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2. Die Hexenprozesse

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Draußen ist es noch stockdunkel. Der morgendliche Nebel zieht sich wie eine Wolke gemächlich durch die Gassen und Straßen Salems und bahnt sich dabei seinen Weg zurück aufs offene Meer. In den Hütten der ärmeren Bevölkerung flackern schon die Lichter der Kerzen. Ihr Tagwerk beginnt um Stunden früher, als jenes der Bürgerlichen. Immerhin müssen sie zuerst ihre eigenen Familien versorgen und sich anschließend auf den Weg zu ihren Dienstgebern machen, um deren Häuser zu putzen und deren Bewohner zu bedienen. Auch Eleanor Clarke steht schon in der Küche und bereitet für sich und ihre Tochter Dahlia ein bescheidenes Mahl, einen Brei gekocht aus Roggen und Wasser, das sie am Vortag noch vom Dorfbrunnen mitgebracht und zuvor abgekocht hat. Mehr brauchen sie nicht, mehr haben sie auch nicht. Victor ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen. Er hat bestimmt wieder einmal auf dem Tresen der Dorfkneipe oder in seinem Boot im Hafen geschlafen.

»Wann kommst du heute nach Hause, Mutter?«, will Dahlia wissen, während sie zwei hölzerne Schalen und Löffel auf den Esszimmertisch neben der brennenden Kerze platziert.

»Heute ist Waschtag bei Familie Lewis, das weißt du doch. Das heißt, ich komme bestimmt erst wieder, wenn die Sonne bereits untergegangen ist«, antwortet ihr Eleanor, stellt die Schüssel mit dem kochenden Brei auf den von Victor selbst gezimmerten Tisch und klatscht beiden eine Portion davon in ihre Schalen. »Ich habe gestern gesehen, dass das gehackte Holz allmählich zu Neige geht. Ums Haus liegen noch ein paar größere Blöcke. Bitte hacke diese in kleine Scheiter, damit sie in die Feuerstelle passen und staple sie auf der Veranda. Außerdem werde ich heute keine Zeit haben, um Salz und Schmalz vom Markt zu holen. Ich lege dir ein paar Pence bereit, bitte hol du die Zutaten. Ich bringe am Abend wieder Wasser aus dem Dorf mit.«

»Wieso kann Vater nicht das Holz hacken?«, fragt Dahlia.

»Dein Vater fährt so wie an jedem Tag hinaus aufs Meer, um zu fischen. Wenn er nach Hause kommt, ist es bereits zu dunkel, um Arbeiten im Freien zu verrichten. Das verstehst du doch, oder?«

Dahlia nickt. Sie weiß, dass ihre Mutter jede Unterstützung dringend gebrauchen kann und dass sie diese von Victor nicht bekommen wird. Aber wenn sie draußen im Garten Holz hackt, oder sich um das kleine Gemüsegärtchen kümmert, sieht sie die Kinder anderer Familien, die in deren Gärten herumlaufen, spielen, lachen und sich mit schönen Dingen die Zeit vertreiben. Dafür hat Dahlia keine Zeit, hatte sie noch nie. Schon als kleines Mädchen musste sie ihrer Mutter im Haushalt helfen, wo sie nur konnte. Und wenn sie zu Hause alles auf Vordermann gebracht hatte, musste sie manches Mal ihre Mutter zur Familie Lewis begleiten und ihr dort zur Hand gehen bei allen Tätigkeiten, die so anfallen. Dahlias Leben ist nicht einfach, aber die Liebe ihrer Mutter hilft ihr dabei, die Tage durchzustehen. Immerhin ist sie jetzt schon vierzehn Jahre alt. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis ihr einer der Jungen aus dem Dorf den Hof machen wird, sie ihn heiratet und selbst eine Familie gründet.

Vor ihrer Hütte breitet sich auf einmal ein orangener Lichtkegel aus. Erzürnt schreiende Stimmen mehrerer Menschen sind zu vernehmen. Eleanor tritt ans Fenster und erblickt eine Menschenmenge, die mit Fackeln, Äxten und Mistgabeln bewaffnet, den Weg zu ihrer Hütte entlanggeht und sich vor ihrem Zaun versammelt. In vorderster Reihe marschiert Cotton Mather, der eine Bibel hoch in die Luft hält.

»Eleanor Clarke!«, ruft er laut ihren Namen, »verlasse dein Haus und stell dich deiner Verantwortung.«

»Was ist da draußen los, Mutter?«, fragt Dahlia.

»Ich weiß es nicht. Geh sofort in den Schlafraum und egal was passieren möge, du kommst auf keinen Fall daraus hervor! Versteck dich, so gut du kannst, bewege dich keinen Millimeter und gib keinen Laut von dir! Hast du mich verstanden?«, blickt sie ihrer verängstigten Tochter auffordernd in die Augen.

Dahlia steht vom Tisch hoch, stellt den Brei zurück auf den Ofen, damit er nicht auskühlt und läuft dann in die Schlafkammer, um sich unter dem Bett ihrer Eltern zu verkriechen.

»Eleanor Clarke! Wir wissen, dass du dich in dieser Hütte aufhältst. Tritt auf die Veranda! Tritt vor die ehrwürdigen Einwohner unseres geliebten Salems!«, ruft Cotton Mather, der durch das Zauntürchen hindurchgetreten ist und mittlerweile vor den Stufen der Veranda steht, hinter ihm eine immer weiter anwachsende Menschenmenge, die völlig aufgebracht mit ihren Fackeln und Werkzeugen herumhantiert.

Eleanor weiß nicht, was vor ihrer Hütte vor sich geht. Was wollen diese Menschen von ihr? Wieso sind sie dermaßen wütend? Sie hat Angst, dass sie in ihrem Zorn mit deren Fackeln ein Feuer vor ihrer Holzhütte oder auf ihrer Veranda entfachen würden. Eleanor streicht sich deshalb die Schürze ihres Kleides zurecht, zupft noch ein wenig an den Seiten ihrer weißen Haube, unter derer sich ihre feinsäuberlich hochgesteckten Haare befinden und öffnet dann die Tür. Vorsichtig wagt sie den ersten Schritt hinaus auf die Bretter der Veranda. Cotton Mather tritt noch weiter aus der Menge hervor, steigt auf die erste Stufe und drückt sich die Bibel gegen seinen beleibten Oberkörper.

»Eleanor Clarke, hiermit verhafte ich Sie im Namen des Volkes von Salem.«

»Verhaften? Mich? Weshalb denn?«, stottert Eleanor verwirrt.

»Die genauen Anschuldigungen der Kläger erfahren Sie vor Gericht. Ihnen wird ein fairer Prozess gemacht, das verspreche ich Ihnen. Bitte kommen Sie jetzt mit uns mit«, fährt der Pfarrer fort und verdeutlicht mit einem Handzeichen zwei anderen Bürgerlichen in feinen Gewändern, einer davon ist Richard Lewis, dass sie vortreten und Eleanor ergreifen sollen.

»Mr Lewis. Was machen Sie hier? Was soll das alles bedeuten?«, fragt sie ihren Dienstgeber, der sonst an anderen Tagen immer ein paar freundliche Worte für sie bereithielt.

Doch heute bleibt er stumm, greift nach ihrem linken Arm. Der andere Mann mit schwarzem Hut und in einen wollenen Mantel gekleidet, ein anderer Großgrundbesitzer Salems, packt sie an der anderen Seite und dann zerren sie Eleanor über die Treppe hinunter und über den gestampften, erdigen Weg vor ihrer Hütte hinaus vor ihr Grundstück. Eleanor blickt zurück zum Fenster neben der Tür und sieht Dahlia, die durch die beschlagenen Scheiben hindurch in Richtung ihrer Mutter starrt. Eleanor hat Angst. Sie weiß nicht, was die Menschen mit ihr vorhaben, weswegen sie beschuldigt wird und vor allem von wem. Sie weiß nur, dass sie aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft keine Rechte hat. Ein faires Verfahren wurde ihr versprochen. Das wurde schon vielen versprochen, die dann Tags darauf am Galgen hingen und bis zur letzten Sekunde nicht wussten weshalb. Eleanor macht sich Sorgen. Aber nicht um sich selbst, sondern um ihre Tochter. Was wird aus ihr, wenn sie nicht mehr ist? Wer kümmert sich um sie? Erneut blickt sie in die Augen jenes Mannes, der ihren Arm fest in Händen hält und sie die Gassen hinauf zum Marktplatz schleift.

»Mr Lewis, ich bitte Sie, helfen Sie mir!«, fleht sie ihn mit Tränen der Verzweiflung in den Augen an.

»Ich kann Ihnen nicht mehr helfen, Eleanor«, antwortet er ihr verhalten. »Ich kann nicht. Über Ihr Schicksal werden andere entscheiden. Das liegt nicht in meinen Händen.«

Ohne Handfesseln aber mit festem Griff schleifen sie Eleanor quer über den Marktplatz, vorbei am Dorfbrunnen zu jener Ecke, in der normalerweise Diebe und Kriminelle in Zellen inhaftiert sitzen. Doch heute sind diese Zellen leer. Zusätzliche Eisenstreben wurden an den Gittern angebracht, die vorhandenen Schlösser durch robustere ersetzt. Zwei bewaffnete Männer stehen vor der Tür zu den Zellen, durch die hindurch Eleanor geschupst wird. Sie wehrt sich nicht. Wie sollte sie auch? Die weiße Haube haben sie ihr von ihrem Kopf gerissen, ihre langen Haare hängen im Dreck. Auf den Knien kriecht sie in die hinterste Ecke und kauert sich dort zusammen. Der Pöbel, der ihnen von ihrer Hütte bis zu den Gefängniszellen gefolgt ist, baut sich vor den Zellen auf. Kinder, aber auch bürgerliche Erwachsene treten abwechselnd an die Gitterstäbe heran und spucken in Eleanors Richtung. Noch immer weiß sie nicht, weswegen sie beschuldigt wird, welches Verbrechen ihr zulasten gelegt werden soll. Ein Wimmern aus der anderen Seite der Zelle lenkt ihre Aufmerksamkeit vom Pöbel ab. Eine alte Frau liegt auf dem Rücken im feuchten Untergrund, jammert, bewegt sich aber keinen Millimeter. Eleanor erhebt sich langsam und nähert sich der Person. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, handelt es sich bei der Frau um eine Angehörige der Oberschicht. Sie trägt ein besticktes Kleid aus Seide, Schuhe aus wertvollem Leder und um ihren Hals hängt sogar eine Kette aus Gold mit winzigen bunten Edelsteinen in runden und eckigen Fassungen. Was hat das alles zu bedeuten?

Jemand tippt Eleanor auf die Schulter. Sie erschrickt und springt zur Seite in Richtung der Gitterstäbe. Ein kleiner Junge versucht Eleanor an ihrem Kleid zu packen, aber seine Arme sind zu kurz. Eleanor entfernt sich schnell wieder auf die hintere Seite, an die der Pöbel nicht herankommen kann. Eine zweite Frau tritt aus dem Dunkeln des hinteren Endes der Zelle. Eleanor kennt sie, die stumme Bettlerin vom Marktplatz, der sie ab und an einen Penny zusteckte, wenn sie selbst diesen erübrigen konnte. Eleanor begreift noch immer nicht, was hier vor sich geht. Wieso sperrt man sie, eine Dienstmagd, mit einer stummen Bettlerin, die bestimmt noch nie jemandem irgendein Leid zugefügt hat und einer alten, wohlhabenden Dame, deren Gesundheit offensichtlich zu wünschen übrig lässt, in die Gefängniszellen? Das ergibt doch alles keinen Sinn!

Cotton Mather tritt wieder vor die Gitterstäbe und richtet sein Wort an den schreienden Pöbel. Er bittet sie, in ihre Häuser und Hütten zurückzukehren, versichert ihnen, die Lage unter Kontrolle zu haben und fordert sie auf, ihrem Tagwerk wie gewohnt nachzugehen. Nur langsam löst sich die Menschenmenge auf. Mütter nehmen ihre Kinder wieder an den Händen, Männer senken ihre Äxte, Hämmer und Gabeln. Die Rufe der Menschen werden immer leiser, bis sie schließlich verstummen. In alle Richtungen verstreut sich die Menge.

Es ist noch früh am Morgen. Victor ist bestimmt schon unten im Hafen, löst das Tau seines Bootes und schippert mit diesem hinaus aufs offene Meer. Victor. Hoffentlich kommt er heute nach getaner Arbeit direkt nach Hause zu seiner Tochter, die ihn an diesem Tag so dringend braucht. Dahlia, ihr geliebtes, einziges Kind. Eleanor ist verzweifelt. Wie kann sie ihr helfen? Wie sollte sie ihr helfen? Aber sie weiß, Dahlia ist schlau. Vielleicht ist sie, nachdem die Bewohner Salems von ihrem Grundstück verschwunden waren, direkt hinunter an den Hafen zu ihrem Vater gelaufen, um ihm von dem Geschehenen zu berichten. Hoffentlich. Victor ist in dieser Zeit Dahlias einzige Stütze.

Auch der Pfarrer hat sich in der Zwischenzeit von den Gefängniszellen entfernt. Nur noch die zwei Wachen stehen kerzengerade vor den Gitterstäben und bewachen die drei Frauen in den Zellen. Eleanor blickt durch die Stäbe hindurch hinaus auf den Marktplatz und beobachtet die Händler, die in Karren ihre Waren heranschaffen und auf den Tresen und Holzbrettern rund um deren Ständen für ihre Kunden ansprechend verteilen. Für alle anderen scheint das Leben normal weiterzulaufen. Frauen kaufen Lebensmittel, Männer gehen ihrer Arbeit nach und kleine Kinder laufen quer über den Marktplatz und quietschen vergnügt.

Eleanor versucht die alte Dame aus dem nassen Boden hochzuheben und zieht sie auf die Seite, um sie mit dem Rücken gegen die Wand zu lehnen. Sie atmet noch, aber äußerst schwer und mühevoll. Die Bettlerin, deren Namen niemand im Dorf kennt, bringt Eleanor einen Krug mit Wasser, den ihr anscheinend einer der Wachen gegeben hat.

»Misses, hören Sie mich?«, versucht Eleanor auf die alte Dame einzureden, um zu erfahren, ob sie vielleicht weiß, was hier vor sich geht. »Misses!«

Doch die Frau bleibt stumm, genauso wie ihre andere Mitgefangene. Eleanor nimmt selbst einen Schluck Wasser aus dem Krug und versucht dann ein wenig davon der Frau einzuflößen, aber das Wasser fließt zwischen ihren Lippen über ihren Hals hinweg. Eleanor reicht den Krug wieder zurück an die Bettlerin, steht auf und tritt an die Wachen heran.

»Entschuldigen Sie, meine Herren. Können Sie mir vielleicht mitteilen, weshalb diese zwei Frauen und ich eingesperrt wurden?«

Keiner der Männer antwortet Eleanor. Sie drehen sich nicht einmal zu ihr um. Ihre Waffen halten sie schussbereit vor ihren Körpern, stehen breitbeinig vor den Zellen, blicken starr über den Marktplatz und beobachten vorbeikommende Menschen. Niemand darf sich den Zellen nähern. Das ist ihr Befehl und an diesen halten sie sich auch.

Eleanor erkennt langsam ihre ausweglose Situation. Niemand will ihr Bescheid geben, um welche Anschuldigungen es sich bei ihrer Festnahme handelt, von denen Cotton Mather bei ihrer Verhaftung gesprochen hat. Die zwei Frauen, mit denen sie sich die Zelle teilen muss, geben keinen Laut von sich, so wie die zwei Männer, die sie bewachen. Sie geht wieder zurück in die Ecke, in die sie sich anfangs zurückgezogen hat, setzt sich wieder mit angezogenen Beinen nieder und wartet. Worauf sie wartet, weiß sie nicht. Doch was bleibt ihr anderes übrig?

Stunden vergehen. Am Nachmittag hat es begonnen zu regnen. Das Wasser fließt die Furchen im Boden entlang, rinnt vom Marktplatz direkt in die Gefängniszelle, in der die drei Frauen auf dem Boden kauern. Eleanors Kleid und ihre Schürze haben die Feuchtigkeit aufgesogen. Sie friert, reibt ihre Handflächen immer wieder aneinander, damit ihre Hände nicht mehr so stark zittern. Der Wind bläst durch die Gitterstäbe hindurch. Das Keuchen und Wimmern der alten Frau wird von Zeit zu Zeit schwächer, ist kaum noch zu hören.

In dem Moment vernimmt Eleanor eine vertraute Stimme, die sich ihr nähert. Dahlia! Sie blickt über den Marktplatz in Richtung jener Seitengasse, die hinunter zum Hafen vorbei an ihrer Hütte führt und erblickt Dahlia, die Victor an ihrer Hand über die nassen Straßen zerrt. Victor, er ist da und nicht draußen auf dem Meer, oder in der Dorfkneipe. Er ist da, für seine Tochter und jetzt auch für seine Frau.

»Mutter!«, ruft Dahlia, als sie sie gegen die Gitterstäbe gelehnt in der viel zu niedrigen Gefängniszelle erblickt.

»Eleanor, was soll das bedeuten?«, fragt sie ihr Mann und wird, als er sich der Zelle nähern möchte, mit der Waffe eines Wächters, die dieser quer gegen Victors Körper presst, davon abgehalten.

»Sie dürfen sich den Gefangenen nicht nähern!«, ermahnt er ihn.

»Den Gefangenen? Das ist meine Frau!«, entgegnet er dem Jungspund und versucht ihm die Waffe aus den Armen zu reißen, als der andere bewaffnete Mann neben ihn tritt und ihm dessen Waffe in die Rippen rammt, sodass Victor zu Boden geht.

»Abstand halten!«, brüllt er ihn an.

»In Ordnung. Ich habe verstanden«, antwortet ihm Victor und erhebt sich mit schmerzerfülltem Gesicht.

»Victor«, lächelt ihn Eleanor an. »Tu, was sie dir sagen. Mir geht es gut. Wirklich. Mach dir keine Sorgen um mich, kümmere dich um unsere Tochter!«

»Ich soll mir keine Sorgen machen? Dahlia kam in den Hafen gelaufen. Ich war schon auf dem Wasser, unterwegs hinaus aufs Meer, als ich ihre Rufe vom Hafen her vernahm. Sie erzählte mir, dass du verhaftet wurdest und dich eine aufgebrachte Menge aus unserem Haus ins Dorf gebracht hätte. Was soll das Ganze?«

»Ich weiß auf deine Frage leider keine Antwort, Victor. Ich habe diese auch schon mehreren Personen gestellt, aber keiner wollte mir Auskunft geben. Sie haben mich festgenommen, gesagt, dass irgendjemand Anschuldigungen gegen mich erhoben hätte. Welche das sind, weiß ich nicht. Wer sie erhoben hat, auch nicht. Sie haben mich in diese Zelle geworfen, gemeinsam mit diesen zwei anderen armen Frauen, die auch nicht mehr wissen als ich. Und wenn doch, dann können sie es mir nicht mitteilen.«

»Wer ist gekommen, um dich zu verhaften, Eleanor? Ein Richter? Der Bürgermeister?«

»Nein, es war Cotton Mather.«

»Mather, der Pfarrer? Wer gibt ihm das Recht dazu?«, fragt Victor empört.

Dahlia steht neben ihrem Vater, der seine Hand um ihren Rücken schlingt und sie fest an sich drückt. Sie schluchzt, versucht aber stark zu bleiben. Für ihre Mutter. Aber sie kann deren Anblick nicht ertragen. An anderen Tagen trägt sie ihr Haar immer ordentlich unter der Haube, so wie es sich für eine Dienstmagd gehört. Ihre Schürze ist zwar mit Löchern versehen, aber diese sind feinsäuberlich mit Flicken vernäht und immer sauber und perfekt um ihre magere Taille gebunden. Aber heute hängen ihre Haare dreckig in Strähnen von ihrem Kopf. Ihr Gesicht, ihre Hände sind mit Morast beschmiert, ihre Kleidung beschmutzt. So hat sie ihre Mutter noch nie gesehen. Was haben diese Menschen ihr bloß angetan? Und was haben sie mit ihr vor?

Ein dritter Mann, ebenfalls mit einer Waffe im Halfter, kommt über den Marktplatz auf die Zellen zugeschritten. Er trägt einen geflochtenen Korb mit Brotresten. Diese kippt er vor den Gitterstäben auf den Boden und weist die drei Frauen darauf hin, dass dies ihr Essen für heute wäre. Im selben Moment fährt ein weiterer Mann mit einem Karren vor. Darauf sitzen zwei Frauen und ein Mann, ihre Hände gefesselt und Münder geknebelt sind. Der dritte Mann tritt an den Karren heran, packt die Gefangenen an den Fesseln und schiebt sie mit der Waffe gegen deren Rücken gehalten nacheinander in die Zelle zu Eleanor und den zwei anderen Frauen.

»Cotton Mather«, wiederholt Victor Eleanors Antwort auf seine Frage, wer für ihre Verhaftung verantwortlich sei. »Er war gestern Abend auch in der Dorfkneipe. Ich erinnere mich. Er saß mit ein paar Männern an einem Tisch in der Ecke neben dem Kamin, trank und spielte Karten. Zu später Stunde kam der Arzt in die Kneipe gerannt, direkt auf Mather zu und stammelte irgendetwas von Richard Lewis und dass er ihn sofort begleiten müsste.«

»Richard Lewis?«, wiederholt Eleanor. »Er war heute auch bei den Männern, die mich festgenommen haben.«

»Hast du dir irgendetwas zuschulden kommen lassen, Eleanor?«, fragt sie ihr Mann.

»Nein, natürlich nicht. Ich verrichtete so wie jeden Tag meine Arbeit und ging dann nach Hause zu unserer Tochter«, sieht sie in deren mitleiderregendes Gesicht. »Dahlia, alles wird wieder gut werden. Du wirst schon sehen.«

»Diese Hoffnung hätte ich nicht«, entgegnet ihr der Mann, der soeben in die Zelle nebenan geworfen wurde und der sich gerade den Knebel aus seinem Mund zieht.

»Was meinen Sie damit?«, fragt ihn Victor, der glaubt in dem Mann einen der Gehilfen des ortsansässigen Schreiners zu erkennen.

»Das Vergehen, das sie uns vorwerfen, ist jenes, für das sie uns alle hängen werden«, antwortet er, greift nach einem durchnässten Brocken Brot und zieht sich dann hinter die Gitterstäbe zurück.

»Weshalb wurden Sie festgenommen?«, will Eleanor wissen.

»Aus demselben Grund, aus dem wir alle uns hier wiederfinden«, murmelt er und kaut auf seinem Essen herum. »Sie beschuldigen uns der Hexerei.«

»Der Hexerei?«, fragt Dahlia. »Mutter, wovon spricht dieser Mann da bloß?«

»Ich weiß nicht, mein Kind. Es handelt sich bestimmt nur um ein Missverständnis, das sich bald aufklären wird.«

»Das denke ich nicht, werte Frau«, meint der Mann in der Nebenzelle erneut. »Es reicht vollkommen, wenn jemand Ihren Namen im Zusammenhang mit seltsamen Vorfällen auch nur erwähnt und Sie landen hier in so einer Zelle, ein schnelles Verfahren wird abgehalten und am Tag darauf knöpft man Sie neben den anderen Hexen auf. Ich habe sie gehört, aus anderen umliegenden Dörfern. Diese Geschichten der Hexenprozesse. Die kennen hinsichtlich solcher Vorwürfe keine Rücksicht, kein Erbarmen.«

»Aber uns allen hier wurde ein anständiges, ehrenhaftes Verfahren versprochen. Cotton Mather, unser Pfarrer selbst, hat…«

»Diese Verfahren werden nicht für uns abgehalten, gnädige Dame«, unterbricht sie der Fremde. »Sie dienen lediglich dem Zweck, dass sich diese feinen Herren mit ihrem gottesfürchtigen Handeln brüsten können und um ihr eigenes schwaches Gewissen zu beschwichtigen. Glauben Sie mir!«

»Victor«, blickt Eleanor ihren Mann flehend an. »Versprich mir hier und jetzt, dass du dich um Dahlia kümmern wirst! Egal was heute, morgen, oder an einem der kommenden Tage mit mir passieren wird: Du musst dich um Dahlia kümmern. Sie braucht dich!«

»So, das reicht jetzt!«, unterbricht ein Wächter ihr Gespräch. »Entfernen Sie sich von den Gefängniszellen!«

Ein weiterer Karren mit zwei sitzenden Personen auf der Ladefläche fährt vor und hält wenige Meter neben den Zellen auf dem Marktplatz.

»Sir«, wiederholt sich der Bewaffnete erneut. »Ich werde es Ihnen kein weiteres Mal sagen: Treten Sie zurück und gehen Sie mit ihrem Kind nach Hause!«

Eleanor streckt ihren Arm durch die Gitterstäbe hindurch und Dahlia läuft auf sie zu. Für einen kurzen Moment schafft sie es, Dahlias Wangen zu berühren und streicht liebend über sie hinweg, als ihre Tochter ihr wieder entrissen wird. Victor packt Dahlia am Arm, weil diese noch einmal versuchte, in Richtung ihrer Mutter zu laufen, schafft es, sie ein wenig zu beruhigen und tritt dann mit Dahlia gemeinsam den Heimweg an.

Es beginnt bereits zu dämmern, dieser schreckliche Tag neigt sich dem Ende und Eleanor hofft, dass sich am nächsten Tag alles zum Guten wenden wird. Die Erzählungen des anderen Mitgefangenen haben ihr jedoch größtenteils die Hoffnung geraubt. Aber nicht völlig. Ein kleiner Funken lodert noch in ihr und an den haftet sie ihre Gedanken, als sie sich in die finstere Ecke ihrer Zelle zurückzieht. Sie kann nicht anders, sie muss einfach an diesem letzten Funken festhalten.

Vier Tage sind seit Eleanors Festnahme vergangen. Victor und Dahlia hat sie seit ihrem Besuch am ersten Tag nicht mehr wieder gesehen. Sämtliche Personen werden von den Gefängniszellen und deren Inhaftierten ferngehalten. Zu groß sei die Gefahr, die von den Hexen ausginge, ließ Cotton Mather verlautbaren. Und die Einwohner Salems halten sich an seine Worte. Sie vertrauen ihm, dem Gelehrten, ihrem Pfarrer, hängen mit ihren Ohren an seinen Lippen, sobald er auch nur seinen Mund öffnet. Vier Tage, in denen sich niemand außer den Wächtern den Zellen nähern durfte. Vier Tage, in denen sich die Gefangenen von Brotresten und ein paar Schluck trübem Wasser ernährten und in der Nacht ohne Decken froren. Insgesamt acht Personen verharren in den Zellen, sechs Frauen und zwei Männer. Einer von ihnen sogar ein Prediger, der durch seine Äußerungen den Unmut Cotton Mathers auf sich zog und deshalb inhaftiert wurde, weil er sich auf der Seite der teuflischen Hexe befände. Vier Tage schon hatten alle Gefangenen Zeit sich ihrem Schicksal zu ergeben. So auch Eleanor. Dieser ohnehin winzige Funke der Hoffnung schwand von Tag zu Tag und ist in der Zwischenzeit erloschen. Sie weiß, dass sie in ihrer Stellung keine Rechte gegenüber ihren Anklägern hat, dass sie sie nicht einmal anhören werden, wenn sie sich in ihrem Prozess versuchen würde zu verteidigen. Dessen ist sie sich völlig im Klaren. Und sie hat dies akzeptiert.

Wieder einmal beginnt sich die Sonne mühevoll ihren Weg zurück an den Himmel zu bahnen, als Eleanor durch das Gekeuche der scheinbar noch immer lebenden, alten Dame neben ihr am fünften Tag erwacht. Sie erhebt sich, nimmt einen Schluck Wasser aus dem Krug und blickt durch die eisernen, vom Morgentau nassen Gitterstäbe hindurch auf den Marktplatz, auf dem sich schon ein paar Einwohner Salems tummeln. Gassen und Straßen aus Erde, Sand und Dreck. Vereinzelte kleinere und größere Steine auf den Wegen, die den Karren, welche von Pferden oder Vieh durch das Dorf gezogen werden, ihren Gang erschweren. Dunkelhäutige Angehörige der untersten Gesellschaftsschicht gehen deshalb jeden Tag im Morgengrauen kreuz und quer über den Platz und klopfen mit Holzplatten an Stielen auf diese Steine, versuchen, sie im Boden zu versenken. Sie streichen mit diesen Brettern von links nach rechts über die Erde, um so die Furchen der Karren, die sich durch das feuchte Wetter tiefer in den Boden schneiden als sonst, zu glätten, damit der Marktplatz ansehnlich wirkt. Vor allem heute.

Das Abhalten der Gerichtsverhandlungen an diesem Tag hat sich in der Zwischenzeit im ganzen Ort herumgesprochen. Frauen sämtlicher Schichten, oder deren Bedienstete haben bis zum Abend des Vortages ihre Häuser von oben bis unten geputzt, Fächer und Laden von Staub befreit, den Dreck aus den Holzlatten des Fußbodens gekratzt und gewaschen, um dann die Kübel mit dem verschmutzten, stinkenden Wasser auf die Gassen vor ihre eigenen Häuser zu schütten. Aber nicht nur deshalb liegt dieser stechende, penetrante Geruch in der Luft. Tage zuvor waren die Männer Salems auf der Jagd, um anlässlich der heutigen Feier genug Fleisch auf die Teller bringen zu können. Tierkadaver hängen an Holzbalken überall im Dorf verteilt und warten darauf zerteilt, gebraten und von den Einwohnern des Dorfes verzehrt zu werden.

Heute ist Sonntag. Endlich ist es soweit. So viele haben auf diesen Tag gewartet, ihn herbeigesehnt. Viele, aber nicht alle. Für unzählige Menschen soll dieser Tag ein Tag der Erlösung, der Befreiung von dem Bösen sein. Doch für andere wird er ihr Leben verändern, oder es für immer beenden.

Die Glocken der Dorfkirche erklingen und locken alle Bewohner in ihren feinsten Gewändern gekleidet aus ihren Hütten und Häusern. In Scharren bewegen sie sich zur Kirche, wo die heutigen Verhandlungen und anschließenden Feierlichkeiten stattfinden werden.

Einer der Wächter öffnet beide Zellen und jeweils zwei Dienstmägde treten ein. Sie alle tragen eine Tasche mit sich, aus welcher sie erstmal einen Kamm und einen Spiegel nehmen. Nacheinander frisieren sie die Gefangenen, so gut als möglich, stecken ihre Haare mit Nadeln nach oben und stülpen dann eine Haube über die Frisur. Einer der Wächter brachte einen Eimer Wasser und reichte den Dienstmägden ein paar weiße Tücher, womit die Frauen die Hände und Gesichter der Gefangenen säubern sollen.

Nicht nur Eleanor, sondern auch die anderen sieben Personen stehen vor den Frauen und lassen die Prozedur widerstandslos über sich ergehen. Sie alle sind mit ihren Kräften am Ende, haben während der letzten Tage Hunger und Kälte erfahren und die meisten von ihnen wünschen sich nur noch, dass die Strapazen endlich ein Ende finden.

Als die Gefangenen nach kurzer Zeit wieder einigermaßen ansehnlich wirken, verlassen die Dienstmägde die Zellen. Einer der Wächter reicht jeder von ihnen ein paar Pence, wofür sich diese überschwänglich bei den Männern bedanken.

Eine Kutsche, von vier pechschwarzen Pferden gezogen, fährt vor und hält in der Mitte des Marktplatzes. Einer der zwei Kutscher springt von seinem Platz, klappt die aus edlem Holz gefertigte Trittleiter nach unten und öffnet dann die Tür zum Innenbereich. Drei Männer steigen aus der Kutsche. Keinen von ihnen hat je einer der Gefangenen zuvor zu Gesicht bekommen. Sie werden von Cotton Mather, dem Bürgermeister und ein paar weiteren Bürgerlichen in Empfang genommen. Ohne auch nur einen Blick in Richtung der Beschuldigten zu verschwenden, begeben sie sich in die Kirche seitlich des Platzes. Die Bewohner Salems sitzen dort in den Bänken, links und rechts des Ganges, oder stehen dicht aneinander gedrängt an den Seiten. Jeder Einwohner Salems findet in der Kirche Platz, darauf wurde bei deren Errichtung großen Wert gelegt. Jeder Mensch, egal welcher Gesellschaftsschicht er angehört, ist seinem Glauben nach ein Puritaner, ein Auserwählter Gottes und es ist sein Recht, das Wort des Allmächtigen zu vernehmen und seine Pflicht, es zu befolgen. Deshalb ist auch heute die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt.

Die zuvor angekommenen Herren betreten hinter Cotton Mather den Gang in der Mitte der Kirche und folgen ihm bis nach vorne zur Kanzel. Der Älteste von ihnen nimmt auf einem extra für ihn bereitgestellten Lederstuhl Platz, die zwei anderen Männer seitlich neben ihm.

Cotton Mather tritt vor die Kanzel, streckt seinen Arm mit der Bibel in Händen in die Luft und das zuvor herrschende aufgeregte Tuscheln in den Reihen verstummt.

»Liebe Brüder und Schwestern«, beginnt er wie jeden Sonntag auch an diesem Tag seine Ansprache. »Es ist mir eine ganz besondere Ehre, euch unseren Vizegouverneur William Stoughton vorstellen zu dürfen.«

Der Mann auf der Kanzel mit der glatten, weißen Perücke erhebt sich kurz von seinem Platz, um sich dann sofort wieder auf den Stuhl niederzulassen.

»Die anderen zwei Männer sind John Hathorne und Jonathan Corwin, die Untersuchungsrichter für die heutigen Prozesse«, fährt Cotton Mather weiter fort.

Auch sie erheben sich kurz zur Begrüßung von ihren Plätzen. Keiner der Männer hat ein Wort an die Gemeinde gerichtet. Sie blicken starr und einschüchternd in die Menge.

»Sie alle sind extra für den heutigen Tag aus Boston angereist, um uns an diesem schweren Tag zur Seite zu stehen. Der Vizegouverneur selbst wird die Prozesse leiten in seiner Position als vorsitzender Richter. Er wird faire und gerechte Urteile fällen, im Namen des Gesetzes und im Namen Gottes«, sagt Mather und öffnet dann seine Bibel, um vor Beginn der Prozesse noch ein paar Worte und Verse daraus zu zitieren.

Normalerweise dauern die Predigten Mathers mindestens eine halbe Stunde, nicht selten sogar länger als eine Stunde, aber an diesem Tag hält er sich kurz, spart mit Worten. Nach nur wenigen Minuten klappt er seine Bibel zu, drückt sie sich fest gegen sein Herz, um mit den Worten zu schließen.

»Liebe Brüder und Schwestern. Zieht die Rüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels widerstehen könnt. Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister unter dem Himmel (Eph. 6,11-12).«

Dann tritt er zur Seite und lässt sich auf der Bank in der ersten Reihe nieder. Die Türen der Kirche öffnen sich und die acht Beschuldigten werden in Reih und Glied den Gang der Kirche wie Vieh hinuntergetrieben. Als sie an den Menschen auf den Bänken vorübergehen, ertönt wieder ein unverständliches Tuscheln, Beschimpfungen werden laut. Die Angeklagten werden auf der anderen Seite des Altars nebeneinander auf eine Bank gesetzt. Ihre Hände sind gefesselt.

Eleanor sitzt neben der stummen Bettlerin, die an ihren Handfesseln von einem der bewaffneten Männer gemäß der Aufforderung William Stoughtons als erste vor den Altar gezerrt wird. Victor und Dahlia sind auch in der Kirche, stehen in einer Ecke gegen die Wand gedrängt, sodass Eleanor sie nicht zu Gesicht bekommen kann. Alleine, verlassen und etwas verängstigt sitzt sie regungslos auf der Holzbank und hält ihren Kopf gesenkt.

»Was wird dieser Frau vorgeworfen?«, fragt William Stoughton Mr Hathorne.

Der überfliegt kurz die Anklageschrift, erhebt sich dann von seinem Stuhl und tritt vom Altar herab neben die stumme Bettlerin, die ihn mit vorwurfsvollen Augen entgegenblickt. Hathorne stellt sich vor sie, begutachtet die Frau von oben bis unten und macht dann wieder einen Schritt auf den Richter zu.

»Diese Frau wird der Hexerei beschuldigt«, beginnt er seine Ausführungen. »Sie soll mit anderen Frauen gemeinsam im Zuge eines grauenhaften Rituals an zwei ortsansässige Mädchen herangetreten sein und diese verhext haben. Sie hat Besitz vom Körper dieser Mädchen ergriffen und sie dazu gezwungen, sich selbst zu verletzen.«

»Was sagen Sie zu diesen Anschuldigungen?«, fragt Stoughton die Beschuldigte und notiert sich mit Feder und Tinte ein paar Worte in seinem schwarzen Büchlein.

Doch die Bettlerin bleibt stumm. Kein Wort kommt über ihre Lippen. Sie gestikuliert, zeigt mit ihren Fingern immer wieder auf das Kreuz, das über dem Altar hängt, als wolle sie den Beteiligten und vor allem ihren Anklägern verdeutlichen, dass sie für ihre Taten in der Hölle schmoren werden.

»Sehen Sie, werter Richter. Kein Wort der Verteidigung, kein Wort des Bedauerns kommt aus dem Mund dieser jämmerlichen Kreatur«, tritt Hathorne wieder an die Frau in buckliger Haltung heran und baut sich vor ihr auf. »Deshalb fordere ich Sie im Namen des Volkes dazu auf, das Höchstmaß über diese Person zu verhängen.«

Er streicht sich mit seinen Fingern dabei genüsslich über seinen Schnurbart, zieht sich das Tuch um seinen Hals zurecht und nimmt daraufhin wieder auf seinem Stuhl neben Jonathan Corwin Platz, welcher ihm die Anklageschrift der nächsten Beschuldigten reicht.

Eleanors.

»Bringt mir die nächste Angeklagte«, sagt der Richter schließlich. »Ich werde zuerst sämtliche Beschuldigungen und die Angeklagten selbst anhören und dann meine Urteile fällen.«

Eleanor sitzt nach wie vor unverändert auf der Holzbank neben dem Altar. Ihr Blick fällt durch die bunten Glaselemente der Fenster hinaus aus der Kirche in Richtung Himmel. Es ist seit langem ein sonniger Tag, kein Tropfen Regen fiel seit den Morgenstunden vom Himmel. Eleanor beobachtet die wenigen Wolken, die an den Fenstern vorüberziehen. Danach wandert ihr Blick hinauf zur Decke, zu den prächtigen Leuchtern mit den unzähligen großen und kleinen, roten und weißen Kerzen darin.

Dass einer der Wächter an sie herangetreten ist, nimmt sie erst war, als er auch sie an ihren Fesseln hochzieht und vor das Richterpult zerrt.

»Die zweite Angeklagte ist Eleanor Clarke, werter Richter«, sagt Hathorne. »Auch ihr werden besonders schwerwiegende Vorwürfe entgegengebracht. Eleanor Clarke gehört ebenfalls zu jenen Frauen, deren Namen uns von den zwei Mädchen, die unendliche Qualen litten, genannt wurden.«

»Haben Sie etwas dazu zu sagen?«, fragt der Richter auch Eleanor, ohne dabei von seinem Blatt Papier hochzublicken.

»Ich bin keine Hexe«, antwortet ihm Eleanor zaghaft.

»Ach, Sie sind keine Hexe?!«, wiederholt Hathorne Eleanors Worte und gibt einem der Wächter an dem Seitentor ein Zeichen, woraufhin der aus der Kirche tritt und anschließend Mercy und Elizabeth Lewis durch die Gänge bis vor den Altar geleitet.

Die Verletzungen ihrer Körper sind wie am ersten Tag gut sichtbar. Tiefe Kratzer und blutverkrustete Schnitte zieren ihre Arme und ihre Gesichter. Elizabeths Lippe ist geschwollen, blauschwarz verfärbt und Mercys abrasierter Kopf teils unter einem Tuch mit goldenem Stickmuster versteckt.

»Werfen Sie einen Blick auf diese zwei unschuldigen Mädchen, meine Herren. Diese Frau und andere haben diesen armen Kindern solch ein Leid zugefügt. Sie selbst haben sie gesehen, nach diesen unmenschlichen Taten ihre Namen genannt.«

»Ist dem so?«, stellt der Richter die Frage an Mercy und Elizabeth.

Der Untersuchungsrichter greift nach den Handfesseln Eleanors und zerrt sie direkt vor die Mädchen. Von Angesicht zu Angesicht blicken sie sich in die Augen.

In der Sekunde bricht Elizabeth schreiend zu Boden, rollt sich auf den Holzbrettern auf dem Rücken hin und her und hält sich schützend ihre Hände vor die Augen. Auch Mercy fällt auf ihre Knie, verzieht schmerzerfüllt ihr Gesicht und kratzt mit ihren Fingernägeln immer wieder über die verheilten Wunden an ihren Armen.

Kein Wort haben sie gesagt, alleine ihre Taten sind es, die für die Untersuchungsrichter und dem Richter selbst von Bedeutung zu sein scheinen. Zwei Wächter packen die Lewis Töchter unter den Achseln und verlassen gemeinsam mit ihnen wieder die Kirche. Eleanor steht wie angewurzelt vor dem Richterpult, auch sie sprach kein Wort. Zu irritiert war sie von den Handlungen der Mädchen, verängstigt vor dem soeben Gesehenen.

»Sie sind also keine Hexe«, beginnt Hathorne erneut sein Verhör. »Wie kann es dann sein, dass Ihre bloße Erscheinung, Ihr äußerliches Aussehen alleine den Mädchen körperliche und seelische Schmerzen zuzufügen scheint?«

»Ich bin unschuldig«, stottert Eleanor.

»Auf mich macht es den Anschein, als ob Sie durch ihre körperliche Anwesenheit hier in diesem Gebäude Ihre bösen Kräfte versuchen auszuüben«, entgegnet Eleanor ihr Ankläger.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich bin unschuldig! Ich weiß ja nicht einmal, was eine Hexe überhaupt ist!«, fleht ihn Eleanor an.

»Woher wollen Sie dann wissen, dass Sie keine Hexe sind?«, tritt Hathorne lächelnd vor sie.

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.«

»Wie können Sie wissen, keine Hexe zu sein, und dabei nicht einmal wissen, was eine Hexe überhaupt ist?!«, wiederholt Hathorne seine wirren Ausführungen.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nichts getan habe. Ich bin unschuldig. Bitte glauben Sie mir«, richtet Eleanor ihr Wort an den Richter.

»Es reicht. Ich habe genug gehört«, meint dieser schließlich und lässt Eleanor, so wie die stumme Bettlerin vorhin auch, in einen Nebenraum der Kirche bringen.

Sechs andere Beklagte warten nun noch auf ihren Prozess. Doch es dauert nicht lange, bis die Verfahren abgeschlossen sind. Nicht einmal eine Stunde vergeht, in der Eleanor und die anderen in dem Nebenraum warten, bis alle acht Beschuldigten erneut vor das Richterpult geschleift werden, um in Reih und Glied vor den ehrwürdigen Richter zu treten.

»Mein Urteil steht fest«, beginnt dieser, woraufhin sich die Untersuchungsrichter und auch Cotton Mather, der die Prozesse aus der ersten Reihe beobachtet hat, von ihren Stühlen erheben. »Gegen alle acht Beschuldigten wurden schwerwiegende Vorwürfe entgegengebracht, Zeugen wurden gehört und sämtliche Angeklagte sind im Zuge ihrer Befragung durch den Untersuchungsrichter und vor den Augen des Volkes zu Wort gekommen.«

Er macht eine kurze Pause und richtet den Blick seiner ausdruckslosen Augen auf die Einwohner Salems. In der ganzen Kirchen ist es totenstill. Kein Laut kommt den Anwesenden über ihre Lippen, keine Regung durchzuckt ihre Glieder. Gebannt warten sie auf das Urteil des Richters. Dieses Warten fühlt sich für die Angeklagten vor dem Altar wie eine nie enden wollende Ewigkeit an. Mit zu Boden gesenkten Häuptern stehen alle acht Beschuldigten wie reuige Hunde vor William Stoughton, bereit für ihre Strafe. Bereit für ihr Schicksal.

Schließlich räuspert sich dieser ein weiteres Mal.

»Aufgrund aller vorgetragenen Fakten lautet mein Urteil für sämtliche Beklagten daher wie folgt: Tod durch Erhängen«, verkündet er schließlich mit tiefem, rauem Ton, klappt das schwarze Buch, in das er sämtliche Notizen während der Prozesse vermerkte, zu und erhebt sich zum zweiten Mal im Laufe dieser Verhandlungen von seinem Platz, um die Kirche zu verlassen.

In dem Moment steht Mr Lewis in der dritten Reihe zu seiner Rechten auf und richtet sein Wort an William Stoughton.

»Aber hochgeschätzter Vizegouverneur. Ich bitte Sie, Ihr Urteil noch einmal zu überdenken. Es muss doch einen anderen Ausweg aus dieser Misere geben.«

»Mr Lewis, wenn ich recht annehme«, verlässt Stoughton das Richterpult und nähert sich Richard Lewis. »Ich bin hier in diesem Verfahren der vorsitzende Richter, der von der englischen Krone direkt eingesetzte Rechtssprecher in diesem Bundesstaat und somit auch für Salem zuständig. Mein Wort ist das einzige, das dabei ausschlaggebend ist und die Aufgabe des Volkes ist es lediglich meinen Entscheidungen genüge zu tun und diese nicht in Frage zu stellen. Haben Sie mich verstanden?«

Von der imposanten Erscheinung und der einschüchternden Worte des Gouverneurs wie benommen, setzt sich Mr Lewis wieder in der Mitte der Kirchenbank nieder. Sein Blick fällt dabei in Richtung Eleanor, die ihn mit einem dankenden Lächeln ansieht, wohlwissend, dass er trotz seines Versagens den Versuch wagte, sich für sie einzusetzen.

Stoughton und die zwei Untersuchungsrichter Hathorne und Corwin verlassen gemeinsam mit Cotton Mather die Kirche. Die Angeklagten werden von den bewaffneten Männern wieder durch den Seiteneingang aus der Kirche geleitet, quer über den Marktplatz und dann erneut in die Zellen gesperrt.

Es ist Mittag. Die Glocken der Kirche ertönen. Durch die Gitterstäbe hindurch wirft ein Wächter, so wie an den anderen Tagen auch, ein paar Brotreste und faulige Äpfel. Die Einwohner Salems stehen vor der Kirche, unterhalten sich angeregt, lachen. Die Händler an den Ständen auf dem Marktplatz öffnen ihre Luken, verkaufen Bier, Obstsäfte und Speisen. Der Duft von frisch gebratenem Fleisch liegt in der Luft. Drei Musiker haben mitten auf dem Platz Stellung bezogen, beginnen zu musizieren und die Leute tanzen. Sie feiern den heutigen Tag, den guten Verlauf der abgehaltenen Prozesse und den besonnenen Urteilsspruch William Stoughtons, der gemeinsam mit den zwei anderen Richtern in deren Kutsche Salem bereits wieder in Richtung Boston verlassen hat.

Eleanor erblickt Victor und ihre Tochter Dahlia, die gerade aus der Kirche treten und deren Augen auf die Gefängniszellen gerichtet sind. Die Wächter haben ihnen an den Tagen zuvor die Annäherung an die Zellen verwehrt, sie mit ihren Waffen bedrängt und so von Eleanor ferngehalten. Victor und Dahlia wissen, dass sie nichts mehr für Eleanor tun können, nichts sagen könnten, damit es ihr besser geht. Aber Dahlia weint unaufhörlich, Tränen fließen in dicken Bächen über ihre Wangen. Victor versucht sie zu beruhigen, um nicht die Aufmerksamkeit der Einwohner Salems um sie herum auf sich zu lenken. Vergebens. Dahlia schnappt nach Luft und wischt sich mit ihrer Schürze die Tränen vom Gesicht. Victor umarmt sie und drückt sie fest gegen seinen Körper. Doch Dahlia reißt sich von ihm los und rennt direkt auf den Wächter vor Eleanors Zelle zu.

»Ich muss noch einmal mit meiner Mutter sprechen«, fleht sie ihn an. »Ich will mich von ihr verabschieden.«

Der Wächter wirft dem anderen Bewaffneten neben ihm einen fragenden Blick zu. Der wiederum nickt nur kurz.

»Du hast eine Minute. Mehr nicht«, entgegnet ihr daraufhin der Mann.

Eleanor tritt an die Gitterstäbe heran und streckt ihre Arme hindurch. Dahlia greift ebenfalls in die Zelle hinein. Mutter und Tochter umarmen sich, so gut sie nur können, getrennt durch die kalten Eisenstäbe. Auch Victor steht mittlerweile hinter Dahlia und lächelt seiner Frau zu.

»Mutter«, beginnt Dahlia erneut fürchterlich zu weinen. »Wie konnten sie nur…«

»Dahlia, mein geliebtes Kind. Du brauchst nicht zu weinen. Ich werde immer bei dir sein«, sagt Eleanor zu ihrer Tochter und legt ihre Hand dabei auf Dahlias Herz. »Hier drinnen wirst du mich dein Leben lang bewahren. Immer, wenn du an mich denkst, werde ich dir nahe sein. Immer, wenn du mich brauchst, werde ich für dich da sein. Glaube immer fest daran. Du wirst sehen!«

Eleanor ringt sich mühevoll ein Lächeln für ihre Tochter ab und umarmt sie ein letztes Mal. Dann nähert sich schon wieder der Wächter und drängt Dahlia von den Gitterstäben weg.

»Das reicht«, meint er und fordert Dahlia und Victor auf zu gehen.

Eleanor winkt ihren Lieben hinterher, als sie ihnen so lange nachblickt, bis sie in die Nebengasse hinunter zum Hafen einbiegen und verschwinden. Sie zieht sich mit einem Stück Brot zurück in die Ecke der Zelle, in der sie auch die Tage zuvor kauerte, doch sie isst nicht. Schafft es nicht, auch nur einen Bissen hinunterzuwürgen. Stattdessen beginnt jetzt auch Eleanor zu weinen. Sie wollte für ihre Tochter stark sein, wollte ihr die Angst nehmen. Doch jetzt verlassen auch sie ihre Kräfte. Sie bricht unter dem Druck zusammen, zieht ihre Beine ganz fest an sich heran und legt die Stirn auf ihre Knie. In dem Moment wird ihr endgültig klar, dass sie verloren ist.

Es ist der 22. September 1692, der Tag der Hinrichtungen in Salem. In der vergangenen Nacht haben Eleanor und die anderen Gefangenen kein Auge zugetan. Noch am Abend haben die Zimmerer des Dorfes und ein paar Männer, die ihnen zur Hand gingen, begonnen, den Galgen für die heutigen Hinrichtungen aufzustellen. Gleich neben den Gefängniszellen, sodass die Betroffenen das Einschlagen jedes Nagels beobachten und hören konnten. Mit jedem Hammerschlag wurde ihr Schicksal besiegelt, von dem sie nicht mehr zurückweichen können.

Die Sonne geht bereits auf und wirft ihre ersten Strahlen wärmend auf Eleanors Gesicht, die an die Gitterstäbe herangetreten ist, um den Männern beim Abschluss ihrer Arbeiten zuzusehen. Eleanor ist sich bewusst, dass Dahlia und Victor auch heute auf den Marktplatz kommen werden, um sie ein letztes Mal zu sehen. Doch sie weiß auch, dass sie mit ihnen kein Wort mehr sprechen wird können. Sie wird von den Wächtern direkt aus der Gefängniszelle abgeholt und zum Galgen geführt werden, wo der Henker bereits auf sie warten wird.

Noch ein letztes Mal wirft einer der Männer, die die Gefangenen bewachen, einen Korb mit Essen zwischen den Gitterstäben hindurch. Dieses Mal sind die Äpfel nicht verfault. Auch eine Handvoll Nüsse wurde unter die Lebensmittel gemischt. Ein letzter Akt des Mitgefühls, wie es scheint. Eleanor nimmt sich ein paar der Nüsse, zerdrückt ihre Schale und pult das Innere aus ihnen heraus. Es ist lange her, dass sich dieser Geschmack auf ihrer Zunge ausbreitete. Nüsse sind teuer, für Angehörige ihres Standes kaum erschwinglich. Nur, wenn sie sich wagten, den Wald zu betreten und ihr Leben dabei riskierten, konnten sie selbst ein paar Nüsse sammeln. Doch diese haben Eleanor und Dahlia dann meist an die Händler im Dorf verkauft, um Wichtigeres besorgen zu können.

Viele Einwohner Salems haben sich schon auf dem Marktplatz versammelt, stehen in Kreisen rund um den Galgen. Die Zimmerer haben auch bereits ihr Werk vollendet. Etwa vier Meter hoch haben sie das Gestell neben den Gefängniszellen aufgetürmt. Egal, wo die Zuseher auf dem Markplatz ein Plätzchen finden würden, sie würden das Schauspiel von überall aus gut beobachten können.

Cotton Mather tritt vor die Zellen und begutachtet die verurteilten Hexen und Hexer. Er nimmt seine Bibel aus seiner Jackeninnentasche und spricht für die Seelen der Verurteilten ein letztes Gebet. Dann öffnen die Wächter auf sein Zeichen hin die Schlösser der Zellen, legen den Gefangenen Handfesseln an und führen sie hintereinander vor die Leiter, die hinauf auf den Galgen führt, wo ihnen der Henker die Schlinge um den Hals legen wird.

Eleanor ist die Vorletzte in der Reihe. Sie beobachtet, wie zwei der Wächter der alten Dame aus Eleanors Zelle als erster die Leiter hochhelfen. Oben angekommen, legt man ihr ein Seil um den Hals. Sie springt. Ohne ein letztes Wort, ohne zu zögern. Sie springt einfach von der Leiter und baumelt dann vor den Augen der anderen zu Hängenden und des hysterisch brüllenden Pöbels hin und her. Einer nach dem anderen steigt die Stufen nach oben, dem Schicksal, das sie alle bereits vor Tagen angenommen haben, entgegen. Der Strick wird ihnen um den Hals gelegt, der Knoten von vorne eng zugezogen und dann werden sie von dem Podest gestoßen. Ihr Kopf kippt nach hinten, aber die Wirbel brechen dabei nicht. Das Genick bricht nicht. Stattdessen werden sie qualvoll stranguliert. Es ist ein langsamer Tod. Es dauert zwei bis drei Minuten bis man ohnmächtig wird, das Zappeln aufhört, die leidvollen Geräusche verstummen und man endlich den erlösenden Tod findet.

Eleanor ist an der Reihe. Sie tritt auf die erste Stufe. In dem Moment hört sie die Rufe ihrer Tochter Dahlia. Sie dreht sich um und blickt in die riesige Menschenansammlung, doch sie kann Dahlias liebliches Gesicht nirgends erkennen.

»Dahlia!«, ruft sie in die Menge hinein.

Sie hört erneut ihre Stimme, doch kann sie nicht sehen.

»Weitergehen!«, ermahnt sie ein Wächter neben der Leiter und schiebt sie an ihrem Gesäß nach oben.

Eleanor geht weiter. Stufe um Stufe, bis auch sie vor dem Henker steht und ihm durch dessen schwarze Maskierung hindurch in die Augen blickt. Ihre Hände sind wie die der anderen gefesselt. Völlig wehrlos steht sie vor der Person, die ihr ihr kostbares Leben nehmen wird. Sie schließt die Augen. Ihre Gedanken sind bei ihrer Tochter und bei Victor, der großen Liebe ihres Lebens. Er wird sich um Dahlia kümmern. Er muss einfach. Eleanor glaubt fest daran. Sie fühlt das raue Seil auf ihrer Haut und den Druck gegen ihren Kehlkopf, als es enger gezogen wird.

Eleanor hört die Stimmen des Pöbels, die den Henker auffordern, die Hexe endlich vom Podest zu stoßen. Einzelne Stimmen in der Menge hört man deutlicher. Es sind die Stimmen einiger Frauen, die aus der Menge stechen. Sie rufen alle dasselbe.

»Wenn die Mutter eine Hexe ist, dann müssen wir ihre Tochter auch hängen!«

Eleanor steht wie versteinert vor dem Henker, sucht daraufhin mit ihren Blicken vergebens die Menge ab, um ihre Tochter zu finden. Sie kann nichts tun, kann Dahlia nicht helfen. Sie muss fliehen, sonst wird sie dasselbe Schicksal ereilen, dem sie sich gerade stellen muss.

»Dahlia!«, schreit sie so laut als möglich vom Galgen hinunter in die Menge.

Das Seil drückt ihr gegen die Kehle, ihre Stimme ist kaum zu hören. Sie schnaubt, dreht ihren Kopf nach links und dann wieder nach rechts, um den Strick etwas zu lockern. Dahlia hat nicht geantwortet. Sie konnte ihre Worte nicht hören!

»Dahlia!«, ruft sie noch einmal verzweifelt, dieses Mal deutlich lauter. »Dahlia, wenn du mich hören kannst, ich flehe dich an: Lauf!«

Dann spürt Eleanor nur noch einen Stoß gegen ihren Rücken. Sie verliert den Halt unter ihren Füßen. Sie fällt.

Im Angesicht des Bösen

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