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Kapitel 2

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Donnerstag 12. April 2012 kurz nach null Uhr.

Das Taxi hält vor Snyders Hotel, nachdem die Fahrt nur 10 Minuten gedauert hat. Bevor er die Lobby betritt, beschließt er noch eine Runde in dem Parkt zu gehen, der ein Block weiter gelegen ist. Er hatte ihn schon vormalig gesehen, aber nicht in diesem Licht. Es ist eine leicht windige, halbbedeckte, schon nach Frühling riechende, trockene Nacht. Der Neumond ist gut zu erkennen, zwischen den unter ihm vorbeiziehenden dunkelgrauen Wolken. Ihr Weiß, zeichnet sich nur an den Rändern ab, dort wo das Licht einen Weg hindurch findet. Dabei malen sie skurrile Umrisse in den Himmel, die in ständiger Bewegung und Veränderung sind.

Er setzt sich auf eine Parkbank, neben einer müd leuchtenden Laterne. Es ist frisch hier draußen, aber trotzdem öffnete er die Knöpfe des Jacketts. Morgen Nacht wird es in Nordamerika eine Mondfinsternis geben. Das weiß Snyder. Es ist allerdings nicht so, dass er sich für den Mond oder andere astronomische oder gar astrologische Zusammenhänge interessieren würde. Nein. Es ist diese Frau, die ihn interessiert. Sie heißt Susan und er lernte sie vor zwei Wochen im Valentines Mexican Food Restaurant in San Diego kenne. Snyder hat San Diego schon vor fünf Jahren zu seiner Home Base gemacht und ein Appartement auf der Market Street gemietet. Nette Menschen, warmes Klima und gutes mexikanisches Essen.

Susan erzählte ihm, dass sie auf der ganzen Welt astronomischen Ereignissen hinterher reist und Berichte für einige Internetportale schreibt. Das ist ihr Hobby. Sie lebt vom Vermögen, dass ihr Mann mit Immobilien gemacht hatte, aber leider vor zwei Jahren bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Snyder erzählte ihr, dass er freiberuflicher Berater für private Sicherheitsunternehmen sei. Es stünde eine Reise nach Berlin an, aber wenn er wieder in San Diego ist, wird er sie sofort aufsuchen. Susan ist jeden Donnerstag zum Lunch im Valentines. Ihr Psychologe hat seine Praxis in der Market St. Snyder versprach sie im Valentines wieder treffen zu werden. Und das wird er auch tun, denn er ertappt sich bei dem Wunsch heute Abend bei ihr sein zu wollen, und das löst den Flug der Schmetterlinge in seinem Laib aus.

In dem Moment, als Snyder sich mit diesem Glück bringenden Gefühl im Bauch vertraut macht, setzt sich ein Mann links mit etwas Abstand neben ihn auf die Bank. Snyder ist überrascht, und kann gar nicht glauben, gerade so vertieft in den Gedanken an Susan gewesen zu sein. Aber er hat ihn tatsächlich nicht kommen sehen. Der Mann ist alt, klein und schmächtig. Er trägt einen dunkelgrauen Mantel, schwarze gepflegte Schuhe, und einen schwarzen Hut. Keinen Bart. Er trägt Handschuhe. Leise und gelassen sagt er: „Guten Abend Mister Snyder. Mein Name ist Kowalski, und ich möchte Ihnen vorsorglich sagen, dass ich nicht zufällig hier bin.“

Snyder dreht sich zu ihm, schaut ihn jetzt genau an und erwidert fragend: „Mister Kowalski? Mister Leonard Kowalski?“

Der Mann lacht leise und schüttelt den Kopf: „Nein, nein, das bin ich nicht. Ich bin Viktor Kowalski, sein Großvater, wenn Sie verstehen was ich meine.“

Snyder überlegt einen Moment: „Nein, verstehe ich nicht.“

Viktor Kowalski erklärt: „Mister Snyder. Mit dem Jungen ist kein großer Staat zu machen. Sein Vater ist früh verstorben, und hinterließ eine bankrotte Firma. Seine Mutter fand schnell einen neuen Mann, und hat den Rest des Geldes schnell verwirtschaftet. Ich kümmere mich seitdem um den Jungen. Und dann erfuhr ich das mit diesem Tagebuch. Ich erfuhr, dass er diesen Deal hier in Berlin gemacht hat, und ich erfuhr von Ihnen, Mister Snyder. Deshalb sitze ich hier.“

Snyder holt seine Zigaretten heraus, steckt sich eine an und fragt: „Was heißt, Sie erfuhren von mir?“

Der Wind weht den Rauch in Richtung Kowalski, der ein weißes Taschentuch aus dem linken Ärmel holt, und es sich wortlos vor die Nase hält. Dann tupft er sich vornehm dem Mund ab, steckt es wieder weg und sagt: „Ich möchte Ihnen etwas erzählen Mister Snyder, und keine Erklärungen abgeben. Wenn Sie das Tagebuch des Eugen Paulus lesen, werden Sie feststellen, dass für den 20. Januar 1943 kein Eintrag vorliegt. Aber ich gehe davon aus, dass er genau wusste, was an diesem Tag passiert ist. Er schien gut informierte zu sein.“

Kowalski macht eine kleine Pause, schaut Snyder an und sieht, dass er es nicht weiß: „Okay Mister Snyder ich werde es Ihnen erzählen. Ich wurde 1930 in Warschau geboren. Als die Nazis die Macht in Deutschland 1933 ergriffen, war ich drei Jahre alt. Als meine Heimat Polen vor der Deutschen Wehrmacht 1939 kapitulierte, war ich neun Jahre alt. Wir wurden im November 1940 in das Warschauer Ghetto umgesiedelt. Meine Eltern, beide Juden, überlebten das Ghetto nicht. Und ich war dreizehn Jahre alt, als mir am 8. Mai 1943 die Flucht durch die Abwasserkanäle, hinaus aus dem lichterloh brennenden Ghetto, gerade noch gelang. Ich war dreizehn Jahre alt, und völlig alleine auf der Welt. Aber ich war kein Kind mehr. Dann zog es mich nach Amerika. Die Überlebensschule Warschauer Ghetto, gepaart mit den Erfahrungen in der Kampforganisation des jüdischen Widerstandes, empfand ich als gute Empfehlung für den amerikanischen Arbeitsmarkt. Und so war es auch. Alles was ich wollte, habe ich erreicht.“

Snyder nutzt Kowalskis Redepause: „Warum erzählen Sie mir das, Mister Kowalski?“

Kowalski antwortet sofort: „Ich habe gewusst, dass Sie mich das fragen würden. Ich möchte Ihr Wissen erweitern. Sie werden etwas in diesem Tagebuch suchen. Und Sie werden Fragen stellen. Und ich will Ihnen noch etwas erzählen. Etwas, das Ihr Bild der Zeit der NS Diktatur in diesem Land etwas vervollständigt. Sind Sie damit einverstanden?“

Snyder zögert einen Moment und sagt: „Ja natürlich, ich bin einverstanden.“

Viktor beginnt: „Ich war neun Jahre alt geworden, und der zweite Weltkrieg war zu diesem Zeitpunkt gerade 27 Tage alt, als der Begriff des Blitzkrieges geboren wurde. Der Blitzkrieg hat die deutsche Wehrmacht, seinen Führer, das deutsche Volke und seine Feinde völlig elektrisiert. Und wir haben ihn erlebt, diesen Blitzkrieg. Die deutschen Wochenschauen im sicheren Berlin, überschlugen sich mit der Verherrlichung der unbesiegbaren deutschen Soldaten. Im Handstreich wurde der Weg nach Warschau freigeräumt. Es wurde wie ein Wochenendausflug der Wehrmacht dargestellt. Sie sollten eher wie Pfadfinder, als Kampftruppen dahergekommen sein. Aber Hitler, so steht es in Protokollen geschrieben, hatte in einer kleinen Runde im Vorfeld des Überfalles gesagt, dass die Stärken der deutschen Wehrmacht, die Schnelligkeit und die Brutalität, sei. Dazu die Totenkopfverbände, damit war die SS gemeint, sollten mitleidlos Mann, Weib, und Kind polnischer Abstammung unbarmherzig und brutal in den Tod schicken. Das ist der einzige Weg, um den Lebensraum zu gewinnen, den das deutsche Volk braucht. Und genau so kam es dann auch.“

Der Mann dreht sich kurz zu Snyder, schaut ihn an, und fährt etwas heiser geworden fort: „Mit dem ersten Tag des Überfalls auf Polen begann der Terror gegen die Bevölkerung meines Landes. Der Widerstand der polnischen Soldaten, wurde als lästig und fast respektlos gegenüber der Herrlichkeit der deutschen Armee dargestellt. Im Oktober 39, endete die Existenz Polens dann auch, und es begann die völlige Unterwerfung meines Volkes. Der deutsche Rassenwahn stufte die Polen in den Bereich der Untermenschen ein und darunter kamen wir die Juden.“

Der Mann holt jetzt ein Asthmaspray aus der Tasche, setzt es an, und sprüht sich etwas Hydrocortison in den Rachen. Dann holt er zweimal Luft und spricht, während er das Gerät in den Händen behält mit etwas deutlicherer Stimme weiter: „In Warschau wurde ziemlich schnell mit der Errichtung des jüdischen Wohnbezirkes, wie das Warschauer Ghetto von den deutschen Besatzungsmächten genannt wurde, begonnen. Dann fingen auch die Verfolgung und Misshandlung der polnischen Juden im öffentlichen Raum an. Jüdische Geschäfte wurde gekennzeichnet und Verbote aller Art für Juden ausgesprochen. Man nahm uns unser behütetes Heim mit meinem Kinderzimmer weg, und wir zogen in das alptraumhafte Ghetto. Mein Vater verlor seine Stellung beim Warschauer Rathaus, und er bläute mir ein den Davidstern auf meiner Binde gut sichtbar am rechten Oberarm immer zu tragen. Wer das nicht tat oder vergessen hatte, wurde sofort erschossen oder erschlagen. Das sagte er, und als Neunjähriger verstand ich sehr gut was er meinte. Denn er gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich einen Deutschen Wehrmachtsangehörigen vorschriftsmäßig grüßen musste, weil ich sonst womöglich sofort misshandelt oder erschossen würde. Ich verstand das, und hielt mich daran. Der Terror war perfekt und die Angst, die damit erzeugt wurde war grenzenlos. Ich habe dutzende von Misshandlungen und Erschießungen auf den Straßen des Ghettos gesehen. Immer mehr Juden wurden in das Ghetto deportiert, und es wurde ständig voller, enger und schmutziger. Wir lebten zunächst mit einer weiteren, uns bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannte Familie in einem Zimmer. Sie hatten eine Tochter in etwa meinem Alter, die allerdings sehr bald verschwunden war. Sie kam eines Abends nicht mehr, und auch später nicht. Ihre Eltern redeten nicht mit mir. Aber mit meinen Eltern schon.“

Der Mann räusperte sich, holt sein Taschentuch erneut hervor, tupft Mund seinen ab, und fährt fort: „Wir hatten keine medizinische Versorgung, keine sanitären Einrichtungen, kaum Wasser und fast nichts zu essen. Auf nur 4 Quadratkilometern, innerhalb der Straßen Stawik, Sienna, Okopowa - Zelazna und Andersa, mussten bis zu 400.000 Menschen zusammengepfercht leben. Noch vor Kurzem war hier alles ganz normal gewachsen. Die Menschen gingen ihren Gewohnheiten nach. Sie liebten, arbeiteten, feierten, trauerten und beteten wie sonst überall auf der Welt, mehr oder minder unbescholten, auch in dieser Stadt. Und plötzlich wurde in teuflisch feuerrote Glut getaucht, was gerade noch ein normaler Lebensraum für Menschen war. Und dann, es war in einer Novembernacht 1940, wurde um diesen Stadtteil von der NS Verwaltung eine 18 Kilometer lange und über drei Meter hohe mit Stacheldraht gespickte Mauer gezogen. Das Ghetto war nun perfekt.“

Der Mann blickt auf seine Hände. Links das Hydrocortison und rechts ein weißes Tuch: „Es wurde jetzt sehr schwer für mich, denn jetzt kamen wir nicht mehr so leicht hinaus, um uns etwas Essbares zu besorgen. Mein Vater war an diesem Tag krank, und blieb im Bett. Meine Mutter begleitete mich, da vergas sie eine SS Patrouille zu grüßen. Sie wurde schrecklich beschimpft, geschlagen und sie nahmen sie einfach mit. Starr vor Angst blieb ich zwischen den anderen Anwesenden stehen, und meine Mutter bot der SS keinen großen Widerstand. Sie drehte noch zwei Mal den Kopf zu mir, und verschwand von der SS verschleppt um die nächste Ecke. Ich habe sie nie wiedergesehen. Mein Vater machte sich größte Vorwürfe, dass er sie hat gehen lassen. Ich war zehn Jahre alt, und konnte dazu nichts Erklärendes sagen. Ich war nur geschockt.“

Kowalski sprüht sich noch einmal Hydrocortison in den Hals, und fährt fort: „Und dann wurde eine bahnhofähnliche Gleisanbindung nah dem Ghetto von den Nazis gebaut und zum Umschlagplatz ernannt. Die Umstände im Ghetto waren besonders gut geeignet für die Verbreitung von Epidemien wie Typhus, Gelbfieber und anderen schweren Krankheiten, für die es hier keine Heilung gab. Mein Vater erholte sich nicht mehr von seiner Krankheit, und verstarb im Februar 1941. Monatlich starben damals bis zu sechstausend Menschen an Unterernährung, unbehandelten Krankheiten oder durch Gewalt der SS. Diese verbreitete Angst und Schrecken. Wer ihnen begegnete, war seines Lebens nicht mehr sicher. Die SS Männer kamen vom Töten besessen daher und konnten ihren Gewaltphantasien an diesem Ort, später auch an anderen Orten, freien Lauf lassen.“

Snyder kann erkennen, dass die Hände des Mannes plötzlich zittern. Aber er beruhigt sich wieder und redet weiter: „Und dann veränderte sich etwas. Aus den Bewegungen des Linkszionismus und den nicht religiösen jüdischen Sozialisten, entstand eine neue Jugendbewegung, die auf den Widerstand gegen die Nazis setzten. Ich wurde eines ihrer jüngsten Mitglieder. Aber zunächst konnten wir nur hilflos mit ansehen, wie die jüdische Gemeinschaft in ein Chaos des Schreckens versank. Bevor die Tore des Warschauer Ghettos abgeriegelt wurden, hat Hitler unzählige repressive Maßnahmen gegen die Juden erlassen. Juden durften nicht mehr als 2.000 Zloty besitzen und nicht mehr als 500 Zloty im Monat verdienen. Hitler ordnete die Einsetzung eines Judenrates an, um Anordnungen besser verbreiten zu können. Zum Beispiel, dass es Juden strengstens verboten war Brot zu backen. Im März 1940 kamen die Nazis auf die Idee tausenden, armen und ebenfalls verfolgten und hungernden polnischen jugendlichen 4 Zloty pro Tag zu zahlen, wenn sie dafür so viel Juden wie möglich verprügeln würden.“

Kowalski tupft seine Mundwinkel erneut ab, als hätte er einen Fausthieb bekommen: „Diese Aktionen riefen den ersten Widerstand unserer Gruppe auf den Plan und wir hatten mit denen große Straßenschlachten im Ghetto. Die Bedingungen dort waren mit dem Wort miserabel schöngeredet. Wir riskierten jeden Tag und jede Nacht unser Leben, um Essbares ins Ghetto zu schaffen. Suppenküchen wurden installiert, um die ein wenig zu sättigen, die sich nicht selber helfen konnten. Schulen und Theatergruppen wurden gegründet, um die Kultur nicht gänzlich aussterben zu lassen. Nur eine Minderheit dachte zu diesem Zeitpunkt an Widerstand. Die meisten wollten das hier nur überleben. Im Verlaufe des Jahres 1941 drang durch, dass 40.000 Juden aus Lodz, eben so viel aus Pommern vergast worden seien. Später gab es Gerüchte, das Ghetto in Lublin sei komplett liquidiert worden. Der Widerstand fand aber immer noch keinen größeren Anklang. Wobei man ganz deutlich erkennen konnte, dass es hier nichts zu überleben gab.“

Kowalski macht eine kurze Atempause, und berichtet weiter: „Im Juli 1942 erhielt der Judenrat von den Nazis den Befehl, alle nicht arbeitsfähigen Juden sollen sich in den nächsten zwei Tagen auf dem Umschlagplatz einfinden. Gerüchte hatten längst die Runde gemacht, dass dort ein Zug nach Treblinka stehen würde. Das hieß sterben zu müssen. Das wusste auch ein Zwölfjähriger. Ich erinnere mich nur, dass ich an diesen zwei Tagen, das tat, was ich immer tat. Ich war noch ein Kind, und fand nicht die Aufmerksamkeit der Erwachsenen, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Sie müssen wissen, ich kannte das Ghetto und die Logistik der Versorgung sehr gut. Dann sprach sich herum, dass ukrainische Hilfstruppen der SS, im Rahmen ungeheuerlicher Gewaltexzesse, die kranken und hungernden Menschen in die Viehwaggons prügeln würden. Kein Vieh der Welt, wurde mit so aggressiver Gewalt behandelt, wie wir Juden auf den Umschlagplätzen der Ghettos. Später erfuhr ich, dass über 60.000 Juden in diesen zwei Tagen zur Vernichtung nach Treblinka geknüppelt wurden. So ging es dann mit den Deportationen weiter, bis im September 1942 nur noch 55.000 Juden im Ghetto zurückblieben. Da war ich froh, dass mein Vater an einer Krankheit verstorben war, und nicht ermordet wurde. Und meine Mutter? Ich weiß es nicht. Aber, ich war am Leben. Ich war zwar immer hungrig, aber nicht krankt, sogar ziemlich agil.“

Kowalski unterstreicht seine Worte mit dem Ballen der rechten Faust, aus der nun das weiße Tuch hervorquillt. In der linken hält er das Hydrocortison, er kann sie nicht ballen: „Dann im Oktober 1942 wurde die Kampforganisation Zydowska Organizacja Bojowa mit ihrem Kommandanten Mordechaj Anielewicz und seinem Stellvertreter Marek Edelman gegründet. Es gab noch andere Jugendliche wie mich in dieser Gruppe. Und es ging nicht um Schnitzeljagd, sondern um Leben oder Tod. Oder eher darum, wie dem Tod zu begegnen sei. Die Chance zu überleben, schätzten wir kleiner als klein ein. Zunächst hatten wir außer einem Gewehr keine Schusswaffen. Der Versuch Waffen beim polnischen Untergrund zu beschaffen, schlug fehl. Doch im Dezember 1942 erhielten wir doch 10 Pistolen vom polnischen Widerstand. Nun konnten wir die erste große Aktion für den 22. Januar 1943 vorbereiten. Allerdings kam uns eine weitere Welle der Liquidierung durch SS Truppen, schon am 12. Januar zuvor. Nur dieses Mal war das für die Nazis anders. Unsere Gruppe grub Bunker an der Kreuzung Milastraße/Zamenhofstraße und schoss aus vielen Rohren auf die SS Truppen. Wir verloren dabei einen Teil der Kämpfer, doch Mordechaj Anielewicz überlebte. Wir mussten unsere Strategie ändern. Man entschied sich für die Partisanentechnik, um erfolgreich gegen die SS kämpfen zu können. Nun war das Ghetto begeistert von diesen Widerstandshandlungen. Die Zahl der Widerstandswilligen explodierte geradezu. Die Gruppe kommandierte bald das ganze Ghetto, übernahm die Finanzen des Judenrates und kaufte mit diesem Geld weitere Waffen. Auch der polnische Untergrund erfuhr von diesen Aktionen und übermittelten sehr schnell 50 großkalibrige Pistolen und eben so viel Handgranaten. Wir führten ab jetzt Sabotageaktionen durch, verjagten jüdische Nazikollaborateure und sorgten somit für einen neuen Lebensmut im Ghetto. Die Nazis merkten sehr schnell, dass sie mehr Gewaltpotenzial gegen die verbliebenen Juden auffahren mussten.“

„Mit ihrer Aktion im April 1943, wollte die SS dem Führer zum Geburtstag, ein judenfreies Warschauer Ghetto schenken. Die Bewaffnung der wenigen hundert Widerstandskämpfer bestand vornämlich aus Pistolen, Handgranaten, Molotowcocktails, einem Maschinengewehr, Äxten, Messern, Knüppeln und Fäusten. Die Nazis umstellten das Ghetto mit zahlreichen Maschinengewehren. Dann brachen sie mit einem Bataillon Panzergrenadiere, einer Kavallerieabteilung der Waffen SS, zwei Artillerieabteilungen, einer Pionierabteilung der Wehrmacht, einer Gruppe Sicherheitspolizei, einem Bataillon der SS Schule Trawniki, und einer ukrainischen und lettischen Hilfstruppe in das Ghetto ein. Aber sie hatten die Widerstandskämpfer unterschätzt. Am Ende des Kampfes hatten über 200 SS Soldaten ihr Leben verloren und die anderen zogen sich gegen Mittag des nächsten Tages aus dem Ghetto zurück. Unser Jubel war in der ganzen Stadt zu hören.“

Zunächst kam ein Lächeln über sein Gesicht, doch dann wurde er sofort wieder ernst, und er blickt Snyder jetzt genau an: „Die Nazis entschieden sich dazu das ganze Ghetto in Brand zu setzen. Hunderte verloren in dem Feuer ihr Leben, aber wir kämpften weiter. Wir brauchten, so hat man uns zu verstehen gegeben, keine Gedanken ans Überleben zu verschwenden, so wie die Nazis es machten mussten. Unser Todesurteil war längst gesprochen. Und egal ob wir kämpfen würden oder nicht, man würde uns trotzdem alle töten. Wir wollten der Welt mitteilen, dass sich niemand wehrlos zu einer Schlachtbank führen lassen darf. Ein Gedanke, der uns die Angst zwar nicht nahm, sie aber veränderte.“

„Doch im Mai 1943, kam das Ende des Widerstandes. Deutsche und ukrainische Einheiten umzingelten unser Hauptquartier in der Milastrasse 18. Es waren kaum mehr als 120 Widerstandskämpfer anwesend. Das Ghetto um sie herum war fast komplett niedergebrannt. Über zwei Stunden schossen die Nazis auf unsere Stellung ohne Erfolg. Dann setzten sie Gasbomben eine. Aber keiner konnte sich den Nazis ergeben. Das war nicht mehr möglich. Marek Edelman und eine Handvoll Kämpfer schafften es durch die Kanalisation aus dem Ghetto zu entkommen. Und von da an, mit dreizehn Jahren, begann ich mein Leben selbst in die Hände zu nehmen. Und nun Mister Snyder, muss ich mich leider von Ihnen verabschieden.“

Plötzlich kommen aus dem Nichts zwei stattliche Männer in dunklen Anzügen, grüßen freundlich mit tiefen Stimmen, und helfen Viktor aufzustehen. Zwei schwarze Limousinen kommen auf dem Parkweg, verbotenerweise vor die Bank gefahren, und stoppen. Victor dreht sich noch einmal um und nickt ihm zu. Dann steigt er ein und sie fahren fast geräuschlos davon. Mit den gerade gehörten Sachen im Kopf geht Snyder nun Richtung seines Hotels und betritt die Lobby. Er fährt mit dem Lift in den vierten Stock, öffnet mit der Schlüsselkarte sein Zimmer und schließt die Tür hinter sich wieder ab.



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