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4. Kapitel Ostereier
ОглавлениеUnd nun war der Ostersonntag herangekommen. Petrus hatte ein Einsehen gehabt mit der Welt, die solange in Winters Banden gefesselt gelegen. Er hatte dem Lausbub, dem April, sein launiges Handwerk gelegt. Schnee, Hagel und Sturm hatten ausgetobt. Die grauen Wolkenungeheuer waren über die Saale davongezogen. Blauer Frühlingshimmel wölbte sich über der alten Universitätsstadt, zarte Lämmerwölkchen segelten über die Thüringer Berge, spiegelten sich im eisbefreiten Silberfluss. Noch war alles kahl. Aber es lag schon wie ein Ahnen des Lenzes über Baum und Strauch, als warteten sie nur darauf, daß die Sonne die Säfte in ihnen zu neuem Leben erwecke.
Als Suse am Ostermorgen in den Garten hinaustrat, ließ sie die Braunaugen in alle Winkel, unter alle Sträucher schweifen. Suchte die Suse in aller Frühe schon Ostereier?
O nein, wenigstens keine süßen, keine eßbaren. Den frischen Erdgeruch einatmend, schnupperte ihr Näschen in die Luft. Ein ganz, ganz leiser Veilchenduft machte sich bemerkbar. Ein anderer als Suse, die sich auf Blumen so gut verstand, hätte es wohl kaum wahrgenommen. Und da strahlte es in den Mädchenaugen auch schon freudig auf. Im geschützten Sonnenwinkel dicht am Haus schimmerte es blau – die ersten Veilchen. Hurra – ihre Ahnung hatte nicht getrogen. Nun konnte sie den Eltern und der Großmama die ersten Frühlingsgrüße zum Fest auf den Frühstückstisch setzen.
Die Ostersonne hatte ihre Freude an dem schlankgewachsenen, jungen Mädel. Nur die Wangen des Backfisches hatten Stubenfarbe, die waren etwas blaß. Die Sonne ahnte nicht, daß Suses Blässe noch eine Folge des ungewohnten Zigarettenrauchens war.
Aus dem Küchenfenster im Souterrain schnarrte die Kaffeemühle. Die neue Emma steckte den Kopf aus dem Fenster.
»Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Osterfest.«
Das »gnädige Fräulein« fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Es vergaß vor Verlegenheit, den freundlichen Ostergruß zurückzugeben. Um Himmels willen, was würden Inge und Helga, ihre Freundinnen, was würde Herbert dazu sagen, wenn sie »gnädiges Fräulein« angeredet wurde! Gestern war sie dem neuen Mädchen möglichst aus dem Wege gegangen, aus Furcht, daß dieses etwa »du« zu ihr sagen könnte. Aber »gnädiges Fräulein«, das war noch schlimmer, als wie ein Kind geduzt zu werden. Das ging doch gar nicht, wenn sie auch schon Untersekundanerin war.
Während Suse noch überlegte, wie sie Emma am besten auseinandersetzen könne, daß die Anrede »gnädiges Fräulein« wohl doch noch etwas verfrüht wäre, erklang plötzlich aus den Lüften Hohngelächter. Dort oben auf dem Balkon stand Herbert, halb angezogen, quiekte und hielt sich die Seiten vor Lachen. Daneben Bubi, vor Vergnügen mit dem Schwanze wedelnd.
»Wollen das gnädige Fräulein gnädigst geruhen, sich zu mir heraufzubemühen, dann möchte ich mit Euer Gnaden untertänigst überlegen, wo wir die Ostereier für Paul verstecken wollen. Ich erwarte gnädiges Fräulein binnen fünf Minuten.« Mit einer erneuten Lachsalve zog sich Herbert zurück, seine Toilette zu vollenden.
So ein Schlingel! Sie derart vor dem neuen Mädchen bloßzustellen! Suse hegte an diesem schönen Ostermorgen nicht gerade liebevolle Gefühle für ihren Zwilling. Dann entschloß sie sich, so unangenehm es ihr auch war, durch das Küchenfenster hinein zu berichtigen: »Emma, ich bin noch kein gnädiges Fräulein – wenn ich auch schon Untersekundanerin bin –, der Herbert und ich, wir werden erst im November fünfzehn und« – es genügt, wenn Sie Fräulein Suse zu mir sagen, wollte das Backfischchen noch hinzufügen. Aber Emma hatte sie schon mit freundschaftlichem Lachen unterbrochen: »Schön, dann sage ich noch du zu dir, Suschen. Das ist auch viel gemütlicher.«
Nun, das fand Suse ganz und gar nicht. Im Gegenteil, sie empfand es als Dreistigkeit von Emma, daß diese eine Untersekundanerin, die in der Schule doch schon »Sie« genannt wurde, zu duzen wagte. Tränen der Enttäuschung und der Empörung schossen dem Backfischchen heiß in die Braunaugen. Daran war bloß der Herbert schuld. Solche Gemeinheit!
Herbert empfing seine Zwillingsschwester droben mit tiefen Verbeugungen. »Wie haben gnädiges Fräulein geschlafen? Wollen gnädiges Fräulein geruhen, meine Schwelle zu übertreten« – klatsch – da hatte die Suse in ihrem Ärger ihrem Zwilling eine Backpfeife versetzt.
Dem blieb vor Staunen der Mund offen. »Biste denn ganz und gar hops, Mensch? Hast wohl lange keinen Kinnhaken besehen? Also bitte, wenn es dich durchaus danach gelüstet, eine in die Batterie zu kriegen.« Er ging sachlich sogleich zum Boxerangriff über.
Aber Suse war ganz und gar nicht danach zumute. Sie brach in Tränen aus. Nicht nur wegen der Kränkung, die ihr von Emma widerfahren war, sondern vor allem, weil sie ihrem Zwilling gerade am Feiertag als Osterei eine Backpfeife versetzt hatte. Das kam nicht oft vor. Meist war die Sache umgekehrt.
»Du bist schuld, nur du«, schluchzte sie.
»Woran denn?« fragte Herbert gleichmütig und bearbeitete seinen braunen Schädel mit der nassen Haarbürste.
»Daß ich dir eine 'runtergehauen habe und daß – und daß die neue Emma jetzt ›du‹ zu uns sagt.«
Da war es heraus.
»Die sagt ›du‹ zu uns? Wie kommt sie denn dazu? Das soll sie nur mal wagen. Dann sage ich zu ihr auch du«, begehrte Herbert auf.
»Na, da wir doch Zwillinge sind, nennt sie dich sicher auch du.« Suse trocknete ihre Tränen. Es tröstete sie etwas, daß sie einen Leidensgefährten hatte.
Die Überlegungen, wo man wohl die Ostereier für Paul am besten versteckte, lenkten sie von ihrem Schmerz ab, denn wenn man andern Freude machen will, vergißt man eigenes Leid.
Es waren ziemlich umfangreiche Ostereier, die es für Paul unterzubringen gab. Wo sollte man den Anzug verstecken? »Wir lassen ihn am besten in Vaters Schrank hängen«, schlug Herbert vor.
»Wie kann Paul denn dann annehmen, daß das sein Anzug sein soll«, ereiferte sich Suse. »Dazu ist Paul viel zu bescheiden, um auf solchen Gedanken zu kommen. Wir müssen den Anzug in einen Karton packen. Die Schachtel schieben wir dann unter ein Bett oder ein Sofa oder – – –.«
»Wir stellen sie einfach auf den Kleiderschrank. Das merkt er nicht. Auf das Leichteste kommt man am schwersten. Und den Foulardbinder hänge ich an die Stachelbeersträucher im Garten. Die sind ganz versteckt hinten am Gitter«, überlegte Herbert. »Die Wurst für seine Brote zum Abend habe ich in rosa Seidenpapier gewickelt. Ich werde sie als Rose auf einem Blumenbeet wachsen lassen. Der arme Paul ißt jetzt immer unbelegt, um sich Bücher kaufen zu können, die er notwendig braucht. Er hat es mir erzählt«, berichtete Suse.
»Hm«, machte Herbert und dachte einen Augenblick daran, wie gut er selbst es hatte. Er bekam alle Bücher, die er zum Lernen brauchte und belegte Abendbrotschnitten noch außerdem. Hatte er das nicht immer als ganz selbstverständlich hingenommen?
Der Professor liebte an den Sonn- und Feiertagen eine gemütliche Frühstücksstunde mit seiner Familie. Wochentags hastete ein jeder, um rechtzeitig an die Arbeit zu kommen. Aber trotzdem der Osterkuchen vorzüglich geraten war, trotz des süßen Duftes, den Suses Veilchen ausströmten, wollte heute kein rechtes Behagen am Frühstückstisch aufkommen. Die Zwillinge waren von quecksilberiger Unruhe. Immer wieder fiel ihnen ein noch besseres Versteck für ihre Ostereier ein. Und dazwischen beschwerte sich Suse, daß das neue Mädchen, nachdem sie sich die Anrede »gnädiges Fräulein« verbeten hatte, sie jetzt duzte, was große Heiterkeit bei den Eltern hervorrief.
»Sei froh, Suschen, wenn du noch solange wie möglich ein Kind sein kannst. Diese glücklichen Zeiten kommen nie wieder«, meinte die Mutter.
Diesmal war Suse mit ihrer Mutti nicht einer Meinung.
Paul pflegte Sonntags gegen zehn Uhr im Sternenhaus zu erscheinen. Er war stets den ganzen Tag über eingeladen. Bei schönem Wetter machten Professors mit den Kindern eine Wanderung in die herrliche Umgebung Jenas, oder die Jugend flog auch allein aus. Ein Sonntag ohne ihr Ferienkind Paul war für die Zwillinge undenkbar.
Die Ostereier waren nun endgültig untergebracht. Während die Eltern auch für ihre Zwillinge die süßen Gaben des Osterhasen versteckten, standen Professors Zwillinge an der Gartentür und spähten die Pappelallee hinab, ob der Erwartete sich nicht zeigen wollte. Es war herrlich, nach dem langen Winter ohne Mantel im Garten sein zu können und sich von der Ostersonne, die es schon recht gut meinte, wärmen zu lassen. Suse strich zärtlich mit der Hand über die noch kahlen Sträucher.
»Ist es nicht wunderbar, Herbert, wie alles wieder zum Leben erwacht? Das ist Ostern, die Auferstehung in der Natur«, sagte sie nachdenklich, denn sie hatte ein sinniges Gemüt.
»Was soll denn daran wunderbar sein?« Herbert, der nüchterne und sachliche, zuckte die Achseln. »Nach dem Winter kommt der Frühling, und darauf folgt der Sommer und Herbst. Das ist schon immer so gewesen seit Adams Zeiten.«
»Ach, du willst mich nicht verstehen. Paul wird mir das sicher nachfühlen können, der hat oft ähnliche Gedanken wie ich.«
»Natürlich wieder Paul – laß ihn dir doch in Gold fassen. Schade, daß der nicht dein Zwilling ist. Der würde viel besser zu deinem Backfischfimmel passen als ich. Wir Männer verstehen uns im allgemeinen nicht auf Gefühlsduselei.« Während seine Stimme überschnappte, warf sich der vierzehnjährige Mann gewaltig in die Brust.
Herbert war eifersüchtig auf Paul, immer schon. Da Paul stets nett und gefällig zu Suse war, zog sie seine Gesellschaft oft der des Bruders vor. Herbert gab natürlich Suse die Schuld daran und bedachte nicht, daß er selbst mit seiner rücksichtslosen Art die Ursache dazu war. Als Pauls lange, schmächtige Gestalt mit dem Glockenschlag zehn in die zum Sternenhaus emporführende Pappelallee einbog, setzte sich Suse in Trab. Sie dachte nicht mehr daran, daß man sie heute »gnädiges Fräulein« tituliert hatte; wie ein Kind flog sie die Straße hinab. Bubi mit ihr um die Wette, während sein junger Herr langsamer und gemessener folgte, wie sich das für einen Untersekundaner schickte.
»Paul, wir sind versetzt – alle beide in die Untersekunda –, Herbert hat eine feine Osterzensur bekommen, meine ist soso lala«, rief sie ihm schon von weitem entgegen.
»Gratuliere, Suse«, Paul kam mit langen Schritten auf sie zugestapft und schüttelte ihr die Hand. Sein bleiches Gesicht überflog freudige Röte. »Habe ich es dir nicht gesagt, du brauchst keine Angst vor der Versetzung zu haben, Suschen? Dir fehlt bloß Selbstvertrauen.«
»Vater sagt, Herbert hätte genug Selbstvertrauen für uns beide. Aber ich wünschte wirklich, ich hätte etwas mehr davon.«
»Was habe ich?« fragte Herbert, der seinen Namen gehört hatte, neugierig näherkommend.
»Allzu viel Selbstvertrauen«, zog ihn Suse auf.
»Besser als zu wenig wie du«, gab Herbert prompt zurück. »Tag, Paul, hast dich ja heute so fein gemacht – geradezu elegant siehst du aus!« sagte er scherzend. Er dachte nicht daran, daß er jemanden mit Spott für etwas verletzte, wofür der andere nichts konnte.
Paul versuchte der verlegenen Röte, die ihm Herberts Worte ins Gesicht trieben, Herr zu werden. »Elegant – du lieber Himmel! Darauf macht mein Einsegnungsanzug wirklich keinen Anspruch mehr. Ich bin zufrieden, wenn der fadenscheinige Stoff noch den Sommer über aushält. Vielleicht kann ich während des Urlaubs noch irgend etwas nebenbei verdienen, daß ich zum Winter einen neuen erschwingen kann«, sagte er mit der geraden Ehrlichkeit, die ihn auszeichnete.
Suse hatte die taktlosen Worte ihres Zwillings wie einen Peitschenhieb empfunden. Geradezu gemein, den armen Paul mit seinem ausgewachsenen, abgetragenen Anzug zu verulken. Einen vorwurfsvollen Blick warfen die haselnußbraunen Mädchenaugen dem Bruder zu. Sie begegneten höchst vergnügten, blauen Jungenaugen, die ihnen vielsagend zuzwinkerten. Hatte er das nicht fein gemacht? Jetzt würde sich Paul doppelt mit seinem Osterei, dem neuen Sommeranzug, freuen.
»Er ist nun mal in den Flegeljahren, da muß man ihm manches zugute halten«, wandte sich Suse halblaut entschuldigend an den Freund, während Herbert sein Interesse einem Starkasten am Baum zuwandte, ob es wohl schon Junge drin gäbe.
»Auf die Gesinnung kommt es an, nicht auf die Worte. Man muß nicht jeden harmlosen Scherz krumm nehmen«, stimmte Paul zu. Es war erstaunlich, wie verständig der Junge schon war, trotzdem er nur knapp zwei Jahre älter war als Professors Zwillinge. Das hatte wohl der Ernst des Lebens, den Paul so früh kennengelernt hatte, verursacht.
Suse schritt, ihr Täschchen schwenkend, neben dem Freund her, der sie um Haupteslänge überragte und schielte an ihm empor. Schön war er nicht, der Paul, das konnte man bei aller Freundschaft nicht von ihm behaupten. Ja, Helga und Inge Martin, ihre beiden Intima, deren Ideal Totila und Teja aus dem Kampf um Rom waren, bezeichneten Paul Liedtke sogar als lange Latte. Freilich er war überschlank, sein Gesicht war schmal und farblos, sicherlich, weil er sich Butter und Aufschnitt abends absparte. Aber die grauen Augen blickten klug, klar und vertrauenserweckend – Pauls Augen fand Suses Backfischkritik sogar »blendend«.
»Du studierst mich ja so eingehend, Suse«, sagte da plötzlich Paul lächelnd, ihren Blick fühlend. »Habe ich irgend etwas Besonderes an mir?«
»Ach wo – bloß – bloß, ich finde, du siehst recht elend aus, Paul. Du mußt dich besser pflegen. Könntest du nicht Milch trinken? Milch ist nahrhaft und billig, haben wir neulich in Nahrungsmittellehre gelernt.«
»Mach doch dem Wickelkind lieber gleich das Fläschchen mit dem Lutschpfropfen zurecht«, mischte sich Herbert, der sie inzwischen eingeholt hatte, hinein. »Hier in Jena trinken junge Leute Bier und Wein, dafür sind wir in einer Studentenstadt.« Gar zu gern wäre Herbert selber schon Student gewesen.
Auf dem Gartenweg, den noch dürre Rosensträucher besäumten, blieb Paul stehen. »Schön ist es bei euch hier oben«, sagte er, tief Atem holend. »Sonne, Wind und Vogelgezwitscher. Gottesfrieden herrscht hier bei euch.«
»Wenn wir beide uns nicht gerade in den Haaren liegen, die Suse und ich«, lachte Herbert. »Weiß Paul denn schon, daß er jetzt gnädiges Fräulein zu dir sagen muß, Suse?« begann er sie schon wieder aufzuziehen.
»Nichts erzählen, bitte nicht klatschen, Herbert«, flehte das Backfischchen voller Verlegenheit und hielt dem Zwilling den vorlauten Mund zu.
»Wenn du mir die Hälfte von den Ostereiern, die du heute findest, abtrittst«, verhandelte der Bruder. Denn trotzdem er stets darauf bedacht war, seine männliche Würde zu wahren, war er noch ein großes Naschmaul.
»Alle sollst du haben, Herbert, nur verrate nichts – –«, bettelte Suse.
»Das nennt man Erpressung!« lachte Paul. »Suse, ich denke, wir sind gut Freund miteinander. Was verheimlichst du mir denn?« Forschend blickte Paul sie an. Da kam es Suse lächerlich und kindisch vor, daß sie sich das Duzen des neuen Mädchens so zu Herzen genommen hatte. Wieviel ernsteres Leid hatte der Paul in seinem jungen Leben tragen müssen.
»Wirklich, es war nur eine Dummheit von mir, Paul, es lohnt nicht, darüber zu sprechen.« Suse sah Paul bittend an, nicht weiter in sie zu dringen. Der verstand sie wie meist und schwieg feinfühlend.
»Was hast du denn da für einen Besen, Mensch?« erkundigte sich Herbert, gewahr werdend, daß Paul einige Zweige behutsam in der Linken trug.
»Die ersten Weidenkätzchen unten von der Saale und ein paar Osterruten, die schon sprießen. Ich fand sie an geschützter Stelle und wollte sie eurer Mutter als Ostergruß mitbringen.« Paul hätte gern noch hinzugefügt, an Stelle von Blumen, die leider zu teuer sind, um sie zu kaufen. Aber Herbert hatte ihn schon lachend unterbrochen: »Hahaha, den Reisigbesen kannst du unserer neuen Emma verehren, Mensch. Die kann ihn für den Hühnerstall benutzen.« Die Flegeljahre verleugneten sich nun mal nicht bei Herbert.
Suse griff errötend, als könnte sie Paul dadurch vor den übermütigen Worten des Bruders schützen, nach den geschmähten Zweigen. »Wie hübsch von dir, Paul, daß du an Mutti gedacht hast. Weidenkätzchen habe ich schrecklich gern, sie sind so weich wie meine Piccola.« Suse ließ die flaumigen Kätzchen zärtlich durch die Finger gleiten. »Und die winzigen Blättchen an den Birkenruten werden im Wasser sicher noch weiterwachsen. Ich finde es viel schöner, wenn man das nach und nach sich entfalten sieht, als wenn die Blumen gleich fix und fertig dastehen.«
»Kannste im Garten alle Tage genießen«, brummte Herbert, der allmählich merkte, daß Suse mit ihren Worten die seinigen gutmachen wollte. Paul warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Auch Frau Professor Winter nahm erfreut die ersten selbstgepflückten Lenzgrüße von Paul in Empfang und dankte ihm so herzlich dafür, daß Paul Herberts »Reisigbesen« darüber vergaß.
»Aber nun wollen wir endlich Ostereier suchen«, drängte Herbert ungeduldig.
»Erst muß der Paul frühstücken«, ordnete der Professor an. »Er hat schon einen Marsch zu uns herauf gemacht.« Und sein Frühstück wird kaum sehr ausreichend gewesen sein, setzte er in Gedanken hinzu.
»Kinder, ihr sorgt für den Paul.« Die Mutter nahm den Arm ihres Mannes, und beide schritten in den Garten hinaus, den ersten Frühlingssonnenschein zu genießen. Im Grunde aber nahmen Professors an, daß Paul tüchtiger dem Frühstück zusprechen würde, wenn die Kinder unter sich waren.
Es hätte Muttis Aufforderung, für Paul zu sorgen, nicht erst bei Suse bedurft. Sie schenkte ihm Kakao ein, schnitt ihm Riesenstücken von dem Osterkuchen ab und paßte auf, daß er auch sein Ei dazu aß. »Ein Osterei, Paul, von unsern Hühnern, extragroß!« Die Braunaugen des jungen Mädchens strahlten, wie gut es Paul mundete. Ach, mehr noch als Kuchen und Eier labte den Jungen die Fürsorge, die seit dem Tode seiner Mutter keiner mehr für ihn gezeigt hatte. Herbert steckte von Zeit zu Zeit den Kopf zur Tür herein: »Mensch, futterste denn immer noch? – Du wirst dir bestimmt den Magen verderben.« So sorgte er für Pauls Wohl.
Auch der hungrigste Magen wird schließlich mal satt. Paul erklärte, nun aber wirklich für die nächsten Stunden nichts mehr essen zu können.
»Das Ostereiersuchen kann beginnen«, schmetterte Herbert in den Garten hinaus. »Mit wem fangen wir an?«
»Die Ostereier sind für euch alle bereits in Haus und Garten versteckt. Ihr könnt sie gemeinsam suchen«, verkündete der Professor.
»Was ihr findet, tut ihr hier in das Körbchen; nachher wird es verteilt«, fügte die Mutter sorglich hinzu.
»Ach, erst sammeln, das ist ja langweilig«, erhob Herbert Einspruch.
»Herbert sammelt lieber gleich in seinen Magen«, rief Suse lachend, die ihren Zwilling am besten kennen mußte. »Von Herberts Beute werden wir wohl nicht allzu viel zu sehen bekommen.«
»Die Ostereier sind gezählt, mein Sohn. Mogeln ist nicht. Was an der Gesamtzahl nachher fehlt, wird dir abgezogen«, erläuterte der Vater.
»Als ob die andern nichts in den Magen spazieren lassen«, brummte Herbert.
»Suse ist ehrlich. Wenn sie verspricht, nichts vorher zu naschen, hält sie's auch. Und auch auf Paul ist unbedingt Verlaß – – –.«
»Na, wenn er eben erst soviel Kuchen gefressen hat – – –.«
»Aber Herbert – was ist das wieder für ein flegelhafter Ausdruck!« entsetzte sich die Mutter.
Unbekümmert darum begann der Sprössling »Auf in den Kampf, Torero!« zu pfeifen. »Also los!« kommandierte er. »Bubi hierher! Such, such, Hündchen – such die schönen Ostereier!« feuerte er seinen Köter an.
»Nein, Mutti, das gilt nicht. Bubi darf nicht mitsuchen. Der wittert sie doch gleich alle«, empörte sich Suse. Sicherlich hätte sie geheult, wenn sie sich nicht vor Paul geschämt hätte.
»Herbert, ruf den Hund zurück!« verlangte der Vater. Unwillkürlich mußte er lachen; denn es war wirklich komisch, wie verständnisinnig Bubi seinen jungen Herrn anblinzelte, schnupperte und dann wie ein Pfeil davonschoß. Unter dem großen Klubsessel hatte er ein Osterei gefaßt, ein herrliches Schokoladenei. Es behutsam im Maule tragend, kam er damit zurück zu Herbert. Aber unterwegs mußte Bubi wohl auf den Geschmack gekommen sein. Denn anstatt seinem Herrn das Ei als wohlerzogener Hund zu Füßen zu legen, hatte er es plötzlich aus Versehen hinuntergeschluckt. Jetzt stand er, sich das Maul noch nachträglich leckend, mit gesenktem Schwanz vor seinem Herrn; denn er war sich bewußt, unrecht getan zu haben.
»Schämst du dich denn gar nicht, du Kerl, so verfressen zu sein?« machte Herbert seinen Bubi herunter. Der Missetäter senkte das Schwänzchen noch tiefer. Auch die Ohren hingen beschämt zur Erde.
»Bubi hat das erste Osterei gefunden – das muß Herbert aber abgezogen werden«, verlangte Suse in das allgemeine Gelächter hinein.
»Er hätte ja das Ei doch nicht mehr essen können, mein Herzchen«, beruhigte sie die Omama.
»Warum denn nicht, Omama? Ich hätte es einfach abgewaschen«, behauptete Herbert.
»Dann wäre Schokoladensuppe daraus geworden«, lachte Suse. Ihr Zwilling erklärte sich nach dem mißglückten Experiment damit einverstanden, Bubi vom Ostereiersuchen auszuschließen. Der Hund wurde ins Arbeitszimmer des Vaters verbannt; denn dieses sowohl wie das Zimmer der Großmama waren geheiligter Boden, der vom Durchstöbern ausgeschlossen war.
Eine wilde Jagd ergoß sich jetzt durch Haus und Garten. Wie die Gören lachten, jubelten und kreischten die großen Untersekundaner, wenn sie wieder einen Fang gemacht hatten. Auch Paul wurde ganz ausgelassen bei dem frohen Treiben. Der Ernst auf seiner Stirn schwand, sein bleiches Gesicht färbte sich, er wurde übermütig und fröhlich wie die andern. Das Sammelkörbchen füllte sich.
Einen Schmerz, eine Enttäuschung aber hatte Suse beim Ostereiersuchen zu verzeichnen. Als sie in der Küche das Unterste zuoberst zu kehren begannen, schaute ihnen die neue Emma belustigt zu. Dann aber zwinkerte sie dem Backfischchen mit den Augen zu: Tiefer, Suschen, mang die Töpfe mußte suchen.
»Das gilt nicht, Emma, verraten dürfen Sie nichts, wenn die Suse auch Ihre Duzfreundin ist«, beschwerte sich Herbert.
»Aber Herr Herbert, Sie müssen sich verhört haben. Ich verrate kein Sterbenswörtchen«, lachte die Emma.
Suse aber hatte sich nicht verhört. Die lachte nicht. Tränen der Empörung waren ihr in die Braunaugen geschossen. Was – zu Herbert sagte die Emma ›Sie‹ und sogar ›Herr Herbert‹? Na, das war ja noch schöner, wo sie doch Zwillinge waren.
»Emma, bitte sagen Sie doch zu Herbert auch ›du‹, wenn Sie zu mir ›du‹ sagen«, rief sie aufgeregt. »Der ist auch nicht älter als ich!«
»Du bist wohl total hops, Mensch?« Herbert traute seinen Ohren nicht. Seine schüchterne Suse war ja gar nicht wiederzuerkennen. »Erstens bin ich zwei Stunden älter als die Suse, Emma, und zweitens verbitte ich mir Ihr ›Du‹.« Jetzt brach die Rüpelhaftigkeit seiner Flegeljahre wieder bei dem Jungen hervor.
»Aber Kinder, wenn ihr wollt, sage ich doch zu euch allen beiden ›Sie‹«, lachte die Emma. »Darauf soll es mir nicht ankommen, Suschen.«
Das Wort »Kinder« empfanden die Zwillinge zwar als eine Ungehörigkeit, aber wenigstens war die Sache somit aufs beste geordnet. Suse war glücklicher über das neuerworbene »Sie« als über das große Osterei, das sie im Küchenschrank fand. Aber es war doch ganz gut, daß Paul nicht dabei gewesen war. Sicher hätte er sie für kindisch gehalten.
Der Professor hatte Paul in sein Zimmer gerufen. Dort übergab er ihm den ihm zugedachten Anzug und gleichzeitig die Adresse seines Schneiders, der ihn passend herrichten sollte. Der feinfühlende Mann wollte Paul möglichenfalls ein peinliches Gefühl ersparen, in Gegenwart von andern das Kleidungsstück annehmen zu müssen. Aber Paul war so ehrlich überrascht und erfreut, er bewunderte den schönen Stoff und wies den herzueilenden Zwillingen so glückselig sein Osterei, daß Professor Winter wiederum seine Ansicht über Paul bestärkt sah: Ein Prachtjunge!
Es gab noch mehr Überraschungen. Außer den süßen Eiern hatte der Osterhase noch für die Zwillinge wie für Paul eine Theaterkarte zum ›Wallenstein‹ im Stadttheater gebracht. Keiner wollte der Osterhase gewesen sein. Aber die Zwillinge waren schlau. Die wußten, daß der Osterhase einen weißen Silberscheitel, eine Brille auf der Nase und die gütigsten Augen besaß, die nur eine Großmutter haben konnte.
Auch Paul hatte in der Tasche Überraschungen. Ein ulkiges, merkwürdiges Kaktustöpfchen für Suses Sammlung und für Herbert eine kleine Taschenlaterne.
»Knorke, Mensch!« rief Herbert begeistert, während Suse ganz gerührt davon war. Sicher hatte Paul, um es kaufen zu können, abends trockenes Brot gegessen. Aber jetzt bekam er ja ihre schöne Wurst.
Ja, wo war denn die hingekommen? Als die Zwillinge Paul in den Garten hinauszogen, daß er sich ihre Ostereier suche, spähte Herbert vergeblich nach seinem Foulardbinder neuesten Musters und Suse nach ihrer Zervelatwurst aus. Kahl standen die Stachelbeersträucher. Keine Krawatte wuchs daran, soviel man sie auch auseinanderbog und suchte. Die geschmackvolle Krawatte mußte in irgendeinem Vorübergehenden einen Liebhaber gefunden haben. Und Suses Wurst? Der war es nicht viel anders ergangen. Auf dem Rosenrondell lag einsam das rosa Seidenpapier. Auch die schöne Zervelatwurst hatte einen Liebhaber gefunden – fragt nur Bubi!