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12. Kapitel
Schiffer-Lenchen

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Inhaltsverzeichnis

Annemies liebster Spaziergang im Tiergarten war die Uferpromenade am Kanal entlang. Da kamen die Entchen, sobald die Kleine ihr Frühstücksbrot herauszog, herangeschwommen und luden sich zu Gaste.

Besonders eine Ente war Annemies Liebling. Die war viel schöner als alle die anderen. Sie hatte ein Federkleid, das war rot, grün und gelb und sah aus, als ob es aus lauter Puppenlappen zusammengesetzt sei. Zuerst hatte Annemie geglaubt, die Ente sei gar nicht lebendig, sondern nur ein Spielzeug. Aber als sie den anderen Entchen die meisten Brocken fortgeschnappt, hatte sie Proben von ihrer Lebendigkeit gegeben. Hanne mußte jetzt immer ein Brötchen mehr zum Frühstück schneiden, damit die Entchen auch satt wurden.

Auch viele Schiffe konnte Annemie auf dem Kanal bewundern, kleine und größere. Die hatten schrecklich viele Bausteine oder Kohlen in ihren großen Holzleib eingeladen.

Als Nesthäkchen eines Tages an Fräuleins Hand wieder die Uferpromenade entlangspazierte, sah sie ihre Entchen schon von weitem. Sie bildeten ein großes Federknäuel im Wasser, dicht neben einem Schiff mit Ziegelsteinen.

Annemie zog ein Brötchen heraus. Aber kein Entchen kam herzugeschwommen, nicht einmal ihre besondere Freundin, die bunte.

»Quack, quack, quack, quack, quack« – machte Annemie und schnalzte dabei mit der Zunge. Aber auch auf diese Einladung hin kamen die Entlein nicht näher.

»Entchen, kennt ihr mich denn nicht mehr – ich bin ja die Annemie!« rief das kleine Mädchen ganz betrübt zur Belustigung der Vorübergehenden.

»Wirf ihnen nur ruhig ein Stückchen Brot ins Wasser, du sollst mal sehen, wie schnell sie da herbeikommen werden«, riet Fräulein.

Annemie tat, wie ihr geheißen. Aber kein Entchen schwamm herzu. Ob die Kleine auch mit schallender Stimme rief: »Entchen, es ist ja Leberwurst drauf« – nicht einmal die Leberwurst konnte sie locken.

Inzwischen war Fräulein mit Annemie dem Ziegelsteinschiffe nahe gekommen.

»Ei, jetzt weiß ich auch, weshalb deine Entchen heute das Frühstück verschmähen,« lachte Fräulein, »ihr Tischlein ist schon wo anders gedeckt. Sieh nur, Annemiechen, drüben auf dem Schiff steht ein kleines Mädchen mit einem großen Musbrot in der Hand, das füttert sie.«

»Es sind aber meine Enten!« Annemie fing beinahe an zu weinen.

Das kleine Mädchen auf dem Schiff mußte wohl Annemaries lauten Ausruf vernommen haben. Es hielt plötzlich damit inne, Brotkrümchen ins Wasser zu werfen, und staunte das feine kleine Mädchen am Ufer bewundernd an. Vor lauter Staunen vergaß es sogar, sein Musbrot selbst weiter zu essen.

Als die Entchen merkten, daß es nichts mehr gab, machte die undankbare Gesellschaft kehrt und schwamm ans Ufer zu Annemie.

Die hopste vor Freude.

»Na, da seid ihr ja alle, schämt ihr euch denn gar nicht, mir erst jetzt ›guten Tag‹ zu sagen? Wenn ich nun schon mein Frühstück allein aufgegessen hätte?« So plauderte die Kleine, unbekümmert um die Vorübergehenden.

Die Entchen antworteten: »Quack – quack – quack« und schnappten sich gegenseitig die besten Bissen fort.

»Sieh nur, Annemie, wie niedlich das Schiff ist, auf dem das kleine Mädchen dort drüben steht. Wie ein grünes Häuschen sieht die Wohnung aus, und was für saubere Gardinen an den kleinen Fensterchen hängen«, machte Fräulein Nesthäkchen aufmerksam.

»Ja, und die hübschen Blumen, die in dem großen, grünen Kasten blühen, das ist sicherlich ihr Gärtchen«, meinte die Kleine. »Ach, bitte, liebes Fräulein, wenn wir über die Brücke auf die andere Seite des Wassers gehen, kann ich mir das Schiff ganz in der Nähe angucken.«

Fräulein tat Annemie den Gefallen.

Unterwegs, während ihnen die Entchen das Geleit gaben, mußte Fräulein eine Flut von Fragen über sich ergehen lassen.

»Wieso wohnt das kleine Mädchen auf einem Schiff und nicht in einem richtigen Haus, Fräulein?«

»Weil sein Vater Schiffer ist«, war die Antwort.

»Ich wollte, mein Vater wäre auch Schiffer!« sagte Nesthäkchen mit einem tiefen Seufzer.

»Aber Kind, warum denn bloß?«

»Dann dürfte ich auf dem Schiff rumklettern, ohne daß du gleich Angst hättest, daß ich ins Wasser falle, und die Entchen würden dann den ganzen Tag um mich herumschwimmen und – und das Allerschönste wäre, daß ich in dem niedlichen kleinen Häuschen wohnen könnte«, zählte Nesthäkchen sehnsüchtig sämtliche Vorzüge des Schiffslebens auf.

»In deiner Kinderstube ist es sicher viel schöner«, beruhigte sie Fräulein.

»Hat das kleine Mädchen auch eine Puppenküche?«

»Ich glaube nicht«, meinte Fräulein.

»Aber eine Mutti hat sie doch?«

»Ich denke, ganz sicher«, fiel zu Annemies Erleichterung Fräuleins Antwort aus.

»Auch eine Großmama?«

Dies schien Fräulein zweifelhafter.

»Ob sie wohl so viele Puppen hat wie ich?« fragte das Plappermäulchen schon wieder, bevor Fräulein sich noch von der vorhergehenden Frage verschnaufen konnte.

»Annemie, du bist ja heute ein lebendiges Fragezeichen auf zwei Beinen! Frage das kleine Mädchen doch selbst danach, wir sind ja jetzt dicht am Schiff angelangt.«

Aber das brachte das schüchterne, kleine Ding nicht fertig. Trotzdem Fräulein sich in der Nähe auf eine Bank setzte, um Annemie Gelegenheit zur eingehenden Betrachtung des Schiffes und seiner kleinen Bewohnerin zu geben.

Diese mochte wohl in Annemies Alter sein. Sie hatte ebenfalls zwei festgeflochtene Rattenschwänzchen, aber die waren noch viel flachsblonder als Annemaries Goldhärchen. Ein kurzes, rotes Röckchen trug sie und darüber eine kleine, blaue Küchenschürze.

»Ganz wie Hanne!« dachte Annemie voll Bewunderung. Aber als sie jetzt ihre Augen von dem sonnenverbrannten, musbeschmierten Gesichtchen der Kleinen weiter wandern ließ bis zu deren Füßen, da hatte Annemies Bewunderung ihren Höhepunkt erreicht.

Holzpantinen – niedliche kleine Holzpantinen, gerade solche, wie sie Hanne beim Scheuern und bei der Wäsche trug, die stets Nesthäkchens höchstes Entzücken hervorgerufen, hatte das kleine Mädchen über ihren rot und blau geringelten Strümpfchen. Nie hätte Annemie gedacht, daß ein Kind so glücklich sein könnte, Holzpantinen wie Hanne zu besitzen!

Und während Annemie das kleine Schiffermädel so glühend beneidete, wie ihr das nur bei ihrem guten Herzchen möglich war, hegte dieses ganz ähnliche Gefühle.

Ach, das feine weiße Stickereikleid, welches die kleine Fremde trug, und der weiße Hut mit den rosa Gänseblümchen! Am schönsten aber fand Lenchen – so hieß das kleine Schiffermädchen – die weißen Stiefelchen und die weißen Wadenstrümpfchen. Sie schämte sich ordentlich ihrer häßlichen Holzpantinen.

So schauten sich die zwei gegenseitig in stummer Bewunderung an.

Aber als ihre Augen sich bei dieser Beschäftigung begegneten, mußte Annemie lachen.

Da nickte ihr Lenchen freundlich zu.

Nun traute sich Annemie endlich, eine Unterhaltung zu beginnen.

»Wie heißt du?« fragte sie, legte die Händchen an den Mund und schrie dabei, als ob Lenchen Gott weiß wie weit von ihr fort gewesen wäre. Dabei lag das Schiff dicht am Ufer, und die Kleine war bis an die Schiffsbrüstung herangekommen.

»Lenchen,« klang es vom Schiff zurück, »und du?«

»Ich heiße Annemarie, aber Fräulein nennt mich Annemie, und Vater und Mutti sagen Lotte zu mir, wenn ich artig bin!« rief Annemie, etwas weniger brüllend, da sie sah, daß man sich auch leiser verständigen konnte.

Natürlich, das feine kleine Mädchen hatte drei Namen, das erschien Lenchen nur selbstverständlich. Wenn man so schöne weiße Stiefelchen besaß, konnte man auch drei Namen haben.

»Warum wohnst du denn auf einem Schiff?« setzte Annemie das Examen weiter fort.

»Wo soll ich denn sonst wohnen?« Lenchen riß ihre blauen Augen erstaunt auf.

»Na, in einem richtigen Hause mit Treppen«, belehrte sie das Landkind.

»Unser Schiff hat auch eine Treppe!« Stolz wies das Flachsköpfchen auf die kleine Stiege, die zum Wohnraum hinabführte.

Ach richtig – nein, war das niedlich – wie eine Puppenwohnung kam Annemie alles vor. »Habt ihr denn auch einen Portier?« erkundigte sie sich.

»Einen Port – tjeh?« Lenchen stotterte etwas bei dem Wort, sie hatte es noch niemals gehört. »Meinst du vielleicht ein Portemonnaie?«

»Aber nein,« lachte Annemie, »weißt du nicht mal, was ein Portier ist? Denn weißt du wohl auch gar nicht, was ein Kaiser ist?«

»Doch«, Lenchen nickte, daß die abstehenden Zöpfchen zum Himmel flogen. Den Kaiser kannte sie.

»Na ja, also ein Portier ist sowas Ähnliches, der bewacht das Haus, daß kein Dieb rein kommt«, belehrte sie Annemie.

»Ach, nun weiß ich« – das Schiffer-Lenchen sprang vor Freude in die Höhe, und die kleinen Holzpantinen klappten dazu ganz wundervoll – »solchen Portier, der das Schiff vor Dieben bewacht, haben wir auch, aber bei uns heißt er ›Karo‹.« Als ob sie ihn gerufen hätte, erschien plötzlich ein gelbes Hündchen neben Lenchen.

Annemie wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Ein Hund ist doch im Leben kein Portier!« stieß sie, immer von neuem lachend, hervor. »Wir haben auch einen Hund, Puck heißt er, und sechs Puppen habe ich, hast du auch welche?«

Natürlich hatte Lenchen auch eine Puppe. Sie lief gleich mit klappernden Pantinen hinab, um sie Annemie zu holen. Aber bis sie ihre Puppe vorgekramt hatte, kam Fräulein und nahm Nesthäkchen an die Hand, um weiterzugehen. Nur aus der Ferne konnte Annemie dem kleinen Rotröckchen noch einen Gruß zuwinken.

»Ich habe eine neue Freundin, Lenchen heißt sie und wohnt auf einem richtigen Schiff!« Es gab keinen in der ganzen Wohnung, dem Annemie diese wichtige Neuigkeit nicht mitteilte. Sogar Puck und Mätzchen mußten davon Kenntnis nehmen.

Klaus interessierte sich sehr für die Sache, er hatte viele Schulfreunde, aber leider wohnte kein einziger auf einem Schiff.

»Vater, wenn du ein Schiffer wärst, hätte ich dich noch mal so lieb!« sagte Nesthäkchen beim Gutenachtkuß.

»Aber Lotte, was soll denn das heißen?«

»Ja, dann brauchte ich jetzt nicht in die olle Kinderstube und könnte wie Lenchen in der niedlichen Stube auf dem Wasser schlafen.«

»Na, wir können ja tauschen, Lenchens Vater und ich, er macht meine Kranken gesund, und ich rudere sein Schiff; das würde dir so gefallen, was, Lotte?« lachte Doktor Braun.

Am nächsten Tage kam Puppe Gerda mit in den Tiergarten, um dem Schiffer-Lenchen vorgestellt zu werden. Denn Annemie hatte am frühen Morgen noch kaum die Augen geöffnet, da quälte sie ihr Fräulein auch schon: »Nicht wahr, wir gehen doch heute wieder zu Lenchen?«

Als sie in die Uferpromenade einbogen, leuchtete Lenchens rotes Röckchen ihnen schon entgegen. Sie schien auf ihre neue kleine Freundin bereits gewartet zu haben.

»Fräulein, liebstes, bestes Fräulein, setze dich doch, bitte, auf die Bank,« bat Annemie, »daß ich mich mit Lenchen wieder unterhalten kann.«

»Auf der Bank ist’s zu sonnig, da kriegt man einen Sonnenstich«, meinte Fräulein unschlüssig.

»Ach, das schadet doch gar nichts, wenn du auch einen Sonnenstich kriegst, Fräulein«; treuherzig sah die Kleine sie an. »Ich hatte doch auch neulich so viele Mückenstiche, Sonnenstiche werden auch nicht mehr jucken«, sie wies ihre nackten Ärmchen.

Fräulein lachte.

»Wenn du mir versprichst, Annemie, ganz brav zu sein und nicht etwa über das Gitter zu klettern, dann will ich mich hier in den schattigen Seitenweg setzen.«

»Aber wie werde ich denn über das Gitter klettern, Fräulein, dann kommt doch der Wächter und bringt mich zur Polizei«, flüsterte Annemie in scheuer Ehrfurcht.

Da wußte Fräulein, daß sie ganz beruhigt sein konnte, denn vor dem Tiergartenwächter hatte die Kleine eine Heidenangst.

Annemie durfte ihre Freundschaft mit dem Schiffer-Lenchen fortsetzen.

Diesmal kam auch die Mutter der Kleinen zum Vorschein. Sie hatte ebenso schöne Holzpantinen wie Lenchen, und hing Wäsche auf dem Schiffe auf; das sah drollig aus. Dann ging sie wieder in die kleine Küche, die neben dem Wohnraum lag. Der Rauch, der bald darauf aus dem dünnen Schornstein lustig zum Himmel aufwirbelte, verriet, daß sie für Lenchen Mittag kochte.

Inzwischen hatten sich die kleinen Mädchen gegenseitig ihre Puppen gezeigt. Lenchen sah voll Bewunderung auf die feine Gerda, die heute ein rosenrotes Kleidchen trug. Diese aber blickte sehr stolz und von oben herab auf das armselige Püppchen des Schifferkindes.

So ’ne olle Rike – die hatte ja nicht mal Haare, sondern eine schwarze, angemalte Porzellantolle, und ein anständiges Kleid schien sie auch nicht zu besitzen – bloß so ’n olles, zerlumptes Kattunkleid, da war sie doch viel feiner!

Ihre kleine Mama Annemie aber war viel netter und viel weniger stolz als die hoffärtige Gerda. Die fragte freundlich: »Wie heißt denn deine Kleine, Lenchen?«

Und als sie hörte, daß Lenchens Puppe Gustel hieß und vom Jahrmarkt in Oderberg stammte, sagte sie: »Siehst du, die ist schon mehr in der Welt herumgekommen als du, Gerda.«

Da schämte sich Puppe Gerda ihres dummen Stolzes und blickte neugierig auf die weitgereiste Gustel mit der schwarzen Porzellantolle.

Dann fütterten Annemie und Lenchen gemeinsam die Entchen, und die Ente aus bunten Puppenlappen fraß den anderen wieder das meiste fort.

Annemie hatte heute Kirschen mit zum Frühstück. Lenchen machte begehrliche Augen, als sie sich zwei wunderschöne, dunkelrote Zwillingskirschen als Ohrringe über jedes Ohr hing.

»Möchtest du auch welche?« fragte Annemie gutherzig.

Lenchen nickte.

Da warf Annemie eine Kirsche vom Ufer aus das Schiff zu.

Bautz – die flog in die Grasböschung. Ein frecher Spatz holte sie sich.

Aber die zweite Kirsche, die Annemie mit aller Kraft schleuderte, traf schon besser ihr Ziel. Lenchen fing sie jubelnd in ihrer kleinen, blauen Küchenschürze auf.

Das gab ein lustiges Spiel. Eine Kirsche Annemie, eine Lenchen, bis die Tüte zu Ende war. Dazwischen aber lief Klein-Annemie alle paar Minuten zu dem Seitenweg, um Fräulein zu zeigen, daß sie auch noch da war.

So sahen sich Annemie und das Schiffer-Lenchen fast jeden Tag, und immer mehr freuten sie sich aufeinander. Auch die Puppen hatten inzwischen Freundschaft geschlossen.

Da sagte eines Tages Lenchen, als Annemie wieder an dem Ufer erschien, während Fräulein im Seitenweg Platz nahm, ganz traurig: »Heute geht es retour.«

»Retour – wo liegt denn das?« fragte Annemie und dachte nach.

Diesmal lachte Lenchen ihre kleine Freundin aus. »Retour, das ist doch nach Oderberg bei Großmuttern.«

»Wann fahrt ihr denn?« Annemie machte ein erschrockenes Gesichtchen.

»Bald, vielleicht schon gleich, Vater macht ja schon los.«

Richtig, auf dem Schiff ließ sich ein lebhaftes Hin und Her bemerken.

»Kommst du bald wieder, Lenchen?« Annemie fühlte zum erstenmal in ihrem jungen Leben, wie traurig Abschied nehmen ist.

»Ich weiß nicht«; Lenchen sah ebenfalls betrübt auf die kleine Freundin.

»Ich möchte dir so gern was schenken, wenigstens einen Kuß, aber wir können ja nicht zueinander.« Annemie warf zärtlich Lenchen eine Kußhand zu.

»Ich hätte ja auch gar nichts, was ich dir schenken könnte, du hast ja alles viel feiner als ich«, sagte Lenchen, welche die kleine Freundin in dem hübschen Mullkleidchen immer noch heimlich anstaunte.

»Etwas hast du, was viel, viel schöner ist, als alles, was mir gehört,« Annemie warf dabei einen Blick auf Lenchens Füße, »deine süßen, kleinen Holzpantinen!«

»Die ollen Dinger? Die will ich dir gern schenken, Annemarie, in Oderberg bei Großmuttern gibt’s andere.« Und da flog auch schon ein kleiner Holzschuh auf das Ufer vor Annemies Füße.

Die traute ihren Augen nicht.

»Soll ich den denn wirklich haben?« fragte sie und streichelte den Schuh voller Seligkeit.

»Natürlich«, und da machte auch sein Bruder die Reise durch die Luft ans Ufer.

»Dann schenke ich dir dafür meine weißen Stiefelchen!« Im Umsehen hatte Klein-Annemarie ihre schönen Leinenstiefelchen ausgezogen und – heidi – da flogen sie wie zwei weiße Täubchen zu Lenchen hinüber.

Das machte ein ebenso glückseliges Gesichtchen wie Annemie. Ganz versunken standen die beiden Kinder in den Anblick ihrer neuen Schuhe, sie merkten es gar nicht, daß das Schiff sich langsam in Bewegung setzte.

Erst als sie schon mehrere Meter vom Ufer entfernt waren, rief Lenchen plötzlich: »Wir fahren ja schon – adieu, adieu, Annemarie!«

»Adieu, Lenchen, leb’ wohl – komm bald wieder!« schrie Annemie hinter dem abfahrenden Schiff her, und dann winkte sie mit ihren kleinen Pantinen, und Lenchen winkte mit den schönen weißen Stiefelchen zurück.

Plötzlich fiel es Annemie ein, daß sie ja ihrer Freundin Lenchen noch ein Stück das Geleit geben könnte. Sie fuhr in die ersehnten kleinen Holzpantinen – klapp – klapp – da lag sie auf dem Näschen. Ja, Annemie, alles will gelernt sein im Leben, selbst das Laufen in Holzpantoffeln.

Als Annemie wieder in die Höhe gekrabbelt war und ihr Kleidchen abgeklopft hatte, war Lenchen schon ein ganzes Ende fort. Da begann die Kleine Gehübungen zu machen. Sie mußte richtig wie Hanne und Lenchen in den Schuhen laufen können, sonst ging es Fräulein am Ende nachher auf dem Nachhauseweg zu langsam.

Klapp – klapp – hin und her – erstaunt sahen die Vorübergehenden auf das allerliebste kleine Mädchen im weißen Mullkleide mit der rosa Seidenschärpe und dem merkwürdigen Schuhwerk. Da blieb mancher kopfschüttelnd stehen und sah den Gehversuchen zu.

Nachdem Annemie noch mindestens ein halbes Dutzend Mal auf das Näschen gepurzelt war, konnte sie sich mit ihrer neuen Kunst sehen lassen. Jetzt ging es spornstreichs zu Fräulein.

Klapp – klapp – klapp – was kam denn da an – Fräulein sah erstaunt auf.

»Nanu, Annemie, wie kannst du nur so einherlaufen, gleich gibst du Lenchen ihre Schuhe zurück, der Spaß geht doch zu weit!« schalt Fräulein beim Anblick der Kleinen.

»Aber Fräulein, die süßen Holzpantinchen, bitte, bitte, laß sie mir doch, da kann ich beim Reinmachen nochmal so schön helfen«, bettelte die Kleine.

»Wo hast du denn deine weißen Stiefelchen, hast du die etwa am Ufer stehengelassen, du unachtsames Mädchen?«

»Bewahre, Fräulein,« beteuerte Annemie, »die habe ich doch Lenchen für die seinen Holzpantinen geschenkt, sie hat sich auch sehr darüber gefreut.«

»Sofort bringst du die Holzpantinen zurück und läßt dir dafür deine guten Stiefelchen wiedergeben, bist du denn ganz und gar nicht gescheit, du dummes Kind?« Damit lief Fräulein auch schon dem Ufer zu.

Klapp – klapp – Annemie hinterdrein.

»Aber Fräulein – Fräulein – Lenchen ist doch gar nicht mehr da, die ist ja schon längst in Oderberg bei Großmuttern!« rief die Kleine, stehenbleibend, denn sie hatte beim eiligen Lauf ein Holzpantinchen verloren.

»Was – und deine schönen Stiefelchen hat sie mitgenommen?« Fräulein machte ein entsetztes Gesicht.

»Ja, natürlich, aber ich habe doch dafür die feinen Pantinchen, die sind ja tausendmal schöner!« Liebevoll fing Annemie den Flüchtling wieder ein.

Fräulein raste, ohne Antwort zu geben, weiter. Vielleicht konnte sie das Schiff noch einholen. Aber das war, wenn auch noch nicht in Oderberg, gar nicht mehr zu sehen.

Klapp – klapp – klapp – da kam Annemie endlich hinterher.

»Was fange ich denn nun bloß mit dir an, ich kann doch so nicht mit dir nach Hause gehen!« Fräulein warf einen ratlosen Blick auf Nesthäkchens allerdings etwas seltsam aussehende Füßchen.

»Ach, ich kann jetzt schon ganz schön darin laufen«, beruhigte sie Annemie. Die Kleine konnte sich gar nicht denken, daß jemand von ihren Holzpantinen weniger begeistert sein sollte, als sie selbst.

Aber Fräulein schämte sich halbtot vor den Leuten, nein, so ging sie nicht mit Annemarie! Sie winkte eine Droschke herbei und fuhr mit ihr nach Haus.

Nesthäkchen war selig. Erstens die süßen Holzpantinchen, und dann noch Droschke fahren obendrein – das tröstete sie sogar über den Abschiedsschmerz vom Schiffer-Lenchen.

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