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Einführung 1. Eine Bewusstseinslücke und ein Ressentiment

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Unser Bewusstsein, so lebendig und weit es sein mag, weist doch immer auch Lücken auf. Es ist wie eine Landschaft, die wir täglich in Licht und Schatten durchwandern, deren größerer Teil jedoch im Dunkeln, im Untergrund, am Grunde des Meeres liegt – je tiefer, desto weniger sichtbar. Wir verdrängen. Wir vergessen. Wir kennen uns weithin selbst nicht. Sehr ausgedehnte und wichtige Anteile unseres Selbst sind unserem Bewusstsein nicht oder nur auf dem Wege eines lange andauernden und oft schmerzhaften Prozesses neuer Aufmerksamkeit zugänglich. Vieles von dem, was dem Kind noch bewusst war und was es erlebt hat, ist abgesunken und kann oft nur mühevoll wieder zu Tage kommen. Umgekehrt lag vieles, was der Erwachsene in sich selbst entdeckt, noch außerhalb des kindlichen Bewusstseins. Und so kann auch, was einmal ans Tageslicht des Erwachsenenbewusstseins kam, wieder auf den Grund absinken. Es gibt auch die Dinge, die wir bewusst nicht mehr wissen wollen und deshalb zur Seite schaffen, die wir ad acta legen und nicht mehr anschauen wollen, weil es weh tut, dass sie niemals wirklich eine Chance bekommen haben. Mit einem Wort, unser Bewusstsein weist oft erhebliche Lücken auf, die nicht selten auf etwas Wichtiges hinweisen, das sich unter dem Bewusstseinsspiegel verbirgt.

Solches Vergessen und solche Verdrängungen gibt es auch in Gemeinschaften und größeren sozialen Gebilden. Man vergisst und verdrängt prekäre Phasen der Vergangenheit. Man vergisst und verdrängt aktuelle Probleme. Man will übernommene historische Aufgaben und Verpflichtungen nicht wahrhaben. Man kann oder mag die eigene Identität nicht mehr recht erkennen und begreifen. Plausibilitäten büßen ihre Einsichtigkeit ein und schwinden. Übereinkünfte verlieren an Wirksamkeit und Substanz.

So kann es auch in religiösen Gemeinwesen geschehen, z.B. in Bezug auf den aktuellen Zugang zu einem wichtigen Charisma einer Ordensgemeinschaft. Selbst in der Kirche kann über ganze Zeiträume hin manches unter oder bis nahe an die Bewusstseinsgrenze absinken. Sie verliert dabei freilich nicht die Integrität der Wahrheit, die ihr verheißen ist. Doch ist sie deshalb vor einseitigen Akzentuierungen und auch längerfristigen Bewusstseinseinschränkungen und Verdrängungen1, bedingt durch ihren menschlich-geschichtlichen Weg, nicht gefeit und kann so in mancher Hinsicht auch über größere Zeiträume an Lebendigkeit einbüßen – was wohl z.B. Johannes XXIII. damals empfand, als er es in Verbindung mit dem von ihm einberufenen Zweiten Vatikanum für notwendig erachtete, die Fenster der Kirche zu öffnen.

Eine solche Lücke in unserem christlichen Bewusstsein begegnet uns bei jeder Taufe. Sie wird jedes Mal angerührt durch die Worte, die begleitend zur Salbung der Getauften mit dem Weiheöl der Kirche, dem (besonders bei Taufe, Firmung, Ordination bedeutsamen) »Chrisam« gesprochen werden; Worte, die eine erste Ausdeutung dessen sind, was soeben in der Taufe geschah: »Aufgenommen in das Volk Gottes wirst du nun mit dem heiligen Chrisam gesalbt, damit du für immer ein Glied Christi bleibst, der Priester, König und Prophet ist in Ewigkeit.«2 Hier wird den Getauften etwas zugesprochen, das nur spärlich in unser christliches Bewusstsein hinein entfaltet wird. Und wenn, dann eher im Sinne eines daraus folgenden Verpflichtungscharakters als im Sinne einer Sein und Würde schenkenden Wirklichkeit.

Dass wir, jede und jeder Getaufte, durch unsere Gemeinschaft mit Christus Priester sind und Könige und Propheten – wo oder wie begegnet uns das? Und wo oder wie erfahren und erleben wir es? Es sind Worte, die kaum einen Widerhall finden in unserer christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit, die meist wie ungehört in uns wieder verklingen, die nicht eingelöst werden und in unseren Gemeinden und Gemeinschaften, ja im Raum der Kirche überhaupt allzu oft keine wirkliche Rolle spielen.

Im Zuge des Fensteröffnens hat das Zweite Vatikanische Konzil3 diese de facto weithin verschollene Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein gebracht: »Christus der Herr … hat das neue Volk ›zum Königreich und zu Priestern für Gott und seinen Vater gemacht‹ (vgl. Offb 1,6; 5,9–10). Durch die Wiedergeburt und die Salbung mit dem Heiligen Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht …« (LG 10). Uns allen wird hier im Rückgriff auf die Hl. Schrift zugesagt, wer und was wir durch die Taufweihe sind. Wunderbares, das an uns durch die Taufe geschehen ist und geschieht, wird wie aus einer Vergessenheit für uns alle wieder ins Wort und ans Licht gebracht.

Dennoch wurde vom kirchlichen Amt aus bis in die jüngste Zeit vielfach nicht sehr gerne vom gemeinsamen Priestertum aller Glaubenden gesprochen. Man fürchtet(e) wohl unter anderem, am eigenen Ast zu sägen durch einen eventuell damit verbundenen Achtungsverlust vor dem amtlichen Priestertum, seinem Sinn und seiner Notwendigkeit – was sich wiederum, so weiter die Befürchtung, hemmend auf den ohnehin schon geringen Priesternachwuchs auswirken könnte. Ich selbst bin freilich keineswegs der Meinung, dass dies – jedenfalls auf weitere Sicht – der Fall wäre. Denn das Bewusstsein und die Nutzung des Reichtums und der Fülle unseres Christseins können das Leben der Kirche und die Freude am Dienst nur fördern.

Doch immer häufiger leiden wir heute innerkirchlich an einem »wechselseitigen Ressentiment« zwischen Priestern – »Lieblingssöhnen«, denen es freilich nicht mehr so gut geht und deren Zahl trotz vieler Bemühungen bei uns jedenfalls stark rückläufig ist – und »Laien«, die »permanent in einem sekundären Status« mit mangelnder Letztverantwortung sind. Zweifellos ist diese nun schon Jahrzehnte andauernde spannungsgeladene Situation nicht zuletzt bedingt durch fundamentale Wandlungsprozesse in unserer (westlichen) Gesellschaft, in denen sich z.B. die Wahrnehmung von Autorität zu Gunsten von Authentizität verändert (hat) und demokratisch-gleichrangige Verfasstheiten mehr und mehr an die Stelle von hierarchischen und Standesordnungen getreten sind. Diese Entwicklung kann und konnte nicht an der Kirche, die ja in diesem Äon und seinen Epochen lebt, und an ihren Menschen vorbeigehen.

Das Zweite Vatikanum hat – gewiss u.a. auch in Wahrnehmung solcher gesellschaftlicher Wandlungen – alle in der Kirche ohne Ausnahme in dem einen »Volk Gottes« zusammengeführt und geeint, wenn auch diese Einigung noch vieler Bewusstseinsarbeit und Willigkeit bedarf. Und in diesem Volk haben alle, auch die, die nicht Amtsträger oder Ordensleute sind, »zu ihrem Teil« einen pastoralen, einen Hirten-Auftrag für die Welt und für einander. Denn sie sind »durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig« (Lumen gentium Nr. 31). Wenn auch die Ausdrücke »auf ihre Weise« und »zu ihrem Teil« sozusagen im selben Atemzug um die Abgrenzung zum Presbyterat bemüht sind, so ist hier doch ein unerhört großer Schritt getan. Denn jede/-r Getaufte hat, so die Sicht des Zweiten Vatikanums, ganz schlicht und ohne Wenn und Aber an der Fülle des königlich-priesterlichen und prophetischen Amtes Christi teil!4 Trotzdem und vielleicht gerade deshalb besteht noch immer viel Ressentiment beiderseits. Ich bin überzeugt, dass ein gutes Stück des Weges in einer anspruchsvollen, weil wesentlichen Besinnung auf das Gemeinsame liegt. Einen gewissen Impuls zur Bewusstmachung gibt z.B. Papst Benedikt XVI. selbst in seinem Schreiben zum Jahr des Priesters, in dem er zwar das amtliche Priestertum in seiner Bedeutung überaus stark herausstellt, jedoch auch dazu einlädt, das gemeinsame Priestertum aller mitzubedenken, und die Gelegenheit nützt, um »das Feld der Zusammenarbeit zu betonen, das immer mehr auf die gläubigen Laien auszudehnen ist, mit denen die Priester das eine priesterliche Volk bilden und in deren Mitte sie leben, um kraft des Weihepriestertums alle zur Einheit in der Liebe zu führen, ›indem sie in Bruderliebe einander herzlich zugetan sind, in Ehrerbietung einander übertreffen‹ (Röm 12, 10). In diesem Zusammenhang ist an die lebhafte Aufforderung zu erinnern, mit der das Zweite Vatikanische Konzil die Priester ermutigt, die Würde der Laien und die bestimmte Funktion, die den Laien für die Sendung der Kirche zukommt, wahrhaft [zu] erkennen und [zu] fördern … Sie sollen gern auf die Laien hören, ihre Wünsche brüderlich erwägen und ihre Erfahrung und Zuständigkeit in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Wirkens anerkennen, damit sie gemeinsam mit ihnen die Zeichen der Zeit erkennen können.«5

Sosehr diese Worte auch angesiedelt sind innerhalb der strengen Gliederung von Presbytern und »Laien«, so ist damit auch von amtlicher Seite die Begegnung mit dem Thema dieses Buches angesagt. Die Zeit dafür ist reif.

Ein wichtiger Punkt – allzu oft eine unserer Bewusstseinslücken – muss in diesem Zusammenhang noch genannt werden. Wenn wir unser gegenwärtiges konkretes Leben betrachten, ist nicht zu übersehen, dass unsere »Gesellschaft ihre Geschlechterordnung umbaut, und zwar ohne Zweifel in Richtung so urchristlicher Werte wie Gerechtigkeit und Fairness«, und dass dies den Druck der erwähnten Spannung wohl erheblich verstärkt. Wir können kirchlich nicht daran vorbeischauen. Werden wir uns positiv zuwenden und öffnen können, in Konsequenz der Haltung des Zweiten Vatikanums? Dieser »Umbau« betrifft nicht nur die größere Hälfte der Kirche, sondern uns alle. Er kann zwar im Zusammenhang dieses Buches nicht ausdrücklich zum Thema werden. Denn mir ist bewusst, dass ich strukturell keine Lösungen anbieten kann. Aber der Weg in Offenheit und gemeinsamer Bewusstseins- und Erfahrungsbildung ist zu gehen, und was da werden will, geht in allem, was ich zum »Gemeinsamen« und »Gleichen« und seiner Bewusstwerdung sagen möchte, mit.6

Besonders schwer wiegen die Bewusstseinslücken und Vergessenheiten im Bereich der menschlichen und christlichen Würde. Dementsprechend weiß sich dieses Buch, soweit es nur vermag, dem biblischen »Ethos und Pathos unbedingter Würdigung«7 verpflichtet.

Das wunderbare Licht, in dem wir leben

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