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Kapitel 1

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Es ist Mittwoch der 11. April 2012 am frühen Nachmittag. Zunächst befinden wir uns in einem mitteklassigen Hotel, im Zentrum Berlins. Es ist ein bewölkter und windiger, überwiegend trockener Nachmittag. Aber man weiß ja nie, ob die nächste Wolke nicht doch noch einen kräftigen Aprilschauer bring. So in etwa 8°C sind es und mit dem Sonnenuntergang ist nicht vor 20:00 Uhr zu rechnen. Anwesend sind folgende Personen.

Da ist Mister Ron Harper. In seiner Geburtsurkunde steht, geboren 1965 als Sohn eines US-amerikanischen Diplomaten und einer deutschen Korrespondentin, in Bonn-Bad Godesberg. Harper besitzt einen US-Amerikanischen Pass, und seine Home Base befindet sich in den City Palms Apartments, 480 Hibiscus Street, in West Palm Beach/Florida, wo er sich ständig mit seiner Partnerin Eva Aprony aufhält. Er ist 184 cm groß, 84 kg schwer, mit dunklen Haaren, braunen Augen, und sportlich stabiler Erscheinung. Als Berufe gibt er an, Publizist zu sein. Bei genauer Nachfrage erzählt er irgendwelche Geschichten vom United Nation Intranet, für das er arbeiten würde.

Und in Berlin ist auch Mister Joseph Snyder. Geboren 1955 als zweiter Sohn eines New Yorker Polizisten, und einer 1932 eingewanderten deutschen Jüdin in Queens/New York. Snyder wurde in der jüdischen Gemeinde von Queens geboren, und lebt heute in San Diego/Kalifornien. Er ist 176 cm groß, 92 kg schwer, kurze dunkel Haare, blaugrüne Augen, und ein kräftiger Typ mit Bauch. Als Beruf gibt er an Sicherheitsberater zu sein. Auf die Frage was er denn genau mache, antwortet er in der Regel: „Das geht Sie gar nichts an.“

Harper sitzt entspannt zurückgelehnt in einem schweren grünen, nicht mehr ganz jungen Ledersessel und richtet seinen rechten Zeigefinger auf den Stapel Fotokopien, die auf dem zur Garnitur passenden Tisch liegen. Er blickt dabei fragend hinüber zu Snyder, der es sich gerade mit aufgeknöpftem Jackett auf dem Sofa gemütlich gemacht hat.

Harper sagt ganz überraschend: „Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Mister Snyder?“

Snyder: „Eine Frage? Oh ja, natürlich dürfen Sie das.“

„Versuchen Sie sich bitte in folgende Lage zu versetzen. Sie beginnen im September 1939 Aufzeichnungen für ein Tagebuch zu machen, und dokumentieren exakt vom ersten bis zum letzten Luftangriff, alle Bombenächte des zweiten Weltkrieges, hier in Berlin. Und Sie schreiben noch mehr in dieses Tagebuch hinein. Sie schreiben von Familie, Freunden, Bekannten und machen keinen Hehl aus Ihrer Person, Ihrer exponierten Stellung, sowie Ihrem sozialen Umfeld. Sie nennen Namen, viele Namen, und kleben Bilder zwischen die Zeilen, die im Übrigen sehr wenig anklagend, eher beklagend sind. Sie schreiben über eine Zeit, nach dieser Zeit. Das betonen Sie schon in der Einleitung. Die Geringschätzung für diesen Krieg lassen Sie zwar herauszulesen, zugleich aber sind Sie über lange Strecken unkritisch, und betonen explizite, dass eine Kritik an den Geschehnissen nicht gewollt ist. Dagegen sollen die Aufzeichnungen lediglich festhalten, wie die jeweiligen Ereignisse Sie beeindrucken und in den Ablauf Ihres Lebens eingreifen.“

„Sie heben die Annehmlichkeiten hervor als ob es das Normalste der Welt wäre, während der Luftkampfhandlungen im Norden, mit dem Flugzeug geschäftlich in die Schweiz oder nach Skandinavien zu fliegen. Oder um im Dezember 1942 mit der Eisenbahn, gut beheizt mit der Soldateska zusammen, in Werksangelegenheiten nach Lemberg zu fahren, um anschließend mit einer Sondergenehmigung als Privatperson, Ihren verwundeten Sohn in einem Frontlazarett zu besuchen. Im Falle einer Denunziation, was über die Jahre nicht ausgeschlossen ist, weil lukrativ für den Denunzianten, riskieren Sie eine Anklage wegen landesverräterischen Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und der Wehrkraftzersetzung. Sie würden bestenfalls zum Tode durch die Guillotine verurteilt, um dann auf einem Acker ohne Grabstein verscharrt zu werden, falls man Ihnen das nachweisen kann. Falls nicht, würde man Sie zur Arbeit an den Öfen eines in den Wäldern Polens versteckten Vernichtungslagers deportieren. Also Mister Snyder, . . . würden Sie dieses Buch schreiben?“

Snyder muss überlegen, dabei runzelt er die Stirn und bekommt diese kleinen fokussierenden Augen. Dabei steckt er sich langsam eine Zigarette an und antwortet nach gefühlten 5 Minuten mit tief verrauchter Stimme: „Hören Sie zu Harper. Stellen Sie mir eine leichte Frage, okay. Zum Beispiel, ob es mich freuen würde, bald wieder zuhause sein zu dürfen, und vorher noch meine 150 Dollar von Ihnen zurückzubekommen. Das wären zwei einfache Fragen, und zweimal mit ja leicht beantwortet.“

Enttäuscht nach dieser Antwort, holt Harper vom Siteborde gegenüber zwei mittelgroße Gläser und eine Flasche Whisky herbei. Beim Hinsetzen sagt er: „Ach Snyder, . . . hören Sie doch auf. Was ist Ihr Problem? Plötzlich haben Sie immer nur Geld, Geld, Geld im Kopf. Das war doch früher nicht so. Ich dachte immer Geld interessiert Sie nicht wirklich. Sie mögen eher Kontrolle, Einfluss, Vollmacht, oder gar Ruhm.“

„Ach so? Hatte ich wirklich Ruhm gesagt?“

„Ja, das haben Sie. In einem Bericht über Sie las ich, dass Sie es begrüßen in den Publikationen über die New Yorker Polizei so viele positive Erwähnungen gefunden zu haben. Sei es wegen Ihrer Dienstphilosophie oder der Aufklärungsrate Ihres Präsidiums, die beide vorbildlich für das gesamte NYPD Lower Manhattan waren.“

Snyder zieht ärgerlich an seiner Zigarette, und sagt langsam und nachdenklich: „Sie lesen Berichte über mich?“

Harper hebt die Hände zur Abwehr, und sagt: „Nein, nein, natürlich nicht.“

Snyder nickt langsam und sagt: „Ich verstehe. Sie wollten sich ein Bild von mir machen. Na gut, das kann ich verstehen. Und in einem Punkt liegen Sie ja richtig. Ich habe meinen Job nicht des Geldes wegen gemacht. Unterbezahlt waren wir doch alle damals. Hören Sie, ich hätte diese Karriere auch gemacht, wenn man mir nicht nach jeder Beförderung ein paar Dollar mehr gezahlt hätte. Sollte ich das Geld etwa ablehnen. Das hätte mich doch verdächtig gemacht. Wen Geld nicht interessiert, der ist doch nicht normal. Ich wäre ein Idealist, ein Außenseiter, oder gar ein Kommunist gewesen. Aber nein. Ich habe es genossen, eines Tages nicht mehr gesagt zu bekommen was zu tun sei, sondern zu sagen was zu tun ist. Und heute sage ich was ich will. Und wenn jemanden das nicht gefällt, dann möge er das doch bitte für sich behalten.“

Harper öffnete währenddessen die Flasche. Etwa zwei Fingerhoch gießt er Whisky in eins der beiden Gläser und stellt es vor Snyder auf den Tisch. Der nimmt das Glas, hält es erst gegen das Licht, dann unter die Nase und sagt: „Ist es dafür nicht noch ein wenig zu früh?“

Mit einer abweisenden Handbewegung erwidert Harper: „Für mich schon, für Sie nicht.“

Snyder nimmt einen Schluck und dreht den Kopf leicht zur Seite, während der samtweich rauchige Single Malt, aus dem Tal der Hirsche, erst Zunge, Mund, Gaumen, dann Kehle umspült, und diese Wärme in der Brust entfaltet. Snyder macht einen kurzen sinnlichen Spaziergang durch Dufftown, an der Mortlach Church vorbei, hinüber zu den illegalen Brennereien, hinter den grünen Hügeln, in den Weiten des schottischen Hochlandes. Und er verläuft sich nicht so gerne dabei, verzichtete deshalb zunächst auf den zweiten Schluck.

„Also Snyder, was ist nun. Sie verstehen doch was ich meine. Hätten Sie ein solches Tagebuch geschrieben?“

„Hören Sie zu Harper. In den Ländern, deren Staatsgewalten damals nicht von der NS Diktatur ergriffenen wurden, herrschte in den Medien die offizielle Lesart, dass das deutsche politische Volk sich von allen anderen Völkern der Welt unterschied. Das deutsche politische Volk unterwarf sich freiwillig einer verbrecherischen NS Diktatur, mit ihrer SS, SA, SD. Gestapo, dem Wehrmachtskommando und ihrem geliebten Führer und Volkshypnotiseur Adolf Hitler. Mit seinem angeerzogenen militärischen Gehorsam, war das deutsche politische Volk das perfekte Opfer, um sich freiwillig mit festlichem Gesang und entmündigendem Schwur, diesen Nazis zu unterwerfen. Ein derartiger totalitärer Plan, konnte nach des Führers Meinung, nur durchgeführt werden, wenn alle wie auch immer gearteten Widerstände, mit strengsten Mitteln gnadenlos gebrochen werden.“

„Also Harper, was soll diese Frage? Ich bin Jude, oder eben Halbjude. Ich hätte einen Teufel in dieser Zeit getan. Ich wäre längst von der Gestapo abgeholt worden und sie hätten mich schon vorher in ein Vernichtungslager gebracht. Und im Übrigen, sollten Sie sich selbst fragen, ob Sie das als Nichtjude getan hätten.“

„Darum frage ich Sie ja, Snyder. Ich weiß, dass Sie Jude sind. Und dieses Tagebuch hat ein Mann geschrieben, der Eugen Paulus hieß. Paulus, verstehen Sie?“

„Paulus? Was soll das? Ich verstehe nicht.“

Harper nun etwas herablassend: „Ich hätte Sie das nicht gefragt, wenn der Autor Schulze oder Müller geheißen hätte. Der Name ist aber Paulus. Und ich denke dieser Paulus war weder verwandt noch verschwägert mit dem Oberbefehlshaber der 6. Armee Generalfeldmarschall Friedrich Wilhelm Paulus. Der Paulus den ich meine, ist der Paulus von Tarsus. Ein in Griechenland ausgebildeter Jude, und Pharisäer, mit einem römischen Pass. Paulus galt als der, von Gott berufene Verkünder des Evangeliums. Ein Apostel, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, als Missionar des Urchristentums, und die Auferstehung Jesus Christi, dem Nichtjuden, zu verkünden. Dazu bereiste er den gesamten Mittelmeerraum. Seine Lehre nimmt viel Raum im Neuen Testament und in der Bibel ein. Ein Paulus, der ein Tagebuch unter der Herrschaft der NS Diktatur, mit allen seinen Gefahren schreibt, und selbst durchbringt? Da liegt es.“

Snyder zieht die linke Schulter hoch, und setzt zu einer Frage an: „Reden Sie etwa von Widerstand?“

Harper schüttelt den Kopf: „Nein, das nicht. Widerstand ist etwas anders. So etwas wie der von Sophie und Hans Scholl. Sie schrieben mit ihrem Freund Alexander Schmorell Flugblätter und wurden denunziert. Es war der Hausmeister der Ludwig-Maximilian-Universität in München Jakob Schmid, der sie für 3.000 RM Belohnung an die Gestapo verriet. Am 22. Februar 1943 wurden die Geschwister Scholl, und fünf ihrer Freunde, unter der Leitung des Richters Roland Freisler in München, der landesverräterischen Feindbegünstigung, der Vorbereitung zum Hochverrat und der Wehrkraftzersetzung, zum Tode durch Enthauptung verurteilt, und am gleichen Tag mit dem Fallbeil hingerichtet. Alexander Schmorell erst am 13. Juli 1943 an gleicher Stelle.“

Snyder fingerte und strich in der Zeit auf seinem Handy herum und sagt, ohne aufzuschauen: „Ja, hier ist es, und ich zitiere wörtlich etwas aus ihren Flugblättern.“

„Wenn das deutsche Volk schon so in seinem tiefsten Wesen korrumpiert und zerfallen ist, dass es, ohne eine Hand zu regen, im leichtsinnigen Vertrauen auf eine fragwürdige Gesetzmäßigkeit der Geschichte, das Höchste, das ein Mensch besitzt und das ihn über jede andere Kreatur erhöht, nämlich den freien Willen, preisgibt, die Freiheit des Menschen preisgibt, selbst mit einzugreifen in das Rad der Geschichte und es seiner vernünftigen Entscheidung unterzuordnen, wenn die Deutschen, so jeder Individualität bar, schon so sehr zur geistlosen und feigen Masse geworden sind, dann, ja dann verdienen sie den Untergang. (. . .) Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheußlichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch? Kaum irgendjemand macht sich Gedanken darüber. Die Tatsache wird als solche hingenommen und ad acta gelegt. Und wieder schläft das deutsche Volk in seinem stumpfen, blöden Schlaf weiter und gibt diesen faschistischen Verbrechern Mut und Gelegenheit weiter zu wüten. Sollte dies ein Zeichen dafür sein, dass die Deutschen in ihren primitivsten menschlichen Gefühlen verroht sind, dass keine Saite in ihnen schrill aufschreit im Angesicht solcher Taten, dass sie in einen tödlichen Schlaf versunken sind, aus dem es kein Erwachen mehr gibt, nie, niemals? Es scheint so und ist es bestimmt, wenn der Deutsche nicht endlich aus dieser Dumpfheit auffährt, wenn er nicht protestiert, wo immer er nur kann, gegen diese Verbrecherclique, wenn er mit diesen Hunderttausenden von Opfern nicht mitleidet. Und nicht nur Mitleid muss er empfinden, nein, noch viel mehr: Mitschuld. Denn er gibt durch sein apathisches Verhalten diesen dunklen Menschen erst die Möglichkeit, so zu handeln. (. . .) Ein jeder will sich von einer solchen Mitschuld freisprechen, ein jeder tut es und schläft dann wieder mit ruhigstem, bestem Gewissen. Aber er kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig!“

Nach einer kurzen Pause fährt er fort: „Und dann zitieren sie Aristoteles Sichtweise der Politik der Tyrannis. Wörtlich schreiben sie folgendes.“

„Ferner gehört es (zum Wesen der Tyrannis) dahin zu streben, dass ja nichts verborgen bleibe, was irgendein Untertan spricht oder tut, sondern überall Späher ihn belauschen, (. . .) ferner alle Welt miteinander zu verhetzen und Freunde mit Freunden zu verfeinden und das Volk mit den Vornehmen und die Reichen unter sich. Sodann gehört es zu solchen tyrannischen Maßregeln, die Untertanen arm zu machen, damit die Leibwache besoldet werden kann, und sie, mit der Sorge um ihren täglichen Erwerb beschäftigt, keine Zeit und Muße haben, Verschwörungen anzustiften (. . .) Ferner aber auch solche hohe Einkommensteuern, wie die in Syrakus auferlegten, denn unter Dionysios hatten die Bürger dieses Staates in fünf Jahren glücklich ihr ganzes Vermögen in Steuern ausgegeben. Und auch beständig Kriege zu erregen, ist der Tyrann geneigt."

Harper nickt mit ernster Miene: „Das kommt mir irgendwie sehr zeitgenössisch vor, will mich aber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich will vom 20. Juli 1944 sprechen. Claus Schenk Graf von Stauffenbergs misslungenes Attentat auf Hitler. Der Führer hielt in der gleichen Nacht gegen 01:00 Uhr eine Radioansprache an das Volk, in der er wörtlich unter anderem folgendes verlautbarte.“

„Eine ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab der deutschen Wehrmachtführung praktisch auszurotten (. . .) Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe. Denn ich darf vor der ganzen Nation es feierlich gestehen, dass ich seit dem Tage, an dem ich in die Wilhelmstraße einzog, nur einen einzigen Gedanken hatte, nach bestem Wissen und Gewissen meine Pflicht zu erfüllen, und dass ich, seit mir klar wurde, dass der Krieg nun unausbleiblich war und nicht mehr aufgeschoben werden konnte, dass ich seitdem eigentlich nur in der Arbeit und der Sorge, und in zahllosen Tagen und durchwachten Nächten nur für mein Volk lebe (. . .) Ich selber danke der Vorsehung und meinem Schöpfer nicht deshalb, dass er mich erhalten hat, sondern wenn ich danke, nur deshalb, dass er mir die Möglichkeit gab, diese Sorgen weiter tragen zu dürfen und in meiner Arbeit weiterfortzufahren, so gut ich das mit meinem Gewissen verantworten kann (. . .) Ich darf besonders Sie, meine alten Kampfgefährten, noch einmal freudig begrüßen, dass es mir wieder vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte. Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, dass ich mein Werk weiterfortführen muss und daher weiterfortführen werde.“

Snyder nimmt das Smartphone runter, rückt sein Jackett gerade und sagt dann noch: „Pharisäer mit römischem Pass, sagte Sie? Sie meinen also, dass dieser Tagebuch Paulus ein Jude gewesen hätte sein können. Ich vermute mal, Eugen Paulus war kein Jude. Aber sagen Sie bitte, von was für einem Tagebuch reden Sie überhaupt?“

Harper erklärt: „Das Original liegt im Panzerschrank eines Freundes hier in Berlin. Sie kennen ihn nicht. Sein Name ist Leonard Kowalski. Er ließ eine Übersetzung ins Englische anfertigen und das Original mit eingeklebten Fotos und allem Zusatzmaterial in seinem Büro fotokopieren. Und wir haben den Text, ohne Zusatzmaterial, zweimal in Kopie vorliegen.“

„Woher hat Ihr Freund dieses Tagebuch“, fragt Snyder.

Harper antworte nicht ganz überzeugt: „Ja, eine komische Geschichte. Kowalski hat ein heimliches Hobby. Er besucht in ganz Deutschland, wenn seine Zeit es erlaubt, Kofferauktionen. Bei einer dieser Auktionen auf dem Rhein-Main-Flughafen, hat er zwei Koffer ersteigert, und in einem dieses Tagebuch gefunden.“

Snyder etwas überrascht: „Kofferauktion? Sie meinen Koffer die keinen Besitzer mehr haben?“

„Ja, da sind Koffer, Rucksäcke, Kinderwagen, Handys, Fotoapparate und so weiter.“

„Ach so, und ihr Freund hat es auf gepackte und geschlossene Koffer fremder Leute abgesehen.“

„Ja. Und er weiß vorher nicht was drinnen ist.“

„Da ersteigert er ja noch eine gehörige Menge Spannung mit dazu. Sie wissen nicht was sie kaufen, aber sie wissen was sie wollen. Oh, la la Mister Harper, ich glaube das ist ein Fetisch.“

Harper augenzwinkernd: „Ich weiß nicht. Er fragte mich, ob man das Tagebuch nicht veröffentlichen könne. Als Publizist könnte ich das einschätzen, meint er. Na ja, und da dachte ich, ein Publizist und ein Sicherheitsberater nehmen sich das Tagebuch mal vor, und schauen hinein. Vielleicht ist es ja spannend. Aber ich habe natürlich keine Zusage zu irgendetwas gemacht.“

Snyder erleichtert: „Keine Zusage, das ist gut. Und wie war das mit dem Koffer, gibt es den denn noch?“

Harper schnell: „Ja es gibt diesen Koffer noch. Habe Kowalski gleich danach gefragt. Er hat ihn mit seinem gesamten Inhalt, zuhause im Wandschrank stehen.“

Snyder nachdenklich: „Welche Farbe hat dieser Koffer, wissen Sie das?“

„Nein, das weiß ich nicht. Warum?“

„Nun ja, ob es ein schwarzer, karierter, roter, oder gar rosa Koffer ist, macht doch einen Unterschied. Oder etwa nicht?“

„Meinen sie bezüglich des Inhaltes, oder was?“

„Vielleicht wollte er ja die getragene Unterwäsche einer Frau ersteigern. Und zwischen ihren Strümpfen, findet er das Tagebuch.“

Snyder steckt sich eine weitere Zigarette an, nimmt ein Satz der Fotokopien, und beginnt in den Papieren zu blättern. Dann sagt er: „Nicht gewollt ist eine Kritik an den Geschehen, dagegen sollen die Aufzeichnungen festhalten wie die jeweiligen Ereignisse beeindruckten oder in den Ablauf unseres Lebens eingriffen. So schreibt er es in seinem Vorwort. Roland Freisler könnte es völlig egal gewesen sein, ob Paulus wenig anklagend, eher beklagend schreibt. Freisler hätte die erste Seite des Tagebuches gereicht, um Eugen Paulus vor dem Volksgerichtshof an das Hakenkreuz zu nageln, ihm das Tagebuch um die Ohren zu hauen, und zum Tode . . . na ja, Sie sagten es ja schon hinreichend ausgeschmückt. Und im Übrigen würde ich den Koffer gerne sehe. Können Sie das arrangieren Mister Harper?“

„Hey Snyder, Sie sind ein richtiger Vollblut Bulle. Und das meine ich als Kompliment.“

Beide vertiefen sich in den Text des Tagebuchs. Nach einer ganzen Weile gießt Harper ungefragt Whisky für Snyder nach, und sich selbst heißen Kaffee aus der bereitstehenden Kanne. Ohne die Konzentration auf das Skript zu verlieren, trinken und rauchen sie. Snyder erkundigt sich zwischendurch, ob er auf der Rückseite Notizen machen dürfte. Harper hatte nichts dagegen, und reichte ihm ein Männermagazin, als feste Unterlage. Er selbst beugt sich über den Tisch, wenn es etwas zu notieren gibt. Das Papier raschelt und Snyders Kugelschreiber klicken nervös, klick und klack, und klick und klack, und so weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die Sonne hatte einen spürbaren Schritt vorwärts gemacht, drückt Snyder seine fünfte Zigarette aus und Harper leert die zweite Tasse Kaffee. Einen weiteren Whisky hatte Snyder bereits lange vorher abgelehnt, da legt er sorgfältig das Manuskript wieder auf den Tisch, und fragt: „Dieser Kowalski hatte doch bestimmt eine Analyse dieses Buches machen lassen. Papier, Schriftproben, Klebstoff, Tinte usw. Es muss schon alles Stimmen. Ansonsten wird es schwierig. Na ja, und diesen Koffer müssen wir eben sehen.“

Harper greift er zum Telefon und bevor er eine Nummer wählt, fragt er: „Möchten Sie auch etwas essen? Ich will was bestellen. Ein paar Sandwiches, Donuts, Apfelkuchen, etwas Obst, Kaffee, Säfte, Cola, und Sodawasser, vielleicht etwas Eis. Was meinen Sie?“

Snyder legt die rechte Hand auf seinen unübersehbaren Bauch, der sein weißes Hemd in Spannung versetzt, und sagt: „Ja das ist eine gute Idee. Vergessen Sie die Zigaretten nicht.“

Nach der Bestellung sagt Harper: „Die Gefahr die Eugen Paulus auf sich nahm, um dieses Tagebuch zu schreiben war sehr groß. Er musste jede Stunde, bis zum 8. Mai 1945, gut darauf geachtet haben.“

Snyder nickt: „Er musste immer wissen, wo es war.“

„Eine falsche Äußerung in der Gegenwart eines Unbekannten, der neben ihm im Luftschutzkeller sitzt. Jemand der ihn hätte anzeigen können oder gar müssen. Ein Denunziant, der auch noch eine Belobigung, in welcher Form auch immer erhalten hätte.“

„Paulus durfte nicht fahrlässig werden“

„Er ist mit klarem Verstand dieses Risiko eingegangen. Ob er jemanden von diesem Tagebuch erzählt hatte, geht nicht daraus hervor.“

Harper versucht sich in Paulus hinein zu versetzen und sagt: „Vor den heutigen Behörden etwas zu verstecken ist relativ leicht. Aber vor der Gestapo? Zumal der potentielle Denunziant, und den daraus resultierenden Konsequenzen, mit heute nicht vergleichbar sind. Es ist schon psychologisch viel schwerer. Der ständige Druck und die echte Angst vor dem Tode. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob sie als oppositioneller Flugblattverteiler 3 Monate ins Gefängnis, oder unter die Guillotine kommen.“

Snyder etwas skeptisch: „Es wäre ja auch denkbar, er liefe gar keine Gefahr. Er hatte ja auch gar nichts davon gehabt. Ich meine, wer außer uns und Kowalski, oder vielleicht noch der eine oder andere aus der Familie oder dem Umfeld, hat das Tagebuch bisher gelesen.“

Harper: „Ich habe das Original gesehen. Es ist in einem tadellosen Zustand. Keine Kratzer, keine Flecken, absolut sauber.“

Snyder greift einen anderen Gedanken auf: „Eugen Paulus war ein privilegierter Mann. Das muss man auf den ersten Seiten genau erkennen. Er war Bereichsdirektor eines multinationalen Konzernes, dem wir den Namen Contxx geben werden.“

Harper verwirrt: „Contxx? Wenn jemand Contex sagt, wie kann ich denn wissen, dass es Contxx heißt? Was für Namen überlegen Sie sich denn?“

Snyder schüttelt den Kopf und sagt weiter: “Er flog mit dem Flugzeug zu seinen Geschäftspartnern und fuhr mit der Reichsbahn in die Nähe der Front, um seinen Sohn zu besuchen. Er bewohnte mit seiner Familie eine große Maisonettewohnung, in einer Nobelgegend hier in Berlin. Er zahlte 2.900 Reichsmark Miete. Das war achtzehnmal so viel, wie ein durchschnittlicher Arbeiter verdiente.“

„Das Haus steht noch heute unversehrt dort, und es leben Menschen drinnen. Paulus besaß bis Ende 1939 ein Automobil. Er trank bis zu Letzt Bohnenkaffee, hatte ein Telefon und machte überhaupt nicht den Eindruck von den Nazis indoktriniert zu sein. Warum geht dieser Mann ein solches Risiko ein und dokumentiert chronologisch und akribisch genau die Bombennächte mit den entsprechenden Zerstörungen. Eugen Paulus war kein Nazi, und politisch nicht engagiert. Das beweist dieses Tagebuch an sich schon. Vielleicht wollte er wirklich, dass es als ein Stück Geschichte der Familie weitergegeben wird?“

Snyder hebt etwas die Schultern: „Paulus war schon ein Idealist. Er hat darin wahrscheinlich eine Verpflichtung gesehen. Vielleicht wollte er ja auch dieses Risiko. Ich meine nicht, weil er gierig nach Risiken war, sondern weil er ohne das Gefühl des Risikos, nicht wirklich etwas getan zu haben glaubte. Er wollte etwas tun. Etwas, dass ein Hauch von Widerstand oder etwas in dieser Art darstellen könnte. Und etwas tun bedeutete in dieser Zeit Lebensgefahr. Das wusste er genau. Paulus war kein Widerstandskämpfer, er hat lediglich ein Tagebuch geschrieben, mit verstecktem Text zwischen den Zeilen. Er war wahrscheinlich ins geheim stolz auf das was er tat. Stolz, weil er für eine Zeit nach dem Krieg, ohne NS Diktatur schrieb.“

Harper ergänzend: „Eine Zeit, in der es möglich würde, so hoffte und wusste er, in einem demokratischen und freiheitsliebenden Staat dieses Buch öffnen zu können, um seinen Inhalt zu verbreiten. Es war eine Sehnsucht, die ihm antrieb.“

Snyder nickt: Da haben Sie Recht. Aber dieser erste Satz aus dem Vorwort, der allein erfüllt den Tatbestand des Hochverrates nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten. Warum will Paulus jetzt noch anfangen Aufzeichnung zu machen und vor allem für wen. Vielleicht für eine Welt, in der die Nazis den Krieg gewonnen, und weiter geherrscht hätten? Ein sehr merkwürdiger Gedanke.“

Harper folgt dem Pfad: „Freisler hätte ihn vermutlich gefragt, was meinen Sie mit - jetzt noch anfangen -. Dieser Satz impliziert doch, dass jetzt noch Zeit dazu ist. Erwartete Paulus etwa eine andere Zeit nach dieser Zeit. Wie können wir das verstehen. Was will er mit einem Tagebuch mit einem solchen Satz im Vorwort? Er will es für eine Zeit nach dieser Zeit schreiben. Aber kein Wort darüber, dass die damalige glorreiche Zeit, genau die ist, die alternativlos in eine noch bessere Zeit führen wird.“

Snyder nickt und sagt: „Die NS Propaganda in Person von Joseph Goebbels ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie diesen Krieg gewinnen werden, um Europa und die Welt, von Juden, Kommunisten und anderen minderwertigen Rassen und Ideologien zu befreien.“

Harper leicht echauffiert: „Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?

Snyder: „Und weiter? Wie geht es weiter?“

Harper ertappt, muss sagen: „Weiß ich nicht. Aber Sie.“

Snyder winkt ab: „Nein, natürlich nicht. Aber ich kann es ablesen. Moment, . . . ja hier. Ist euer Vertrauen zum Führer heute größer, gläubiger und unerschütterlicher denn je? Ist eure Bereitschaft, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und alles zu tun, was nötig ist, um den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine absolute und uneingeschränkte? (. . .) seid ihr bereit, von nun ab eure ganze Kraft einzusetzen und der Ostfront die Menschen und Waffen zur Verfügung zu stellen, die sie braucht, um dem Bolschewismus den tödlichen Schlag zu versetzen? (. . .) gelobt ihr mit heiligem Eid der Front, dass die Heimat mit starker Moral hinter ihr steht und ihr alles geben werdet, was sie nötig hat, um den Sieg zu erkämpfen? (. . .) wollt ihr, insbesondere ihr Frauen selbst, dass die Regierung dafür sorgt, dass auch die deutsche Frau ihre ganze Kraft der Kriegsführung zur Verfügung stellt und überall da, wo es nur möglich ist, einspringt, um Männer für die Front frei zu machen und damit ihren Männern an der Front zu helfen? (. . .) billigt ihr, wenn nötig, die radikalsten Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und Schiebern, die mitten im Kriege Frieden spielen und die Not des Volkes zu eigensüchtigen Zwecken ausnutzen wollen? (. . .) seid Ihr damit einverstanden, dass, wer sich am Krieg vergeht, den Kopf verliert?“

Nach einer kleinen Pause fährt Snyder etwas weniger pathetisch fort: „Zu allen diesen Fragen hat das im Sportpalast anwesende Volk, mit einem klaren ja geantwortet. Dann sangen sie alle zusammen. Führer befiel, wir folgen. Und Goebels antwortete. Nun Volk steh auf, und Sturm brich los.“

Plötzlich klopft es an der Zimmertür und Harper steht auf, um zu öffnen. Der Zimmerservice in Form einer schlanken, nicht mehr ganz so jungen, dunkelblonden Frau betritt den Raum. Snyder taxiert sie auf Mitte vierzig, etwa 1.64 groß und ca. 54 kg schwer. Ihre Haut hat einen natürlichen mittelbraunen Teint, und ihr Haar ist sehr wahrscheinlich dunkelblond gefärbt. Gekleidet mit blauem Rock und weißer Bluse der Hoteluniform, auf deren linker Brusttasche ein Namensschildchen angebracht ist. Dort steht unter dem Hotelschriftzug handschriftlich Celina Giordano geschrieben.

Mit eleganten Schritten und einem den Raum erleuchtenden Lächeln, schiebt sie einen kleinen Servierwagen vor sich her. Snyders Höflichkeit verpflichtet ihn aufzustehen, wenn eine Dame den Raum betritt. Und da unterscheidet er nicht. Alle begrüßen sich freundlich und Snyder geht ein paar Schritte in ihre Richtung. Es liegt ein Hauch von Verlegenheit in der Luft. Aber es liegt auch noch etwas Anderes in der Luft. Ein Moment lang ist Snyder etwas verwirrt, weiß aber nicht wovon. Zu Glück entdeckt er sofort ein halbes Dutzend appetitlich hergerichtet Sandwiches. Beide Männer bedanken sich höflich, und Harper überreicht geübt diskret noch einen Geldschein. Die Frau bedankt sich, und verlässt den Raum wieder.

Snyder fragt mit skeptischer Mine: „Haben Sie das eben bemerkt?“

„Bemerkt? Was meinen Sie“?

„Sie müssen es doch bemerkt haben. Es ist immer noch im Raum verteilt. Ich gebe zu, es ist nur wenig mehr davon da. Es ist ihr Duft, Harper. Es ist dieser Duft, das Parfum meine ich. Das kenne ich. Das kenne ich genau. Wir hatten mal einen Mordfall. Ein Mann wird nackt und tot im Bett eines Hotels in Süd Manhattan gefunden. Er wurde von hinten mit einer entsprechend präparierten Drahtschlinge erdrosselt. Er lag mit dem Kopf nach unten in den Kissen. Als die Leiche weggenommen wurde, bemerkten wir diesen Geruch, der aus den Kopfkissen emporstieg. Eine Kollegin machte mich darauf aufmerksam, dass es sich um einen sehr teuren Duft handeln würde. Sie hatte schon einmal eine Untersuchung von Damendüften gemacht. Am Ende wurde der Fall gelöst. Eine Gruppe Experten hat genau herausbekommen was für ein Duft das war. Ich hatte eine Probe bekommen und häufig vergleichen müssen. Diesen Geruch vergesse ich nicht. Das ist Clive Christian - No.1 for Women. Ich schätze mal, dass 30 Ml. hier etwa 4.500 Dollar kosten.“

Harper ist überrascht und sagt lediglich: “Wie bitte? Sie machen Witze Snyder.“

„Ich mache keine Witze.“

„Und das können Sie mit Gewissheit sagen.“

„Ja, das kann ich. Wie kommt diese Frau an ein so teures Parfum. Ich meine, es ist mir eigentlich egal und geht mich nichts an. Aber von ihrem Lohn hätte sie es nicht kaufen können, denke ich.“

„Sie sind ja ein Teufelskerl, Snyder. Sie riechen etwas und schon haben Sie einen neuen Fall. Was glauben Sie. Hat sie einen Freund, Mann oder Liebhaber, der ihr so etwas schenkt. Oder hat sie gerade eine Probe irgendwo herbekommen.“

„Das weiß ich nicht. Es passt nur nicht so richtig zusammen, verstehen Sie?“

Dann erreicht Snyders Blick die Sandwiches. Er würde ja gerne sofort eins davon vertilgen, aber in der Zurückhaltung liegt auch eine Kraft, denkt er sich. Dieses Kochschinkensandwich, mit dem Ketchup und der Remouladensoße, die an den Seiten herausquillt, lässt ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Harper hebt den Blick und sagt: „Eugen Paulus begann im Januar 1944 mit dem Schreiben. Aufzeichnungen über die Bombennächte hatte er schon seit deren Beginn gemacht. Was hat ihn dazu bewogen, jetzt endgültig damit zu beginnen? War es Hitlers Radioansprache am 30. Januar 1944 um 12:00 Uhr mittags, zur Feier des 11. Jahrestages der Machtergreifung. Oder wollen Sie doch lieber erst ein Sandwich essen?“

Während Snyder mit dem Essen beschäftigt ist, redet Harper weiter: „Und ich zitiere wörtlich aus dieser Ansprache. In diesem Kampf kann es nur einen Sieger geben, und das wird entweder Deutschland oder Sowjetrussland sein. Der Sieg Deutschlands bedeutet die Erhaltung Europas und der Sieg Sowjetrusslands seine Vernichtung.“

Harper denk einen Moment nach, und sagt: „Einen Moment noch, sonst vergesse ich was mir gerade durch den Kopf geht. Vielleicht war es aber auch die Ansprache am selben Tag von diesem General Walther von Seydlitz aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Natürlich war diese Ansprache nicht im Drahtfunk zu hören. Er sagte, dass die 6. Armee in Stalingrad zugrunde ging, weil sie auf Befehl Hitlers in aussichtsloser Lage einen militärisch sinnlosen Widerstand fortsetze. Hunderttausende von Kameraden wurden geopfert. Es ist nicht unehrenhaft, sondern ein Gebot der Erhaltung des Volkes, wenn verweigert würde den Krieg in derart aussichtsloser Lage weiterzuführen. Man sollte sich nicht auf haltlose Versprechungen verlassen. Dann sagte er noch, dass sie das Vermächtnis der toten Kameraden von Stalingrad erfüllen würden, wenn sie euch den Weg zur Rettung weisen. Die Überlebende von Stalingrad sind diesen Weg vorausgegangen, folgt ihnen zur Errettung und zur Erhaltung unseres Volkes.

Snyder bemerkt stirnrunzelnd dazu: „Dieser Seydlitz war ein Verräter für beide Seiten. Stalin muss ihn deshalb verachtet haben, und Hitler wollte ihn tot sehen. Er ging im Januar 1943 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Er buhlte um die Gunst Stalins, und schlug vor mit freiwilligen deutschen Soldaten, ein Korps von 40.000 Mann zu gründen, um in den Kampf gegen Hitler zu ziehen. Stalin lehnte ab. Im Herbst 1955 wurde Seydlitz in die BRD entlassen. Das Landgericht Verden in Niedersachsen hob erst 1956 das von Adolf Hitler erteile Todesurteil auf.“

Mit abwinkender Bewegung sagt Harper: „Ich glaube nicht, dass es die Ansprachen Hitlers oder gar der 11 Jahrestag war, die ihn motiviert haben. Vielleicht fühlte er sich etwas sicherer als noch 12 Monaten davor. In Berlin konnte man sehen, wie stark der Feind war und wie die Wahrscheinlichkeit kleiner wurde, das tausendjährige Reich zum Sieg zu führen. Paulus entschied jetzt zu beginnen, und wir wissen nicht warum.“

Harper gießt sich eine Tasse Kaffee ein und Snyder sagt: „Ich glaube, wenn dieses Kriegstagebuch wirklich interessant für potentielle Leser werden soll, dann sollte darum herum eine Geschichte geschrieben werden. Da muss was hineingeschrieben werden.“

Harper blickt in fragend an: „Eine Geschichte? Was meinen Sie mit einer Geschichte“.

Snyder Nimmt noch einen Schluck Kaffee, steckt sich eine weitere Zigarette an, bläst den Rauch in den Raum und sagt: „Zum Beispiel könnte jemand das Buch lesen und seinen Namen darin finden. Paulus nennt viele Namen. Derjenige könnte vielleicht sagen, dass er zu diesem Zeitpunkt längst in die USA emigriert war. Also warum nennt der meinen Namen. Oder es steht ein Geheimnis in diesem Buch. Ein Geheimnis, dass irgendwie wertvoll ist. Zum Beispiel wusste seine Sekretärin über dieses Buch Bescheid, weil er es im Tresor von Contxx aufbewahrte. Als sie eines Tages in seiner Abwesenheit darin gelesen hat, stößt sie auf etwas. Zum Beispiel auf den Hinweis zu dem Ort wo Paulus seine Wertgegenstände hingeschafft hatte, bevor sie den Bomben zum Opfer fallen könnten. Vielleicht hatte er ja auch ein Verhältnis mit seiner Sekretärin, und hat sie eingeweiht in das Tagebuch. Sie aber war ein Miststück und hat ihn betrogen, in dem sie ihr Wissen nutzte. Sie holte sich die Wertgegenstände und verschwand mit ihnen. Nach Kriegsende kam Paulus an den Ort des Verstecks, und alles war weg. Er hatte sie sofort in Verdacht. Aber, auch sie war weg.“

Harper winkt ab: „Hören Sie auf Snyder. Paulus war doch kein Typ, der ein Verhältnis mit seiner Sekretärin angefangen hätte. Ja, Sie hätten das gemacht, aber doch nicht er“.

Snyder weist zurück: „Wieso hätte ich ein Verhältnis mit meiner Sekretärin angefangen sollen. Ich kann mich gar nicht erinnern je eine gehabt zu haben. Außer Mildred. Aber Mildred war keine Frau, mit der man ein Verhältnis haben würde. Sie war fett, nett und sehr fleißig. Das war mir wichtiger als, . . . na ja, Sie wissen schon. Wir haben so ein Sprichwort. Stecke nie deine Feder in firmeneigene Tintenfässer.“

Snyder fragt interessiert: „Hatten Sie ein Verhältnis mit Ihrer Sekretärin, Harper.“

Harper erwidert: „Aber natürlich. Und ich habe teuer dafür bezahlt. Und Paulus, falls wir ihn mit einem Verhältnis mit seiner Sekretärin in diese Geschichte schicken, wird ebenfalls teuer dafür bezahlen. Die kostbaren Bilder, der Schmuck, und wer weiß was noch für Sachen, die nach Kriegsende überraschend weggeschafft wurden. Genauso wie seine Sekretärin, die ist auch verschwunden.“

Snyder schaut auf, schluckt einen Bissen herunter: „Aber sie wurde doch nicht weggeschafft?“

Harper besänftigt: „Nein, nein. Er ist in ihre Falle geraten. In die Falle einer Frau zu laufen ist nicht schwer, müssen Sie wissen. Ist es Ihnen nie passiert, dass Sie von einer Frau enttäuscht wurden, Snyder?“

Snyder verdreht etwas die Augen: „Ich bitte Sie, Mister Harper. Ein Mann, der nicht in der Falle einer Frau war, hat das Wichtigste im Leben nicht gelernt.“

Harper interessiert: „Ach ja, und was ist das Wichtigste?“

Snyder überzeugend: „Das Lügen.“

Harper lacht dezent und sagt: „Ich sage Ihnen jetzt wie die Geschichte weitergeht. Paulus kommt natürlich nicht direkt darauf, dass diese Frau ihn bestohlen hat. Aber an dem besagten Ort hat man ihm Auskunft darüber gegeben, dass zwei Tage bevor die Frontlinie dort war, zwei Personen in SS Uniform und eine Frau gekommen sind und Gegenstände aus dem Haus geholt haben. Sie kamen mit einem Kübelwagen. Mehr wusste niemand. Paulus denkt darüber nach. Wer konnte das denn überhaupt wissen. Und dann kommt er auf seine Sekretärin. Aha, denkt er und beginnt auf hoher Ebene Nachforschungen über sie anzustellen. Er bekommt heraus, dass sie sich in einem mondänen Ort an der Côte d'Azur niedergelassen hat. Sagen wir über die Meldebehörden, hat er es herausbekommen. Als er wieder mal einen Geschäftstermin in der Schweiz hat, macht er einen kleinen Abstecher an diesen damals wie heute extravaganten Ort. Und dort kommt es zum Showdown. Was sagen Sie, Snyder?“

Snyder gähnt hinter vorgehaltener Hand und sagt: „Ich bin müde.“

Er schlägt vor an dieser Stelle aufzuhören. Harper bestellt für Snyder ein Taxi, und sie verabreden sich für Morgenvormittag hier.



Böser Verdacht

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