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1. Die Anschuldigungen zweier Mädchen

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Salem Village, September 1692

Leise und gemächlich hört Victor das Plätschern der aufschlagenden Wellen des Atlantiks, als er mit seinem hölzernen Fischerboot wieder zurück zu seiner Anlegestelle im kleinen Hafen Salems schippert. Es ist bereits dunkel. Eine feuchte, dichte Nebelschicht schiebt sich über die Oberfläche des Wassers hinweg in Richtung Küste und umfließt auch Victors Boot, sodass er das Flackern der Kerze vorne am Bug beinahe nicht mehr erkennen kann. Aber seit Jahren schon folgt Victor demselben Weg Tag für Tag, wenn er vom Meer zurück in den Hafen gleitet. Er braucht kein Tageslicht und auch keine gute Sicht, um zu wissen, wo er sich gerade befindet und wo er entlangfahren muss. Der aufkommende, kühle Wind lässt ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Es ist vollkommen still. Kein Mensch ist zu sehen, oder zu hören. Nur die bedrohliche Stille des Wassers und das Dunkel der Nacht umschlingen Victor und sein Boot. Behutsam taucht er sein Paddel immer wieder ins Wasser und steuert so seinen Kahn in die richtigen Bahnen. Nach wenigen Metern stößt er mit dem Bug gegen etwas im Nebel Verborgenes, das Boot dreht sich zur Seite und Victor greift mit seiner linken Hand nach den Holzlatten des Steges. Nur mit Mühe schafft er es, sich über die Kante seines Schiffchens zu hieven, um mit seinem Fuß Halt auf dem Steg zu erlangen. Von einer Seite zur anderen wankend zurrt Victor dann schließlich sein Boot fest.

Das Fischen, das Leben auf dem Wasser ist es, das ihm im Blut liegt. Er und alle Männer der vorangegangenen Generationen sind zur See gefahren, waren stundenlang alleine mit ihren Gedanken und den Fischen, die sie aus dem Meer gezogen haben. Ein scheinbar sorgenfreies Dasein. Das Leben an Land hingegen ist und war Victor schon immer fremd, hat ihm schon immer missfallen. Er ist ein missmutiger, wehmütiger Zeitgenosse, der mit der schlichten Anwesenheit seiner Mitmenschen alleine schon völlig überfordert ist. Der einzige Begleiter, der nie von seiner Seite weicht, ist seine Flasche Whiskey.

Keiner der anderen Fischer seines Dorfes ist mehr im Hafen. Sie haben schon vor Stunden ihr Tagwerk beendet, die gefangenen Fische an den ortsansässigen Händler verkauft, genehmigen sich in der Kneipe zur Belohnung noch ein paar Biere, oder verbringen die Abendstunden im Kreise ihrer Familien. Nicht so Victor.

Als seine Kameraden in aller Frühe mit ihren Booten durch die Massachusetts Bay hinaus auf den zu dieser Jahreszeit äußerst gefährlichen Atlantik fuhren, um die nötigen Fische zu fangen, damit sie ihre Familien mit dem Wenigen, das sie dafür erhalten würden, ernähren können, lag Victor in seinem schwankenden Kahn auf dem Rücken, schnarchte und schlief seinen Rausch aus, den er sich die ganze Nacht lang in der Dorfkneipe angetrunken hatte. Erst gegen Mittag, als die milden Sonnenstrahlen direkt auf seine bleichen Wangen fielen, wurde er schließlich wach, erhob sich zögerlich und machte sich an die Arbeit.

»Hey, Victor«, schreit ihm ein Mann vom Ende des Steges aus zu, als er sich gerade nach den Fischen bückt, die mit einer Schnur zu einem Bündel zusammengezurrt sind. »Soll ich dir vielleicht mit deinem Fang helfen?«

Victor kann den Mann im Dunkeln zwar nicht erkennen, weiß aber anhand seiner Stimme, dass es nur Gustav sein kann. Gustav, der Fischer mit dem größten Boot im Hafen und sogar zwei Angestellten, die Tag um Tag für ihn aufs Meer hinausfahren und dabei ihr Leben für ihn riskieren. Gustav, der währenddessen gemütlich in der warmen Hütte am Hafen sitzt und dann am Abend nur das Geld für den Fang vom Händler kassiert. Gustav, der sich schon seit Jahren lächerlich über Victor macht, wenn dessen Fang wieder einmal mickrig ausgefallen ist. Gustav. Der soll bloß bleiben, wo er ist!

Victor greift nicht nach den leblosen Fischen im Bauch seines Bootes, sondern nach der Whiskeyflasche, die daneben liegt. Ein kleiner Schluck ist noch übrig. Er schnappt sie sich und prostet damit dem Mann zu.

»Mach dir bloß keine Sorgen um mich, Gustav. Ich bin kräftig genug, um meinen Fang selbst zum Händler zu tragen. Mach dir nur keine Mühe. Erlisch deine Kerzen und schau zu, dass du nach Hause zu deiner Familie gehst!«

Er schüttet sich den letzten Rest des Whiskeys in seinen Rachen und wirft dann die leere Flasche in weitem Bogen ins Meer. Gelogen hat Victor nicht. Für seinen heutigen Fang kann er auf Gustavs Hilfe ruhig verzichten. Nur vier Fische hat Victor an diesem Tag gefangen, was auch nicht verwunderlich ist, da es schon weit nach Mittag war, als er endlich ein halbwegs akzeptables Fangrevier erreichte und sein Netz das erste Mal an diesem Tag auswarf. Vier Fische! Das reicht nicht, um seine Familie zu versorgen. Das reicht nicht einmal, um ein anständiges Essen am Abend für alle auf den Tisch zu stellen. Aber es reicht auf jeden Fall für zwei, drei Biere in der Kneipe. Und falls es doch mehr werden sollten, kann er den Rest der Zeche bestimmt an einem anderen Tag begleichen.

Victor prüft noch einmal das Tau seines Bootes. Immerhin ist dies seiner Überzeugung nach sein wertvollster Besitz. Dann greift er nach der noch vollen Flasche Whiskey, die in einer Seitentasche neben dem Fischernetz klemmt, nimmt die vier Fische an der Schnur und wankt über den Steg direkt auf das Flackern jener Kerze zu, die Tag und Nacht in einer gläsernen Laterne am Häuschen der Hafenverwaltung über der Eingangstür brennt.

Der Weg vom Hafen ins Dorf zum Händler, der ihm den heutigen Fang abkaufen soll, bringt Victor auch an seiner Hütte vorbei. Ein bescheidenes Holzhäuschen, aus zwei Räumen bestehend. Ein Raum mit einer Feuerstelle zum Kochen und Essen und ein anderer, der als Schlafraum für die ganze Familie dient.

Ein kleines Mädchen öffnet in dem Moment die Tür und geht hinaus auf die verwahrloste Veranda, um ein paar Scheiter Holz für das Feuer im Ofen zu holen. Stück um Stück stapelt sie es mit einer Hand auf ihren knochigen Unterarm. Wenn man ihre gebrechliche Erscheinung bedenkt, scheint es unvorstellbar, dass ihre Ärmchen es vermögen, diese Menge an Holz zu tragen. Als sie sich umdreht, erblickt sie ihren Vater auf dem Weg vor der Hütte. Sie grüßt ihn höflich, doch erhält keine Antwort.

»Vater, ich bin es, Dahlia. Kommst du nicht ins Haus?«, ruft sie der von der Nacht umhüllten Gestalt auf der anderen Seite des morschen Zauns zu.

Victor jedoch erwidert seiner Tochter erneut kein Wort, wendet stattdessen seinen Blick von ihr ab und folgt dem erdigen Weg mit gesenktem Kopf in Richtung Dorf.

Je weiter die Nacht voranschreitet, desto kühler wird es. Es ist erst September. Normalerweise sollte es zu dieser Jahreszeit noch etwas wärmer sein. Die Einwohner von Salem mussten in diesem Jahr schon viel erleiden und so scheint auf den feuchten, verregneten Sommer jetzt auch noch ein kalter Winter zu folgen. Viele Einwohner sind erkältet, liegen vom Fieber geplagt in ihren Betten. Die Medizin ist knapp. Aber auch wenn es mehr Vorrat davon gäbe, würden sich diese die verarmten Menschen in Salem nicht leisten können. Wenn der Winter tatsächlich so kalt wird, wie es jetzt den Anschein macht und sollte er darüber hinaus auch noch länger andauern als die Jahre zuvor, dann wird er vielen Einwohnern von Salem ihr Leben kosten. Das ist sicher. Auf so etwas sind sie nicht vorbereitet. Wie sollten sie auch? Jeder kämpft tagtäglich ums Überleben, versucht irgendwie Geld zu verdienen, um seine Liebsten mit dem Nötigsten versorgen zu können. Und im Winter wird das erfahrungsgemäß noch schwieriger als sonst…

Auch Victor beginnt es mehr und mehr zu frösteln. Seine Arme zittern, seine Lippen bibbern vor Kälte. Er ist nur mit einer Hose bekleidet, die er mit einer Kordel um seine Hüfte gebunden hat und die ihm nicht einmal bis an seine Knöchel reicht. Seinen Oberkörper umhüllt ein viel zu dünnes Hemd, an dem bereits vier Knöpfe fehlen. Lose, wie eine Plane im Wind, flattert es an seinem Körper. Die Sohlen seiner Schuhe haben Löcher. Mehrere, sodass auch diese seine Füße nicht vor der Nässe und Kälte des Untergrunds schützen können. Victor hofft, dass er seine Jacke gestern in der Kneipe vergessen hat und sie ihm nicht ein anderer Fischer in den Morgenstunden stahl, als er in seinem Boot schlief. Er könnte es sich nicht leisten, eine neue Jacke zu kaufen. Und ohne einer Jacke wäre es für ihn unmöglich, im Winter zur See zu fahren. Das würde er nicht überleben.

Eine Gruppe Männer kommt ihm entgegen. Sie singen Lieder und grölen unverständliche Worte in den klaren Nachthimmel empor. Jeder von ihnen trägt eine Waffe gut sichtbar am Leib. Es sind Feldarbeiter, unter ihnen auch Kriminelle und Verbrecher aus der alten Welt, die hier in den neu gegründeten Kolonien einen Neuanfang wagen. Wenn sie sich die Gebühr für die Schiffsüberfahrt nicht leisten können, wird diese für sie von den ortsansässigen Grundbesitzern übernommen und somit sind diese Männer verpflichtet, ihre Schulden auf den Feldern dieser Wohlhabenden abzuarbeiten. Aber das stört die Wenigsten von ihnen. Sie sind froh, überhaupt eine Chance für einen Neuanfang ermöglicht zu bekommen. Manche von ihnen schlafen in Scheunen im Dorf verteilt, andere wiederum haben sich in Gruppen Hütten am Dorfrand errichtet und hausen dort. Die meisten von ihnen haben keine Familien. Sie stehen in der Früh auf, gehen hinaus aufs Feld, um ihre Arbeit zu verrichten. Danach führt sie ihr Weg in die Kneipe, um ihre Probleme, Sorgen und jene Gedanken, die sie tagsüber beschäftigt und gequält haben, mit Alkohol zu ertränken. Wenn sie dann dem Trinken und dem Geschrei irgendwann überdrüssig geworden sind, schleifen sie ihre abgearbeiteten Körper wankend durch die Gassen zu ihren Schlafstätten. Noch bevor die Sonne dann wieder aufgeht, erheben sich ihre müden Leiber und das Rad beginnt sich erneut von vorne zu drehen. Die Waffen brauchen sie zur Verteidigung ihres Lebens auf den Feldern außerhalb des Dorfes. Indianer sind es, wovor sie sich schützen müssen. Der Krieg zwischen den Indianern und den Siedlern der gegründeten Kolonie Neuengland dauert schon seit Jahren an. Die Menschen haben Angst vor ihnen, fürchten sich vor ihrem Aussehen, verstehen ihre Sprache und ihre Kultur nicht und aufgrund ihrer furchteinflößenden Rituale sind sie sich sicher, dass dieses Volk mit dem Satan selbst in Verbindung steht. Doch ihre größte Furcht ist es, den Krieg gegen die Indianer zu verlieren.

Victors Weg zum Fischhändler führt ihn über den Marktplatz Salems. Nur noch wenige Menschen sind auf den Straßen unterwegs. Aus den Häusern dringt das Licht der angezündeten Kerzen, die mittig auf den Esszimmertischen stehen und die größtenteils spärlichen Mahlzeiten erhellen. Nur sehr selten vernimmt man den Geruch von gekochtem Fleisch, vor allem nur dann, wenn man an den Häusern der gutbetuchten Bürgerlichen vorbeikommt. Der Rest von ihnen, die Bauern, Handwerker und Fischer, muss sich mit dem begnügen, das sie selbst auf den kargen Böden ihrer Gärten anbauen können. Etwas Gemüse, vor allem aber Roggen, den sie zu Brot verarbeiten, dem Hauptnahrungsmittel vieler in Salem.

Victor hat Glück, der Fischhändler hat noch Licht. Als er den Laden betritt, sitzt dieser gerade an seinem Tresen und arbeitet an seinen Büchern, prüft die Anzahl der verschiedensten Fische, die er im Laufe des Tages gekauft und wiederum verkauft hat und zählt seinen Gewinn.

»Victor! Ich dachte nicht, dass du mich heute noch beehren würdest«, begrüßt er ihn freundlich, ohne aber dabei seine Aufmerksamkeit von den Zahlen in den Büchern zu nehmen.

»Hallo, Albert. Ich weiß, es ist spät. Und ich habe heute nicht viel für dich. Aber du weißt ja, ich kann jeden Penny, den du mir bietest, dringend gebrauchen«, schließt Victor hinter sich die Tür.

Im Geschäft des Fischhändlers herrscht ein beißender Geruch. Nur noch wenige unverkaufte Fische liegen ausgenommen und bereit für die Kundschaft auf den Ablageflächen vor dem Tresen. Ihre Augen sind glasig, ihre Kiemen noch blutrot. Fangfrisch bietet Albert seine Ware den wohlhabenden Einwohnern Salems jeden Tag von neuem an. Albert ist beliebt in der Stadt. Seine Kunden schätzen ihn aufgrund der hohen Qualität seiner Produkte und auch die Fischer tätigen gerne Geschäfte mit ihm, weil er ihnen einen fairen Preis für ihren Fang bezahlt. Albert war selbst früher auch einmal Fischer, weshalb er von den Gefahren ihrer Arbeit weiß und diese auch anständig vergütet.

»Was hast du denn heute für mich, Victor?«

Victor tritt an den Tresen heran und legt die vier Fische auf die Holzplatte. Albert prüft die Fische, deren Kiemen, Fleisch, Augen und misst die Größe ab.

»Viel kann ich dir dafür aber nicht anbieten, Victor. Du bist etwas zu spät. Das Hauptgeschäft für heute ist schon gelaufen. Ich muss froh sein, wenn ich sie morgen Vormittag noch verkaufen kann…«

»Ich weiß, Albert. Ich werde annehmen, was du mir bietest.«

Albert öffnet seine Kasse mit einem langen Messinghebel an der Seite und zählt ein paar Münzen daraus auf seine Hand. Diese reicht er Victor und der steckt sie, ohne sie nachzuzählen, in die Tasche seiner Hose.

»Danke, Albert. Eine gute Nacht wünsche ich dir.«

»Das wünsche ich dir auch, Victor. Und morgen komm gefälligst wieder etwas früher, dann kann ich dir einen besseren Preis für deine Fische bezahlen.«

»Werde ich machen«, verabschiedet er sich von Albert und tritt wieder hinaus auf die Straße.

Er überquert erneut den mittlerweile menschenleeren Marktplatz, aber an der Kreuzung bleibt er stehen. Er überlegt kurz. Soll er nach Hause gehen, ein Stück Brot essen und vielleicht etwas Milch trinken und sich dann schlafen legen? Vielleicht hat seine Frau, oder seine Tochter auch etwas Gemüse gekocht. An dem Feuer im Ofen könnte er seine durchgefrorenen Glieder wärmen. Er überlegt noch immer. Für ein paar Minuten steht er einfach so da, doch dann dreht er sich um und biegt in die Nebengasse zu seiner Rechten, wie an den meisten Tagen der Woche auch.

Nach kurzer Zeit ist das Geschrei angetrunkener Männer bereits auf den Gassen zu hören. Es ist nicht mehr weit, nur noch ein paar Meter, dann kann sich Victor auf einen Hocker am Tresen niederlassen, sich einen Krug Bier bestellen und seine Probleme damit versuchen zu ersäufen. Nur noch wenige Meter. Eine dünne Gestalt erscheint am Ende der Gasse und kommt direkt auf Victor zu. Sie trägt ein hellblaues Kleid mit einer weißen Schürze. Ihr Haar ist hochgesteckt und unter einer weißen Haube verborgen. Eine Dienstmagd, die sich nach einem langen, anstrengenden Tag auf dem Weg nach Hause zu ihrer eigenen Familie macht, um sich um diese zu kümmern.

»Victor?«, ruft sie dem Mann entgegen, als der mit gesenktem Kopf beinahe an ihr vorbeiläuft.

»Eleanor«, begrüßt er sie beiläufig und bleibt dabei nicht einmal stehen.

»Victor, warte«, dreht sich die Frau um und packt ihn am Arm. »Wo willst du hin?«

»Das weißt du doch. Also wieso fragst du?«

»Weil du gestern Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen bist, Victor. Nach Hause, zu deiner Tochter und mir. Wir brauchen dich.«

»Ihr kommt ganz gut ohne mich zurecht, Eleanor«, hebt er seinen Kopf und blickt seiner Frau zum ersten Mal seit Tagen wieder in ihr Antlitz. »Dahlia ist schon fast erwachsen. Sie hilft dir im Haushalt, baut Gemüse an, erntet es und bäckt Brot. Du verdienst auch ein paar Pence als Dienstmagd. Ihr braucht mich also nicht«, antwortet er Eleanor, holt die Flasche Whiskey aus seiner Hemdtasche und nimmt einen ordentlichen Schluck.

»Doch, Victor, bitte. Komm mit mir nach Hause«, versucht es seine Frau ein weiteres Mal.

Victor greift nach ihrer Hand, mit der sie ihn nach wie vor am Arm festhält. Er löst sich von ihrem Griff und wendet sich von ihr ab.

»Geh nach Hause, Eleanor, und lass mich gefälligst in Ruhe. Hörst du! Ich bin dein Mann! Du sagst mir nicht, was ich zu tun, oder zu lassen habe. Vergiss das bloß nicht!«, geht er in die Richtung davon, aus der zuvor Eleanor gekommen war, greift nach ein paar Schritten nach einer Türklinke, zieht daran und verschwindet in dem Haus an der Straßengabelung.

Eleanor wischt sich die Tränen aus den Augen und streift die Hände an ihrer Schürze ab. Wie konnte sie nur glauben, dass sie ihren Mann überreden könnte, mit ihr nach Hause zu ihrer Tochter zu gehen, anstatt zu den anderen Trunkenbolden in die Kneipe? Wie blauäugig von ihr zu denken, dass man mit Victor auch nur annähernd ein vernünftiges Gespräch führen könnte. Immer ist er betrunken, immer hat er den Whiskey mit dabei, für den er seinen letzten Penny geben würde. Aber Eleanor wird daran nicht zerbrechen. Schon zu lange, schon zu viele Jahre kennt sie Victor, ist mit ihm verheiratet, kennt sein Wesen in- und auswendig. Und egal wie oft sie von ihm enttäuscht wird, egal wie oft er sie im Rausch bedroht, oder auch von Zeit zu Zeit handgreiflich wird, sie erinnert sich noch an die Zeit zurück, als sie sich kennen und lieben lernten. Damals war Victor ein anderer Mensch. Lieb und einfühlsam. Und obwohl davon heute fast nichts mehr übrig ist, ist es dieser andere Victor, der in Eleanors Herzen seinen Platz gefunden hat. Diese alten Gefühle zaubern ihr auch jetzt ein Lächeln in ihr Gesicht. Eleanor macht sich auf den Heimweg zu ihrer Tochter Dahlia, die sich während ihrer Abwesenheit um die Hütte und um den Haushalt gekümmert hat. Eleanor bleibt nichts anderes übrig. Sie muss arbeiten gehen, um das Wenige, das sie benötigen und das sie sich nicht selbst anbauen können, zu kaufen. Deshalb arbeitet sie als Dienstmagd bei der Familie Lewis am anderen Ende des Dorfes, in dem zweistöckigen Haus mit den vier Giebeln.

Die Familie Lewis zählt zu den angesehensten bürgerlichen Familien in Salem, mit einem Grundbesitz, der von Salem beginnend entlang der Massachusetts Bay bis fast hinunter nach Boston reicht. Das Familienoberhaupt, Richard Lewis, ist ein überaus vornehmer Mann, der auch Eleanor gegenüber Benehmen und Anstand zeigt. Dessen Frau allerdings versucht mit allen Mitteln Eleanor im Haushalt das Leben schwer zu machen. So äußert sie laufend schier unerfüllbare Wünsche nach Mahlzeiten, deren enthaltene Lebensmittel für Eleanor unmöglich zu besorgen sind und genießt dann Eleanors verzweifelte Entschuldigung für ihre angebliche Nichtsnutzigkeit und Verschwendung an menschlichen Daseins. Außerdem wäre da noch das Martyrium des täglichen Bades, bei dem die Wassertemperatur einmal viel zu heiß und dann wieder empfindlich zu kalt zu sein scheint, obwohl Eleanor das Wasser bei jedem Mal genau mit derselben Temperatur in die Wanne laufen lässt. Auch die zwei Kinder der Familie Lewis sind zwei verwöhnte Gören. Zwei Mädchen. Mercy und deren jüngere Schwester Elizabeth. Auch sie stehen, bezogen auf ihre Sitten und Anstalten, ihrer Mutter in nichts nach, behandeln ihre Dienstmagd wie eine Sklavin, beleidigen sie, so oft sie nur können und beschmutzen mit voller Absicht alle Böden und Teppiche im Haus und kichern dann belustigt, während sie Eleanor beobachten, wenn diese auf ihren geschwundenen Knien über den Boden kriecht, um wieder Ordnung zu schaffen, bevor am Abend Mr Lewis das Haus betritt.

Doch an diesem Tag hat Eleanor die Mädchen kaum zu Gesicht bekommen. Sie haben den ganzen Tag über ihr Zimmer nicht verlassen. Auch ihr Essen haben beide verweigert, als Eleanor mit gefüllten Tellern vor ihrem Zimmer stand. Mrs Lewis war nicht zu Hause. Sie fuhr vor zwei Tagen zu ihrer Schwester nach Boston, um sich von den Strapazen des Lebens auf dem Land zu erholen, wie sie Eleanor gegenüber erwähnt hatte.

Als Eleanor am heutigen Tag schließlich das Haus der Familie Lewis verließ, war Richard Lewis noch nicht heimgekehrt. Sie konnte ihm also nicht vom Verhalten seiner Töchter erzählen. Das Abendessen ließ Eleanor auf dem Herd, sodass es für ihn warm bleibt. Mehr konnte sie nicht tun.

»Mercy? Elizabeth? Wo seid ihr?«, ruft Richard Lewis die Treppe nach oben ins zweite Geschoß, als er keines seiner Mädchen in der Küche oder im Lesesalon antrifft. »Eleanor, sind Sie noch hier?«

Doch niemand antwortet ihm. Offenbar ist er alleine im Haus. Er geht zurück in die Küche, hebt den Deckel vom Topf auf dem Herd und schöpft sich den Eintopf mit Hühnerfleisch und herrlich duftendem Gemüse in einen Teller. Eine Scheibe frisches Brot schneidet er sich selbst vom Laib und setzt sich an den Tisch. Eleanor hat ihm auch die Zeitung an seinen Platz gelegt. Gut. Heute war er ohnehin den ganzen Tag zu beschäftigt, um die politischen und wirtschaftlichen Nachrichten aus Boston zu lesen. Dafür bleibt jetzt noch genug Zeit. Er schlürft den Eintopf Löffel um Löffel aus seinem Teller und blättert Seite um Seite durch die Zeitung.

Noch immer ist es völlig ruhig im Haus. Seine Frau ist in Boston, Eleanor scheinbar schon nach Hause gegangen. Kein Wunder, es war sehr spät heute, als er es selbst endlich aus dem Büro der Verwaltung geschafft hat. Aber wo sind seine Kinder? Seine Töchter? Normalerweise begrüßen sie ihn immer überschwänglich, wenn er nach Hause kommt. Selbstverständlich, weil sie etwas von ihm haben wollen. Meistens Geld. Aber trotzdem. Wo sind sie?

Er steht auf, lässt sein Geschirr auf dem Esszimmertisch zurück und geht dann die Holztreppe nach oben. Die Mädchen teilen sich ein großes Zimmer im Obergeschoß. Nicht etwa, weil im Haus nicht genügend Zimmer vorhanden wären. Nein. Sie wollten das so.

Vor der Zimmertür bleibt Mr Lewis stehen und klopft an.

»Mercy? Elizabeth?«, fragt er erneut.

Doch auch jetzt antwortet ihm niemand. Er greift nach dem Türknauf und dreht ihn vorsichtig nach links, um die Tür zu öffnen. Im Raum ist es stockdunkel. Es ist zwar schon spät, aber um diese Zeit schlafen seine Kinder auf keinen Fall. Immerhin sind sie fast erwachsen, junge Frauen. Er geht zurück auf den Flur, nimmt eine der Kerzen aus der Halterung und geht damit zurück ins Zimmer der Mädchen, um die dortigen Kerzen damit anzuzünden.

Als er zurück zum Schlafzimmer geht, hört er auf einmal ein kurzes Klicken gefolgt von einem langanhaltenden, leisen Knarren. Die Tür ins Zimmer der Mädchen öffnet sich langsam so weit, bis sie seitlich gegen die Wand schlägt.

»Mädchen? Hört auf mit diesem Unfug!«, sagt Mr Lewis draußen auf dem Flur stehend.

Doch wieder ist kein Laut zu vernehmen. Im ganzen Haus ist es totenstill. Mr Lewis macht noch ein paar Schritte auf die Zimmertür seiner Kinder zu und tritt vorsichtig ein. Kein Licht, kein Geräusch. Nichts. Er sieht sich in alle Richtungen um, kann aber wegen des gedämpften Scheins der einzelnen Kerze in seiner Hand nur verschwommene Umrisse erkennen. Deshalb schreitet er auf die Anrichte neben dem Kamin zu, um die dortigen drei Kerzen in der Halterung zu entflammen.

Auf einmal hört er das Holz des Fußbodens hinter sich knarren. Erschrocken dreht er sich um, doch er sieht niemanden. Keine Schatten, keine Bewegungen, keine menschlichen Umrisse. Nicht einmal die Hauskatze, die sonst nie von der Seite seiner Mädchen weicht, scheint heute in diesem Zimmer zu verweilen. Er richtet seinen Blick wieder auf den Kerzenhalter vor ihm und entfacht die Dochte. Es erstrahlt ein etwas kümmerliches Licht, reicht aber, um die Winkel und Ecken des großen Schlafzimmers auszuleuchten.

Ein seltsames Geräusch dringt an Mr Lewis' Ohr. Eine Art Schnalzen im Sekundentakt. Einmal etwas lauter, dann wieder etwas leiser, so als würde man die verstreichende Zeit zählen. Mit einem Mal wird dieses Schnalzen schneller. Ein Fauchen mischt sich zwischen diese Laute. Sie scheinen sich Mr Lewis mit jedem Ton etwas mehr zu nähern. Er ist kein furchtsamer Mann. Das war er noch nie, denn mit seiner stattlichen Gestalt hatte er bislang auch überhaupt keinen Grund, vor irgendetwas in seinem Leben zurückzuschrecken.

Die Kerze vom Flur hält Mr Lewis fest in seiner linken Hand, als er sich umdreht und in die linke Ecke des Zimmers blickt, von wo aus dieses furchteinflößende Geräusch zu kommen scheint. Er sieht nichts, ist sich aber sicher, dass dieses Schnalzen von der immer noch verdunkelten Ecke neben Mercys Bett kommt. Mit ein paar verhaltenen Schritten nähert er sich dieser Stelle, doch als er am Bett von Elizabeth vorbeikommt, greift plötzlich etwas nach seinem Bein und zieht daran. Eine Hand streckt sich unter dem Bett hervor. Die Fingernägel abgebrochen, blutig und die Handflächen völlig aufgekratzt.

»Elizabeth?«, schreckt Mr Lewis zurück und will sich gerade mit seinem Oberkörper nach unten beugen, um unter das Bett zu blicken.

Da sieht er auf einmal, dass sich der weiße, bodenlange Vorhang nach vorne wölbt. Das Geräusch von vorhin ist verstummt. Ein verächtliches Kichern dringt stattdessen an seine Ohren.

»Hört sofort auf damit!«, ruft Mr Lewis.

Doch das Gelächter wird immer lauter. Der Vorhang fliegt auf einmal zur Seite und Mr Lewis erblickt seine älteste Tochter dahinter.

»Was hast du dir bloß angetan?!«, stammelt er erschrocken, als seine Tochter vor ihn tritt.

Ihr Haar ist bis auf wenige Zentimeter abgeschnitten, ihre Haut im Gesicht und entlang der Arme ist mit tiefen Rissen und Kratzern übersät, das Blut teilweise geronnen, teilweise noch feucht im Kerzenlicht glänzend. Sie trägt nichts am Leib als ihr knöchellanges, schwarzes Nachthemd. Eine der Träger ist gerissen und hängt über ihre Schulter nach unten.

»Mercy, was ist los? Sprich bitte mit mir!«, fleht sie ihr Vater hilflos an.

Doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Sie bleibt mit kurzem Abstand vor ihm stehen und beginnt wieder mit der Zunge im Sekundentakt zu schnalzen. Mr Lewis will auf sie zugehen, doch der unter dem Bett hervorragende Arm hält sein Bein zu stark fest. Er beugt sich nach unten und sieht seine jüngere Tochter auf dem Rücken unter dem Bett liegen, ihren Kopf nach hinten geneigt und mit blutverschmiertem Gesicht. Die Flamme der Kerze in seiner Hand erlischt. Er legt sie auf den Holzboden neben sich und greift nach Elizabeths Arm, um sie unter dem Bett hervorzuziehen. Als Mr Lewis in ihr Gesicht blickt, sieht er, dass Blut aus ihrem Mund über ihren Hals hinweg fließt. Doch weder sie noch Mercy scheinen die Schmerzen, die irgendjemand ihren Körpern zugefügt hat, zu spüren. Sie sagen kein Wort, kichern stattdessen, oder geben seltsame Laute von sich. Mr Lewis greift nach seinem Stofftaschentuch in seiner Hose und wischt damit vorsichtig über Elizabeths Hals, um das Blut davon zu entfernen. Dann streicht er damit über ihre Lippen. Diese sind aufgeplatzt, eine tiefe Furche teilt ihre Unterlippe in zwei Hälften.

»Oh, meine arme Elizabeth. Was wurde dir bloß angetan?«, flüstert Mr Lewis.

»Bitte nicht, Sie tun mir weh!«, ruft Elizabeth auf einmal und beißt sich selbst erneut auf ihre Unterlippe, wodurch noch mehr Blut aus dieser herausfließt.

»Elizabeth! Hör damit auf! Es ist niemand mehr hier, der dich verletzen könnte.«

Elizabeth reißt sich aus der Umarmung ihres Vaters los und steht langsam auf. Ihre Augen sind weit aufgerissen und beginnen sich langsam nach hinten zu drehen, bis nur noch ein milchiges Weiß davon sichtbar ist. Mercy steht auf der anderen Seite des Bettes, hat sich noch immer keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, schnalzt verächtlich mit ihre Zunge, kichert und kratzt sich mit ihren Fingernägeln immer wieder über ihre blutigen Unterarme. Elizabeth neigt ihren Kopf zur Seite, so weit, dass sie ihn auf ihrer Schulter ablegen kann. Dann geht sie zu ihrer Schwester, stellt sich neben sie und beginnt an ihren Haaren zu zerren. Strähne um Strähne reißt sie sich ihr wunderschönes, blondgelocktes Haar mit den Wurzeln aus ihrem Kopf. Mr Lewis steht auf, rennt zu ihr hinüber und versucht sie davon abzuhalten. Doch seine kleine, unschuldige Tochter dreht sich zu ihm um, blickt ihm mit ihren nach hinten gewandten Augen an, schreit fürchterlich laut auf, dass es Mr Lewis in den Ohren sticht und spuckt ihrem Vater dann mitten ins Gesicht.

Mr Lewis ist überfordert. Was geht hier vor sich? Was ist mit seinen geliebten Mädchen los? Und wer hat ihnen diese schrecklichen Wunden zugefügt? Oder waren sie das selbst? Wieso sollten sie das tun? Er weiß keinen anderen Ausweg: Er muss Hilfe holen. Mr Lewis geht in Richtung Tür, greift nach dem Zimmerschlüssel, der auf der Anrichte liegt, tritt auf den Flur und schließt seine Kinder in ihrem Zimmer ein. Zu ihrem Schutz und zu seinem. Er muss Hilfe holen, so schnell wie möglich.

Beim Vorbeigehen schnappt er sich seinen Mantel, wirft ihn sich um die Schultern und läuft die Nebengasse hinunter in Richtung Hauptstraße. Es hat zu regnen begonnen. Gleichzeitig bläst ein frostiger Wind durch Salem, wodurch sich die niedrigen Temperaturen noch kälter auf seiner Haut anfühlen. Gott sei Dank. Es brennt noch Licht in dem grüngestrichenen Haus an der linken Seite. Ohne zu klopfen reißt er die Tür auf und steht keuchend vor einem erschrockenen, kleinen Mann mit weißem Kittel und einer winzigen Lesebrille, die er bis an seine Nasenspitze hinuntergeschoben hat. Er ist gerade dabei, die Glasfläschchen mit diversen Kräutern zu beschriften und feinsäuberlich in das Regal zu sortieren.

»Richard, du meine Güte! Was ist denn los?«, fragt er den vor ihm stehenden, nach Luft schnappenden Mann im Pelzmantel und schiebt sich seine Brille dabei wieder ein Stück nach oben.

»Schnell! Du musst sofort mitkommen, Edward! Irgendetwas stimmt nicht mit meinen Töchtern«, stammelt er.

»Was soll das heißen: Irgendetwas stimmt nicht mit deinen Töchtern? Was fehlt ihnen denn? Haben sie Fieber, so wie zurzeit viele Einwohner unseres Dorfes? Das liegt am Wetter. Das weißt du doch, Richard. Ich gebe dir ein paar Kräuter mit und eine Salbe. Du wirst sehen, im Handumdrehen geht es…«

»…Edward, bitte komm mit! Es ist kein Fieber! Dabei helfen deine Kräuter und Salben nicht. Es muss etwas anderes sein. Etwas viel Schlimmeres. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«

»Richard, wovon redest du da bloß?«

»Komm einfach mit und sieh mit eigenen Augen, Edward«, packt er ihn am Arm und zieht ihn in Richtung Tür.

»Nicht so schnell. Was soll ich mitnehmen?«

»Ich habe keine Ahnung. Pack ein, was auch immer du findest. Aber beeil dich!«

Richard Lewis läuft die Gasse entlang vor Edward Bassett, dem einzigen Arzt in der Umgebung, her. Kein weiteres Wort hat er mehr über den Zustand seiner Mädchen ihm gegenüber erwähnt. Er wüsste nicht, was er auf seine Fragen antworten sollte, wie er das, was er vorhin erlebte, auch nur annähernd glaubhaft wiedergeben sollte. Wenn ihm jemand Derartiges erzählen würde, würde er ihn auslachen, oder schlimmer noch: Er würde ihn einsperren lassen, damit diese Person seinen Mitmenschen aufgrund der offensichtlich geistigen Verwirrtheit keinen Schaden zufügen kann.

Nur noch wenige Meter bis zu seinem Haus. Mr Lewis dreht sich um. Mr Bassett folgt ihm mit diversen Kräutern, Salben, anderen Arzneien und seinen Hilfsmitteln für Untersuchungen in einer Tasche. Mr Lewis betritt wieder sein Haus, hängt seinen Mantel auf den Haken neben der Tür und wartet dann auf den Arzt. Er nimmt ihm seine Jacke ab und blickt in dessen etwas ängstliches Gesicht.

»Bist du bereit?«, fragt ihn Mr Lewis.

»Ich denke schon. Ich werde mein Möglichstes tun, Richard«, antwortet er seinem alten Freund und nimmt seinen Hut ab, um ihn Mr Lewis zu reichen.

Dieser geht die Treppe voran nach oben, Mr Bassett dicht hinter ihm. Vor dem Zimmer der Mädchen bleibt er stehen, presst sein Ohr gegen die Tür. Es ist völlig ruhig. Nichts zu hören.

»Richard?«, fragt der Arzt.

»Leise«, hält Mr Lewis seinen Zeigefinger an die Lippen.

Doch er hört keinen Ton. Aus seiner Hosentasche zieht er den Türschlüssel, steckt ihn vorsichtig in das Schloss und dreht ihn dann nach rechts. Mit einem Klicken entriegelt das Schloss und Mr Lewis öffnet zaghaft die Tür.

»Du hast deine Töchter in ihrem Zimmer eingeschlossen?«, fragt der Arzt.

»Es musste sein«, antwortet ihm Mr Lewis kurz.

Durch den Schimmer der Kerzen erblickt er seine Kinder sofort, als er die Tür weit genug geöffnet hat. Sie liegen nebeneinander auf dem Teppich vor ihren Betten, die Augen geschlossen, ihre Körper und Kleider mit Blut verschmiert. Ihr Atem ist schwer, mit einem quietschenden Keuchen hebt und senkt sich stetig ihr Brustkorb. Die Arme halten sie auf ihrem Bauch gefaltet. Sie liegen einfach so da, als wären sie bereits tot.

»Was ist hier los?«, fragt Mr Bassett komplett überfordert und blickt dabei in die ebenso furchterfüllten Augen seines Freundes.

»Ich weiß es nicht«, antwortet der und tritt vorsichtig an die regungslosen Körper seiner Töchter heran.

Als würden sie friedlich schlafen, liegen beide vor seinen Füßen. Er kniet sich neben Mercy auf den Boden und streicht behutsam mit seiner Hand über ihre kurzen Haare hinweg.

»Meine geliebte Tochter… Mercy…«, stammelt er.

In dem Moment öffnet sie wieder ihre Augen, greift nach seinem Arm und bohrt ihre blutigen Fingernägel tief in diesem fest. Wie in Zeitlupe richtet sie ihren Körper auf, bis auch sie vor ihm auf dem Teppich kniet und ihrem Vater starr in seine Augen blickt. Sie spricht, aber ihre Worte sind nicht zu verstehen. Sie ergeben keinen Sinn, sind in irgendeiner fremden Sprache. Nur Laute, nichtssagende Silben und immer wieder schnalzt Mercy dabei zwischendurch mit ihrer Zunge. Ihr Kopf beginnt sich nach links zu drehen, so weit nach hinten, dass man denkt, die Halswirbel würden jeden Moment brechen. Dann dreht sie ihren Kopf langsam auf die andere Seite. Mr Lewis packt ihn seitlich mit beiden Händen, versucht ihn festzuhalten und ruft vergeblich nach dem Arzt, der völlig entsetzt mit dem Rücken gegen die Wand gepresst neben der Zimmertür steht und sich nicht traut, vom Fleck zu bewegen.

»Edward, jetzt komm schon und hilf mir!«, ruft Mr Lewis noch ein weiteres Mal.

Der Arzt stellt seine ohnehin nutzlose Medizintasche auf den Boden und nähert sich langsam der jüngeren Tochter, die nach wie vor friedlich auf dem Boden liegt. Er beugt sich über ihren Kopf nach unten und öffnet vorsichtig ihre Lider. Der Anblick ihrer verdrehten, weißen Augen lässt ihn für einen Augenblick zurückzucken. Schließlich legt er seine Finger auf ihr Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. Er blickt auf seine Uhr und zählt die verstreichenden Sekunden.

Plötzlich richtet sich auch Elizabeth vor ihm auf, die Augen nach wie vor geschlossen. Wie ihre Schwester gibt sie seltsame Laute von sich. Der Arzt weicht erschrocken von ihr, woraufhin sich Elizabeth zur Seite dreht und auf allen Vieren durch den Raum kriecht, bis sie sich wieder unter ihr Bett ins Dunkel zurückzieht, wo sie ihr Vater zuvor gefunden hat. Mr Lewis versucht nach wie vor Mercy unter Kontrolle zu halten, damit sie sich selbst nicht verletzt, oder durch das schmerzliche Verdrehen ihres Kopfes ihr zartes Genick bricht.

»Was machen wir jetzt?«, fragt er seinen Freund Edward.

»Ich weiß es nicht, Richard. Auch wenn ich irgendwie weitere Untersuchungen bei deinen Töchtern durchführen könnte, bin ich mir sicher, dass ich ihnen nicht helfen kann.«

»Was würdest du tun, wenn es deine Töchter wären?«, fragt er verzweifelt.

»Ich würde Cotton Mather holen«, antwortet ihm Mr Bassett ohne lange zu überlegen.

»Den Pfarrer? Wie könnte er uns helfen?«

»Deine Töchter sind nicht krank. Diese Laute, diese Geräusche, Richard. So etwas habe ich noch nie gehört. Ich habe Angst vor ihnen. Nichts Irdisches ist es, das deinen Kindern widerfahren ist. Glaub mir. Der Einzige, der ihnen helfen kann, ist ein Geistlicher!«

»Dann geh und hol ihn!«, bittet er den Arzt.

»Wo soll ich ihn zu dieser Uhrzeit finden?«

»Dort wo er jeden Tag zu dieser Zeit zu finden ist: in der Dorfkneipe. Geh jetzt und beeil dich, Edward!«, fordert er ihn auf.

In dem Moment reißt sich Mercy von ihm los und kriecht zu ihrer jüngeren Schwester unter deren Bett. Sie fauchen und stöhnen, aber bleiben darunter versteckt. Der Arzt lässt seine Tasche im Zimmer zurück, rennt die Treppe nach unten und schlägt die Haustür hinter sich zu.

Nur wenige Minuten vergehen, bis er wieder mit Cotton Mather das Haus der Familie Lewis betritt, aber dem wartenden Vater im Obergeschoß kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Cotton Mather, ein puritanischer Geistlicher und Gelehrter, der als Pfarrer der Gemeinde Salem für Recht und Ordnung sorgt. Er ist aber auch ein religiöser Fanatiker, der sich ständig vom Teufel selbst bedroht fühlt. In seinen Predigten spricht er Sonntag für Sonntag vom Kampf der zwischen Gottes auserwähltem Volk und Satan selbst herrscht und gießt dadurch immer wieder aufs Neue Öl ins Feuer im Krieg gegen die Indianerstämme. In seinen Augen sind die Puritaner die Auserwählten, das reine, fehlerlose Volk Gottes und alles und jeder andere wird von ihm in seiner Stadt nicht geduldet.

»Richard. Was ist hier los?«, fragt der Pfarrer Mr Lewis, als er vor Mr Bassett das Schlafzimmer der Mädchen betritt. »Edward wollte oder konnte mir nichts Genaues erzählen. Er meinte lediglich, dass du so schnell wie möglich meine Hilfe benötigen würdest.«

»Danke für dein Kommen, Cotton. Es geht aber nicht um mich, sondern um meine lieben Töchter.«

»Wo sind sie denn?«, fragt der Pfarrer, während sich Mr Bassett seine Medizintasche umklammernd nicht von der Tür wegbewegt.

In dem kurzen Moment der Stille hört Cotton Mather die Geräusche, die unter Elizabeths Bett hervorkommen. Er geht langsam auf sie zu, an Mr Lewis vorbei und kniet sich auf den Teppich daneben. Als er unter das Bett sieht und die beiden Mädchen erblickt, kriechen diese rückwärts hinter dem Bett hervor, spucken und fauchen in Richtung der drei Männer und kratzen sich ihre getrockneten Wunden wieder blutig. Cotton Mather schreckt davor aber nicht zurück, scheint etwas Derartiges nicht zum ersten Mal zu erleben. Er bittet Mr Lewis Elizabeth festzuhalten, stellt sich gefasst vor Mercy, packt sie an den Schultern und blickt ihr dabei tief in die Augen.

»Wer bist du?«, stellt er ihr die erste Frage.

Doch Mercy steht nur vor ihm und lacht. Immer lauter wird ihr Gelächter. Sie beugt dabei ihren Kopf weit nach hinten, sodass sie beinahe selbst an ihrer eigenen Zunge erstickt.

Cotton Mather packt sie hinten im Genick, zieht ihren Kopf direkt zu seinem nach vorne und sagt erneut.

»Ich befehle dir, mir sofort deinen Namen zu nennen, wer auch immer du bist, der in dieses unschuldige Mädchen gefahren ist!«

Daraufhin stoppt das grauenhafte Lachen. Mercy presst ihre blutigen Lippen zusammen und beginnt zu weinen. Tränen fließen wie dünne Bäche über ihre Wangen. Mather lässt sie los.

»Mich kannst du nicht täuschen«, fährt Cotton Mather fort. »All diese Tränen werden dir nichts bringen.« Er holt seine Bibel aus der Tasche und umgreift das goldene Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hängt. »Im Namen Gottes, unseres allmächtigen Vaters, befehle ich dir, uns deinen Namen zu nennen, Dämon«, ruft er.

Mercy verstummt, gibt keinen Laut mehr von sich. Kein Weinen, kein Schluchzen, keine Bewegung. Elizabeth, die von ihrem Vater fest umklammert neben Mercy steht, öffnet langsam ihren Mund, beginnt zu würgen, als würde irgendein Fremdkörper in ihrem Hals feststecken.

»Ich bin kein Dämon«, sagt sie plötzlich und dabei flammen zwei rote Punkte in ihren Augen auf.

»Wer bist du dann?«, fragt Cotton Mather.

Elizabeth reißt sich von ihrem Vater los und tritt ganz dicht an den Pfarrer heran. Sie stellt sich auf ihre Zehenspitzen und leckt mit ihrer aufgebissenen Zunge über die dicken, hängenden Wangen des Pfarrers. Dann greift sie nach dem Kreuz um seinen Hals, reißt ihm die Kette von seinem Körper und wirft sie in eine finstere Ecke des Raumes.

»Ich bin das Böse!«, faucht sie ihm ins Ohr und kichert dabei wie ein kleines Mädchen. »Dein lächerliches Kreuz und deine verstaubte Bibel können dir nicht helfen, mein guter Freund.«

»Wir müssen sie festhalten und sie fesseln!«, ruft Cotton Mather dem Vater der Mädchen zu. »Damit sie uns und sich selbst nicht verletzen können. Hol irgendein Seil, Edward, damit wir ihre Hände gegen die Betten binden.«

Mr Lewis und der Pfarrer halten die Mädchen in der Zwischenzeit fest. Sie sind kräftig und wehren sich so gut sich können, beißen und kratzen, aber die Männer schaffen es, die Mädchen an den Holzstreben ihrer Betten zu fixieren. Dann öffnet Cotton Mather seine Bibel, hält das Kreuz seiner abgerissenen Kette vor die Augen der Mädchen und befiehlt dem Bösen in den Körpern der Unschuldigen, sie zu verlassen, deren Körper freizugeben und von ihnen abzulassen. Die Mädchen verdrehen ihre Augen, stöhnen. Das Blut, das rot aus ihren Wunden fließt, stockt mit einem Mal und verfärbt sich pechschwarz.

»Hör damit auf, Cotton!«, fleht ihr Vater, dann Mr Bassett. »Du wirst sie töten!«

Doch Cotton Mather hört nicht auf. Ununterbrochen wiederholt er dieselben Verse aus der Bibel, bis die Mädchen schließlich nebeneinander bewusstlos zu Boden fallen. Ihre Arme baumeln verdreht an den Holzstreben über ihnen. Ihre Gewänder sind blutverschmiert und hängen zerrissen von ihren Leibern.

»Jetzt können wir sie losschneiden«, sagt der Pfarrer zu Mr Lewis, woraufhin dieser sofort die Seile mit einem Messer durchtrennt und seine Töchter nebeneinander auf den weichen Teppich legt.

Ein paar Minuten liegen sie einfach so da. Sie leben. Ihr Atem ist zwar kaum zu hören, aber Mr Bassett hat ihren Puls gefühlt und mit einem Nicken bestätigt, dass alles in Ordnung sei. Mercy ist die erste, die ihre Augen wieder öffnet und sich zu ihrem Vater zur Seite dreht. Sie blickt ihn mit ihren wunderschönen, grünen Augen an, die sie von ihrer Mutter geerbt hat.

»Mercy?«, fragt Mr Lewis verhalten.

»Vater?«, entgegnet ihm das Mädchen, richtet sich verhalten auf und blickt auf die Wunden entlang ihres Körpers und auf jene ihrer Schwester.

»Mercy, Gott sei Dank!«, umarmt Mr Lewis vorsichtig seine ältere Tochter, um ihr nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen. »Geht es dir gut?«

Doch Mercy antwortet ihm nicht. Ihren Blick hat sie starr auf ihre Schwester gerichtet, bis auch diese langsam wieder zu sich kommt, sich zur Seite dreht und sich schmerzerfüllt aufrichtet, um dann als erstes ihrem Vater erleichtert in die Arme zu fallen.

»Vater… Vater! Es war so schrecklich!«, weint sie in seinen Armen und zittert dabei am ganzen Körper.

Mercy kniet sich neben ihren Vater hinter Elizabeth auf den Teppich und legt ihre Hand schützend auf den Rücken ihrer Schwester.

»Ich bin so froh, dass ich euch wieder in meine Arme schließen kann«, streicht Mr Lewis seinen Töchtern über ihre entstellten, blutigen Gesichter. »Mercy. Elizabeth. Ich hatte solche Angst um euch! Was war das bloß? Was war in euch gefahren?«

Elizabeth schweigt, blickt verängstigt nach hinten zu ihrer älteren Schwester. Diese jedoch starrt ihrem Vater tief in dessen Augen. Sekundenlang.

»Es war das Böse, Vater«, meint sie schließlich.

»Das Böse?«, fragt Cotton Mather seine Bibel fest umklammernd mit ernster Miene, tritt an die Familie Lewis heran, streckt seinen rechten Arm aus und hilft Elizabeth hoch. »Was meinst du damit, Mercy?«

»Das Böse ist in uns gefahren. Wir haben ihm aber versagt, Vater, haben es abgewiesen und jetzt schickt der Teufel selbst seine Helfer zu uns, um uns zu unterwerfen«, antwortet sie.

»Es fühlte sich an, als ob unsichtbare Hände uns berühren würden und uns leiten. Wir können nichts für das, was wir getan haben, Vater. Das waren nicht wir! Bitte glaubt uns, das waren die Helfer Satans. Wir sind nicht verrückt!«, fleht Elizabeth.

»Ich glaube euch«, versichert Mr Lewis seinen Töchtern und blickt Cotton Mather fragend an.

Der blättert in seiner Bibel, als würde er für die Situation einen passenden Vers zu finden glauben, doch dann fragt er. »Wer sind diese Helfer des Teufels, Mercy?«

»Hexen!«, antwortet sie ihm. »Es sind Hexen, die der Teufel zu uns geschickt hat. Böse Hexen.«

»Habt ihr diese Hexen gesehen?«, fragt Cotton Mather weiter und blättert noch immer in seiner Bibel.

Elizabeth und Mercy nicken.

»Ihr wisst, wer diese Hexen sind, die euch das angetan haben?«, fragt ihr Vater.

Wieder nicken die Mädchen.

»Sagt uns ihre Namen!«, fordert sie Cotton Mather auf. »Damit wir sie ihrer gerechten Strafe zuführen können.«

Die Mädchen schweigen, halten ihre Häupter gesenkt. Der Pfarrer tritt dicht vor sie, fasst mit seiner Hand unter ihr Kinn und hebt ihre Gesichter nach oben.

»Ihr braucht euch nicht zu schämen, wegen dem, was heute hier passiert ist. Ihr seid unschuldig. Andere haben diese Schmerzen und dieses Leid über euch gebracht. Und dafür müssen sie jetzt büßen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Also nochmal: Sagt mir, wer diese Frauen sind!«, wiederholt er mit mahnendem Ton.

»Eine von ihnen war diese stumme Bettlerin, die immer neben dem Brunnen am Dorfplatz sitzt und jeden Vorbeikommenden um Geld anfleht«, antwortet ihm Elizabeth mit leiser Stimme. »Und die zweite war unsere Nachbarin«, fährt sie fort.

»Die alte, bettlägerige Mrs Winston?«, fragt ihr Vater verwundert.

»Ja, Vater. Ich habe ihr Gesicht deutlich vor mir gesehen«, antwortet ihm Elizabeth.

»Also waren es zwei Hexen?«, fragt Cotton Mather.

»Nein drei«, sagt Mercy und blickt dabei ihre Schwester an. »Es waren insgesamt drei Hexen.«

»Schön. Und wer war die dritte Hexe, die euch zu all dem gezwungen hat, was ihr euch angetan habt?«

»Eleanor Clarke«, antwortet ihm Mercy.

»Eleanor? Das kann nicht sein«, entgegnet Mr Lewis.

»Wer ist Eleanor Clarke?«, fragt der Pfarrer.

»Sie ist unsere Dienstmagd, Cotton. Sie kümmert sich seit Jahren um unseren Haushalt, um unsere Familie. Sie hat meine Töchter großgezogen, sich liebevoll um alles gekümmert, das tagtäglich im Haushalt anfiel. Eleanor? Nein! Das kann ich einfach nicht glauben.«

»Willst du damit sagen, dass wir lügen, Vater?«, fragt ihn Mercy. »Wieso sollten wir so etwas tun?«

»Ich weiß es nicht, Mercy. Nach dem heutigen Tag weiß ich überhaupt nichts mehr. Was sollen wir jetzt tun, Cotton?«, fragt Mr Lewis.

»Du kümmerst dich um deine Töchter. Edward kann ihre Wunden versorgen. Ich kümmere mich um alles andere. Macht euch darüber keine Sorgen. Ab jetzt seid ihr in Sicherheit«, lächelt er den Mädchen zu und verlässt dann das Zimmer.

Mr Bassett öffnet seine Tasche und holt Desinfektionslösungen daraus hervor, um die Kratzer an den Armen und in den Gesichtern der Mädchen zu reinigen. Mr Lewis lief dem Pfarrer die Treppe nach unten hinterher und packt ihn an der Schulter.

»Cotton, du hast mir keine Antwort auf meine Frage gegeben. Was willst du jetzt tun? Was hast du mit diesen drei Frauen vor?«

»Das, was auch schon in der Bibel geschrieben steht, Richard: Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen (2. Mose, 22,17).«

Im Angesicht des Bösen

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