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Kapitel 3: Der leere Raum
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Das Haus von Josef und Karin Bergholtz lag zwischen Seehausen und Rieden direkt am Staffelsee, ein Dornröschenschloss mit Türmchen, Nischen und efeuumrankten Erkern. Ein Münchner Industriebaron, den die Gründerjahre reich gemacht hatten, war für dieses Stein gewordene Hausmärchen verantwortlich. Karin und Josef Bergholtz hatten es vor knapp zwanzig Jahren in ziemlich verwahrlostem Zustand gekauft und waren von München hergezogen, sobald das Erdgeschoss bewohnbar erschien. Von ihren drei Söhnen war Gregor zu der Zeit schon aus dem Haus gewesen und Winfried auf dem Absprung; nur Frank, damals Sechzehn, hatte sich mit Händen und Füßen gegen den Umzug gewehrt. Vergeblich, wie er bald erkennen musste. Seine Eltern waren entschlossen, den aufregenden Großstadtalltag gegen ein idyllisches Lederhosenglück einzutauschen, selbstverständlich zu seinem Besten. Vor allem zu seinem Besten, wie Josef Bergholtz gern betonte. Schließlich wollte er doch Abitur machen, oder nicht? Die Isolationshaft am Staffelsee würde seiner Konzentrationsfähigkeit sicherlich guttun. Die darauf folgenden wüsten Kämpfe und Auseinandersetzungen lagen nun Gottseidank weit hinter ihnen, so dass Karin Bergholtz die Zeit und Muße gefunden hatte, sich um das verwahrloste Grundstück zu kümmern und mit Hilfe eines wortkargen Einheimischen und seines minderbegabten Sohnes Stück für Stück in eine Parklandschaft zu verwandeln. Bis gestern hatten die beiden Gerstls noch daran gearbeitet, den Garten auf Hochglanz zu bringen, und heute, an Karins Geburtstag, präsentierte er sich so, wie Karin es sich immer wünschte: als ein Ort geordneter Üppigkeit.
Eine hohe Eibenhecke schützte die beiden Hausbewohner vor den Blicken neugieriger Spaziergänger (der Schnitt der inzwischen übermannshohen Bäume beschäftigte die beiden Gerstls eine ganze Woche lang). Karin hatte sich ursprünglich ein schmiedeeisernes Portal als Zugang gewünscht, aber Josef war Sicherheit wichtiger gewesen als Romantik, und so hatten sie sich für ein abweisendes Stahltor entschieden, das nur von innen oder per Fernbedienung zu öffnen war. Ein dezentes Metallschild in der rechten unteren Ecke wies auf den beauftragten Security-Service hin, während das Auge einer Überwachungskamera den gesamten Eingangsbereich überblickte und seine Erkenntnisse an einen kleinen Monitor in der Diele übertrug. Gleich hinter dem Tor befand sich seitlich die große Garage, in der neben Josefs Porsche, Karins Cabrio und dem Rasentraktor noch zwei Fahrzeuge Platz gehabt hätten. Das Haus selbst lag in rund einhundertfünfzig Metern Entfernung am Ende eines gekiesten Weges, der sich in eleganten Bögen zwischen Rhododendronhecken, Rasenstücken und Blumenrondells hindurchschlängelte; ein brauner, schnurgerader Trampelpfad durch die große zentrale Rasenfläche bewies allerdings, dass die meisten Besucher für diese Eleganz nur wenig übrig hatten. Hecken schoben sich von beiden Seiten wie Kulissen ins Bild und gaben den Blick auf die üppigen Staudenrabatten dahinter erst frei, wenn man daran vorbeischlenderte, und kurz vor der kleinen Anlegestelle am See lockte ein englischer Pavillon mit blühenden Clematis und Kletterrosen in Weiß, Rosa und Blau. Der Pavillon war ein leicht kitschiges Gebilde aus dunkelgrün lackiertem Edelstahl, unpraktisch unterteilten Glasfenstern und pseudoviktorianischen Schnörkeln, Sonderfertigung einer englischen Firma, die sich auf nostalgische Gartenarchitektur spezialisiert hatte. Nachdem Karin nach langen Kämpfen den Bau durchgesetzt hatte, war es eine unangenehme Überraschung gewesen, dass ihr Mann den Innenraum für sich beanspruchte („ich habe nachgegeben, dass wir dieses Ding hier auf die Wiese stellen, da habe ich ja wohl ein Recht darauf, dass du mir auch einmal nachgibst“) und statt mit romantischen Korbmöbeln mit ausgemusterten cremefarbenen OP-Schränken bestückte. Josef Bergholtz hatte in den letzten beiden Jahrzehnten eine Bonsai-Sammlung angelegt, und die Schränke beherbergten uralte chirurgische Instrumente, Scheren, Klemmchen, Wundrandspreizer, mit denen er die kunstvollen Kleinstbäume formte, die zarten Äste drahtete und die winzigen Blättchen beschnitt. Es blieb gerade noch genügend Platz für einen wackligen Schreibtischstuhl und einen Ausziehtisch, auf dem die Schalen irgendwann im November sorgfältig zum Überwintern aufgereiht wurden. Es war ein Kompromiss, der Karin nicht leicht gefallen war, so sehr sie auch versuchte, sich das Arrangement schmackhaft zu machen – schließlich sah der Pavillon trotzdem noch gut und stilvoll aus, und sie hatte sich doch immer gewünscht, dass ihr Mann ein Hobby haben sollte. Außerdem trank sie viel lieber Kaffee, und das am allerliebsten auf der Terrasse, die sich zum See hin öffnete. Trotzdem gestand sie sich ein, dass sie die OP-Schränke hasste, ihre abwischbaren Oberflächen, die angerosteten Metallschienen, ihre ganze blut- und eiterverseuchte Vergangenheit. Es war, wenn man es genau nahm, kein Kompromiss, sondern ein Opfer, und als solches wiederum für jemanden, der in seinem Leben nicht genug Opfer bringen konnte, höchst willkommen.
Gregor und Iris kamen als Erste. Das Tor schob sich zur Seite, Gregor ließ den Familienkombi auf den Parkplatz neben den Garagen rollen, der Kies unter den Reifen knirschte kühl und frisch. Es war ein fantastischer Frühsommertag, bayerisch weißblau und voralpengrün, mit Gebirgsblick, zuckriger Luft und einer Familie von Schwänen in unmittelbarer Nähe zur Anlegestelle – das Elternpaar zog mit hochgereckten Köpfen seine Bahn in der beruhigenden Gewissheit, dass die vier grauen Küken nichts anderes wollten, als ihnen in ihrem Kielwasser nachzufolgen.
„Schön“, erklärte Gregor nach dem Aussteigen, reckte die Arme ins luftige Nichts und holte tief Atem. „Immer wieder schön hier, stimmt´s?“ Iris zwinkerte mit den Augen und tastete nach ihrer Sonnenbrille. Die Wasseroberfläche vor ihr flimmerte wie eine Fata Morgana; vor einer niedrigen Lavendelhecke auf der rechten Seite explodierte ein Beet in einer gewagten Kombination von Orange- und Rottönen.
„Wunderschön, ja.“ Auf der Eingangstreppe erschien eine schlanke Gestalt und winkte zu ihnen herüber, Gregor winkte zurück.
„Vater hat uns gesehen“, teilte er Iris mit. „Komm schon, Iris. So schlimm wird es nicht werden.“
„Ich habe gar nicht gesagt, dass es schlimm wird.“
„Nicht laut, stimmt. Ist dir eigentlich auch schon aufgefallen, dass Winfried immer erst nach uns kommt?“ Iris fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Das liegt daran, dass wir immer mindestens zehn Minuten zu früh sind.“ Sie hasste es, zu spät zu kommen, wie es nur jemand tat, dessen Kindheitswelt von Sprüchen wie „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“ dominiert worden war. Iris´ Mutter hätte sich vehement dagegen gewehrt, in Pünktlichkeit eine kleinbürgerliche Tugend zu sehen oder das beschämende Eingeständnis, dass man eben nicht wichtig genug war, um von früh bis spät gefordert zu werden und seine Zeit für bedeutendere Aktivitäten opfern zu müssen. Nicht wichtig genug, als dass nicht jede Gesellschaft mit Freude auf einen gewartet hätte.
„Winfried kommt nie früher, als er unbedingt muss … Ich wette, wenn er noch Zeit übrig hätte, würde er lieber auf einem Parkplatz die Minuten absitzen, statt schon hier zu erscheinen.“ Mittlerweile war Josef Bergholtz herangekommen, ein sportlicher Mittsechziger mit leuchtenden hellblauen Augen, vollem weißem Haar und gepflegtem Backenbart. Er trug ein helles Polohemd zu ausgeleierten Jeans und an den nackten Füßen schlichte Lederschuhe, denen man nicht ansah, dass sie soviel gekostet hatten wie ein Wochenende in Paris. Der Professor ließ sich die Schuhe von einem pensionierten Schuhmacher in Mittenwald nach Maß anfertigen – der einzige Luxus, Kinder, den ein alter Mann sich gönnt! Es hatte eine lange Zeit gegeben, in der er sich derlei Extravaganzen nicht leisten konnte und dementsprechend eine stärker sozialkritische Einstellung gepflegt hatte. Mit steigendem Einkommen war aber die Überzeugung gewachsen (ein offenbar ganz natürlicher, quasi unvermeidlicher Prozess), dieses Geld auch im wahrsten Sinne des Wortes zu verdienen und zu Recht besitzen oder ausgeben zu können; die alten romantischen Ideale waren im Schatten des wachsenden Reichtums verwelkt, hatten aber immerhin einer regen Stiftertätigkeit Platz gemacht. Jetzt hatte Bergholtz die Arme weit ausgebreitet, ein gütiges Papstlächeln auf den Zügen – das Lächeln, mit dem er seit mehr als vierzig Jahren seine Patienten begrüßte und signalisierte: Du kannst mir vertrauen; ich weiß, was ich tue, was gut für dich ist.
„Gregor, Iris! Wie schön! Herzlich willkommen an unserem See!“ Iris ließ sich in die Arme ziehen. Gregors Vater war der einzige Mann, den sie im Dunkeln an seinem Rasierwasser erkannt hätte. In all den Jahren, in denen sie sich kannten, hatte er die Marke nicht gewechselt. Treu in jeder Hinsicht.
„Kinder, ist das ein Wetter! Ist das ein Wetter! Und, habt ihr Fabian nicht mitgebracht?“
„Fabian hat Dienst“, log Iris und signalisierte Gregor mit einem Blick, ihr nicht zu widersprechen. „Er wäre gern zu Omas Geburtstag gekommen, aber da ließ sich leider nichts machen. Aber wir sollen liebe Grüße bestellen, von Leonie übrigens auch. Fabian wird sich in den nächsten Tagen noch telefonisch bei euch melden und gratulieren.“
„Und, hat der Junge inzwischen Blut geleckt?“ Mit beeindruckender Sturheit verweigerte sich Bergholtz senior der Erkenntnis, dass sein bislang einziger Enkel nicht nur den erforderlichen Notendurchschnitt für ein Medizinstudium grandios verfehlt hatte, sondern eher Straßenfeger werden würde als Arzt in guter alter Familientradition. Stattdessen hatte er sich entschlossen, Fabians Zivildienst als ersten Schritt auf dem Weg einer vielversprechenden medizinischen Karriere zu interpretieren.
„Keine Ahnung. Bis jetzt beklagt er sich nur darüber, dass er so früh aufstehen muss. Also, ich schätze eher, dass er sich auf Dauer irgendetwas Künstlerisches vorstellt, so wie Frank.“ Geschickt hatte Gregor die Klippe umschifft. Iris beugte sich über einen ausladenden Rosenstock, um an einer makellose Blüte zu schnuppern: Zitrus und Rosenduft. Englische Rosen waren Karin Bergholtz´ Leidenschaft.
„Eure Rosen sind wunderbar“, sagte Iris laut. „Wie macht ihr das bloß? Meine kriegen immer zuerst Läuse, und wenn ich die endlich los geworden bin, kommt der Sternrußtau.“ Josef Bergholtz zuckte die Schultern.
„Keine Ahnung … Spritzen vermutlich. Unser Gärtner ist dauernd mit so einem Ding auf dem Rücken unterwegs, das gefährlich aussieht und stinkt. Manchmal denke ich, er wird uns noch alle umbringen mit dieser Brühe. Aber Karin ist überzeugt davon, dass es nötig ist. Am besten fragst du sie selbst danach. Gift Spritzen ist nicht mein Bereich.“ Natürlich nicht; Josef Bergholtz war ein Mann der direkten Konfrontation. Er hatte inzwischen den Weg zum Haus eingeschlagen und deutete mit der Hand auf das kleine Türmchen. „Seht ihr da oben die Löcher? Beim letzten Gewitter sind etliche Ziegel runtergefallen. Dieser alte Kasten! Kaum ist die eine Seite repariert, geht es auf der anderen wieder los. Wir können von Glück sagen, dass niemand zu Schaden gekommen ist.“ Unvermittelt wandte er sich noch einmal zu seinem Sohn. „Ich vertraue darauf, dass du ihm diesen Zahn ziehst, Gregor. Irgendetwas Künstlerisches! Das ist doch eine Schnapsidee. Schau dir Frank an, der ist inzwischen Mitte Dreißig und verdient nicht einmal genug, um sich eine Familie leisten zu können.“
„Vielleicht will er ja gar keine Familie“, antwortete Iris. „Ich habe den Eindruck, er leistet sich lieber etwas anderes. Frank kommt als Single hervorragend zurecht.“ In Bergholtz´ Blick lag leiser Spott.
„Wo ist nur die vernünftige Frau geblieben, die meinen Sohn geheiratet und ihm beigebracht hat, die Kröten zusammenzuhalten? Iris, enttäusch mich nicht! Du willst doch nicht ernsthaft hinnehmen, dass dein Sohn sein Talent an brotlose Künste verschwendet?“
„Doch.“ Iris hatte eins der aprikosenfarbenen Blütenblätter abgezupft und zerrieb es zwischen den Fingern. „Stell dir vor, das will ich. Ich finde es tatsächlich wichtig selbst herauszufinden, was man mit seinem Leben anfangen will.“
„Also lieber arm und selbstbestimmt als reich und glücklich? Schickt den Jungen an einem seiner freien Wochenenden mal zu mir. Ich wette, wenn ich mit ihm geredet habe, sieht die Welt für ihn gleich ganz anders aus. Herrgott, der Junge ist Neunzehn! In dem Alter wusste sogar Gregor schon, was er wollte, stimmt´s?“ Gregor zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Mir würde es schon genügen, wenn ich es jetzt wüsste.“ Weit oben in dem alten Walnussbaum an der Einfahrt schlug ein Kuckuck. Bergholtz grinste und zeigte mit dem Finger in die Richtung. „Habt ihr´s gehört? Ein Uhr! Ich schwöre euch, ich hab ihn dazu gebracht, dass er jeden Mittag um Eins anfängt zu spektakeln. Pünktlich um eins! Herein in die gute Stube.“ Er ging voran die Treppe hinauf und hielt die Tür auf. „Karin! Gregor und Iris sind da.“ Wenige Augenblicke später tauchte Karin Bergholtz aus dem Inneren des Hauses auf, ein Geschirrtuch in der Hand, küsste Iris auf beide Wangen und umarmte Gregor.
„Schön, dass ihr da seid! Ich bin in der Küche schon fast fertig. Wir essen auf der Terrasse, es ist so herrliches Wetter.“ Karin Bergholtz war mittelgroß und schlank und hatte eine raffiniert geschnittene Frisur, so dass ihr glattes silbergraues Haar dem Kopf eng anlag wie eine Zwanziger-Jahre-Kappe. Die schwarze Brille harmonierte mit den auffälligen schwarzen Ohrringen und betonte die ebenmäßigen und etwas herben Gesichtszüge, die schmale Nase, die dunklen Augen. Heute trug sie unter ihrer Schürze einen schwingenden dunklen Rock und ein schimmerndes Top mit halblangen Ärmeln. Selbst die Schürze war elegant und sah aus, als käme sie gerade aus der Reinigung.
„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte Gregor und überreichte ihr das Geschenk: einen Bildband über Parks und Gärten in Norditalien. „Vielleicht inspiriert euch das ja zu einem neuen Traumziel.“ Neugierig öffnete Karin die Verpackung und fing an zu blättern.
„Was für eine gute Idee! Trentino, Venetien, Toskana … Ach, und all die kleinen Orangenbäumchen, das geht hier ja nur im Wintergarten. Und Bomarzo! Da habe ich schon mal was drüber gelesen. Dieser Vicino Orsini muss ja ein extremer Charakter gewesen sein mit einem eigenwilligen Sinn für Komik! Schau mal, Josef, wäre das nicht auch was für dich? Der moosbewachsene Höllenschlund hier oder dieses schräge Haus?“
„Ehrlich gesagt finde ich unser Haus schon schräg genug.“ Bergholtz lachte. Sie fuhren seit Jahren im Juli in immer dasselbe Hotel auf Sylt, und bewährte Gewohnheiten zu brechen war nicht sein Stil.
„Wollt ihr schon etwas trinken? Wer weiß, wann die anderen kommen! Von Frank habe ich noch gar nichts gehört, und Winfried und Thea standen eben noch im Stau.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er ein paar Gläser heraus, schenkte Sherry ein und reichte jedem ein Glas. „A la vida!“ Iris betrachtete die Stirnwand des großzügigen Wohnzimmers, an der sich Joe Bergholtz, Abenteurer, Südamerikareisender und Andenkensammler, ein erbittertes Gefecht mit Professor Dr.Dr.hc.mult. Bergholtz lieferte, dem berühmten Chirurgen und Wohltäter der Menschheit: Charangos, bolivianische Flöten, schreiend bunte Webdecken und einer dieser typischen schwarzer Bowler-Hüte kontrastierten heftig mit gerahmten Diplomen, Auszeichnungen diverser in- und ausländischer Universitäten und Fotos, die den Professor unter anderem gemeinsam mit einem verflossenen bayerischen Innenminister auf einer Segelyacht zeigten.
„Habt ihr inzwischen mal wieder Neuigkeiten aus Bolivien?“, fragte sie. Josef Bergholtz hatte als junger Mediziner mit seiner Familie zwei Jahre lang dort gelebt und in einem abgelegenen Krankenhaus irgendwo in den Bergen gearbeitet („jung, fleißig und idealistisch, das gab es damals noch!“, pflegte er zu kommentieren); seit dieser Zeit fühlte er sich dem Land tief verbunden und hatte deshalb, als gemeinsam mit seinem Stern auch seine Einkünfte zu steigen anfingen, die Stiftung Para la vida gegründet. Ziel von Para la vida waren der Aufbau und die Förderung medizinischer Einrichtungen im bolivianischen Bergland; die Stiftung unterhielt eine kleine Klinik etwa einhundertfünfzig Kilometer von Sucre entfernt sowie mehrere Ambulanzen. Stundenlang konnte er darüber referieren, und seine Gesprächspartner brauchten nur zuzuhören und gelegentlich brav zu nicken.
„Nicht so hastig mit den jungen Pferden! Ihr hört noch davon, kannst dich drauf verlassen. Aber jetzt lasst uns nach draußen gehen und die Aussicht genießen.“
Tatsächlich war die große Terrasse, die sich zum See hin öffnete, das beste am ganzen Haus. Sie erlaubte einen weiten Blick über die Inselchen im See hinweg bis zur atemberaubenden Alpensilhouette: Benediktenwand, Herzogstand, Hohe Kisten, Wettersteingebirge, Ettaler Manndl. Der Anblick machte Iris nervös und rief mit einem Mal das Gefühl absoluter Bedeutungslosigkeit in ihr wach sowie den heftigen Wusch, irgendetwas möge passieren, irgendetwas Entscheidendes, Dramatisches, um dem Leben, das nur noch aus Alltag bestand, seine überfällige Wende zu geben. Ein unerwarteter Anruf, eine E-Mail, ein Besucher, der plötzlich überraschend vor der Tür stand und ihr den Weg in eine andere Welt zeigte (sie wäre erstaunt gewesen zu erfahren, dass ihre eigene Mutter nicht ganz anders gedacht und geträumt hatte, als sie Joachim, den weitgereisten Lastwagenfahrer, kennenlernte, der Iris´ Vater werden sollte). Hilfesuchend sah sie zu Gregor hinüber, aber Gregor war mit seinem neuen Handy beschäftigt und wischte hektisch mit seinen Fingern über das winzige Display.
„Ratet, was ich Karin zum Geburtstag geschenkt habe!“ Josef Bergholtz grinste siegessicher zu ihnen hinüber.
„Sie darf sich endlich einen Hund anschaffen“, antwortete Gregor trocken. „Diese schreckliche Promenadenmischung aus dem Tierheim, die sie so ins Herz geschlossen hat.“ Sein Vater zog empört die Augenbrauen hoch.
„Dieses Thema haben deine Mutter und ich schon vor Jahren ad acta gelegt. Es gibt ja nicht viel, was ich in diesem Haus durchsetze – sie kann sonst tun und lassen, was sie will – , aber dass ich keinen Hund um mich herum ertragen kann, gehört dazu. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Nein, etwas anderes. Viel besser.“
„Zwei Hunde.“ Aber Bergholtz senior schien entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. Er drohte Gregor spielerisch mit dem Zeigefinger und wandte sich stattdessen seiner Schwiegertochter zu.
„Wie kannst du ihn ertragen, Iris, verrat mir das! Irgendetwas müssen wir da falsch gemacht haben. Also, was denkst du?“ Iris überlegte angestrengt.
„Ein Wochenende in den Bergen“, schlug sie schließlich vor. „Eine Hüttenwanderung mit Alpenglühen, Lederhosen und Enzianschnaps. Ich glaube, das würde ihr gefallen.“
„Auch falsch, aber eine gute Idee. Werde ich mir für nächstes Jahr merken. Nein. Ich sag´s euch, sonst kommt ihr nie drauf: ein kleines Motorboot.“ Er strahlte sie gespannt an, und wie immer machte es Iris nervös, dass sie nicht wusste, wie sie ihn anreden sollte. Gregor sagte Vater zu ihm, aber ihr hatte er bei der Hochzeit angeboten, ihn Joe zu nennen wie seine Studienfreunde. Joe. Sie konnte sich keinen Mann vorstellen, zu dem dieser Name weniger passen würde, und brachte ihn einfach nicht über die Lippen.
„Ein Motorboot … ich wusste gar nicht, dass sie sich das gewünscht hat.“
„Hat sie auch nicht. Aber du weißt ja, die besten Geschenke sind immer die, bei denen man erst später merkt, dass man sie unbedingt haben wollte. Nach dem Essen zeig´ ich´s euch, dann machen wir eine kleine Spritztour. Spritz, versteht ihr?!“ Bergholtz lachte herzhaft. „Ich schätze, die Kinder werden darauf brennen, uns hier zu besuchen und auf dem See rumzuschippern! Wetten, es dauert keine drei Wochen, und euer Fabian kreuzt hier auf?“ Iris nickte höflich und beschloss, ihr noch fast volles Sherryglas auf einem Blumenhocker zu vergessen. Ein melodischer Gong ertönte.
„Auf dass unser Haus voll werde. Karin, ich lauf schon!“ Josef Bergholtz wedelte entschuldigend mit der Hand und marschierte Richtung Diele, mit den federnden Bewegungen einer Raubkatze.
„Ich glaube, über ein Wochenende in den Bergen hätte sie sich mehr gefreut“, bemerkte Gregor und stellte sich zu seiner Frau.
Thea betrat mit wiegendem Schritt auf die Terrasse, ein angestrengtes Lächeln auf dem Vollmondgesicht. Sie hatte ihre mausigen Haare mit ein paar hennaroten Strähnchen versehen und trug eine Art Kaftan in Ethnodruck, der Iris unwillkürlich an die Zeit der Makrobiotik erinnerte. Bei jeder ihrer Bewegungen rauschte und wogte es, und fast konnte man meinen, kleine Staubwölkchen über ihr aufsteigen zu sehen wie beim Klopfen eines uralten, selten gereinigten Perserteppichs. Tausendmal schon hatte sich Iris vorgenommen, Thea ein paar Tipps zu ihrem Aussehen zu geben – sonst tat es ja offenbar keiner – , aber im letzten Augenblick war sie doch immer wieder zurückgeschreckt. Thea gehörte zu den Menschen, die ihr immer ein schlechtes Gewissen einflößten; sie schaffte es einfach nicht, mehr für ihre Schwägerin zu empfinden als Mitleid, ebenso fade und erbärmlich wie deren Händedruck.
Winfried schleppte eine golden verpackte, sicherlich zwei Meter lange Rolle herein und setzte sie unter theatralischem Stöhnen auf den Terracottafliesen ab.
„Vorsichtig, Winnie!“, stöhnte Thea. „Mach es nicht schon kaputt, bevor Mama es ausgepackt hat.“ Winfried trat einen Schritt zurück und überließ es seiner Frau, die Geburtstagswünsche vorzutragen. Am liebsten würde ich mein I-Phone aus der Tasche ziehen und meine Mails überfliegen, sagten seine Mundwinkel. Der etwas untersetzte, schwammige Anwalt mit den schütteren Haaren war ungesund blass; alles an ihm wirkte nachgiebig und weich, und jeder Blick, der ihn irgendwie fassen und festhalten wollte, rutschte unweigerlich an seinen glattrasierten Wangen, dem fliehenden Kinn ab.
„Liebste Mama, wir wollten dir etwas schenken, was dich Tag für Tag erfreut und dein Leben schöner macht“, begann Thea schwungvoll. „Es soll dem Wohlbefinden dienlich sein und der Gesundheit. Und es sieht gut aus.“ Winfried wippte auf seinen Sohlen vor und zurück und machte den Eindruck, als habe er nicht die blasseste Ahnung, was er da auf der Schulter hereinbugsiert hatte.
„Nicht sofort auspacken! Rate, was es ist!“ Heute war der Tag des Rätsels, soviel stand schon mal fest. Ein neuer Besenstiel, eine versteinerte Kobra, eine Interkontinentalrakete ... Aber Karin Bergholtz war darauf vorbereitet, gut gelaunt zu sein.
„Hm … vielleicht ein Rankstab für meine Ghislaine de Féligonde? Sie blüht dieses Jahr so wunderschön, du musst sie dir gleich noch anschauen! Oder ein Teleskop … ich hoffe, ihr habt nicht zu viel Geld ausgegeben?“ Thea wurde rot.
„Nicht zu viel für dich, bestimmt nicht! Einen Versuch hast du noch.“
„Ein Regenschirm in Übergröße“, spekulierte Karin freundlich und durfte auf ein Nicken von Thea hin beginnen, die zahlreichen Schleifchen aufzubinden.
„Eine Schwimmweste“, kommentierte Josef, „eine CD, eine Weihnachtspyramide … “ Winfried sagte nichts. Langsam kam ein Glaszylinder zum Vorschein, gefüllt mit einer leicht bläulichen, klaren Flüssigkeit und versehen mit einem Kabel, dessen Zweck auf den ersten Blick nicht erkennbar war.
„Schön, Thea … sehr schön, wirklich!“ Karin Bergholtz strich mit den Händen ratlos über das schlanke Glas. „Ich glaube, so etwas habe ich schon einmal in einem Möbelgeschäft in München gesehen. Es ist eine Designerleuchte, nicht wahr?“ Thea legte Kopf zurück.
„Es ist ein Energiefänger“, verkündete sie. „Jeden Tag sind wir zahlreichen negativen Schwingungen ausgesetzt, die ihren Ursprung nicht nur in der Erde, sondern auch im Kosmos haben. Sie wirken auf uns ein und zwingen unsere eigenen Schwingungen dazu, sich mit ihrer Frequenz zu synchronisieren, auch wenn uns das nicht gut tut. Es ist mir eingefallen, als du mir letztens erzählt hast, das du so schlecht durchschlafen kannst. Ich bin sicher, wenn du den Energiefänger im Wohnzimmer aufstellst, könnt ihr die Belastung im gesamten Haus deutlich reduzieren.“
„Nicht im Wohnzimmer“, murmelte Josef, und dann machte ein Schweigen sich breit, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Gregor hatte sich in die Betrachtung eines Haubentaucherpärchens vertieft, und nachdem Karin ihm einen unmissverständliche Botschaft zugeblinzelt hatte, hantierte Josef an einer Weinflasche, die sich absolut nicht öffnen ließ und alle Aufmerksamkeit beanspruchte. Immerhin war Thea mutig genug, sich im Haus von Josef Bergholtz zu ihren esoterischen Überzeugungen zu stellen.
„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du diesen hanebüchenen Unsinn tatsächlich glaubst?!“, fragte Winfried schließlich. „Also wirklich, Thea, nicht einmal du kannst so blöd sein! Wenn ich gewusst hätte – “
„Vielen, vielen Dank!“ Karin hatte die Sprache wiedergefunden und nahm ihre Schwiegertochter in den Arm. „Es ist ganz rührend, dass du dich so um mich sorgst … um uns! Und ich finde es wirklich schön. Es ist so – so geheimnisvoll. Ich bin sicher, dass es ein ganz zauberhaftes Licht ausstrahlt. Ich weiß auch schon einen Platz, wo ich es hinstelle! Hat jeder ein Glas? Ich möchte gern mit euch anstoßen!“
„Und, was ist mit unserem Künstler? Zu beschäftigt für Mutters Geburtstag?“ Winfried betrachtete den Wein in seinem Glas, als gehöre ein Giftmord zu den immer einzukalkulierenden Lebensrisiken.
„Frank kommt später“, sagte Karin Bergholtz fest. „Aber die Rehkeule kann nicht länger warten.“
Sie saßen schon beim Dessert und hatten es bis dahin geschafft, weder über Politik noch über den fraglichen wirtschaftlichen Erfolg von Gregors Praxis zu sprechen und, trotz der bedrohlichen Anwesenheit des Energiefängers, nicht einmal über Theas Tätigkeit als Heilpraktikerin, was vor allem Josef Bergholtz ein schier übermenschliches Ausmaß an Selbstverleugnung abverlangt haben musste. Die verbleibenden Themen (Karins Garten; Fabian und Leonie sowie ihre detaillierten Pläne für die nächsten vierzig Lebensjahre; Winfrieds Anekdoten aus dem Alltag eines Scheidungsanwalts; Iris´ sicherlich in naher Zukunft zu erwartender Durchbruch als Journalistin; der Rehbraten; Gregors alte Klavierlehrerin) waren inzwischen intensiv beackert und abgeweidet worden, so dass selbst Winfried erleichtert von seinem Schüsselchen aufschaute, als ein dreimaliges Klingeln Franks Ankunft verkündete.
„Wurde aber auch höchste Zeit“, knurrte Winfried, knüllte die Damastserviette zusammen und stand auf. „Bleibt ruhig sitzen, ich mach schon auf. An ihrem Geburtstag soll Mutter nicht auch noch für alle den Butler spielen müssen.“ Es dauerte ein paar Minuten, bis Frank mit einem fröhlichen „Hallo zusammen!“ durch die Schiebetür stürmte, einen zerfledderten Blumenstrauß auf das Beistelltischchen warf und seine Mutter herzhaft auf beide Wangen küsste.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, guapa! Alles Liebe für das nächste Jahr!“ Karin strahlte ihn an.
„Ich freu mich, dass du da bist! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wo du bleibst.“ Frank machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Autopanne. Die alte Kiste kommt allmählich in die Jahre.“ Er fuhr schon ewig einen klapprigen BMW Cabrio, dessen Dach seit Jahren nicht mehr geöffnet werden konnte und der aussah, als hätte er noch keine Nacht seines Lebens in einer Garage zugebracht.
„Dieser Chaot ist ohne Sprit auf der Landstraße liegengeblieben und musste zwei Kilometer bis zur nächsten Tankstelle laufen“, verbesserte Winfried ungefragt. Frank grinste ihn an.
„Der alte Winfried! Immer noch die Liebenswürdigkeit in Person. Manche Dinge ändern sich eben nie.“
„Genau. Manche Leute bleiben so unzuverlässig, wie sie es immer schon gewesen sind.“ Bevor Frank antworten konnte, stand Josef Bergholtz auf, um seinen Jüngsten zu begrüßen.
„Wunderbar, dass du es auch geschafft hast, dann sind wir ja komplett. Ich schlage vor, dass wir jetzt erst noch einmal auf das Geburtstagskind anstoßen! Also, Karin, auf dein Wohl! Und immer genug Wasser unterm Kiel.“ Gehorsam standen alle auf und hoben die Gläser. Frank stopfte sich noch schnell ein paar übriggebliebene Schinkenröllchen von der Vorspeise in den Mund und zwinkerte Iris verschwörerisch zu. Er war sieben Jahre jünger als Gregor und ganz klar der Bestaussehende der drei Bergholtz-Brüder, mit vollem, leicht gewelltem schwarzem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, dunkelbraunen Augen, mediterranem Teint, einem markanten Profil und charmantem, leicht unrasiertem Piratenlächeln, das jede Frau sofort reflexartig zu Kamm und Lippenstift greifen und den Bauch einziehen ließ. Es war immer wieder faszinierend zu sehen, dass ausgerechnet sein Adoptivsohn die größten charakterlichen Ähnlichkeiten zu Josef Bergholtz aufwies, das aufbrausende Temperament, den Charme, die Ausstrahlung, die andere Männer in seiner Umgebung zu unscheinbaren Zwergen zusammenschnurren ließ. Vor allem Winfried sah neben seinem Adoptivbruder immer aus, als hätte er die letzten Nächte auf einer Parkbank verbracht. Es war kein Wunder, dass er mit Frank so viel Schwierigkeiten hatte; schon dessen bloße Anwesenheit musste für Winfried eine Zumutung sein.
„ … was habe ich denn da Gutes gekauft? Veuve Clicquot trocken, aha.“ Bergholtz hielt sich die Flasche vor die Nase, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte, und las laut das Etikett vor; die Brille, die er seit ein paar Jahren tragen musste, balancierte er weit vorn auf der Nasenspitze, so dass er darüber hinweg allen gutgelaunt zuzwinkern konnte. „Ja, ihr Lieben, ein besonderer Anlass verlangt einen besonderen Sekt! Auf die nächsten Jahre und die Veränderungen, die sie uns bringen werden!“ Er beugte sich zu seiner Frau hinüber, drückte ihre Hand und küsste sie charmant. Über vierzig Jahre waren die beiden verheiratet; wie konnte man das nur schaffen? Es schien eine Fähigkeit zu sein, die in den folgenden Generationen verloren gegangen war, eine Eigenschaft, die im Überlebenskampf nicht länger einen entscheidenden Vorteil gewährte. Bergholtz klopfte mit einem Dessertlöffelchen gegen sein Glas, obwohl er ja sowieso schon im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.
„Meine lieben Söhne! Gregor, Winfried, Frank! Liebe Schwiegertöchter!“ Josef Bergholtz hob das Champagnerglas und lächelte, ein strenger, aber wohlwollender Patriarch im Polohemd, der sich seiner Macht und Position bewusst war. Ich weiß, was ich tue und warum, sagten seine Augen, und die buschigen Augenbrauen wippten im Takt dazu. Irgendein Muskel seines Körpers schien immer in Bewegung zu sein, so als brauche seine schier unerschöpfliche Energie ein Ventil, und das einzig Schlaffe an ihm waren die Mundwinkel, die dauerhaft herunterhingen, als hätten sie keine Lust mehr zu einem Lächeln. Joe Bergholtz ließ den Blick großzügig über die Versammlung hinweggleiten.
„Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr Mama und ich uns freuen, dass wir alle hier beisammen sind.“
„Fast alle“, murmelte Winfried in sein Glas.
„Fast alle. Es ist sehr schade, dass die Kinder nicht dabei sein können! Aber sie sind inzwischen ja auch flügge geworden und gehen ihre eigenen Wege. Dabei muss ich zugeben, dass mir der Krach, die Marmeladenflecken auf meinem Oberhemd und die umgeworfenen Fantagläser am Tisch fehlen, nicht wahr, Schatz?“ Karin Bergholtz nickte und tupfte verstohlen die Augenwinkel. Wenn sie ihre Lieben um sich versammelt hatte, brauchte es nicht mehr viel, um ihr die Tränen in die Augen steigen zu lassen. „Trotzdem, die Familie wächst und gedeiht, jeder von euch geht seinen Weg … “
Die salbungsvollen, ewig-gleichen Worte plätscherten über die Familie hinweg wie ein Regenschauer im Mai. Einzig Thea gelang es so auszusehen, als lausche sie gespannt auf jeden Satz, den ihr Schwiegervater sagte. Vielleicht war es ja wirklich so; vielleicht rechnete sie ja ernsthaft damit, er werde doch einmal etwas Überraschendes verkünden. Vielleicht würde er ja endlich das Kriegsbeil begraben und vor aller Ohren in ein Loblied auf die alternativen Heilmethoden ausbrechen, die sie zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht hatte. Oder er würde erklären, dass er schon zu Lebzeiten sein nicht unbeträchtliches Vermögen auf seine Söhne aufzuteilen gedächte.
„Wie ihr alle wisst, wird nicht nur eure Mutter älter, sondern auch ich. Deshalb habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschieden, zum Ende dieses Jahres in den Ruhestand zu treten und mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens zu haben, die Natur, die Frauen“, er verbeugte sich in Karins Richtung, „das Motorboot. Und natürlich die Stiftung.“
Das war neu. Iris sah erstaunt auf: Josefs Augen glänzten ungewohnt, die Hand hatte er auf die Schulter seiner Frau gelegt, die ihr Glas fest umklammert hielt.
„Eure liebe Mutter und ich, wir haben uns für die kommenden Jahre noch viel vorgenommen, solange es uns gesundheitlich gut geht! Er nahm einen Schluck Champagner, bevor er fortfuhr. „Ihr alle kennt unsere Stiftung Para la vida.“ Oh ja. Es war, als würde ein gemeinsamer stummer Seufzer zum Himmel steigen. „Wir wollen uns in den nächsten Jahren vermehrt um die Stiftung kümmern und den Stiftungszweck um die Förderung indigener Nachwuchsmediziner erweitern. Begabte junge Bolivianer sollen auf Kosten der Stiftung in Deutschland studieren und hier wohnen können. Und das Haus hier – “ Karin Bergholtz hüstelte vernehmlich; Bergholtz flüsterte ihr rasch etwas ins Ohr. „Unsere Villa hier ist doch viel zu groß für uns zwei Alte! Ein Flügel soll der Stiftung überschrieben werden und kann dann als eine Art Hauptsitz dienen – Wohnheim, Kulturzentrum, Begegnungsraum, Verwaltung. So wollen wir unserer Verantwortung gerecht werden und ein bisschen von dem zurückgeben, was das Leben uns an reichen Gaben hat zuteil werden lassen. Wir freuen uns schon auf die Begegnung mit den jungen Leuten!“ Er ließ sein Glas leicht an das seiner Frau stoßen; es gab einen dumpfen Ton. „Trinkt mit uns auf die Karin-und-Josef-Bergholtz-Stiftung Para la vida.“ Und tatsächlich, alle hoben sie brav die Gläser und tranken, Thea, die aussah, als hätte sie überraschend auf ein Pfefferkorn gebissen, Winfried, dessen graues Gesicht erstarrt war, Frank, der vermutlich nur die Hälfte von allem mitgekriegt hatte – die zusammengeduckten Krieger, die sich nicht trauen aufzumucken, wenn die beiden Häuptlinge ihre großartige Idee präsentieren.
„Wie viel – ich meine, was für einen Umfang – ?“ Winfried brachte keinen geraden Satz mehr heraus. Der Umgang mit zerstrittenen Ehepaaren hatte seine nie sonderlich ausgeprägten rhethorischen Fähigkeiten komplett zum Erliegen gebracht. Bergholtz sah ihn an, gnadenlos, mitleidlos.
„Das Stiftungskapital muss natürlich aufgestockt werden, ich habe noch nicht durchgerechnet, um wieviel. Aber ich glaube, wir alle sind uns einig, dass Geld allein nicht glücklich macht, stimmt´s? Und ihr seid ja inzwischen alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Wir hoffen natürlich, noch weitere Freunde und Bekannte für unser Projekt zu gewinnen. Mit ins Boot zu holen, haha. Wie wäre es zum Beispiel mit dir?“
„Habt ihr das auch gut überlegt? Ich meine, vielleicht braucht ihr euer Kapital noch für andere Eventualitäten, Pflegebedürftigkeit oder – ? Man weiß ja nie, wie sich die Dinge – ich meine – ?“ Hilflos irrte Winfrieds Blick zwischen seinen Brüdern hin und her, als wäre er auf der Suche nach dem Notausgang. Tut doch was!, sagten seine Augen, ihr könnt doch nicht einfach nur so dasitzen!?
„Lass das mal ruhig unsere Sorge sein, mein Sohn. Noch sind wir nicht alt und senil.“ Bergholtz räusperte sich. „Es geht hier darum, dass wir etwas Gutes mit unserem Kapital anfangen wollen. Eigentlich hatte ich mit eurer Unterstützung gerechnet.“
„Etwas Gutes im Namen der Familie“, echote Karin Bergholtz und hob endlich den Kopf. Mit Sicherheit war die Sache Bergholtz´ Idee gewesen, aber seine Frau hatte ihm noch nie in einer wichtigen Angelegenheit widersprochen, schon gar nicht, wenn es um Geld ging. Nach mehr als vierzig Jahren Ehe im Schatten ihres Mannes hatte sie sich selbst in einen Schatten verwandelt.
Er beugte sich über eine Mappe, die neben dem Champagnerglas lag, und zog einen Stapel Fotos heraus. „Hier, lasst das mal rumgehen. Die letzten Bilder aus Bolivien. Hat Rodríguez mir geschickt, von der Klinik und der neuen Apotheke, die sie eingerichtet haben … “
Das Boot hatte zwar sieben Sitzplätze, aber Thea weigerte sich entschieden, an der Erkundungstour über den See teilzunehmen. Sie brauche ein Schiff nur zu sehen, dann werde ihr schon schlecht (weißt du noch, Winfried, als wir damals mit der kleinen Fähre über die Elbe rüber mussten?), nein, das könne sie niemandem zumuten, sie bleibe sehr gern hier und räume die Spülmaschine ein, und hinterher könne sie noch auf der Terrasse in der Sonne sitzen oder durch den wundervollen Garten spazieren … Karin Bergholtz konnte sie natürlich nicht allein lassen und erklärte, sie wolle ihr Gesellschaft leisten und sich außerdem noch einmal genauer die Funktion der Energiesäule erklären lassen. Außerdem könne sie sich ja jetzt jeden Tag von morgens bis abends herumschippern lassen.
„Na, wieviele Pferde hast du denn in deiner Kiste?“, fragte Winfried, während er noch an den Knebeln seiner Sicherheitsweste herumfummelte. Sein Vater setzte sich ans Führerpult und startete die Maschine. Mit einem leisen Tuckern legte das Boot vom Ufer ab. Iris hielt die Hand ins Wasser: fast schon Badetemperatur. „Ich kannte einen Studienkollegen, der hatte seinen Kahn in Friedrichshafen liegen, und jeden Sommer – “ In dem Augenblick schoss die Maschine nach vorn; der Bug hob sich und sie flogen über das Wasser. Iris schnappte nach Luft; eine unsichtbare Hand drückte sie in ihren Sitz.
„Nicht!“, brüllte sie, „bitte! Es ist mir zu schnell! Stop!“, aber selbst falls Josef Bergholtz bereit gewesen wäre, auf sie Rücksicht zu nehmen, war es völlig ausgeschlossen, dass er sie gehört hatte. Die Zähne gefletscht und mit flatternden Haaren stand er am Steuer, breitbeinig, beide Hände fest am Steuer. Winfried hatte sich an seinen Sitz geklammert; sein Mund stand offen, aber niemand würde erfahren, ob er weiter von seinem Kollegen erzählte oder aber einen verzweifelten Hilfeschrei ausstieß. Gregor hatte die Augen geschlossen. Einzig Frank schien die Geschwindigkeit zu genießen: Er grinste sein breitestes Grinsen und streckte den Daumen hoch. Dann hechtete er in einem lebensgefährlichen Manöver hinüber zum Fahrersitz, hielt sich dort fest und brüllte seinem Vater etwas ins Ohr. Joe Bergholtz drehte sich zu ihm herum: ein Wikingerhäuptling mit blitzenden Augen und Raubtierzähnen, furchtlos, rastlos, skrupellos auf dem Weg zu Ruhm und Verderben. Joe Bergholtz legte das Boot in eine weite Kurve; Gischt schäumte hoch und schoss nadelfeine Tröpfchen auf sein Gesicht, Wasservögel stoben davon. Plötzlich, von einer Sekunde auf die nächste, drosselte er die Geschwindigkeit zu einem gemütlichen Altherrengeschaukel.
„Bist du wahnsinnig geworden!“ Winfried schien einem Kollaps nahe. Er ruderte mit den Armen, als könnte er so seiner zittrigen Stimme mehr Nachdruck verleihen. „Ich finde das nicht komisch! Weißt du nicht, was dabei alles passieren kann?!“ Bergholtz legte den Kopf schief.
„Siebzig“, sagte er. „Siebzig PS. Das wolltest du doch wissen, stimmt´s? Kann locker einen Wasserskifahrer hinter sich herziehen, die Kiste hier. Ich bin sicher, die Kinder rasten aus, wenn sie das sehen.“
„Ich möchte nicht, dass Fabian oder Leonie in dem Tempo hier über den See donnern.“ Iris war nass bis auf die Haut. „Auf keinen Fall! Die können doch überhaupt nicht abschätzen, wie gefährlich das ist bei dem Betrieb hier. Darf denn jeder mit so einem Ding hier auf das Wasser?“ Frank strich sich die feuchten Haare zurück. Ihm hatte das Ganze Spaß gemacht.
„Man braucht einen Motorbootführerschein“, verkündete er. „Für alle Sportboote über 15 PS. Ich hab´ letztens bei einer Hochzeit im Yachtclub fotografiert, da haben sie darüber diskutiert. Was für ein Mist, dass ich die Kamera nicht griffbereit hatte! Die Gischt eben vor der kleinen Insel, das sah stark aus. Meinst du, wir haben Zeit genug zurückzufahren, dass ich meine Ausrüstung holen kann, und dann noch eine Runde zu drehen?“ Bergholtz nickte besitzerstolz.
„Klar. Hast ja gesehen, was für ein Tempo sie draufhat.“
„Hast du einen Motorbootführerschein, Vater?“ Winfried war immer noch blass wie ein toter Fisch. „Hast du einen Kurs gemacht, bevor du das Boot gekauft hast?“
„Ich schätze, Karin rechnet nicht vor sechs mit uns … da können wir noch dreimal um den ganzen See düsen, wenn du willst!“
„Ob du diesen verdammten Führerschein hast, will ich wissen! Oder ob du uns einfach so hier in Lebensgefahr bringst, nur damit du deinen Spaß hast!“ Langsam, in Zeitlupe drehte Josef Bergholtz sich zu seinem mittleren Sohn, so dass er ihn genau vor sich hatte.
„Mach dir doch nicht gleich in die Hosen“, spuckte er. „Du hast ja wohl gesehen, dass ich mit dem Ding hier umgehen kann! Denkst du vielleicht, das wird besser, wenn ich so eine Scheißprüfung ablege?“
„Du hättest uns alle umbringen können mit deiner Raserei! Es hat schließlich einen Sinn, dass es so eine Regel gibt!“ Bergholtz senior zog spöttisch die linke Augenbraue hoch.
„Und das von dir? Ich dachte immer, du bist Manns genug, um dich über schwachsinnige Regeln hinwegzusetzen? Aber ich will dich beruhigen. Sobald ich eine Funkstreife sehe, fahre ich langsam. Versprochen.“ Er lachte. „Wer sich an jede Regel hält, ist entweder ein Idiot oder ein Feigling.“
„Dann bin ich ein Feigling.“ Gregor hatte sein Taschentuch herausgeholt und wischte sich das Gesicht trocken. „Oder, Iris? Idiot oder Feigling, was denkst du?“
„Ich würde mir gern in Ruhe vom Wasser aus die Berge ansehen“, antwortete sie. „Ohne Angst haben zu müssen, über Bord zu gehen. Und ohne bescheuerte Diskussionen zu führen. Einfach nur die Berge ansehen, einverstanden?“ Den Rest der Strecke – einmal rund um die Insel Wörth herum und dann zurück zum Bootssteg – legten sie zurück, ohne noch mehr als drei Sätze zu wechseln. Winfried hatte sich demonstrativ die Stöpsel seines Smartphones in die Ohren geschoben; Gregor tat so, als ob er schlief. Nur Frank hatte sich vorn auf den jetzt lammfrommen Bug gelümmelt und ließ die Füße ins Wasser baumeln, ohne seine Kamera noch einmal zu erwähnen. Josef Bergholtz, ganz der verantwortungsvolle Skipper, steuerte sein Boot jetzt so langsam voran, dass Iris die Enten streicheln konnte, an denen sie vorbeischaukelten. Wahrscheinlich würde der Rest des Tages störungsfrei verlaufen, vermutete sie: Es gab selten mehr als eine Auseinandersetzung pro Besuch, aber diese eine gab es immer. Als brauche Bergholtz diese Auseinandersetzungen, so überflüssig sie auch sein mochten, um sein Weltbild zu bestätigen; als müsse er sich dadurch jedes Mal von Neuem von der Familienhierarchie und seinen alten Vorurteilen überzeugen. Gab es hinter seiner undurchsichtigen Miene eigentlich irgendwo einen Punkt der Unsicherheit, einen Bereich, wo das Licht flackerte und der Boden schlüpfrig war?
„Und, Iris? Alles gesehen?“ Bergholtz sprang leichtfüßig auf den Steg, ließ sich von Frank das Tau zuwerfen und wand es um einen dicken Holzpfosten. Iris stand auf und hatte Mühe, in den schwankenden Boot einen sicheren Stand zu finden.
„Danke, ja.“ Sie griff nach der Hand ihres Schwiegervaters und kletterte an Land.
2
Die Straße zwischen Bad Kohlgrub und Schöffau ist eng; sie hat keine Mittelmarkierung und wird nur wenig befahren. Kilometerweit führt sie durch den Wald und verbindet einzelne Gehöfte, ohne ein Dorf zu berühren. Holztransporter quälen sich durch die Kurven, Trecker, der unvermeidliche Tourenbiker. Moränen, von der letzten Eiszeit hier abgeladen, prägen diese Landschaft am Fuß von Ammer- und Wettersteingebirge; all diese Buckel und Hügel sind nichts anderes als geologischer Schutt, den die zurückweichenden Gletscher vor zehntausend Jahren hier zurückgelassen haben, weiches, formbares Material, das Wind und Wasser nur wenig Widerstand bietet. Josef Bergholtz liebt diese Strecke, das Auf und Ab zwischen grünen Hügeln und tief eingeschnittenen Bächen, den geheimnisvollen Blätterschatten des Waldes, die Illusion der Einsamkeit. Er wählt häufig diesen Weg, wenn er nach einem anstrengenden Tag aus der Schneefernerklinik kommt, auch wenn es nicht der kürzeste ist. Heute fährt er hier entlang, um seine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen. Neben ihm auf dem schwarzen Leder des Beifahrersitzes liegt der Brief, ein harmloses, länglich-rechteckiges Kuvert, dieser Brief, der ihm heute in der Klinik per Einschreiben zugestellt worden ist: Eine Vorladung zur Polizei. Eine anonyme Anzeige ist gegen ihn eingegangen. Allein der Gedanke, dass die deutsche Polizei auf solche hinterhältigen Angriffe eingeht, lässt seine Adern anschwellen. Anonym, das bedeutet feige. Für Feiglinge hat er nichts als Verachtung. Feiglinge sind widerlich, das Allerletzte, Abschaum, nichts anderes als Dreck. Und so ein Feigling, so ein Nichts versucht, ihn zu Fall zu bringen – einen Mann, der Tausenden Hoffnung und Leben geschenkt hat! Bergholtz rast. Aber immer schon ist das Kleine ein Feind des Großen gewesen, weil es Größe nicht ertragen kann. Er hätte eine Patientin bei der Operation getötet, wird behauptet, mit voller Absicht, aus niedrigen Motiven. Es wird gegen ihn ermittelt. Jemand wirft mit Dreck auf ihn, und was tut die Polizei? Macht sie sich auf die Suche nach dem Schmutzfink, der aus der Deckung heraus Rufmord betreibt? Reißt sie die infame Anzeige in Fetzen und spült sie das Klo hinunter? Nein! Sie lädt ihn zur Vernehmung vor, ihn, den Geschädigten, statt ihn zu schützen! Er soll einen Anwalt mitbringen, falls er es wünscht.
Bergholtz gibt Gas; Kiefern fliegen an ihm vorbei, Wiesen, auf denen hüfthoch das sommerwarme Gras steht, aufgestapeltes Holz. Soll er Winfried anrufen? Aber Winfried hat keine Ahnung. Winfried ist ein kleiner Fisch, der nichts ausrichten wird in einem Haifischbecken. Und es ist ein Haifischbecken. Wie sie sich auf ihn stürzen werden, all die Versager, die er in den letzten dreißig, vierzig Jahren hinter sich gelassen hat, all die Neider und Leisetreter! Nein, er muss mit Wolfgang sprechen, Strafrechtsanwalt, Mit-Rotarier, alter Freund aus Verbindungstagen. Die Schwänze werden sie einkneifen, wenn er mit Wolfgang auf der Bildfläche erscheint. Anonym. Es muss jemand aus der Klinik gewesen sein, jemand aus dem OP-Team vermutlich. Wer könnte es getan haben? Werwerwerwer? Er durchbohrt den erbärmlichen Brief mit seinem Blick, als könnte er so eine Antwort bekommen.
Totschlag ist das Wort, das diese Herren Juristen gegen ihn schwingen wie ein Keule; sie wollen ihn wegen Totschlags belangen. Totschlag! Dabei hat er getan, was sie von ihm wollte: Tun Sie, was Sie können, Herr Professor! Tun Sie alles, was Sie können! Und das hat er getan, und es ist ihm verdammt noch mal nicht leicht gefallen. Er hat ihre letzte Schlacht geschlagen, ihr den letzten Dienst erwiesen, den ein Mensch seinem Nächsten erweisen kann. Er hat ihr das Leiden erspart, vor dem sie Angst hatte, den jämmerlichen, schmerzhaften Tod, der auf sie wartete. Aber wie sollte ein Jurist das auch verstehen, ein blutleerer Paragraphenreiter, der noch nie ein warmes Herz in seinen Händen gehalten hat, der noch nie gespürt hat, wie es zuckt und schlägt!
„Pack“, zischt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Verdammtes, verfluchtes, selbstgerechtes Pack!“ Dieselben Leute, die jetzt über ihn herfielen, würden die ersten sein, die in die Schweiz rannten und darum bettelten, dass jemand ihnen einen Giftcocktail servierte, wenn ihr eigener Körper von Krebszellen überwuchert wurde. Einen Tod auf dem Silbertablett. Dieselben Leute, die sich so gnadenlos sicher waren, was anderen Menschen erlaubt sein sollte und was nicht.
Sonnenflecken auf der Straße, der Schrei des Eichelhähers, die kleine Brücke. Josef Bergholtz spürt den Weg mehr, als dass er ihn sieht, so wie er mit den Fingern seinen Weg erspürt in fremden Körpern – ein geheimnisvoller, fast übernatürlicher Sinn, den er in den letzten Jahrzehnten perfektioniert hat, ein Instinkt, der Kollegen verblüfft und irritiert, das Wesen seines Erfolgs. Bergholtz, der geniale Operateur, der Mann mit der begnadeten medizinischen Intuition. Er bringt den Wagen ans Limit, beschleunigt, schneidet die Kurven, der Porsche zischt über die Straße. Natürlich weiß ein routinierter Fahrer, dass es hier jederzeit zu Wildwechseln kommen kann, dass die Rehe selbst mitten am Tag über die Fahrbahn springen. Natürlich weiß es auch Bergholtz, denn er ist ein routinierter Fahrer. Aber da gibt es diesen Brief mit seinem hässlichen Geheimnis, diese anonyme Anzeige, und Bergholtz ist auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, wobei das Blut heftig in Wallung geraten ist. Die anonyme Anzeige ist ein vergifteter Pfeil, der in seinem Fleisch steckt und dessen tödliche Wirkung von Sekunde zu Sekunde weiter in seinen Körper vordringt. Ein Chopin-Klavierkonzert kommt aus der Stereoanlage, die CD ein Geschenk von Karin, aber er kann dieses schwindsüchtige Geklimper nicht ertragen, heute nicht, schlägt wütend mit der Hand nach den Knöpfen. Die CD-Schublade verkantet beim Ausfahren, er fummelt daran herum, es ist ein Scheißgerät an diesem Scheißtag in diesem Scheißwagen. In dem Augenblick springt der Rehbock auf die Straße. Es ist ein ausgewachsenes Tier, sicher zwanzig, fünfundzwanzig Kilo schwer, mit schönem braunem Fell und gut entwickeltem Gehörn, an der rechten Flanke eine breiten Narbe, wo er einmal an einem Stacheldraht hängen geblieben ist. Für ihn ist die Straße ein Riss im Wald, wo der Boden unangenehm hart ist und gelegentlich rutschig. Das Ding, was da plötzlich auf ihn zu kommt, erschreckt ihn; für den Bruchteil einer Sekunde streiten die zwei Programme miteinander, über die sein Gehirn für diesen Fall verfügt: Flucht oder bewegungsloses mit-dem-Hintergrund-Verschmilzen. Er bleibt stehen. Bergholtz erkennt im letzten Moment das Hindernis auf der Fahrbahn und reißt das Lenkrad herum, bremst. Der Wagen schießt von der Straße herunter und rast mit rund einhundertzwanzig Stundenkilometern auf eine Baumgruppe zu.
Perfide, denkt Bergholtz noch in seinen letzten Momenten, infam – Opernvokabeln wie diese, dann prallt sein Porsche frontal gegen eine vielhundertjährige Buche.
3
Der Waldfriedhof auf einer Anhöhe über Starnberg ist angelegt wie ein Park, mit alten Bäumen, halbhohen Hecken, gepflegten Wegen und romantischen Eckchen, ein Ort, wo man sich gut vorstellen kann, wie alte Damen mit weißen Kringellöckchen verschämt ein paar Rosenblätter auf das Grab ihrer Jugendliebe streuen. Verspielte Grabsteine mit Engeln, Herzen und Kreuzen, sogar eine Buddhabüste zeugen von den individuellen Vorlieben der Bestatteten oder zumindest deren Familien; Formschnittgehölze (Lebensbäume, Eiben, Buchs) geben dem Gelände eine rhythmische Struktur. Mehr praktischen als ästhetischen Motiven ist dagegen ein Grablichtspender am Eingang geschuldet, ein hässlicher, grauer Kasten, der gegen die Zahlung von einem Euro ein ökologisch korrektes Mehrweg-Grablicht auswirft („Ölberg Grablichter – der Umwelt zuliebe“) und an nichts mehr erinnert als an einen Parkscheinautomaten. Was ja vielleicht an diesem Ort auch seine Berechtigung hat.
Dem Ansturm der Beerdigungsgäste heute war der Friedhof kaum gewachsen; schon der Parkplatz war brechend voll, und nur ein Bruchteil der Besucher hatte einen Platz in der nüchternen Friedhofskapelle gefunden. Auch die Presse war natürlich da; zwei Reporter und ein Fotograf hatten sich gerade dem Ausgang der Kapelle gegenüber postiert, wo man den besten Blick auf die trauernde Witwe hinter dem Sarg haben würde, und vertrieben sich die Zeit damit, auf ihren Handys herumzutippen, Zeitung zu lesen oder die zahlreichen aufdringlichen Spatzen mit gezielten Steinwürfen zu verscheuchen, bis es so weit war.
Thea Bergholtz saß in der ersten Reihe, neben sich Winfried auf der rechten und den Mittelgang der Kapelle auf der linken Seite, wo Iris, Gregor und Fabian platziert waren. Fabians übergroße offensichtlich neue schwarze Lederjacke ließ ihn noch blasser erscheinen und sein verheultes Gesicht noch nervöser; vielleicht war es ja die erste Beerdigung, an der er teilnahm. Gewöhn dich daran, mein Junge. Beerdigungen gehören dazu. Am besten ist es, wenn du regelmäßig hingehst, jede Woche, damit du vorbereitet bist. Thea verzog den Mund zu einer verächtlichen Grimasse, wobei sie nicht hätte sagen können, wem die Verachtung am meisten galt – sich selbst oder dem Mann an ihrer Seite. Als ob man sich je darauf vorbereiten könnte! Als ob man den Sturz ins Bodenlose damit abmildern könnte, dass man vorher regelmäßig von der Leiter sprang! Das einzige, was einen schützen konnte, war die grausame Erfahrung, dass die größte Katastrophe bereits stattgefunden hatte und man selbst immer noch am Leben war.
Winfried hatte dafür gesorgt, dass für die Prominenten unter den Trauergästen Plätze im vorderen Bereich frei gehalten wurden. Neben Familie und Freunden, Kollegen und Klinikpersonal war eine bemerkenswerte Anzahl Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erschienen – ein Vertreter des Innenministers, der Präsident der Ärztekammer, diverse Lokalpolitiker sowie ein überregional bekannter Volksmusiker, dem der Professor vor Jahren eine neue Niere eingepflanzt hatte und der in seinem schlichten schwarzen Traueranzug eigenartig verkleidet wirkte. Thea betrachtete ihren eigenen langen Wollrock und die Wildlederschuhe, die sie sich für diesen Anlass gekauft hatte, und wusste, dass sie ihm in Punkto Verkleidung in nichts nachstand. Schon beim Anprobieren vor dem Spiegel im Modegeschäft hatte sie das gewusst, hatte sich gefühlt wie die übergewichtige Hauptdarstellerin einer Schulaufführung irgendwo in einem Kleinstadtgymnasium, die in jeder Sekunde weiß, dass kein einziger Zuschauer in der abgedunkelten Aula ihr die Verwandlung in eine wunderschöne Prinzessin abkauft. Diese Überzeugung, am falschen Platz zu sein, verkleidet, in einem fremden Körper gefangen, war ihr vertraut; ihre wahre Heimat lag in einer anderen Welt. Heute, inmitten der Trauergemeinde, gab es noch einen weiteren Grund, sich fremd zu fühlen: Wenn sie sich dem Risiko aussetzte, einen scharfen Blick in ihr Inneres zu werfen, registrierte sie dort nichts weiter als Verbitterung, Langeweile sowie (in Anbetracht der nicht enden wollenden Lobeshymnen, Dankadressen, Ansprachen, Würdigungen) einen wachsenden Überdruss, was den verstorbenen Josef Bergholtz anging. So sehr sie sich mühte, irgendwo in ihrem ausgebrannten Herzen eine Spur von Trauer aufzuspüren, da gab es nichts als Ödnis. Die einzige Empfindung, die sie schließlich identifizieren konnte, war eine vage Befriedigung darüber, dass die Beerdigung eine professionelle Inszenierung zu werden versprach, in der sie nicht mehr leisten musste, als würdevoll dazusitzen, um als eine der Hauptfiguren wahrgenommen zu werden.
Die Organisation von Bergholtz´ Beerdigung lag vollständig in den Händen seiner Sekretärin, was insofern folgerichtig erschien, als sie sich ja auch zu Lebenzeiten um seine Termine gekümmert hatte. Das einzige, was Karin Bergholtz sich vorbehalten hatte, war die Gestaltung der Todesanzeigen gewesen, für die sie einen kaum bekannten Psalmenspruch ausgesucht hatte: Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten ∙ Herr, wer könnte bestehn? Ein auffälliger Spruch, fand Thea, kaum einer, den Josef Bergholtz selbst ausgesucht hätte. Zumindest hatte er ihr nie das Bild eines von Schuldbewusstsein und Selbstkritik gequälten Griesgrams vermittelt. Musste der unvoreingenommene Leser dieser Verse nicht unwillkürlich glauben, dass es besonders viele oder besonders beachtliche Sünden waren, die der Verstorbene auf dem Kerbholz hatte? Thea verstand nicht, warum ihre Schwiegermutter ausgerechnet darauf verfallen war. Ansonsten hielt Karin Bergholtz sich gut – aufrecht, gefasst, stilvoll, wie sie eben immer war. Thea wäre die letzte gewesen, das nicht anzuerkennen. Wenn überhaupt für irgendjemanden aus der ganzen Familie dann empfand sie einen Anflug von Zuneigung für Winfrieds Mutter, die ein Beweis dafür war, dass ein würdevolles Leben möglich war – unabhängig davon, an der Seite welches Mannes man morgens aufwachte.
Irgendwann kam auch der letzte Redner zum Ende (Thea hatte sich keinerlei Mühe gegeben, den immer ähnlichen devoten Worten zu folgen), und die Sargträger erhoben sich, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu geben. Es waren ausnahmslos Ärzte, die Bergholtz in seinen Jahren als Chirurg selbst ausgebildet hatte. Sie hatten Mühe, das Gewicht auszubalancieren und Tritt zu fassen, und der Sarg mit den weißen Rosen und Lilien darauf schwankte bedenklich auf ihren Schultern. In dem Augenblick, als sie die Kapelle verlassen wollten, entstand Unruhe unter den Trauergästen. Ein widerlicher, penetranter Geruch breitete sich zwischen ihnen aus und erfüllte binnen Sekunden den ganzen Raum. Er reizte zum Husten und zwang dazu, sich ein Taschentuch vor Mund und Nase zu pressen. Die Sargträger stürzten mit ihrer Last fluchtartig nach draußen, aber die übrige Trauergemeinde hatte nicht die Chance, sich genauso schnell in Sicherheit zu bringen – zu voll waren die Bänke, und überdies hatte der Mesner noch ein paar Stühle zusätzlich in den Eingangsbereich gequetscht. Thea spürte den Brechreiz in sich aufsteigen und hatte sofort das Bild einer Gruppe feixender Dreizehnjähriger vor Augen, die vor einer gefühlten Ewigkeit auf diese Weise eine öde Physikstunde vorzeitig beendet hatten. Buttersäure. Ohne Zweifel hatte jemand in der Kapelle eine ganze Batterie von Stinkbomben losgelassen.
„So eine Unverschämtheit“, zischte Winfried und zog sie hinter sich her zum Ausgang. „Das hat noch ein Nachspiel … das lasse ich mir nicht gefallen! Sie ziehen die ganze Familie in den Dreck!“ Endlich an der frischen Luft, registrierte Thea zufrieden, wie sich die ausgetrockneten Flussbetten in ihrer emotionalen Wüste mit einem Strom aus Empörung und, ja, Schadenfreude anfüllten. Was für ein Tag, dachte sie. Die Tatsache, dass Bergholtz definitiv seinen letzten Atemzug getan hatte und nie wieder eine ätzende Bemerkung über ihren Geschmack, ihr Aussehen oder ihre Intelligenz machen würde, hatte unbedingt auch ihre guten Seiten.
„Was für eine Frechheit! Eine unglaubliche Respektlosigkeit dem Toten gegenüber!“ Das Café, das für den kleinen Imbiss nach der Beerdigung ausgewählt worden war, platzte aus allen Nähten; niemand hatte mit einem solchen Ansturm gerechnet. Winfried stand Friedrich Bergholtz gegenüber, Josefs jüngerem Bruder, der der schäumenden Empörung seines Neffen mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der einen Hand und einem Teller mit Streuselkuchen in der anderen wehrlos ausgesetzt war. „Was für eine unglaublich infame Beleidigung! Mutter ist völlig am Ende. Ich verstehe nicht, wie jemand zu so einer Gemeinheit fähig sein kann.“
„Vielleicht war es Zufall, dass es ausgerechnet diese Beerdigung getroffen hat“, versuchte Friedrich ihn zu besänftigen. Er war Pfarrer im vorzeitigen Ruhestand, ein distinguierter älterer Herr mit adretten grauen Löckchen und freundlichem Doppelkinn über dem weißen Kollarkragen, und versöhnlicher Sanftmut war sein wohlerprobtes Mittel, um alltäglichen Konflikten unbeschadet zu entkommen. „Eine Mutprobe, ein dummer Jungenstreich … “
„Ach was.“ Bergholtz junior wischte den Einwand zur Seite; versöhnlicher Sanftmut kam in seinem Lebenskonzept nicht vor. „Ich denke, es handelt sich um groben Unfug, Störung der Totenruhe und versuchte Körperverletzung. Ich werde Anzeige gegen Unbekannt erstatten.“ Unbehaglich sah sein Onkel sich um, ob sich nicht wenigstens ein Tischchen fände, wo er seine Tasse abstellen und dann würdevoll in den Nebenraum flüchten könnte. Aber in dem Gedränge war kein Durchkommen, und Winfried machte keinerlei Anstalten, ihn aus seinen Fängen zu entlassen.
„Hast du irgendeine Vorstellung, wer zu einem solchen – Streich fähig wäre? Oder Grund dazu hätte?“
„Grund dazu? Was willst du denn damit sagen?“, fragte Winfried feindselig. „Welchen Grund könnte es geben, die trauernden Angehörigen eines Verstorbenen zu beleidigen? Den Verstorbenen selbst?“
„Nun, ich – du hast ganz recht, mein Junge. Vielleicht könnten wir – “
„Einen leidenschaftlichen Arzt, der versucht hat, den Menschen zu helfen! Unzählige Patienten sind ihm dankbar. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das jedes Jahr zu Weihnachten ist, wie viele Grußkarten und Päckchen er immer bekommt! Warum sollte man so jemandem etwas Böses wollen?“
„Ich weiß es auch nicht. Winfried – oh, ich glaube, ich habe den Dekan entdeckt! Bitte entschuldige mich, ich will ihn gern begrüßen.“
Was auch immer der Stinkbombenleger bezwecken wollte: An Karin Bergholtz war seine Attacke vorbeigegangen. Ein einziger Augenblick hatte ihr Lebenslandschaft aufgerissen wie ein gigantisches Erdbeben; hilflos, orientierungslos irrte sie zwischen den Rauchwolken herum und konnte nicht verhindern, dass unvergängliche und scheinbar ewige Lebenskomponenten auf der schiefen Ebene ihres Daseins plötzlich ins Rutschen gerieten und durch diesen Riss ins Nichts verschwanden. Das Haus, das Josef und sie so lange gemeinsam bewohnt hatten, bot keinen Schutz mehr, und die vielen Hände, die sich nach ihr ausstreckten, waren eine Qual. Ihre Möglichkeit, diese Tage zu überleben, ihre einzige Möglichkeit bestand darin, sich abzukapseln vor dem bedrohlichen Außen, sich aufzuspalten in einen Teil, der handelte und redete und entschied, der Texte aussuchte, Hände schüttelte und sogar fertigbrachte, eine Schaufel mit Erde in dieses furchtbare Loch zu werfen, und in einen anderen Teil, der sich hinter der Fassade in Sicherheit gebracht hatte. Unverletzlich. Unberührbar.
Einige Alltagsrituale waren geblieben, Landmarken, die dem Chaos ein Minimum an Struktur verliehen: Die Zeitung steckte immer noch jeden Morgen im Briefkasten, ebenso wie die Post jeden Mittag. Am Dienstag und am Freitag kam die Putzfrau. Die Walking-Gruppe traf sich montags, mittwochs der Literaturkreis, Freitag Nachmittag war Dienst im Tafelladen. Die Kinder verstanden nicht, dass ihr das so wichtig war. Sie verstanden nicht, warum sie darauf beharrte, keinen dieser Termine ausfallen zu lassen („du musst dir das doch nicht zumuten!“), verstanden nicht, dass das Schwierige nicht in diesen durchorganisierten Zeitabschnitten lag, sondern in dem gefräßigen Nichts dazwischen. In dem Nichts, das plötzlich über sie herfiel, wenn sie wieder viel zu viel Kaffee zum Frühstück gekocht hatte oder eins von seinen getragenen Hemden in der Wäsche fand; wenn sie im Laden nach seiner Lieblingsschokolade suchte oder im Keller nach dem großen Schraubenzieher, mit dem er immer die Schrauben an den Gartenstühlen nachgezogen hatte; wenn sie für Augen, die nicht mehr lesen würden, einen Artikel in der Zeitung angestrichen hatte oder auf eine unbedacht geäußerte Frage keine Antwort bekam. So wie sie auf nichts mehr eine Antwort bekommen würde.
Angesichts der Katastrophe hatte sie einige Tage gebraucht, bis sie den Umstand, dass Josefs Tod einem Autounfall geschuldet war, in seiner vollen Bedeutung realisiert hatte. Dass auch Josef noch all die Jahre später einem Autounfall zum Opfer gefallen ist. Nachdem diese Erkenntnis sich einmal an die Oberfläche ihres Bewusstsein gekämpft hatte, ließ sie sich nicht mehr verdrängen. Sie wuchs und wuchs zu einer Bedrohung, die ihre Gedanken und Gefühle lähmte und sie dazu trieb, an einem Nachmittag in das unbewohnte Dachgeschoss zu steigen und eine Stunde lang vor einem geöffneten Mansardenfenster zu stehen, den gemauerten Treppenaufgang in sicherer Entfernung unter sich. Sie hörte das dunkle Wasser ans Ufer schwappen und den warnenden Schrei des Bussards über den reifenden Weizenfeldern und dachte, wie es wäre sich fallen zu lassen, konzentrierte sich nur auf diese Worte: sich fallen lassen. Wie sie über das Sims klettern würde; wie sie auf dem Fensterbrett stehen und ihren Körper nach vorn kippen lassen würde. Wie die Sohlen sich vom Untergrund lösen und der Wind über ihr Gesicht streichen würde, bevor sie auf dem Boden aufprallte, viel zu schnell, um Angst oder Zweifel zu spüren. Was sie davon zurückhielt, diesem Impuls zu gehorchen, wusste sie hinterher nicht. Vielleicht war es das Gefühl, dass es nicht recht wäre, sich jetzt davonzustehlen; dass alle Schuld getragen werden wollte.
Karin Bergholtz hatte also keine Zeit für Stinkbombenattentäter. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich von einer Landmarke zur nächsten zu schleppen, ohne von den plötzlich überall klaffenden Spalten verschlungen zu werden. Sie wollte nur überleben. Allerdings erreichte sie am Tag nach der Beerdigung die Nachricht, dass jemand die Kränze und Gebinde auf Josefs Grab mit schwarzer Farbe besprüht hatte, so dass die Friedhofsgärtner sie entfernen und wegwerfen mussten. Ob sie wünsche, dass man ein paar neue Kränze besorgen solle? Ja, das wünschte sie. Auch diese neuen Kränze hielten nur zwei Tage, bevor sie besudelt wurden, diesmal in blutrot. Außerdem war ein Plakat aufgestellt worden mit der Aufschrift: Hier liegt der Mörder Bergholtz. Karin hatte eigentlich nicht vorgehabt, jeden zweiten Tag zum Friedhof nach Starnberg zu fahren, fühlte sich jedoch durch diese Ereignisse dazu gezwungen. Die welken Kränze (genauer gesagt, die welken Ersatzkränze mit ihren trotz mühsamer Reinigung immer noch fleckigen Schleifen ,In ewiger Treue – Burschenschaft Albingia‘, oder: ‚Dem Pionier und Mentor – Belegschaft Schneefernerklinik‘) waren inzwischen vorzeitig weggeschafft worden; stattdessen hatte der Gärtner auf die Schnelle ein paar Stiefmütterchen eingepflanzt, Azaleen und Immergrün, eine Kombination, die Karin in ihrem Garten nie dulden würde. Sie hatten vorher nie miteinander darüber gesprochen, aber Karin war sicher, dass Josef keinen besonderen Wert darauf gelegt hätte, dass seine Witwe regelmäßig sein Grab besuchte. Dass er gerade dort bestattet war, entsprach keinem persönlichen Wunsch und keiner besonderen Vorliebe, sondern beruhte allein darauf, dass Winfried angeboten hatte, sich um alles zu kümmern. Er hatte in Starnberg bereits für seine Schwiegereltern eine Gruft gekauft und kannte sich mit den dortigen Gegebenheiten gut aus. Karin hatte nicht widersprochen, als er Starnberg vorgeschlagen hatte, obwohl der Murnauer Friedhof deutlich näher gewesen wäre. Widerspruch hätte eine Kraft erfordert, über die sie nicht mehr verfügte.
Das Grab auf dem Starnberger Waldfriedhof, überhaupt der ganze Friedhof war kein Ort, an dem sie sich ihrem verstorbenen Mann besonders nahe fühlte oder der besondere Rührung in ihr hervorrief. Sie stand auch nicht stundenlang davor, hing traurigen Erinnerungen nach und kämpfte mit den Tränen. Nein, sie holte den kleinen Mercedes aus der Garage, fuhr die knapp fünfzig Kilometer bis Starnberg, stellte den Wagen auf dem Parkplatz am Eingangstor ab, lief den Hauptweg entlang und wartete angespannt auf den Augenblick, an dem sie das Grab zu Gesicht bekam, das Grab und die Botschaften, die jemand vielleicht wieder darauf hinterlassen hatte – Schmierereien auf dem provisorischen Holzkreuz, beleidigende Plakate, verwüstete Blumenarrangements. Wenn der Unbekannte dagewesen war, alarmierte sie einen der zuständigen Gärtner. Wenn nicht, verharrte sie stumm vor den sechs Quadratmetern frisch geharkten schwarzen Mutterbodens, vor Veilchen und Immergrün und wartete auf die Empfindungen, die sich nach der anfänglichen Erleichterung einstellen würden: Trauer natürlich, Einsamkeit, Verwirrung, Unbehagen. Es kam ihr immer so vor, als müsse da noch etwas anderes sein.
Heute konnte sie schon vom Hauptweg aus erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war: Mehrere Friedhofsarbeiter standen gestikulierend vor der Grabstelle, Schubkarren und Plastikplanen blockierten den gekiesten Zugangsweg. Kurz überlegte sie, ob sie nicht einfach Winfried anrufen, umdrehen und nach Hause fahren sollte, bevor jemand sie bemerkte, aber schließlich lief sie doch zu den Männern hinüber, an kleinen Buchshecken vorbei und sauber geharkten Beeten, die das Chaos auf der Bergholtz-Gruft noch einmal besonders unterstrichen.
„Es ist eine unglaubliche Sauerei“, war das erste, was der Gärtnermeister zu ihr sagte. „So was hab ich noch nie erlebt! Die müssen heute früh hier reingekommen sein, gleich nachdem der Micha das Tor aufgeschlossen hat, und das Zeug hier abgekippt haben.“ Die zarten violetten und gelben Stiefmütterchen, die fehlplatzierten Azaleen waren unter einer Schicht von halbverrotteten Abfällen verschwunden – matschigen und angeschimmelten Früchten, stinkigen Kartoffelschalen, grünlich schillernder Wurst, fauligem Stroh, als hätte jemand den Inhalt mehrerer Biotonnen hier ausgeleert. Mistfliegen schwirrten um etwas herum, das an Hundekot erinnerte. Einer der jüngeren Gärtner griff mit bloßen Händen in den Unrat hinein und holte einen Knochen heraus, an dem noch faserige Fleischreste hingen.
„Das können wir nicht in den Kompost schaufeln, Chef“, stellte er sachkundig fest. „Da ist Fleisch dran, das lockt bloß die Ratten an.“
„Kann man – kann man herausfinden, wer dafür verantwortlich ist?“, hörte Karin sich fragen. Sie brauchte ihre ganze Konzentration, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Es gab wenig, was sie nicht ansehen konnte, Blut, Dreck, Eiter, es machte ihr nichts aus, aber gegen Gerüche konnte sie sich nicht zur Wehr setzen. Gerüche drangen durch unkontrollierbare Öffnungen in ihren Körper ein und machten sich in den animalischen Niederungen ihres Wesens breit, wo nichts und niemand ihr gehorchte. Sie suchte hektisch nach einem Erfrischungstuch. „Haben Sie die Polizei informiert?“ Der junge Mann, der den Knochen herausgeangelt hatte, schüttelte den Kopf. Beim Anblick seiner fleischigen nackten Hände (er hatte die Daumen mittlerweile lässig in den Gürtel gehakt) spürte Karin einen heftigen Würgereiz.
„Wir können nicht warten, bis die kommen und sich hier den Tatort ansehen“, erklärte der Meister entschieden und schob mit der Fußspitze einen nässenden Kohlkopf zur Seite. „Das ist eine Zumutung. Wir müssen das Zeug wegschaffen, bis heute Nachmittag hier alles voll ist mit Besuchern. Also, Micha, Toni, holt euch Schaufeln und schafft die Sauerei rüber zum Müllcontainer. Ich ruf´ bei der Stadt an und frage, ob die heute noch kommen können und das Zeug abholen. Und morgen richten wir das Grab wieder her, das wird wieder ganz schön.“ Er griff nach Karins Schulter und schob sie ein paar Meter weiter. „Sie haben doch schon mal Anzeige erstattet, Frau Professor, stimmt´s? Da kommt nix bei raus, wenn Sie das jetzt noch mal machen, den kriegen Sie nie. Am besten, man reagiert gar nicht, dann vergeht diesen Arschlöchern des Spaß daran.“
„Das ist so widerlich“, flüsterte Karin. Idiotischerweise hatte sie keinen dringenderen Wunsch, als sich den Mund auszuspülen. „Kann ich hier irgendwo ein Glas Wasser bekommen?“ Ja, das sei kein Problem. Es gebe ein Büro, wo er die Verwaltungsarbeit erledige, da sei alles zu finden. Ob es ihr wieder besser gehe? Der Gärtner richtete sich an seiner eigenen Autorität auf, befand Karin. Beneidenswert. Das Wasser, das er ihr schließlich reichte, schmeckte nach Torf und verrottetem Laub.
Später blieb sie noch lange mit geschlossenen Augen in ihrem Auto sitzen und versuchte sich zu entspannen. Aber der Geruch war ihr gefolgt und machte es sich im Wageninneren bequem, kroch unter ihren Rock, legte ihr seine modrigen Arme um den Hals. Bilder von Fäulnis, Gärung und Verfall irrten durch ihren Kopf, von halbverwesten Knochen, blutverschmierten Federn und augenlosen Hühnerschädeln – von einem altbekannten Grauen, das durch den gemeinen Geruch, durch den Anblick des Knochens aus seinem Käfig befreit worden war. Es witterte ihre Schwäche und wetzte die Krallen.
Die Fahrt zurück beruhigte sie, der zuverlässig grüne Wald, die Seen, die Alpenkulisse. Es lag ein Trost darin, dass die Zeit voranschritt, ohne dass es dazu einer menschlichen Anstrengung bedurfte. Es lag ein Trost in der Unbeirrbarkeit der Natur, die über Karins Unglück einfach hinwegging. Es lag ein Trost in dem Gedanken, dass sich die Jahreszeiten auch nach dem eigenen Tod weiterhin abwechseln würden, dass es weiterhin regnen, stürmen, schneien würde, die Vögel singen, sich vermehren und in den Süden ziehen würden. Heute war einer der wenigen Wochentage, an denen keine weitere Aktivität eingeplant war – kein soziales Engagement, kein Sport, keine Freunde. Einer der wirklich schwierigen Tage, die durchgekämpft werden wollten. Das einzige, was an solchen Tagen half, war Arbeit, deshalb beschloss Karin, den Gartenpavillon aufzuräumen. Sie holte die Schubkarre aus dem Schuppen und schob sie zu dem kleinen Gebäude hinüber, um gründlich Ordnung zu schaffen und auszusortieren. Wie eigenartig, dachte sie unwillkürlich, als sie die verschnörkelten Metallstreben in der Sonne glänzen sah, dass sie ihr Herz einmal an solche sinnlosen Dinge gehängt hatte. Dann fiel ihr auf, dass die handgeschmiedete Stellage neben der Tür leer war. Normalerweise standen die Schalen mit den Bonsaibäumchen darauf, angeordnet nach ästhetischen Gesichtspunkten, die zu erklären Josef sich immer geweigert hatte („Wenn du dich nicht mit den chinesischen Vorstellungen von Harmonie auseinandergesetzt hast, kannst du nicht verstehen, was das Arrangement bedeutet. Und stell um Himmels willen nichts um! Am besten lässt du einfach ganz die Finger davon.“). Erst jetzt, als sie die leeren Stellbretter vor sich hatte, fiel ihr ein, dass Josef ja an seinem letzten Abend noch davon gesprochen hatte, wie er alle Pflanzen einräumen wollte, um sie dann am nächsten Tag neu zu drahten und nachzuschneiden. Sie verlangsamte ihren Schritt, musste sich zwingen, die Türklinke herunterzudrücken und einzutreten.
Der Pavillon roch muffig, nachdem er so lange nicht gelüftet worden war, muffig und ganz leicht nach Desinfektionsmittel. Der große Arbeitstisch hatte sich in einen Bonsaifriedhof verwandelt – eine traurige Versammlung von vertrockneten Zwergbäumchen, die dem plötzlichen Wassermangel, dem plötzlichen Liebesentzug nichts hatten entgegensetzen können und sich stattdessen nach einem verfrühten Herbst in die ewige Winterruhe begeben hatten. An ein paar Ästchen hingen noch dürre braune Blätter, die zwischen den Fingern knisterten, sobald Karin sie berührte; die japanische Kiefer hatte sich hepatitisgelb verfärbt und ließ bei der ersten Berührung alle Nadeln fallen. Den Fächerahorn, Josefs Liebling und überhaupt eins der allerersten Gehölze der Sammlung, hatte er zu seinem vierzigsten Geburtstag von seinen Kollegen bekommen. Er hätte ihn selbstverständlich auch in unbelaubtem Zustand identifizieren können, und nicht nur ihn, sondern jeden einzelnen Baum, Karin dagegen konnte ihn jetzt ausschließlich an der jadegrün glasierten Schale erkennen. Aber sie hatte zu den Bonsais auch nie eine gute Beziehung gehabt, zu diesen widernatürlichen Gewächsen, die ihr Schöpfer sich mit Draht und Schere so vollständig unterworfen und zu Zwergen degradiert hatte. Muss das wirklich sein?, hatte sie gefragt. Musst du wirklich aus einem gesunden Baum so einen Krüppel machen? Er hatte sie daraufhin mit dieser Mischung aus Spott und Mitleid angesehen, mit der er sie gern an ihre intellektuelle Unterlegenheit erinnerte, oder vielmehr an das, was er für ihre intellektuelle Unterlegenheit hielt. Diese Pflanze hier ist alles andere als ein Krüppel, hatte er gesagt und den Ahorn hochgehalten. Sie ist ein Kunstwerk. In der chinesischen Kultur soll der Bonsai die Harmonie zwischen Mensch, belebter und unbelebter Natur darstellen. Sie hatte laut aufgelacht. Was bitte soll daran natürlich sein? Das einzige, was er für mich darstellt, ist ein Zeugnis der menschlichen Hybris! Weißt du, an was dieses Ding mich erinnert? An die eingeschnürten, verkrüppelten Füße, die die Chinesinnen sich früher haben binden müssen, um attraktiv zu sein. Vermutlich gab es für die auch so eine hochtrabende Rechtfertigung. Vermutlich waren sie ein Ausdruck der Harmonie zwischen männlichem Machtanspruch und weiblichen Fluchttendenzen. Wie hatte sie plötzlich den Drang gespürt, sich in eine erbitterte Grundsatzdiskussion zu stürzen, aber Josef hatte nur grinsend eine Gartenschere hochgehoben, die zufällig auf dem Tisch lag. Ist das nicht die Schere, mit der du immer die Rosen schneidest? – Das ist etwas ganz anderes! – Dann erklär mir den Unterschied! Ich bin sicher, im Grunde ist es genau dasselbe. Sie hob eins der Baumgerippe hoch und betrachtete es. Irgendwie waren sie damals nicht zum wahren Kern ihres Streits vorgedrungen; wahrscheinlich hatten sie es beide nicht wirklich gewollt. Heute kam es ihr vor, als wären sie bei allen wirklich wichtigen Fragen ihres gemeinsamen Lebens nicht bis zum Kern vorgedrungen, als hätte ihnen im entscheidenden Augenblick immer der Mut gefehlt. Sie wusste, es war eine Illusion zu glauben, dass zwischen ihnen die Dinge noch zur Sprache gekommen wären, über die sie jahrzehntelang geschwiegen hatten, wenn ihnen das Schicksal nur ein paar Monate mehr gegönnt hätte. Es war eine Illusion zu glauben, irgendwann hätten sie die wesentlichen Fragen gestellt. Sie wusste das, aber es machte ihren Schmerz nicht kleiner.
Schließlich trug sie die toten Pflanzen nach draußen, hob sie aus ihren Schalen und packte sie in eine Schubkarre. Am besten sollte man sie in den Häcksler stecken, um das Holz zu zerkleinern, aber schon die Vorstellung verstörte sie. Sie fuhr die Schubkarre nahe ans Ufer, dahin, wo der Garten in die natürliche Landschaft überging, und verbrachte zwei Stunden damit, ein Loch zu graben, die Bonsais hineinzubetten und dann das Loch wieder zuzuschütten. Völlig erschöpft setzte sie sich danach auf den Bootssteg und sah zu dem Pavillon hinüber. Sie würde niemals die Korbmöbel in den Pavillon stellen, von denen sie immer geträumt hatte, genausowenig, wie sie die Krankenhausmöbel ausräumen würde. Sie würde es vermeiden, den Pavillon überhaupt zu betreten. Es war, als hätte Josefs Tod zwar die Grenzen aufgehoben, die er ihren Wünschen und Bedürfnissen immer gesetzt hatte, aber gleichzeitig auf hinterhältige Art und Weise auch die Wünsche selbst ausgelöscht. Ihre neue Freiheit war nichts weiter als ein entsetzlich leerer Raum, vor dem sie sich fürchtete.