Читать книгу Trotzkopf's Brautzeit - Else Wildhagen - Страница 3

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In Moosdorf hatte Ilses Flucht großen Schrecken hervorgerufen. Als sie zur gewohnten Kaffeestunde um 5 Uhr, zu welcher die Familie sich zu versammeln pflegte, nicht erschien, suchte man sie im Garten und auf ihrem Zimmer, doch war sie nirgends aufzufinden. „Sie wird zu Pastors gegangen sein,“ meinte Frau Anne; „wenn es dich beruhigt, lieber Richard, schicke ich sogleich dorthin.“

„Tue das, liebes Kind,“ gab er zur Antwort, „es wird jetzt so früh dunkel, der Weg ist so einsam, und Ilse könnte sich fürchten. – Wo steckt das Kind nur?“ wandte er sich, nachdem seine Frau das Zimmer verlassen hatte, an seinen Schwiegersohn, der am Fenster saß und anscheinend sehr vertieft in die Lektüre eines Buches war. „Weißt du nicht, wo sie sein könnte, Leo? Sie hat es dir doch sicher gesagt, wenn sie zu Pastors gehen wollte.“

Leo sah auf und schüttelte den Kopf.

„Nein, Papa, ich habe keine Ahnung, wo Ilse ist. Nach Tisch waren wir zusammen auf der Veranda, seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen.“

Herrn Macket fiel es bei diesen Worten plötzlich ein, daß sie ihm heute mittag von dort mit sehr erregtem Gesicht entgegengekommen war. Die beiden haben sich gewiß mal wieder gestritten, dachte er; denn Leo saß so gleichgültig da und las so ruhig weiter, als handle es sich nicht um seine Braut, die man suchte.

Bald kam Frau Anne mit dem Bescheid zurück, daß Ilse bei Pastors nicht wäre und auch nicht dort gewesen sei. Jetzt wurde der besorgte Papa aber unruhig.

„Ja, aber irgendwo muß sie doch sein,“ stieß er hervor und stand auf.

Seine Frau trat zu ihm. „Sie wird ins Dorf gegangen sein,“ versuchte sie ihn zu beruhigen. „Wenn es dir recht ist, gehen wir ihr entgegen. Ich will mich sofort anziehen und bin gleich wieder hier.“

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Herr Macket war mit diesem Vorschlag einverstanden und verließ zugleich mit seiner Frau das Zimmer, um bald darauf zum Ausgehen gerüstet, den Stock und Hut in der Hand, wieder einzutreten. Leo saß noch immer lesend am Fenster und sah kaum auf, als sein Schwiegervater zurückkehrte. Herrn Macket ärgerte diese scheinbare Ruhe, er räusperte sich einigemale vernehmlich und ging mit heftigen Schritten auf und ab. Es verdroß ihn, daß sich Leo durch nichts in seiner Lektüre stören ließ.

„Mein Gott, Leo, hat dir denn Ilse kein Wort gesagt, daß sie überhaupt fortgehen wollte?“ brach er endlich unwillig los.

Wieder antwortete Leo ruhig und gelassen:

„Nein, Papa, Ilse hat mir mit keinem Wort verraten, wohin sie gehen wollte. Ich glaube auch, wie die Mama, es ist das beste, wir gehen ins Dorf, dort wird sie sicher bei einem ihrer vielen Schützlinge zu treffen sein.“ Er stand auf, klappte das Buch zu und legte es auf die Fensterbank.

„So, ich bin fertig,“ rief Frau Anne ins Zimmer herein, „wir können gehen.“

Draußen nahm sie den Arm ihres Mannes, und nun schritten die drei die einsame Dorfstraße hinunter, blieben bald hier, bald dort an den Türen stehen, oder traten auch in die kleinen dumpfen Bauernstuben ein, aber überall bekamen sie den Bescheid, daß Ilse von niemand gesehen sei.

„Unbegreiflich, unbegreiflich,“ murmelte Herr Macket vor sich hin. „Wo mag das Mädchen nur stecken?“

Frau Anne mußte unwillkürlich über ihren Mann lächeln, denn in seinem Eifer und seiner allzugroßen Besorgnis hatte er ihren Arm losgelassen und eilte in beschleunigtem Tempo voraus.

„Wie ängstlich der Papa doch gleich ist,“ wandte sie sich an Leo, „was soll denn Ilse zugestoßen sein, sie kennt hier jeden Weg und Steg. Irgendwo wird sie sich festgeplaudert haben, meinst du nicht auch, Leo?“

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Er nickte und ging schweigend neben seiner Schwiegermutter weiter.

Das kleine Dorf war bald durchschritten, niemand vermochte Auskunft über Ilse zu geben, keiner hatte sie gesehen.

Herrn Mackets Unruhe steigerte sich immer mehr, man sah es ihm deutlich an.

„Wir wollen jetzt noch bei der Kathrine vorgehen,“ – sagte er zu seiner Frau, „vielleicht ist sie dort.“

Kathrine war das ehemalige Kindermädchen Ilses, an welchem sie noch mit großer Liebe hing und welches sie öfter besuchte. Sie war unter den Bauernfrauen gewesen, welche am Nachmittag vom Felde heimkehrend von Ilse so scheu gegrüßt worden waren, und hatte ihr deshalb verwundert nachgesehen. Sie hätte also dem unruhvollen Papa Auskunft geben können über seinen Liebling. Doch ging es auch hier, wie so oft in ähnlichen Fällen, daß noch im letzten Augenblick ein tückischer Zufall hindernd dazwischen tritt, wenn man unbewußt schon dicht vor dem Ziele steht.

Frau Anne sehnte sich nach dem behaglichen Zimmer, denn ein heftiger Wind hatte sich erhoben und trieb ihnen den Regen in großen Tropfen entgegen. Sie zog den Mantel noch fester um ihre Schultern und den Schleier tiefer über das Gesicht. Bei diesem Unwetter sollten sie noch so weit gehen! Denn Kathrine wohnte außerhalb des Dorfes in einem kleinen Häuschen. Auch glaubte Frau Macket, daß dieser Weg ohnedies ganz unnütz sein würde, denn Kathrine war diesen Morgen erst bei ihr gewesen und hatte Ilse gesehen und gesprochen. Sie sagte das ihrem Mann, und er kam schließlich zu der Überzeugung, daß sie Ilse gewiß vergeblich dort suchten. Auch war der Weg dahin einfach grundlos, es war völlige Dunkelheit unterdessen hereingebrochen, so daß er seiner Frau recht gab, und umzukehren beschloß. „Wir finden Ilse gewiß vor, wenn wir nach Hause kommen,“ sagte Frau Anne, [pg 34]„es muß ja bald sieben Uhr sein; zum Abendessen ist sie sicher wieder da.“

Herrn Macket schienen die Worte seiner Frau zu beruhigen, auch er gab sich der festen Hoffnung hin, daß Ilse wohl schon daheim sein würde. Im stillen nahm er sich vor, ihr gehörig den Text darüber zu lesen, daß sie so mir nichts dir nichts fortgeblieben war. Wieviel Lauferei und Schickerei hatten sie dadurch schon gehabt! Sogar den Abendschoppen im Löwen hatte er ihretwegen versäumt, und er fühlte jetzt plötzlich, als Folge der Abweichung von dieser täglichen Gewohnheit, einen brennenden Durst. Teils um diesen stillen zu können, teils um sich früher Gewißheit zu verschaffen, ob Ilse daheim wäre, verdoppelte er seine Schritte, so daß seine Frau Mühe hatte mitzukommen und einigemale bitten mußte, doch etwas langsamer zu gehen. Leo schritt wortlos hinter ihnen her. Er schwankte in seinem Innern, ob er nicht doch lieber umkehren und bei Kathrine nachfragen sollte. Zögernd blieb er stehen und überlegte unschlüssig, was zu tun sei. Aber der Streit mit Ilse hallte noch zu heftig in ihm nach; wenn er sie jetzt bei der Frau antraf, hatte er wieder einmal verlorenes Spiel. In den Augen seines trotzigen Schatzes würde ihr Triumph zu lesen sein, daß er ihr doch wieder nachgelaufen sei; sie würde ihm gnädig verzeihen, wenn er ihr, wie er bis jetzt stets getan, ein gutes Wort gab. Aber diesmal wollte er standhaft bleiben; das Gefühl, daß er ihr schon zu viel und zu oft nachgegeben habe, wollte sich heute nicht aus seiner Seele verdrängen lassen, und deshalb, – nein, er wollte nicht umkehren! Wie seine Schwiegereltern, tröstete auch er sich mit der Hoffnung, daß Ilse jetzt wohl daheim sein würde, und schnell folgte er dem vorangegangenen Ehepaare.

Als sie ins Haus traten, war Herrn Mackets erste Frage nach Ilse. Aber er bekam die Antwort, daß sie nicht gekommen war und auch keine Nachricht geschickt hatte.

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Mit nervöser Unruhe zog er die Uhr aus der Tasche.

„Es ist sieben Uhr,“ sagte er zu seiner Frau.

„Da muß Ilse ja jeden Augenblick kommen,“ fiel sie ihm ins Wort, „zum Abendessen ist sie, ohne Bescheid gegeben zu haben, noch nie ausgeblieben.“

„Ist das Abendessen bereit?“ fragte sie das Hausmädchen, das ihr diensteifrig den nassen Mantel abgenommen hatte.

„Ja, gnädige Frau, es ist alles fertig.“

Sie bat ihren Mann und Leo, im Eßzimmer auf sie zu warten, da sie nur noch nach dem Kinde sehen wolle.

Eine behagliche Wärme strömte den beiden Männern entgegen, als sie das Zimmer betraten. Das laut knisternde Holzfeuer in dem altertümlichen Kachelofen, das helle Licht, welches die große Hängelampe ausstrahlte, und der einladend gedeckte Tisch, die ganze stimmungsvolle Behaglichkeit, welche in dem Raume herrschte, vermochte indessen heute nicht den gewohnten Eindruck auf die beiden hervorzubringen. Herr Macket durchmaß das große Zimmer fortwährend von einem Ende zum andern mit großen Schritten, und sein Blick schweifte jedesmal, so oft er vorbeiging, zu der alten Standuhr hinüber, die schon von seinen Urgroßeltern herstammte und ein wertvolles Familienstück war. Gleichmäßig rückte der Zeiger vorwärts, einförmig tickte der große Pendel. „Schon ½8 Uhr,“ murmelte der besorgte Vater, als das Schlagwerk jetzt zu einem lauten Ton aushob, der melodisch verhallte.

Leo hatte sich an das Fenster gesetzt und sah stumm hinaus. „Wo bleibt nur Ilse,“ dachte auch er jetzt; es kam ihm seltsam vor, daß sie noch immer nicht da war. Sie hatte ihn so aufgeregt verlassen diesen Mittag, so zornig, wie er sie nie gesehen. Sollte sie in ihrer Leidenschaftlichkeit fortgelaufen sein, des Wegs vielleicht nicht geachtet und sich deshalb verirrt haben? Er kannte ihre Furchtsamkeit, wie würde sie sich ängstigen, wenn sie wirklich den richtigen [pg 36]Weg verfehlt hatte! Dieser Gedanke verscheuchte allen Groll in seinem Herzen, er dachte nur noch daran, daß seine Braut jetzt vielleicht seines Schutzes, seiner Hilfe bedurfte, konnte er sie da verlassen? Er sprang auf.

„Papa,“ wandte er sich an seinen Schwiegervater, „ich will noch einmal fortgehen. Vielleicht hat sich Ilse verirrt, ich kenne ja ihre Lieblingswege, sicher ist sie zu weit gegangen und kann nicht wieder zurückfinden.“

Nichts war Herrn Macket erwünschter, und mit Freuden gab er seine Zustimmung zu diesem Entschluß.

„Das ist recht, tue das,“ sagte er mehrmals hinter einander, „sie hat sich gewiß verirrt, sie müßte ja sonst längst da sein. Soll ich mitgehen?“

„Nein, nein, Papa,“ fiel ihm Leo ins Wort, „bleibe nur hier.“

„Ja aber, Leo, – kennst du auch den nächsten Weg nach der Wassermühle? Es fällt mir eben ein, daß Ilse gestern davon sprach, daß sie dorthin gehen wolle, weil sie gehört habe, daß die kleine Liese krank sei; es kann also sein, daß sie dort ist. Wenn du über die Friedenseiche gehst und dann der Chaussee folgst –“

„Ja, lieber Papa,“ unterbrach ihn Leo lächelnd, „ich kenne den Weg ganz genau.“

Herr Macket begleitete ihn in seinem Eifer bis an die Gartenpforte und gab ihm noch gute Ratschläge, wie er diesen und jenen Weg am besten abkürzen könne.

Als er ins Eßzimmer zurückkehrte, fand er dort seine Frau, die am Büffet stand und den Tee bereitete. Er erzählte ihr sehr befriedigt, daß Leo fortgegangen wäre, um Ilse zu suchen.

„Wir wollen aber trotzdem mit dem Essen anfangen,“ sagte Frau Anne, die ihren Mann gern auf andre Gedanken bringen wollte und nötigte ihn zum Sitzen. Dann stellte sie eine dampfende Tasse Tee vor ihn hin und reichte [pg 37]ihm die Speisen. Er aß nur wenig, und sie las in seinem Mienen, daß er gespannt auf jedes Geräusch horchte. Jedesmal, wenn die Haustüre ging, stand er auf, sah hinaus und kehrte mit enttäuschtem Gesichte zurück.

„Iß doch nur, lieber Richard,“ bat Frau Anne dringend, „alles wird kalt, und es gibt gerade dein Lieblingsessen heute abend.“

Er nickte und füllte sich den Teller in der Zerstreutheit bis an den Rand voll, dann aß er einige Bissen, aber mit Hast und Überstürzung, nicht mit der Behaglichkeit, die er sonst gerade beim Essen so sehr liebte. Die beiden Ehegatten waren auffallend still diesen Abend; eine Zeitlang hörte man nur das Klappern der Messer und Gabeln und das gleichmäßige Ticken der Uhr, nach welcher Frau Anne öfter verstohlen hinblickte, denn Ilses Ausbleiben wurde auch ihr jetzt auffallend. Sie sah, daß die Aufregung ihres Mannes wuchs und daß er sich nur ihr gegenüber beherrschte. Er hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und spielte in nervöser Unruhe mit dem Messerbänkchen.

Frau Anne legte den Teelöffel, mit welchem sie eine ganze Weile mechanisch in der Tasse herumgerührt hatte, auf das Unterschälchen.

„Richard,“ sagte sie und ein leiser Vorwurf klang aus ihren Worten, „heute abend hast du zum erstenmal vergessen, unsrem Liebling gute Nacht zu sagen. Er war so herzig, so drollig, der kleine Kerl, als ich ihn zu Bette brachte.“

„Ja, wahrhaftig, das habe ich vergessen,“ rief er und sprang auf, „aber ich gehe jetzt noch zu ihm; schläft er denn schon?“

„O, schon lange! Wecke mir das Kind nur nicht auf!“ rief sie ihm noch nach, als er aus der Türe ging.

Frau Anne war es unerklärlich, warum Ilse nicht kam, warum sie gerade heute, wo Leo da war, ausblieb. [pg 38]Und auch dieser kam nicht wieder! Jetzt konnte er doch längst zurück sein. Gewiß hatte er Ilse nicht gefunden. Sie war froh, als sie bald darauf die Haustüre gehen und gleich danach Leos energischen Schritt die Treppe herauf kommen hörte. Rasch ging sie ihm entgegen. Er stand gerade auf dem Vorplatz und hing seinen regentriefenden Überzieher auf.

Auch Herr Macket hatte ihn kommen hören und war herbeigeeilt. „Hast du Ilse nicht gefunden?“ fragte er bestürzt.

„Nein,“ gab Leo kurz zur Antwort, und seine Stimme klang unsicher und erregt.

„Laßt uns ins Zimmer gehen,“ drängte Frau Anne, denn sie bemerkte, daß oben auf der Treppe die Dienstboten neugierig die Köpfe zusammensteckten. Sie gingen hinein, und Herr Macket überschüttete Leo, der sich erschöpft in einen Stuhl fallen ließ, mit ungeduldigen Fragen.

„Überall bin ich gewesen, Papa, überall habe ich nach Ilse gefragt, niemand hat sie gesehen.“

„Wo bist du gewesen?“ forschte der geängstigte Vater weiter.

„Beim Pastor, in der Mühle –“

„Warst du nicht bei Kathrine?“

„Nein, aber ihr kleiner Junge, den ich sah, sagte mir, daß Ilse nicht bei seiner Mutter wäre.“

„Dann ist dem Kinde etwas zugestoßen,“ stieß Herr Macket hervor und sein Gesicht wurde leichenblaß.

Frau Anne eilte zu ihm hin. „Aber ich bitte dich, Richard,“ suchte sie ihn zu begütigen, „nimm doch nicht gleich das Schlimmste an, was soll ihr denn zugestoßen sein?“

Ihre Worte übten jedoch keinen beruhigenden Einfluß mehr auf ihn aus, und sie gestand sich selbst, daß sie wider ihre eigene Überzeugung sprach, in der Absicht, ihm die [pg 39]Sorge, die sich jetzt auch ihrer bemächtigte, nicht zu zeigen. Irgend etwas mußte vorgefallen sein. Es war jetzt halb zehn Uhr; so lange war Ilse noch nie ausgeblieben, ohne vorher etwas gesagt oder Bescheid geschickt zu haben. Und wo sollte sie denn überhaupt sein? Sie hatten ja überall schon nachgefragt.

Leo war ans Fenster getreten und preßte sein Gesicht an die Scheiben, gegen welche der Regen prasselnd aufschlug. Nun wurde es ihm klar: Ilse hatte in ihrer Aufregung irgend einen Schritt getan, der sie alle in Angst und Aufregung versetzte. Aber was, was für ein Schritt konnte dies sein? Ein unheimlicher Verdacht stieg in ihm empor, aber er drängte ihn schaudernd zurück. Um Gottes willen, nein, soweit würde sie sich nicht hinreißen lassen, das war ja nicht möglich, das konnte nicht sein!

„Rufe die Knechte zusammen, Anne,“ unterbrach die Stimme seines Schwiegervaters das beängstigende Schweigen, und als seine Frau ihn fragend ansah, fügte er hinzu: „Sie sollen die Laternen und Fackeln zurecht machen, wir wollen Ilse suchen.“

Er stieß die Worte kurz und abgerissen hervor, seine Stimme bebte in verhaltener Aufregung, und vor innerer Angst fast gelähmt ließ er sich in einen Stuhl sinken und vergrub sein Gesicht in beiden Händen.

Frau Anne tat es im Herzensgrunde leid, wie sie ihn so gebrochen dasitzen sah, und sie schlang zärtlich ihren Arm um seinen Hals.

„Richard,“ bat sie innig, „ich bitte dich, gib dich doch nicht gleich den schlimmsten Vermutungen hin; ich frage nochmals, was soll dem Kinde zugestoßen sein, das jeden Weg auf das genaueste kennt? Soll ich die Knechte wirklich zusammenrufen?“ Der Gedanke, daß die Leute mit Laternen fortgehen sollten, um Ilse zu suchen, war ihr zu schrecklich.

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„Laß nur, Anne,“ wehrte er jetzt ab, „ich will den Knechten selbst Bescheid sagen.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verließ das Zimmer.

„Leo,“ sagte Frau Anne, indem sie zu ihm trat, „ich ängstige mich sehr und will nur dem Papa meine Angst nicht zeigen. Was kann Ilse zugestoßen sein? Wenn ihr nur kein Unglück begegnet ist! Ich kann es nicht begreifen, daß sie noch nicht da ist.“

Schweigend hörte Leo sie an, auch ihn hatte die Angst erfaßt, und in seinem Innern bestand er jetzt einen harten Kampf; er fühlte wohl, daß es seine Pflicht war, den Streit, welchen er mit Ilse gehabt, zu erwähnen, und doch konnte er sich nicht dazu entschließen. Er hatte seine Braut wiederholt gebeten, wenn sie in ihrer Offenheit und Heftigkeit die kleinen Mißverständnisse, ohne die es zwischen ihnen nicht immer abging, den Eltern ausgeplaudert hatte, dies künftig zu unterlassen, – und nun sollte er selbst erzählen, daß sie sich gezankt hatten? Nein, das widerstrebte ihm, das wollte er nicht!

Frau Anne beobachtete ihn stillschweigend, ihr scharfes Auge hatte in seinen bewegten Mienen gelesen, und es war klar in ihr, daß zwischen den Brautleuten etwas vorgefallen sein mußte. Aber sie fragte nicht und sagte nichts, ihr feinfühlender Sinn verstand die peinliche Lage, in der sich Leo jetzt befand.

Leise summte der kupferne Teekessel, der auf dem Büffet stand, sein eintöniges Lied, als Frau Anne jetzt herantrat und ihn von der Spiritusflamme herunter nahm.

„Willst du nicht etwas essen, Leo?“ fragte sie.

„Danke, Mama!“

„So trinke wenigstens eine Tasse Tee,“ bat sie und goß das kochende Wasser in die Teekanne.

„Danke, Mama,“ erwiderte er ebenso kurz und schnell wie vorhin. Dann starrte er wieder unbeweglich in die [pg 41]Dunkelheit hinaus, die so undurchdringlich war wie das Dunkel, welches Ilses Verschwinden umgab. Heulend tobte der Sturm um das Haus, man hörte das Ächzen der schwankenden Bäume und den strömenden Regen, der klatschend niederschlug. Das Unwetter trug dazu bei, Leos beklommenes Herz noch schwerer zu machen. Diese Ungewißheit über das Ausbleiben seiner Braut ertrug er nicht länger, es wurde ihm zu heiß, zu eng hier, und er sprang so heftig empor, daß der Stuhl, auf dem er gesessen, mit lautem Gepolter zurückflog.

„Es ist erdrückend schwül hier, findest du nicht auch, Mama?“ und ungestüm riß er das Fenster auf, daß ihm der Regen kalt in das erhitzte Gesicht schlug.

Unten im Hofe hörte man jetzt Stimmen durcheinander tönen, und Lichter flackerten hin und her. Leo beugte sich hinaus und sah die Gestalt seines Schwiegervaters, welcher hastig auf und ab schritt, ohne Hut und Mantel, des Regens und Sturmes nicht achtend.

„Das geht nicht,“ meinte er, indem er sich nach Frau Anne umdrehte. „Papa soll in diesem Wetter nicht mit. Ich will ihm doch sagen, daß er zu Hause bleibt, ich werde mit den Leuten gehen.“

Frau Anne stimmte ihm bei und folgte ihm in den Hof, um auch ihren Einfluß geltend zu machen und ihren Mann zu bewegen, daß er daheim bleiben möge. Aber er ließ sich weder von ihr noch von Leo bereden, um keinen Preis würde er zurück bleiben, entschied er kurz. Sein joviales, immer heiteres Gesicht war heute durch die Angst und Aufregung förmlich verzerrt, und er schien um Jahre gealtert zu sein.

„Adieu, Anne,“ sagte er, seiner Frau die Hand reichend, und indem er sein Gesicht fortwandte, fügte er hinzu: „Wir wollen nun unsre arme Ilse suchen.“

„Nein, Richard,“ rief sie und hielt ihn fest, „so darfst [pg 42]du auf keinen Fall fort, ohne Hut, ohne Überzieher, du würdest dich auf den Tod erkälten.“ Sie flog ins Haus und holte ihm beides. Auch sie selbst hatte sich ihren Mantel umgehängt und ein Tuch um den Kopf geschlungen.

„Laß mich mit dir gehen,“ bat sie ihren Mann.

„Nein, Kind,“ sagte er und schob sie sanft zurück, „du bleibst hier. Kommt, Leute,“ befahl er dann und ging mit großen Schritten voran. An seiner Seite schritt Leo. Die Enden seines weiten Mantels flatterten im Winde. Den großkrämpigen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen und sein Blick haftete fest auf dem Boden.

Frau Anne sah ihnen nach, bis der letzte den Hof verlassen hatte, dann erst ging sie ins Haus zurück. Vom Fenster aus verfolgte sie den Zug der Fackeln, mit denen der Sturm sein lustiges Spiel trieb. Wie unheimlich das aussah! – O, mein Gott, wenn nur nichts passiert ist! Krampfhaft zog sich bei diesem Gedanken ihr Herz zusammen, und angstvoll preßte sie die Hände auf dasselbe. Ein nervöses Frösteln überlief sie, fester hüllte sie sich in ihr Tuch, das sie um die Schultern geschlungen hatte, und sah vor sich hin. Was mochte nur zwischen dem Brautpaare vorgefallen sein? Etwas Ernstes gewiß, denn Leo hatte so bekümmert dagesessen, und schon den ganzen Nachmittag war er ungewöhnlich ernst gewesen. Sie grübelte hin und her, wo Ilse noch sein könnte, wie ihr Fortbleiben zu erklären wäre. Kein Rat, kein Ausweg mehr! Sollte sie in ihrer Leidenschaftlichkeit eine unglückselige Tat begangen haben? Frau Anne wies diesen entsetzlichen Gedanken so schnell zurück, wie er ihr gekommen war, – nein, das war Ilse nicht zuzutrauen, denn trotz aller Leidenschaftlichkeit war sie nicht im geringsten krankhaft überspannt, sondern hatte eine kerngesunde Natur.

Langsam schlich die Zeit dahin. Tiefe Nacht herrschte jetzt überall im Dorfe, alles war dunkel. Der Sturm hatte [pg 43]nachgelassen, und nur der Regen klatschte noch an die Fenster. Unaufhörlich rieselten die kleinen Bäche in schnellem Lauf über die glatten Scheiben, Tropfen auf Tropfen jagten einander. Frau Anne sah mechanisch dem Spiele zu, dessen einförmiges Geräusch die einzige Unterbrechung der nächtlichen Stille war. Und deshalb zuckte sie auch jäh zusammen, als der Glockenschlag der zwölften Stunde jetzt laut und langsam feierlich durch die Nacht hallte. Traulich und heimisch berührten sie sonst diese Töne, aber schauerlich bang klangen sie heute in ihrem Innern wieder. Nun waren sie schon über eine Stunde fort, ihr Mann und Leo! Noch deutete nichts darauf hin, daß sie zurückkämen, und vergeblich spähte sie in die Dunkelheit hinaus, ob nicht ferner Lichtschein ihre Heimkehr verkündete.

Da, – es war ihr, als hörte sie plötzlich Schritte, gespannt horchte sie hinaus, und richtig, sie hatte sich nicht getäuscht. Die einsamen Schritte näherten sich dem Hause, und Frau Anne hörte, daß die Gartenpforte aufgemacht wurde. Eilig riß sie das Fenster auf und sah, wie eine Gestalt über den Hof auf das Haus zukam. Gleich darauf wurde heftig an der Glocke gezogen.

„Wer ist da,“ rief sie von oben hinunter.

„Eine Depesche,“ antwortete eine Stimme von unten.

Frau Anne schlug das Fenster zu und flog die Treppe hinab. Wie ihr das Herz klopfte! – Die Mägde, welche sich auf dem Hausflur befanden, hatten die Türe noch nicht aufgemacht; sie standen dicht zusammengedrängt, mit so angstvollen Gesichtern, als wenn der leibhaftige Satanas vor der Türe wäre und Einlaß begehrte.

„Warum macht ihr denn nicht auf?“ fragte Frau Macket und wollte den Schlüssel im Schloß umdrehen, als die alte Köchin sie am Arm zurückhielt und flehentlich mit weinerlicher Stimme bat, doch ja nicht zu öffnen, denn man könne ja nicht wissen, wer draußen stände.

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„Ach, liebe, gnädige Frau, machen Sie doch nicht auf,“ jammerte sie, als Frau Anne den Schlüssel nun doch entschlossen umdrehte und der Drücker von draußen niederging. Laut kreischend flogen die Mägde auseinander, und mit bebender Hand nahm Frau Anne dem Boten die Depesche ab und öffnete sie. Sie wurde ganz blaß, als sie den Inhalt las, und wollte ihren Augen nicht trauen.


„Es ist nicht möglich,“ sagte sie laut; dann nahm sie das Blatt, hielt es dicht unter die Flurlampe und las es noch einmal. Nein, sie hatte sich nicht geirrt, da stand es deutlich und klar:

„Ilse ist hier wohlbehalten und gesund eingetroffen, Brief folgt.

Doktor Althoff.“

Sie faltete das Blatt zusammen und ging zurück ins Zimmer. Um Gottes willen, was hatte Ilse getan! Geflohen war das tolle Kind, – dachte sie denn gar nicht daran, wieviel Angst sie durch diesen wahnsinnigen Streich ihren Angehörigen bereitete? Frau Annes Empörung war groß, und doch drängte sich der Gedanke: „es ist ihr nichts passiert“ beruhigend und versöhnend hervor. Wenn die Männer nur erst heimkehrten; sie konnte die Zeit nicht abwarten, bis sie ihrem armen, auf das höchste geängstigten Mann die Nachricht mitzuteilen vermöchte. Ihre Ungeduld, ihre Unruhe ließen [pg 45]sie nicht lange mehr im Zimmer verweilen; sie beschloß Herrn Macket entgegenzugehen. Als sie über den Flur ging, standen dort noch immer die Mägde, flüsternd mit weit aufgerissenen Augen und Mäulern. Die eine erzählte gerade eine schaurige Geschichte und die andern hörten ihr mit grausigem Wohlbehagen zu. Auch sie waren über das Fortbleiben von Fräulein Ilschen in nicht geringe Aufregung versetzt worden und malten sich nach Art ungebildeter Leute in der schrecklichsten Weise aus, wie und auf welche Weise das arme, liebe Fräulein wohl umgekommen sein könnte. Während Frau Macket eilig an ihnen vorbei der Türe zu schritt, flogen sie mit den Köpfen auseinander und stießen sich gegenseitig an. Immer unheimlicher wurde die Lage, nun ging auch noch die Frau fort, allein in die finstere Nacht hinaus. Was hatte das zu bedeuten? Fragend sahen sie sich an; da konnte sich die alte Köchin nicht länger beherrschen.

„Ach, du mein Gott, ach, du mein Gott,“ wimmerte sie, „was ist das für ein Unglück!“ und sie nahm ihre Schürze vor das Gesicht, hinter welcher sie jämmerlich schluchzte. Im Chore stimmten die übrigen mit ein.

„Wie gut ist das Fräulein immer gewesen,“ sagte die eine.

„So freundlich gegen jedermann,“ rief das Hausmädchen, und nun ergingen sie sich derart in Lobeserhebungen über Ilse, als wenn sie über eine bereits Abgeschiedene sprächen.

„Das Unglück, das Unglück,“ krächzte die Köchin von Zeit zu Zeit wie ein Unheil verkündender Unglücksrabe dazwischen.

„Wer hätte das gedacht! Ja, ich sage ja – ich habe es immer gesagt, ich habe es kommen sehen. Ach,“ – sie unterbrach ihre tiefsinnigen Betrachtungen mit einem erneuten Schluchzen. Die andern nickten zustimmend.

„So jung und so reich,“ rief das Stubenmädchen schwärmerisch aus, „ach, es ist schrecklich!“

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Das kleine Kindermädchen, als die mutigste von allen, hatte sich bis zum Flurfenster gewagt und schrie plötzlich:

„Jetzt kommen sie, jetzt bringen sie das Fräulein!“

Im Nu waren die andern am Fenster, – richtig, da kamen sie. Die Fackeln tanzten im Winde und kamen immer näher. Voran gingen Herr und Frau Macket und der Herr Assessor, hinterher folgten die Männer mit den Laternen und Fackeln. Jetzt bogen sie in das Hoftor ein.

„Legt euch zu Bett nun,“ hörten die Mädchen Herrn Mackets Stimme den Knechten befehlen, und dann schritt er dem Hause zu. Sie zogen sich schnell in eine dunkle Ecke zurück, als gleich darauf die Haustüre ging, und von dort folgten ihre Blicke neugierig der Herrschaft und dem jungen Herrn, die wortlos an ihnen vorüberschritten, Herr Macket sehr bleich mit finster zusammengezogenen Brauen.

Das kleine Kindermädchen, das ebenso schlau war, als es sich vorhin mutig gezeigt hatte, schlich sich durch die Hintertür zu den heimgekehrten Knechten und ließ sich von allem haarklein berichten. In der Küche erzählte es dann später alles, was es erfahren hatte, und kam sich ungeheuer wichtig vor, als die andern es im Kreise umstanden und seinen Worten andächtig lauschten.

Herr Macket war mit Frau und Schwiegersohn in das Eßzimmer gegangen, wo er sich auf das Sofa warf. Er sprach kein Wort, aber seine breite Brust hob und senkte sich in schnellen Atemzügen. Leo lehnte am Tisch und drehte die zierlichen Enden seines Schnurrbärtchens mit nervösem Eifer zwischen den Fingern. Ein schmerzlicher Zug lagerte um seinen Mund, aber die Falte auf seiner Stirn, die sich zwischen den starken Brauen vertiefte, und die zitternden Nasenflügel gaben zugleich Zeugnis von einer inneren Empörung und Erbitterung. Unverwandt starrte er vor sich nieder.

Frau Anne blickte besorgt von einem zum andern, und [pg 47]sah selbst tief bekümmert aus. Nun setzte sie sich neben ihren Gatten und legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Richard,“ bat sie sanft, als sie sah, daß er die zerknitterte Depesche mit der Hand glatt strich und wieder las, „laß uns über diese Sache nicht so streng richten, Ilse ist noch ein Kind.“

Er warf das Papier fort und sprang auf.

„Ja, ein Kind, ein törichtes, ungezogenes Kind,“ rief er, und seine Augen blitzten zornig auf. „Was fällt ihr ein, was soll es bedeuten, daß sie fortläuft? Wie kann sie so etwas wagen! Aber sie soll zurück, sofort, – ich will es!“

Seine Stimme klang so laut und hart, daß Frau Anne wieder erschreckt an seine Seite eilte. Sie kannte ihn heute abend nicht wieder, so erzürnt auf seinen Liebling hatte sie ihn noch nie gesehen.

„Ja, und warum, warum hat sie uns das getan, was ist denn geschehen?“ rief er wieder, und diesmal klang ein schmerzlicher Ton aus seinen Worten.

Er hatte dabei Leo von der Seite angesehen, denn eine Ahnung dämmerte in ihm auf, daß dieser den Grund zu Ilses Flucht wohl wissen mochte; daß ihre Aufregung, in der er sie diesen Mittag getroffen hatte, damit im Zusammenhang stehen mußte. Leo verstand seinen fragenden Blick, und er fühlte, daß er jetzt nicht mehr schweigen durfte.

„Papa,“ sagte er plötzlich und trat auf ihn zu, „ich bin dir und Mama eine Erklärung schuldig. Ilse und ich hatten diesen Mittag einen Streit zusammen, der damit endete, daß Ilse mich in höchster Erregung verließ. Ich habe sie danach nicht wieder gesehen und“ – er stockte – „bin nun auf das tiefste betrübt, daß sie sich zu einer solchen Tat hat hinreißen lassen.“

Er sagte nichts weiter als diese wenigen Worte, die er mühsam Atem holend hervorbrachte. Herr Macket hatte ihn schweigend, mit den Händen auf dem Rücken, angehört und [pg 48]setzte nun seine Wanderung im Zimmer auf und ab wieder fort. Frau Anne sah voll Mitleid auf den jungen Mann, der durch Ilses Leichtsinn tief getroffen war.

„Ilse hat unverzeihlich gehandelt, so weit durfte sie in ihrer Leidenschaft nicht gehen,“ sagte sie ärgerlich.

Ihre besänftigenden Worte von vorhin hatten bei ihrem Manne die entgegengesetzte Wirkung hervorgerufen, jetzt aber, wo ihre gerechte Empörung deutlich aus ihren Worten sprach und auch Leo Ilse nicht in Schutz nahm, löste sich die Erbitterung von seinem Herzen und verwandelte sich in zärtliche Sorge für den fernen Liebling. Er malte sich in Gedanken Ilses Reise aus und die mancherlei Unannehmlichkeiten, welche sie gewiß betroffen hatten.

„Was mag das arme Kind für eine Angst ausgestanden haben auf der Reise!“ Mit diesen Worten machte er schließlich seinen Gefühlen Luft. „Und in der fremden Stadt, wo sie niemand kennt. In der Dunkelheit ist sie dort angekommen, – sie hat sich gewiß sehr gefürchtet.“

Frau Anne dachte, diese Furcht und Angst wäre am Ende nur die gerechte Strafe für ihre Tollkühnheit gewesen.

„Wenn sie nur keine nassen Füße bekommen und sich erkältet hat,“ fuhr Herr Macket fort. „Nellie wird doch wohl dafür gesorgt haben, daß sie gleich ins Bett kam.“

Seine Stimme klang mit jedem Worte sanfter und weicher. Der erste Unmut über Ilses Flucht war erloschen und hatte einer zärtlichen Besorgnis Platz gemacht. Gedankenvoll blieb er eine Weile stehen.

„Leo,“ redete er diesen plötzlich an, „morgen früh um 8½ Uhr geht der erste Zug nach F.; mit diesem reisen wir, nicht wahr?“

Verblüfft sah ihn Leo an und fragte dann: „Willst du Ilse holen, Papa? Dann werde ich dich morgen früh sehr gerne zum Bahnhof begleiten.“

Jetzt drückten Herrn Mackets Züge eine förmliche [pg 49]Erstarrung aus. „Ja, du reisest doch mit?“ fragte er erstaunt.

„Nein, Papa,“ erwiderte Leo freundlich aber bestimmt, „ich reise nicht mit. Erlaß es mir auch, dir die näheren Einzelheiten unsres Streites zu erzählen, und sei überzeugt, daß es mir sehr, sehr schwer geworden ist, diesen überhaupt berühren zu müssen, doch das ging nun einmal nicht anders. Ich muß nur noch das eine hervorheben, so schmerzlich es mir ist: ich kann und darf nicht mit zu Ilse reisen, so gern ich ihr, wie schon so oft, ja ich darf wohl sagen, nur zu oft geschehen, wieder zuerst die Hand zur Versöhnung bieten würde.“

Sein Atem ging schnell und heftig bei diesen Worten, so ruhig er sie auch aussprach.

Herr Macket hatte ihn mit keiner Silbe unterbrochen, auch jetzt sagte er nichts. Aber seine gerunzelten Augenbrauen, die festen Schritte, mit welchen er zur Türe schritt und sie hart ins Schloß fallen ließ, verrieten, daß er Leos Entschluß durchaus nicht billigte.

Frau Anne sah ihren Schwiegersohn fragend an.

„Es tut mir leid, daß Papa ärgerlich auf mich ist, aber ich kann nicht anders handeln,“ sagte er.

Frau Anne zuckte die Achseln, als begreife sie ihren Mann nicht, denn sie selbst teilte Leos Ansicht und billigte es vollkommen, wie er in dieser ernsten, für seine und Ilses Zukunft entscheidenden Sache zu handeln gedachte. Ilse jetzt nachzureisen, wäre geradezu Torheit gewesen und würde sicher nicht dazu beigetragen haben, das leidenschaftliche Kind zu ändern.

„Ich will doch mit dem Papa sprechen, daß er nichts in Übereilung tut,“ sagte sie zu Leo. „Wenn er erst ruhiger geworden ist, wird er dich auch begreifen; du kennst ja seine blinde Liebe zu Ilse.“

Als Leo allein war, sank er auf einen Stuhl und ver[pg 50]grub seine Hände in sein dichtes Haar. Wie wehe, wie grenzenlos wehe hatte ihm Ilse getan! Er konnte nicht begreifen, wie sie ihm diesen Schmerz und zugleich diesen Schimpf zufügen konnte; er hatte geglaubt, sein Lieb so genau zu kennen, das aber, das hätte er ihr nie zugetraut. – Sie war keine sanfte, keine hingebende Braut, seine Ilse, und er mußte immer von neuem um sie ringen und kämpfen, was sie ihm aber doppelt anziehend machte. Hatte er seither wohl den richtigen Weg eingeschlagen, sich seine kleine Widerspenstige zu zähmen? Ihr Widerspruch reizte ihn, sie gefiel ihm in ihrem Trotz; war sie erst seine Frau, dann sollte alles anders werden. So hatte er bis jetzt gedacht, nun fiel es ihm mit einem Male wie Schuppen vor den Augen, daß er ihren Charakter falsch beurteilte, daß es verkehrt war, ihr stets nachzugeben, denn das stachelte sie immer von neuem zum Trotz und Widerspruch auf. Diese Erkenntnis war bitter für ihn. –

In seinen Gedanken versunken hatte er nicht bemerkt, daß die Türe geöffnet worden und Frau Anne wieder eingetreten war; erst als sie ihre Hand auf seine Schulter legte, blickte er auf.

„Ach, du bist es, Mama,“ sagte er und erhob sich. Sie drückte ihn sanft auf seinen Platz zurück und setzte sich ihm gegenüber.

„Ich habe mit dem Papa gesprochen, Leo, er ist jetzt entschlossen, mit seiner Reise nach F. zu warten, bis ein erklärender Brief von Ilse eingetroffen ist.“

„So – das ist mir lieb,“ gab er zur Antwort und sah dann wieder schweigend in die Finsternis hinaus.

Auch Frau Macket schaute nachdenklich vor sich hin, als kämpfte sie mit einem Entschluß. Mehrmals öffnete sie die Lippen zum Sprechen, ohne jedoch etwas zu sagen. Nach einer Weile fing sie endlich an:

„Leo, ich will mich nicht in deine und Ilses Angelegen[pg 51]heiten drängen; darf ich dich nur das eine fragen, glaubst du dich wirklich völlig schuldlos an Ilses Flucht?“

Fast schüchtern klang diese Frage und zögernd brachte sie dieselbe hervor.

„Es ist das erstemal, daß ich ihr nicht nachgab!“ stieß er erregt heraus. „Darf sie deshalb einen so abenteuerlichen Streich ausführen, alle Rücksichten beiseite werfen und fliehen?“

„Nein, das durfte sie gewiß nicht,“ stimmte ihm Frau Anne bei, „und doch,“ fuhr sie fort, „ich habe es kommen sehen, daß sie eines Tages etwas tun würde, das uns allen großen Kummer zu bereiten imstande wäre. Ich liebe meine kleine Tochter innig, und auch sie ist mir von Herzen zugetan. Aber blind bin ich deshalb gegen ihre Schwächen und Fehler nicht, wie der Papa und – verzeihe mir – begreiflicherweise auch du. Ilse ist schon einmal gezähmt worden durch die Pension und das reizende Leben daselbst; ihre prächtigen Freundinnen hatten sie ganz und gar umgewandelt. Halb Kind noch, wurde sie Braut, sie liebt dich gewiß aufrichtig, aber die tiefe ernste Liebe des Weibes ist ihrem Kinderherzen noch fremd. Hast du wohl den richtigen Weg eingeschlagen, dir ihre Nachgiebigkeit, ihre Fügsamkeit zu erringen? Ich habe mich bemüht, in ihrem jungen Herzen zu lesen, und bin überzeugt, es wäre ihr lieber gewesen, wenn du ihr öfter entschieden entgegengetreten wärst, statt ihre Einfälle, ihre Launen reizend zu finden; denn sie ist eine stolze und doch zugleich hingebende Natur, die nur nicht zeigen will, daß sie sich auch unterzuordnen vermag, aber ebensowenig vertragen kann, daß man ihr in allem den Willen läßt. Nun, da du ihr zum erstenmal nicht nachgibst, empfindet sie das doppelt schroff und wird es als eine große Demütigung ansehen. Aber jetzt, da sie weiß, daß ihr Wille nicht immer durchgeht, wird ihre Liebe zu dir, ohne daß sie es eingesteht, gewiß erstarken. Ich hoffe, [pg 52]sie wird nach und nach zur Besinnung kommen, daß sie unrecht hatte, und wenn sie diese Krisis überstanden hat, für immer geheilt sein.“

Frau Anne hatte mit warmem herzlichen Eifer gesprochen und reichte nun ihrem Schwiegersohne die Hand, welcher diese innig umschloß. „Ich weiß,“ fuhr sie fort, „du wirst das, was ich dir eben sagte, nicht falsch verstehen. Ich hätte dir meine Ansicht nicht unaufgefordert mitgeteilt, wäre nicht alles so gekommen. Wie lieb ich euch beide habe und wie vertrauensvoll ich trotz dieses Vorfalls in eure Zukunft blicke, das brauche ich dir nicht erst zu sagen, nicht wahr? – Gute Nacht, Leo,“ schloß sie und erhob sich von ihrem Sitz. „Schlafe wohl, morgen wirst du die Sache schon in einem andern Lichte ansehen.“

„Gute Nacht, Mama, ich danke dir.“

Die Nachtruhe war für alle dahin, zu sehr hatte die Bestürzung die Gemüter aufgeregt. – Leo blieb noch auf demselben Fleck sitzen, es wäre ihm unmöglich gewesen, jetzt schon zu schlafen. Noch pochte sein Herz zu unruhig, noch stürmten die Gedanken zu lebhaft auf ihn ein. Frau Annes Worte hallten in ihm nach, sie hatten einen Anklang in seinem Innern gefunden, denn sie hatte wahr gesprochen. Warum mußte es so weit kommen? Hätte er die Tragweite seiner Worte geahnt, er würde sie vielleicht nicht ausgesprochen haben. Nochmals ließ er die Szene vom Mittag an seinem Geist vorüberziehen. Er war zuletzt auch heftig geworden – gewiß –, aber er hatte sich in dem Augenblick wirklich über Ilse geärgert, zum erstenmal hatte ihn ihr unfügsames Wesen unangenehm berührt.

Was sollte nun werden? Der Gedanke an die Zukunft legte sich ihm drückend und beängstigend wie ein Bann aufs Herz, daß ihm fast der Atem stockte. Erst als er das Fenster geöffnet hatte und die kühle Nachtluft hereindrang, wurde ihm wohler. Lange blickte er in die zerrissenen [pg 53]Wolken, die eilend vorüberjagten. Ob sie jetzt auch an ihn dachte? Er sah im Geiste ihr liebes holdes Antlitz. Er hörte ihr fröhliches Lachen und ihre dunklen Augen blitzten ihn neckisch an, – da schwanden die bangen Gedanken. Heiße Liebe und Sehnsucht erfüllten ihn, und er zweifelte keinen Augenblick mehr, daß sie zu ihm zurückkehren würde. Aber unerschütterlich befestigte sich in diesem Augenblick die Überzeugung in ihm, daß er ihr diesmal nicht zuerst die Hand zur Versöhnung reichen dürfe.

Die große Lampe in dem stillen Zimmer, die schon seit einiger Zeit am Ausgehen war und deren Licht immer schwächer und kleiner wurde, erlosch jetzt nach einem letzten Aufflackern. Leo erhob sich und ging in sein Zimmer.

Trotzkopf's Brautzeit

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