Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 11
7. Kapitel
»Herr Doktor, mein Kind ist so krank!«
ОглавлениеAuf dem Spielplatz waren eines Tages drei niedliche Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, erschienen. Annemie sah sie erst von weitem an und schob sich und ihren Puppenwagen dann näher und näher. Aber als sie eins der fremden Kinder gerade fragen wollte: »Kleine, willst du mit mir spielen?« da begann dasselbe zu husten. So sehr hustete das kleine Mädchen, daß es krebsrot im Gesicht wurde, es konnte gar nicht wieder aufhören. Nun begannen auch die andern beiden zu husten. Annemie blickte mitleidig auf die drei, sie hatte noch nie jemand so arg husten gehört.
Gewiß waren sie barfuß herumgelaufen, trotzdem ihre Mutti es verboten hatte, und der liebe Gott hatte ihnen nun zur Strafe den bösen Husten geschickt.
Aber ehe Annemarie sich noch danach erkundigen konnte, stand plötzlich Fräulein hinter ihr und zog sie mit erschrockenem Gesicht zurück.
An der Bank packte Fräulein ihre Handarbeit zusammen, band der Kleinen das graue Spielschürzchen ab und setzte ihr den roten Südwester auf.
Mit ungeheurem Erstaunen verfolgte Klein-Annemarie Fräuleins Gebaren. Aber als diese sie jetzt an die Hand nahm und Miene machte, den Spielplatz zu verlassen, kam wieder Leben in die vor Verwunderung ganz erstarrte Kleine.
»Mein Puppenwagen – meine Gerda!« rief sie und wollte sich von Fräuleins Hand losreißen, um den bei den fremden Kindern vergessenen Puppenwagen zu holen.
Aber Fräulein ließ sie nicht fort.
»Du wartest hier auf mich, Annemie, ich fahre den Puppenwagen selbst.«
Annemies Staunen stieg noch. Auch Gerda machte so große Augen wie noch nie. Fräulein fuhr eigenhändig den Puppenwagen!
Aber als die Kleine über den komischen Anblick hell auflachte, sah Fräulein so ernst drein, daß Annemie erschrocken schwieg.
War sie denn unartig gewesen?
Annemie zog nachdenklich die Stirn kraus und überlegte angestrengt. Sie konnte sich beim besten Willen nicht darauf besinnen.
»Fräulein,« begann die Kleine schüchtern, nachdem sie eine ganze Weile stumm neben ihr hergetrabt war, »sei doch wieder gut mit mir, Fräulein, ich will es auch nie wieder tun!«
»Was denn, Annemiechen?« Jetzt war die Reihe, ein erstauntes Gesicht zu machen, an Fräulein.
»War ich denn nicht unartig?« fragte Annemarie zweifelnd. »Warum bist du denn da so böse und gehst mit mir nach Hause?«
»Ich bin nicht böse, Herzchen, nur ängstlich bin ich, daß du dich angesteckt haben könntest. Wir gehen noch nicht nach Hause, sondern nur in einen andern Teil des Tiergartens. An dem Spielplatz waren Kinder mit Keuchhusten!« Fräulein sagte das letzte Wort mit sorgenvollem Gesicht.
Keuchhustenkinder – vor denen hatte Mutti sie immer gewarnt, und Annemie hatte sich heimlich schon längst gewünscht, mal welche zu sehen.
»Ich habe mich bestimmt nicht angesteckt, Fräulein, ich war ja so warm angezogen und huste ja auch kein bißchen. Aber warum soll ich denn meinen Puppenwagen nicht selbst fahren?«
»Du darfst heute den ganzen Tag weder an den Wagen noch an deine Gerda heran. Wir müssen ihn erst gründlich reinigen, damit du dich nicht etwa daran ansteckst.«
»An meiner Gerda? Ist die denn auch ein Keuchhustenkind?« Nesthäkchen sah ihre Puppen prüfend an. Aber die machte einen ganz munteren Eindruck und hatte kein einziges Mal bisher gehustet. Sie schien sich über Fräuleins Vorsichtsmaßregeln auch sehr zu wundern.
Zu Hause angelangt, mußte sich Puppe Gerda aber noch viel mehr wundern. Ihre kleine Mama zog sie nicht aus, sondern sie wurde, wie sie war, mitten auf den Balkon in die Sonne gesetzt. Da saß sie nun den ganzen lieben Tag und hatte keine andere Gesellschaft als den langweiligen Puppenwagen. Aber als es dunkel wurde, und Annemarie noch immer nicht kam, um ihre Gerda auszuziehen und mit ins Bettchen zu nehmen, da war die Puppe sehr ärgerlich auf ihr Puppenmütterchen.
Sie war doch ganz gesund, aber hier draußen in der Nachtluft mußte sie sich ja erkälten!
Ach, Puppe Gerda wußte ja nicht, daß ihre kleine Mama sich ganz genau so nach ihr bangte und Fräulein bestürmte, das arme Kind doch endlich wieder hereinholen zu dürfen.
Aber Mutti und Fräulein bestanden darauf, daß Gerda heute im Freien schlafen sollte. Und Vater, der seinem Nesthäkchen doch selten eine Bitte abschlug, meinte auch: »Für alle Fälle ist es besser.«
Am nächsten Tage durfte Annemie sich endlich wieder ihr Kind holen, nachdem Fräulein demselben andere Sachen angezogen und sie mit einem abscheulichen Parfüm besprengt hatte.
»Pfui, Gerda, du riechst ja wie Vaters Sprechzimmer!« Annemie, die ihren ausgesetzten Liebling noch eben freudestrahlend in die Arme schließen wollte, wandte naserümpfend den Kopf fort.
Das nahm Puppe Gerda übel. Sie konnte doch wahrlich nichts dafür, daß man sie mit dem abscheulichen Zeug, Lysol hatte Fräulein es genannt, einparfümiert hatte. Sie drehte den Lockenkopf ebenfalls zur Seite und sah ihre kleine Mama nicht an.
Zum erstenmal in ihrem Leben waren die beiden miteinander böse. Annemarie nahm Irenchen nach Tiergarten mit, und Puppe Gerda saß heute steif und stumm auf ihrem kleinen Stuhl und tat, als ob Annemarie Luft für sie wäre.
Aber als Annemie abends ausgezogen wurde und traurig zu Fräulein sagte: »Ich würde Gerda ja gern mit ins Bett nehmen, wenn sie nur nicht so gräßlich riechen würde!« da dachte die Puppe trotzig: »Ich schlafe überhaupt nie wieder bei dir, ich will gar nichts mehr von dir wissen, du alte Annemarie!«
Und dann weinten sie sich alle beide, das kleine Mädchen in ihrem Bettchen und die Puppe auf ihrem Stühlchen, in den Schlaf.
Auch den nächsten ganzen Tag waren die zwei noch miteinander böse. Aber am dritten Morgen, als Gerda immer noch kein freundliches Gesicht machen wollte, nahm die kleine Mama sie auf den Schoß.
»Hast du mir nichts zu sagen, Gerda?« fragte sie ihr Nesthäkchen ganz wie Mutti, wenn sie selbst unartig gewesen.
Gerda schwieg verstockt. Sie wollte nicht abbitten.
Aber da die Kleine selbst kein ganz reines Gewissen ihrem Puppenkinde gegenüber hatte, gab sie ihm trotzdem einen Versöhnungskuß, denn der Lysolgeruch war inzwischen verflogen.
Gerda aber war eigensinnig, sie machte sich steif und wollte sich nicht küssen lassen.
»Fräulein, ich weiß gar nicht, was ich mit dem ungezogenen Kinde anfangen soll, es ist so schrecklich bockig!« sagte die Puppenmutter ratlos und stellte Gerda in die Ecke.
»Vielleicht ist sie krank«, begütigte Fräulein.
»Krank – ja, das ist möglich, am Ende hat sie den Keuchhusten!« Gerda wurde wieder aus ihrer Sofaecke hervorgeholt, die kleine Doktortochter fühlte ihr den Puls und legte ihr Babys Puppenbadethermometer unter den linken Arm, um zu sehen, ob sie Fieber habe.
»Fräulein, sie hat sechsundsiebzig Grad, das Kind hat schrecklich hohes Fieber, es muß sofort ins Bett!« Ehe Gerda wußte, wie ihr geschah, war sie ausgezogen und lag im Bett von Irenchen und Mariannchen, trotzdem sie sich ganz gesund fühlte. Das Unangenehmste aber war, daß Annemie ihr den triefenden Waschlappen als kalte Kompresse auf die Stirn legte.
Ach, wäre sie doch bloß artig gewesen und hätte abgebeten!
Annemie aber fand, daß Gerdas Fieber noch immer stieg, und als das Badethermometer neunundneunzig Grad anzeigte, da schickte das besorgte Mütterchen ihren Puppenjungen Kurt zu Doktor Puck.
Der lag auf dem Sofa, auf dem er eigentlich gar nicht liegen durfte, und hielt sein Mittagsschläfchen. Aber er wollte nachher mit herankommen und nach der Kleinen sehen.
Nein, was bekam Gerda für einen Heidenschreck, als sich plötzlich die Mullgardine des Himmelbettes zurückschob, und das weißbärtige Gesicht des Doktor Puck erschien.
»Ich bin ja gar nicht krank, ich bin ja ganz gesund«, rief sie, aber keiner hörte auf sie.
Doktor Puck legte ihr seine kalte Pfote auf die Stirn, sah sie aufmerksam an und sagte dann achselzuckend: »Wauwau.« Das hieß auf deutsch: »Ja, ich weiß auch nicht, was Ihrer Kleinen fehlt.«
Da beschloß Annemie, einen ganz berühmten Doktor zu Rate zu ziehen, damit Gerdachen nur nicht sterben mußte.
Es war nach der Sprechstunde, und die Patienten schon alle wieder gegangen. Da klopfte es bescheiden an die Tür von Doktor Brauns Sprechzimmer.
Der Arzt erhob sich und öffnete die Tür zum Warteraum. Hatte er etwa einen Patienten vergessen?
Vor ihm stand eine kleine Dame mit einem Mantel, der eine lange Schleppe hatte. Auf dem Kopf hatte sie einen schönen Federhut, der Doktor Braun sehr bekannt vorkam, und unter welchem zwei winzige Rattenschwänzchen hervorlugten. Im Arm aber hielt sie etwas Längliches, in ein großes Tuch geschlagen.
»Guten Tag, Herr Doktor, mein Kind ist so krank!« sagte die kleine Dame mit verstellter Stimme und machte ein bekümmertes Gesicht.
»Oh, das tut mir aber leid, treten Sie näher, gnädige Frau, bitte, setzen Sie sich«, damit wies Doktor Braun auf den Patientenstuhl.
Selig nahm Annemie, denn sie war die kleine Dame mit Muttis schönem Federhut, Platz.
»Zeigen Sie die Kleine mal her, gnädige Frau«, gebot der Arzt.
Das große Tuch wurde auseinandergeschlagen, und Gerda kam zum Vorschein.
»Na, mein Herzchen, was fehlt dir denn?« fragte der Herr Doktor sie freundlich, daß Gerda sich lange nicht so vor ihm fürchtete wie vor dem Doktor Puck.
»Ich glaube, das Kind hat den Keuchhusten«, sagte die kleine Mama an ihrer Stelle.
»Hustet sie denn sehr?«
»Nein, gar nicht, aber sie hat neunundneunzig Grad Fieber.«
»Na, dann werde ich Ihr Töchterchen mal schnell wieder gesund machen, gnädige Frau«, sagte der berühmte Arzt.
Er zog sein schwarzes Hörrohr vor, setzte es Puppe Gerda auf die Brust und legte sein Ohr an die andere Seite des Hörrohrs. Dann beklopfte er sie noch, während Annemie stolz dachte: »Vater untersucht viel feiner als Puck!« Darauf sagte der Herr Doktor beruhigend: »Die Kleine scheint sich nur erkältet zu haben.«
»Nicht mal Keuchhusten?« Die Mutter schien damit nicht recht zufrieden.
»Nein, sie hat nur etwas Drüsen, ich werde ihr einen Verband machen, dann ist sie morgen wieder ganz gesund.« Doktor Braun holte Verbandzeug und machte Puppe Gerda einen so schönen Verband, daß sie den Kopf nicht mehr bewegen konnte.
Mit andächtigen Augen sah ihre kleine Mama zu. Sie beneidete ihr Kind sogar ein bißchen um den feinen, richtigen Verband.
»So, gnädige Frau, nun ist die Kleine fertig.«
Aber die »gnädige Frau« erhob sich noch nicht, sie sah den Arzt mit bettelnden Augen an.
»Wünschen Sie noch etwas, gnädige Frau?«
»Ich möchte so schrecklich gern auch solch seinen Verband haben«, kam es mit einem sehnsüchtigen Seufzer von den Lippen der kleinen Dame.
»Sie – gnädige Frau,« der berühmte Arzt sah mit einem Male merkwürdig lustig drein, »aber Sie sind doch ganz gesund. Oder fehlt Ihnen irgend etwas?«
»Ich – meine beiden Däume tun mir so weh, das kann am Ende Lungenentzündung werden«, meinte die kleine Dame besorgt. Dabei wies sie dem Herrn Doktor ihre Däumchen, die zwar etwas schwärzlich, aber durchaus heil waren.
»Ich werde Ihnen ein Rezept verschreiben, gnädige Frau, nehmen Sie tüchtig Waschungen mit Seife vor«, verordnete der Arzt.
Aber damit war Annemie nicht einverstanden. Sie wollte ihren Verband haben, was war sie denn schlechter als Gerda!
Die »gnädige Frau« sagte sehr wenig freundlich »adieu, Herr Doktor«, und vergaß sogar zu danken.
Aber die Tür hatte sich noch nicht lange hinter der Patientin geschlossen, da vernahm Doktor Braun ein durchdringendes Geschrei.
Erschreckt eilte er hinterdrein.
Da stand im Wohnzimmer die kleine Dame mit dem schönen Federhut, in der rechten Hand hielt sie eine Schere, während sie die linke mit jämmerlichem Geschrei ihm entgegenstreckte. »Au – au – es blutet!« und gleich darauf, unter Schmerzen lächelnd: »Nun muß ich doch einen Verband haben!«
»Du dumme, kleine Lotte!« sagte Doktor Braun und vergaß allen Respekt. »Wie kommst du denn zu der Schere, du sollst doch keine anfassen!«
»Ach, ich wollte doch so furchtbar gern einen richtigen Verband haben, und weil meine Däume doch so schrecklich heil waren, wollte ich mich nur so ’n ganz klein bißchen schneiden. Aber die olle Schere hat gleich so toll geschnitten – au – au – es tut ja so weh!«
»Siehst du, Lotte, das ist die Strafe dafür, daß du die Schere angefaßt und dich mit Willen geschnitten hast; nun mußt du die Schmerzen ertragen«, sagte Vater ernst. Aber er nahm sein weinendes Nesthäkchen doch mit in das Sprechzimmer und machte ihr einen Verband, der war noch viel schöner als Gerdas.
Ach, wie stolz war Annemie darauf, nun tat es lange nicht mehr so weh.
Am nächsten Tage durfte Puppe Gerda ihren Verband abnehmen und war wieder ganz gesund, während ihre kleine Mama noch mehrere Tage mit verbundenem Händchen gehen mußte.
Den Keuchhusten aber bekamen sie alle beide nicht.