas in Eile.«

»Ach so. Na ja, es ist wunderschön hier, tolles Wetter, gerade gab’s Detsch, die mögen die Kinder ja auch so gern – schade, dass ihr nicht hier seid! Wie geht’s Judith?«

»Die ist schon wieder obenauf, du kennst sie ja! Wir wollen gerade zu ihr ins Krankenhaus. Entschuldige, aber Martin wartet draußen mit dem Wagen, wir müssen los!«

»Wieso? Ist was mit dem Volvo?«

»Nein, alles in Ordnung! Martins Urlaub ist geplatzt, und er kam vorhin hierher, weil er was mit mir besprechen will. Aber jetzt will er erst einmal mitkommen ins Krankenhaus und wir fahren mit seinem Wagen.«

»Weißt du schon, ob ihr noch nach Niederengbach nachkommen könnt?«

»Nein, das kann ich noch nicht sagen. Lass uns später noch mal drüber sprechen, ja?«

»Na gut. Gruß und Kuss an die Kinder und gute Besserung für Judith!«

»Danke! Grüß auch schön! Tschüss!«

»Ach ja, grüß auch den Martin!«

»Mach ich! Danke! Tschüss!«

Nachdenklich legte Georg Angermüller sein Handy zur Seite. Martin. Er hatte ihn schon ewig nicht mehr gesehen, höchstens mal gesprochen, wenn er auf Astrids Arbeitsstelle anrief. Sein Urlaub war geplatzt. Was das wohl bedeuten mochte? Eigentlich sollte das doch so eine Art zweite Hochzeitsreise mit seiner Frau werden, nachdem die beiden nach einer mehrmonatigen Trennung wieder zusammengekommen waren – Angermüller verdrängte, was an verwirrenden Gedanken durch sein Hirn waberte, und schüttelte den Kopf über sich selbst.

Unkonzentriert las er in dem Coburger Blatt – bis er auf einen Artikel über Gentechnik stieß. Der aktuelle Aufhänger war eine Demo in Unterfranken, bei der Gegner und Befürworter gewaltsam aneinandergeraten waren. Dazu befragt, forderte ein bäuerlicher Verbandsfunktionär, dass man die Chancen dieser Forschung nicht einfach beiseiteschieben solle, denn schließlich müsse auch der deutsche Bauer im internationalen Wettbewerb bestehen. Er plädierte für ein friedliches Nebeneinander von Pflanzen mit und ohne Gentechnik. Ein Biobauer lehnte dieses Ansinnen als blauäugig ab, denn der Wind, der die Saat weitertrage, mache keinen Unterschied, was auf welchem Feld angebaut würde, und ein besorgter Imker fragte nach dem Zusammenhang zwischen dem seit einiger Zeit grassierenden Bienensterben und genmanipulierten Pflanzen.

Am Ende des Artikels erwähnte der Schreiber noch, dass hier im Landkreis die Gegner der Pflanzengentechnik in der Überzahl seien. Aus dem, was Angermüller am Morgen gehört hatte, war aber klar, dass es zumindest in Niederengbach scheinbar eine Minderheit gab, die sich einen Vorteil von der neuen Technologie versprach. Bestimmt würde ihm Johannes mehr zu diesem Thema erzählen können.

Er sah auf die Uhr. Eigentlich war jetzt eine gute Zeit, mal auf dem Sturms-Hof vorbeizuschauen. Doch auch wenn er den alten Steinlein kaum gekannt hatte – sein Tod und die Umstände, unter denen er ums Leben gekommen war, drückten auch auf Angermüllers Gemüt. Er verließ seinen gemütlichen Platz auf der Gartenbank. Er war sich nicht mehr sicher, ob ein Besuch bei Johannes und Rosi jetzt eine gute Idee war – wer weiß, wie dort die Stimmung war. Langsam ging er zum Hoftor und schlenderte schließlich unschlüssig die Dorfstraße entlang.

»Na, Schorsch! Ach emal wieder in der alten Heimat?«

»Grüß dich, Dieter!«

»Wie geht’s da denn, du altes Nordlicht?«

»Mir geht’s gut, danke – ich hab ja Urlaub! Und selbst?«

Dieter war Bauer und hatte als ältester Sohn den Hof seiner Eltern übernommen. Er war in etwa so alt wie Georg, doch viel hatten sie nie miteinander zu tun gehabt. Aber natürlich kannte man sich und wechselte ein paar Worte miteinander – so war das eben in einem Dorf wie Niederengbach, das gerade mal etwas über 200 Seelen hatte.

»Es geht, es geht. Es muss ja, gell!«, er lachte behäbig. »Sache mal, haste scho ghört, was bei uns passiert is? Den Steinleins Bernhard hat einer …«, und er machte eine eindeutige Handbewegung. Angermüller nickte.

»Und du, als alter Kriminaler? Was sachstn da dazu?«

»Ich hab Urlaub, Dieter! Ich bin froh, dass ich nix damit zu tun hab!«

»Weißt du eigentlich, dass der alte Steinlein und der Sturms Johannes …«

Dieter ließ seine beiden Zeigefinger vor Angermüllers Gesicht aufeinander losgehen. Er sah sich um und senkte die Stimme: »Der und sei Schwiegersohn, die warn spinnefeind miteinander. Von dem ganzen Biozeuch hat der Bernhard doch gar nix ghalten!«

Wie pflegte Johannes den Dieter früher immer zu nennen? Richtig, einen alten Laberarsch.

»Und du, hast du mit dem alten Steinlein keinen Streit gehabt? Der hat sich doch mit jedem angelegt!«, meinte Angermüller leicht gereizt.

»Also, da kann ich fei nix sagen! Ich bin immer gut mit dem Bernhard auskomme!«

»Dieter, ich muss dann wieder! Wir sehn uns bestimmt noch mal.«

»Ade!«

»Ade!«

Georg erinnerte sich genau, dass Dieter und seine Familie gar nicht gut auf den Steinleins Bernhard zu sprechen waren, der dank seiner Beziehungen im Landratsamt dafür gesorgt hatte, dass die Umgehungsstraße deren Felder durchschnitt und seine verschonte. Und Fehden dieser Art tilgte in Niederengbach nicht einfach die Zeit.

Zu seiner Linken sah Georg das Haus der Familie Schwarz liegen. Sie waren nach dem Krieg aus Danzig hierhergekommen und hatten sich mit Fleiß und Sparsamkeit eine bescheidene Existenz aufgebaut. Von dem alten Ehepaar gab es nur noch Frau Schwarz und viele im Dorf sprachen nach wie vor von ihr und der Familie als von den Flüchtlingen. So auch Angermüllers Mutter. Gottlieb, den Sohn der Schwarzens, hatte die Nachbarin heute sogleich als Verdächtigen für den Mord am Steinleins Bernhard ins Gespräch gebracht. Er war aus der ordentlichen Art geschlagen, hatte der Familie von jeher Kummer gemacht und ein Gutteil seiner fast 60 Lebensjahre im Gefängnis zugebracht. So einem trauten die Dörfler natürlich manches zu – aber einen Mord? Es wäre schon interessant zu wissen, was dran war, dass maßgeblich der alte Steinlein dem Gottlieb zu seinem letzten Knastaufenthalt verholfen hatte. Frau Schwarz wohnte immer noch in dem Haus, bei ihrer Tochter und deren Familie, und wahrscheinlich war sie es, die Georg jetzt hinter der Gardine verschwinden sah, als er in Richtung Fenster blickte.

Die Nächste, der er in die Arme lief, war Martha Rauschert. An ihr schien die Zeit vorübergegangen – schon vor 20 Jahren hatte sie so klein und verhutzelt ausgesehen wie heute, hatte sich auf ihren Stock gestützt und die Welt durch eine dicke Brille betrachtet. Trotz einer erheblichen Augenschwäche war ihr noch nie etwas entgangen und ihr Klatschmaul war im Dorf regelrecht gefürchtet. Seine Mutter machte immer einen großen Bogen um die Rauschert’n, die alte Käugoschn, wie sie sie nannte. Auch ihn hatte sie sogleich im Visier.

»Du bist doch der Schorsch Angermüller, gell! Na, sag emal: Bist du noch in Lübeck?«

»Tag, Frau Rauschert! Ja, ich bin noch in Lübeck.«

»Und, wie isn des da droben? Bist wohl ach schon e richtiges Nordlicht?«, kicherte sie.

»Ich fühle mich in Lübeck sehr wohl.«

Da werde ich auch nicht dauernd von jemandem angequatscht, hätte er beinahe noch hinzugefügt.

»Haste scho ghört Schorsch, vom Steinlein sein Unglück?«

Georg nickte stumm und Martha Rauschert wackelte empört mit dem Kopf.

»Nä, was heutzutag alles passiert. Sogar in unserm klein Niederengbach is ma seines Lebens nimmer sicher! Die Welt wird immer verrückter«, jammerte sie.

»Du, horch emal!«, die alte Frau dämpfte ihre Lautstärke, sodass sich Georg zu ihr hinabbeugen musste. »Der alte Steinlein: Seit e paar Wochen hat der fei so a jungs Ding ghabt! Des war bstimmt sei Freundin!«

Angermüller, der eigentlich gar nicht über das Thema Steinlein hatte reden wollen, konnte nicht umhin, erstaunt zu sagen: »Ich denk, der saß im Rollstuhl und war völlig gelähmt. Und ging der nicht auf die 80?«

»Na und? Der war dreimal verheirat, der alte Steinlein! Und der hats trotzdem immer noch mit andere Weiber ghabt! Und ob alles gelähmt war, weiß ma ja a net …«

Sie grinste so listig, dass Georg fast errötete.

»Jedenfalls«, fuhr sie eifrig und mit leiser Stimme fort, »des Mädle hat en Freund, der hat se nämlich immer abgholt mit so em lauten Auto, ich glaub, des is e Russ, und wenn der nu eifersüchtig war?« Triumphierend hob Martha Rauschert den Kopf und sagte laut und voller Überzeugung: »Möglich wär des fei!«

Georg hatte keine Lust, diese abenteuerliche Theorie zu kommentieren.

»Na ja, nix für ungut, Schorsch! Du bist ja e Kommissar, du machst des scho!«

Und damit schlich sie, schwer auf ihren Stock gestützt, weiter durchs Dorf.

Der Hof von Johannes und Rosi war nicht der größte, aber bestimmt der schönste im Dorf. Das war nicht immer so. Wie so viele Bauern hatten auch Johannes’ Eltern in den 50er, 60er Jahren die Gebäude mit Eternitplatten verkleiden lassen – wie die meisten anderen im Glauben, das sei modern, praktisch und gut – und damit das Dorf zu einer ziemlich gesichtslosen, sterilen Ansiedlung gemacht. Als Johannes und Rosi anfingen, den Hof zu bewirtschaften, holten sie nach und nach die Schönheit des mehr als 100 Jahre alten Anwesens zurück. Sie legten das Fachwerk frei, restaurierten die alte Veranda, die im ersten Stock einen Wintergarten trug, rissen den schadhaften Beton im Hof ab und ersetzten ihn durch alte Pflastersteine. Mittlerweile war der Sturms-Hof auf biologische Milchviehwirtschaft spezialisiert. Hinter dem alten Hofensemble lagen die neuen, für artgerechte Tierhaltung ausgelegten Stallungen und es gab eine hochmoderne Tandemmelkanlage. Der größte Teil der Milch wurde in einem großen regionalen Werk zu Biokäse verarbeitet. Aber unter Rosis Obhut stellten sie auch auf dem Hof einen ganz speziellen Weichkäse aus Rohmilch her, den sie in verschiedenen Varianten natur, mit Schnittlauch oder Pfeffer exklusiv in dem kleinen Hofladen und auf ihrem Marktstand in Coburg vertrieben.

Neben dem Hinweis auf die Bioland-Produkte und den Hofladen gab es noch ein neues Schild, das ihm gestern Abend gar nicht aufgefallen war. Es wies auf ein Café hin, das an Wochenenden und Feiertagen geöffnet war. Angermüller musste unwillkürlich lächeln. Hatte Rosi sich doch durchgesetzt! Immer hatte sie davon geträumt, auf dem Hof einen Raum einzurichten, den man als Café und Veranstaltungsraum nutzen konnte, wo man hausgemachte Spezialitäten anbot und kleine Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Ähnliches stattfinden sollten. Johannes fand die Idee zwar gut, glaubte aber zum einen, dass es sich nicht rechnen würde, und zum anderen, dass Rosi mit ihren vielfältigen Aufgaben auf dem Hof schon genug um die Ohren hatte. Immerhin hatte sie noch zwei Kinder im Haus, den 17-jährigen Moritz und die 15-jährige Lena, und mit den Praktikanten und anderen Helfern hatte sie bisweilen mehr als zwölf Personen zu versorgen. Dazu kam ihre Verantwortung für die Käserei, den Hofladen und den Gemüsegarten – sie konnte sich wahrlich nicht über Langeweile beklagen.

Georg betrat den großen Hof, der hufeisenförmig von Gebäuden eingerahmt wurde. Er würde schon mitbekommen, wenn er an diesem Tag bei den Freunden nicht willkommen war, und sich dann eben einfach wieder verabschieden. Wie immer klingelte er nicht an der Haustür, sondern ging rechts außen am Wohnhaus vorbei und durch den Blumengarten zum Hintereingang, der direkt in die Küche führte. Schon als Kind hatte er zu seinem Freund Johannes immer diesen Weg genommen, denn meist saß der am Nachmittag in der Küche und machte Hausaufgaben oder seine Mutter war da und wusste, wo Johannes zu finden war.

Durch den Glasperlenvorhang, der vor der geöffneten Tür hing, hörte er die Stimmen von Johannes und Rosi, ziemlich laut und erregt. Sie verstummten sofort, als er den Vorhang zur Seite schob und eintrat.

»Grüßt euch, ihr zwei! Ich bin’s mal wieder.«

Georg trat auf Rosi zu und umarmte sie.

»Mein Beileid, Rosi!«

Rosi nickte nur stumm und erwiderte seine Umarmung.

»Entschuldige, Schorsch! Ich hab noch was zu erledigen«, sagte sie dann und verließ schnell die Küche.

»Dir auch Beileid, Johannes!«

Er gab seinem Freund die Hand.

»Ist schon gut … Schön, dass du dich auch einmal wieder hier blicken lässt, Schorsch, du …!«

Johannes haute ihm leicht mit der Faust gegen den linken Oberarm.

»Jetzt sag aber nicht ›du altes Nordlicht‹ zu mir … das muss ich mir heut schon den ganzen Tag anhören!«

»Ja, bist du denn keins? Du redest doch schon genau so vornehm daher wie die da droben!«

»Ach ja?«, Georg Angermüller sah seinen Freund misstrauisch an. »In Lübeck, da heißt es immer: So wie Sie sprechen – Sie sind wohl nicht von hier?«

»Ja freilich! In Zeiten der Globalisierung wird die kulturelle Identität immer wichtiger! Da zählt jeder Kilometer zwischen Franken und Schleswig-Holstein!«, meinte Johannes gewichtig und versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. Dann musste er doch lachen und tippte seinem Freund ans Kinn.

»Und deinen Rauschebart hast du auch nicht mehr! Sauber! Man muss was für sich tun, wenn man die 40 überschritten hat, gell?«

In der heißen Zeit dieses Sommers hatte Georg sich seines Vollbartes entledigt und dachte selbst schon gar nicht mehr an sein verändertes Äußeres. Seine Mutter hatte nichts dazu gesagt, es hätte ihn auch gewundert, aber Marga hatte ihn sofort darauf angesprochen und fand, er sah mit seinem Dreitagebart und den dunklen Locken aus wie ein italienischer Tenor.

»Komm, setz dich! Magst du vielleicht auch einen Kaffee?«

»Wenn du mich so fragst: gern! Aber ich komm ja vielleicht ungelegen – nachdem, was heut passiert ist … Du musst mir das einfach sagen, dann schau ich ein ander Mal vorbei.«

Johannes holte eine Tasse aus dem Schrank. Er war genau so groß wie Georg, aber sehr hager und von der vielen Arbeit im Freien tief gebräunt. Mit dem zum Zopf gebundenen langen Haar hatte er etwas von einem Indianer, nur dass er weißblond und nicht schwarzhaarig war.

»Das ist schon in Ordnung, Schorsch!«

»Aber die Rosi scheint’s ja ganz schön mitzunehmen.«

»Er war halt ihr Vater. Und die Vorstellung, dass ihn einer umgebracht hat …«, Johannes zuckte mit den Schultern.

»Ja, das ist bestimmt schlimm für sie«, stimmte Georg zu.

»Am schlimmsten ist für sie wahrscheinlich, dass ich keinen Grund zur Trauer seh und das auch sage.«

Georg schaute ihn fragend an.

»Der Alte wollte ja nie, dass Rosi und ich zusammenkommen.«

»Wie hatte das eigentlich angefangen, die Probleme zwischen euren Familien?«

Johannes lachte abfällig.

»Eine völlig abwegige Geschichte! Der Ärger begann zwischen meinem und Rosis Großvater. Es ging um irgendein Stück Land, das jeder der beiden für sich beanspruchte, und daraus wurde ein richtiger Krieg. Mal starb bei dem eine Kuh, mal drehte der dem das Wasser ab, mal brannte eine Scheune, mal gab es einen Jagdunfall, und jedes Mal nahm man natürlich an, dass es jemand von ›denen‹ gewesen war. Ich glaube, irgendwann wusste keiner mehr, warum man sich gegenseitig das Leben schwer machte. Doch mein Vater und Rosis Vater machten mit dem Blödsinn weiter. Es war schon fast wie Vendetta!«

»Verrückt!«

»Ja wirklich! Jedenfalls hat der Bernhard seit dem Tag, an dem wir geheiratet haben, von sich aus jeden Kontakt abgebrochen. Die Rosi war zum Feind übergelaufen und damit für ihn gestorben. Mir war das wurscht, mir konnte der gestohlen bleiben! Aber die Rosi hat’s immer wieder versucht, hat ihm jeden neuen Enkel vorgestellt – er hat die Kinder nicht einmal angeguckt! Als er vor ein paar Jahren den schweren Schlaganfall hatte, ist sie jeden Tag zu ihm ins Krankenhaus gefahren – bis er ihr durch eine Krankenschwester hat sagen lassen, dass sie bleiben soll, wo der Pfeffer wächst.« Johannes hob ratlos seine Schultern, »Was ist so einer für ein Mensch? Der hat immer nur auf seinem Geld gehockt und jeden, der seinen Töchtern zu nahe kam, für einen Erbschleicher gehalten. Er ist Rosis Vater, und dass es ihr trotz allem nahe geht, kann ich verstehen. Aber ich? Ich hab keinen Grund zu trauern.«

»Besonders freundlich hab ich den alten Steinlein auch nicht in Erinnerung.«

»Ja, Mensch! Weißt du noch, was für einen Ärger der gemacht hat, als du mit der Paola gegangen bist?«

»Ach Johannes, das ist so lange her!«

»Trotzdem! Ich glaube, du warst 17 damals, und ihr wart ein richtig gutes Paar! Wer weiß, vielleicht wärst du sogar hiergeblieben, wenn’s nicht auseinander gegangen wär…«

»Ich bin aber ganz glücklich, so wie sich alles gewendet hat!«

Johannes achtete gar nicht auf den Einwand seines Freundes.

»Was dem alten Steinlein gehört, das gibt der einfach nicht her, und dazu zählen auch seine Töchter! Wenn ich damals nicht so hartnäckig und furchtlos gewesen wäre, es hätte nie geklappt mit der Rosi und mir! Der Paola hat er auch später noch jeden Mann vergrault. Was glaubst du, warum die Bea damals einfach so abgehauen ist?«

»Und was ist zwischen Rosi und dir los?«

»Na, du alter Schnüffler? Vor dir kann man nichts verbergen, was?«

»Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Ach, Blödsinn! Das kannst du doch gar nicht, Schorsch, altes Haus!«, lachte Johannes, dann wurde er wieder ernst. »Na ja, wie schon gesagt, sie verübelt mir halt, dass ich über meinen Schwiegervater sag, was ich denk. Vielleicht hat sie auch Angst vor dem Getratsche im Dorf«, Johannes schüttelte seinen Kopf. »Der Alte war wirklich ein Schwein. Er hat ja auch später immer wieder versucht, uns Steine in den Weg zu legen. Er schien uns jeden Erfolg mit dem Biohof zu neiden, und wo er konnte, hat er uns Schwierigkeiten gemacht, auch wenn er selbst nichts davon hatte.«

Georg nickte.

»Ich hab gehört, dass dein Schwiegervater irgendwelches Land verkaufen wollte, an einen großen Konzern, der dort Versuche mit grüner Gentechnik machen will.«

»Davon hab ich auch gehört, ja. Eine echte Sauerei! Erstaunt mich bei dem Mann gar nicht. Der denkt – oder dachte – nur an sich und sein Geld. Aber da gibt’s noch so ein paar Leut im Dorf, die halten sich aus allem raus, sagen nix bei den Versammlungen und versuchen, heimlich, still und leise ihre Gschäftle zu machen – verantwortungslose Geschäfte mit einem gefährlichen Etwas, dessen Auswirkungen auf Pflanzen, Tiere und Menschen überhaupt noch nicht erforscht sind!«

»Die Mehrheit im Dorf – ist die denn gegen die Gentechnik auf den Feldern?«

»Auf jeden Fall! Aber bei manchen ist es auch nur eine Frage des Preises. Zum Glück müssen die Flächen bekannt gemacht werden, die für gentechnische Versuche freigegeben werden – noch jedenfalls.«

»Wieso? Soll sich das ändern?«

»Na ja, die Akzeptanz von genveränderten Produkten in der Bevölkerung ist ja gleich null, wie du weißt, und es gibt da bestimmte Leute im Ministerium, die meinen, solange man die Versuchsflächen bekannt machen muss und es Proteste gibt, käme man ja nie auf einen grünen Zweig mit der Gentechnik.«

»Also ist das Thema noch lange nicht ausgestanden?«

»Im Gegenteil, das geht erst noch richtig los! Aber wir sind bereit!«, Johannes sah auf die Uhr und erhob sich. »Schorsch, ich muss wieder! Der Linus fährt mir sonst mit dem Traktor das ganze Feld kaputt. Trinken wir heut Abend einen zusammen? Ich hab einen wunderbaren Franken von einem Biowinzer aus Nordheim im Keller!«

»Na freilich!«

Auch Georg stand auf.

»Vielleicht kannst du ja noch ein bisschen bleiben und mit der Rosi sprechen – ich glaub, das tät’ ihr ganz gut.«

»Das hatte ich sowieso vor.«

Johannes lächelte.

»Dank dir – bis heut Abend!«

Georg fand Rosi im Blumengarten. Sie war dabei, Blumenzwiebeln in einem Beet einzugraben.

»Na Rosi, bereitest du schon das nächste Frühjahr vor?«

»Ja, der Garten kann mal wieder eine Auffrischung mit Tulpen und Narzissen gebrauchen.« Sie richtete sich auf, »Du weißt doch: A crowd of golden daffodils …«

»Natürlich! Der alte Poppeye!«

Rosi und Georg besuchten dasselbe Gymnasium in Coburg. Rosi war zwar jünger und deshalb zwei Klassen unter Georg, doch an Englischlehrer Bopp und seiner Liebe zur Poesie kam kein Schüler vorbei. Da der Mann einen nicht zu überhörenden Sprachfehler hatte, war es eine ziemlich verhängnisvolle Liebe und eine unerschöpfliche Quelle für gemeine Schülerspäße.

»Wir waren schon ziemlich blöd damals! Dieses Gedicht von Wordsworth ist eigentlich wunderschön!«

»Ja, das stimmt. Du hattest ja schon damals eine Neigung zu den schönen Künsten. Und jetzt machst du Kultur auf dem Bauernhof?«

»Mein Café meinst du?«, sie lächelte verlegen. »Ja, schon. Das ist immer ein wunderbares Erlebnis für die Leute, die hierherkommen, und für uns selbst. Es macht zwar auch Arbeit, aber vor allem viel Freude. Komm, ich zeig dir mal den Raum.«

Sie durchquerten den Garten und kamen zu dem ans Wohnhaus anschließende Stallgebäude. Es war ebenerdig aus Ziegelsteinen gemauert, früher waren hier Schweine und auch Schafe untergebracht. Rosi drehte den Schlüssel, klappte den schweren, alten Eisenriegel hoch und öffnete die große Holztür. Es klang schon ein wenig stolz, als sie sagte: »Hier bitte – das ist mein Reich.«

Der lang gestreckte Raum war weiß gekalkt. Die Holzbalken, die früher die Boxen der Tiere begrenzten, standen noch an den Seiten, der Fußboden war mit rötlichen Tonfliesen ausgelegt. Die Fenster waren verhältnismäßig klein und hoch angebracht, wie in einem Stallgebäude üblich, sodass sie nicht besonders viel Licht hereinließen. Doch man hatte die eine Stirnwand fast gänzlich durch Glas ersetzt, im unteren Bereich als Tür, und gab so den Blick frei auf die angrenzenden Wiesen bis hin zum Hügel von Oberengbach. Ein paar Hühner pickten draußen im Gras herum.

»Das ist ja schön geworden!«

Georg Angermüller nickte anerkennend. Runde Tische mit Stühlen standen bereit, ein paar Sitzecken mit antikem Bauernmobiliar luden zum Verweilen ein, alte Krüge und Schüsseln standen auf Holzbrettern an der Wand, es gab Fotografien, die das Dorf und seine Bewohner vor fast 100 Jahren zeigten, und allerlei landwirtschaftliche Gerätschaften aus früheren Zeiten. Auch ein kleiner Tresen war vorhanden, hinter dem in einem Regal Gläser, Tassen und ein paar Flaschen standen.

»Wenn wir Veranstaltung haben oder am Wochenende, wenn offen ist, dann stehen natürlich überall Blumen auf den Tischen und am Abend auch Kerzen. Und die große Glastür können wir aufschieben und bei schönem Wetter stellen wir auch Tische und Stühle draußen auf die Wiese.«

»Und sogar einen Flügel hast du jetzt!«

Georg deutete auf das schwarze Instrument, das am anderen Ende des Raumes stand.

»Stell dir vor! Unsere alte Musiklehrerin, die Frau Ehrbar – ich hab die ab und zu mal besucht. Letztes Jahr ist sie mit fast 80 ins Altenheim gezogen, und da hat sie mir einfach so ihren Flügel geschenkt, weil sie ihn nicht mitnehmen konnte.«

»Spielst du denn auch wieder?«

Ein Musikstudium, das war Rosis Ziel damals. Konzertpianistin, nein, so kühn waren ihre Träume nicht, aber Musiklehrerin, das hätte sie sich zugetraut. Für ihren Vater war allein der Gedanke schon so abwegig, dass er nicht einmal mit ihr darüber reden wollte. Rosi war seiner Meinung nach ohnehin lange genug zur Schule gegangen. Gemeinsam mit ihrer Schwester Paola sollte sie ihn bei der Arbeit in Gasthof und Brauerei unterstützen. Irgendwann, wenn er sich zurückgezogen hatte, würden die beiden allein die Geschäfte führen. Aber dann kam alles ganz anders. Kurz nach ihrem 18. Geburtstag und dem Abitur wurde Rosi schwanger. Ein uneheliches Kind, das hätte der alte Steinlein sogar noch akzeptiert, doch dass Johannes der Vater war und sie ihn auch noch heiratete, das verzieh er ihr nie.

»Ich hab wieder angefangen. So viel Zeit zum Üben hab ich ja nicht, aber es ist schön.«

Liebevoll strich Rosi über den glänzenden Lack des Instruments, dann hielt sie inne.

»Schorsch, ich hab eine Bitte an dich.«

»Was kann ich für dich tun?«

Rosi zögerte einen Moment, dann sah sie ihn an.

»Kannst du herausfinden, wer es war?«

Georg Angermüller schluckte. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit dieser Bitte. Die übliche Antwort, dass er hier im Urlaub sei, konnte er nicht anbringen. Nicht bei ihr.

»Ehem, Rosi«, er räusperte sich. »Ich verstehe natürlich, dass diese Frage für dich sehr wichtig ist …«

»Dass mein Vater kein guter Mensch war, weiß ich auch. Trotzdem. Es ist für mich sehr wichtig. Wie soll ich sagen?«, sie stockte einen Moment. »Ich möchte Gewissheit haben.«

Leise begann sie zu weinen. Er strich ihr beruhigend mit der Hand über den Rücken.

»Ich würde dir ja gern helfen, aber ich glaube, du machst dir da auch Illusionen, Rosi. Selbst wenn du dann wüsstest, wer’s war – das ändert nichts, der Schmerz bleibt derselbe und außerdem …«

»Aber ich weiß genau, dass das bei mir viel ändern könnte!«, sagte sie mit großer Eindringlichkeit. »Glaub mir, Schorsch! Ich weiß das!«

Rosi wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn fragend und sehr ernst an.

Er hob bedauernd die Schultern.

»Außerdem sind mir hier die Hände gebunden. Selbst wenn ich wollte, ich darf hier gar nicht ermitteln als Beamter eines anderen Bundeslandes, und ich bin mir sicher, die Coburger Kollegen tun, was sie können, um den Fall schnell aufzuklären.«

»Hör dich doch einfach ein bisschen um – diskret –, so wie diese Privatdetektive im Film«, Rosi lächelte schwach. »Kannst du das für mich tun, Schorsch?«

Angermüller seufzte.

»Also gut, ich werd’s mal versuchen. Aber versprich dir bitte nicht zu viel davon!«

»Danke!«

Rosi gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann schlug die Klingel an. Rosi bat ihn, die Tür vom Hofcafé abzuschließen, und ging schnell hinaus, um zu sehen, wer gekommen war. Angermüller warf noch einen Blick in den angrenzenden Raum, der früher als Futterlager diente und in dem jetzt eine kleine Küche untergebracht war. Er spürte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Als jemand, der seine Versprechen ernst nahm, war er jetzt in der Pflicht, der Freundin zu helfen, und ahnte schon die Verantwortung, die er sich damit aufgeladen hatte. In diese unerfreulichen Überlegungen versunken, umrundete er das Wohnhaus und betrat die Küche durch den Hintereingang.

»Angermüller! Was machst’n du hier?«

Rolf Bohnsack konnte seine Verblüffung nicht verbergen. Sein Schnaufen klang plötzlich noch lauter. Sabine Zapf saß neben Rosi und Bohnsack am Tisch und grüßte ihn mit einem freundlichen Nicken. Auch Georg hatte nicht damit gerechnet, jetzt und hier auf die Coburger Beamten zu treffen.

»Nichts weiter«, sagte er ein bisschen unsicher, eingedenk des Gesprächs, das er gerade mit Rosi geführt hatte. »Ich bin mit Frau Sturm und ihrem Mann befreundet und habe sie gerade besucht.«

»Das hast du uns heute Vormittag ja gar nicht erzählt«, stellte Bohnsack kritisch fest.

»Ich dachte, ehrlich gesagt, nicht, dass das wichtig ist.«

»Na ja«, der Coburger Kommissar lachte, sein Doppelkinn vibrierte. Das Lachen klang nicht fröhlich.

»Das musst du schon uns überlassen, Angermüller, was wir für wichtig halten.«

Georg antwortete nicht auf diese Feststellung und sah sein Gegenüber an, ohne eine Miene zu verziehen. Kleines Arschloch, dachte er. Es war eher selten, dass er sich das erlaubte.

»Gut Angermüller. Kannst du uns dann mal allein lassen, bittschön! Wir sind in einer Vernehmung.«

»Vernehmung? Wieso Vernehmung?«, fragte Rosi irritiert und schaute Hilfe suchend zu Georg.

»Das hat nichts zu bedeuten, Rosi«, beruhigte Angermüller die Freundin schnell. »Du bist halt auch eine Zeugin, weil du dem Toten sehr nahestandest und vielleicht wichtige Hinweise geben kannst.«

»Danke für die Erklärung, Kollege! Können wir dann mal?«

»Kann der Schorsch denn nicht hierbleiben?«, unterbrach Rosi den Kommissar.

»Nein, kann er nicht«, sagte Bohnsack noch einmal bestimmt, und es sollte wohl witzig klingen, als er hinzufügte: »Und wenn wir deine Hilfe brauchen, Angermüller, melden wir uns.«

»Ade Rosi, wir sehen uns später!«

»Komm doch zum Abendessen, Schorsch! Ich mach Zwiebelkuchen!«

»Mach ich, danke Rosi!«

Nebelschleier

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