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Kapitel 1: Brahms

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Wenn Joseph Bergholtz operiert, wird nicht geredet. Kein Kliniktratsch, keine Abenteuergeschichten vom letzten Wochenende, kein Geplänkel unter den Assistenten, keine Witze, nur kurze Ansagen und Kommandos – das Nötigste. Im Hintergrund läuft klassische Musik, Tschaikowsky manchmal, Verdi, Richard Strauss, darunter die disziplinierten Stimmen von Beatmungsgerät und EKG-Monitor. Heute ist es Brahms, das erste Klavierkonzert in d-moll, gespielt vom noch jungen Daniel Barenboim und dem Orchester von St.Martin-in-the-Fields – Bergholtz liebt Brahms. Über dem bedrohlichen Paukenwirbel zu Beginn des ersten Satzes zuckt das F-Dur-Thema verstörend hin und her, als der Professor an den schon aufgeschnittenen Körper der 32-jährigen Patientin herantritt; die ersten Inzisionen, die Eröffnung der Bauchhöhle nimmt immer ein erfahrener Assistent vor oder ein Oberarzt, während der Chef noch seine Runde durch die übrigen Operationssäle macht und sich dann erst im Vorraum wäscht und steril ankleiden lässt. Bei der Frau auf dem Tisch handelt es sich um eine Verkäuferin, Mutter eines kleinen Sohnes, der die Metastasen eines bösartigen Hauttumors schon große Teile der Leber zerstört haben (das maligne Melanom ist, wenn man so will, ein König der Bösartigkeit.) Ihr eigener Arzt hat sie nach Monaten der wirkungslosen Chemotherapie aufgegeben; niemand ist bereit gewesen, sie zu operieren, noch etwas für sie zu tun. Niemand außer Bergholtz.

Grüne OP-Tücher hängen über einem Metallbügel quer über ihren Brustkorb und trennen so den Bereich des Anästhesisten ab, der bereits neben ihrem intubierten Kopf Wache hält, das Stethoskop lässig um den Hals geschlungen; andere grüne Tücher verdecken ihre unversehrte Haut und lassen nur den OP-Bereich selbst frei, ein mit antiseptischer Folie beklebtes, von Jodlösung orange verfärbtes quadratisches Areal, innerhalb dessen jetzt der Schnitt klafft und die Wundränder mit Haken auseinandergezogen werden. Dieser Bereich ist das einzige, was der Operateur von seiner Patientin sieht.

„Alles in Ordnung soweit?“, murmelt Bergholtz, und die Oberärztin nickt knapp. In Ordnung, soweit man sich nur auf den lege artis durchgeführten Schnitt bezieht und nicht auf das hoffnungslos zerfressene, tumordurchsetzte Gewebe darunter. Bergholtz lässt sich ein Skalpell reichen, eine Sonde, schiebt ein Gefäß zur Seite, dringt weiter vor, exploriert, während der Pianist endlich, endlich mit seiner eng geführten, traurig-schönen Melodie die Bühne betritt. Er lässt sich Zeit und schwingt sich langsam hoffnungsvoll auf, nur um schließlich dem Diktat des düsteren Themas zu verfallen und in verzweifelten Trillern abzustürzen. Genial, denkt Bergholtz, der Anfang des Maestoso ist zwar gewalttätig, aber genial, unglaublich, dass Brahms keine fünfundzwanzig war, als er das komponiert hat – . Blut sammelt sich in der Bauchhöhle vor ihm und muss abgesaugt werden; er klemmt die Arterie ab, um klarere Sicht zu haben, und gibt einer der Schwestern ein Zeichen, dass sie seine Brille abwischt, auf der ein paar Blutspritzer gelandet sind. Ein Schlachtfeld liegt vor ihm, auf dem die Truppen von Tumorzellen alle strategisch wichtigen Punkte besetzt haben und kurz vor dem Sieg stehen. Da gibt es nichts mehr, was ein tollkühner Heerführer noch tun könnte, nur noch eines: nur noch das Letzte. Das Klavier hat in eine harmlose Fröhlichkeit hineingefunden, eine Finte, wie Bergholtz weiß, bevor das bedrohliche Hauptthema wieder hervorbricht. So sei es. Er greift nach einer kleinen Schere, hält einen Augenblick inne und durchtrennt dann mit einer einzigen Bewegung die große Hohlvene, ein Gefäß von etwa zwei Zentimetern Durchmesser. Blut schießt heraus und überschwemmt in Sekundenschnelle den OP-Bereich, läuft über den Rand des Schnittes hinaus und über den Tisch und tropft auf den Boden.

„Oh mein Gott!“, entfährt es der Instrumentenschwester. „Was tun Sie denn da?!“ Irgendjemand versucht die Blutung mit der Hand zu stoppen; es wird hektisch und laut. Der Anästhesist springt fassungslos hoch, dreht die Infusionsschläuche auf bis zum Anschlag, brüllt nach Blutkonserven, während die Blutlache auf dem Boden sich stetig vergrößert und der Blutdruck fällt, fällt in nicht messbare Tiefen. Bergholtz lauscht reglos den letzten Takten Brahms: Leidenschaft, Kampf, Verlust und Trauer.

„Das habe Sie absichtlich getan!“ Der Oberärztin kippt die Stimme. „Professor Bergholtz! Sie haben – “ Bergholtz nickt.

„Ja“, sagt er ruhig. „Exitus in tabula.“

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