Читать книгу Trotzkopf's Brautzeit - Else Wildhagen - Страница 4

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* * *

Ilse wachte am andern Morgen erst auf, als die Sonne das kleine Zimmer schon längst erhellte. Sie fühlte sich durch den guten Schlaf erquickt und erfrischt und war im ersten Augenblick des Erwachens noch so traumbefangen, daß sie sich erst besinnen mußte, wo sie sich eigentlich befand. Nach und nach kam ihr das Geschehene wieder deutlich zum Bewußtsein, klarer als am Tage zuvor. Ihre gestrige Aufregung war einer unangenehmen Empfindung gewichen. Reue und Beschämung beschlichen sie, und der Gedanke, was ihre Eltern zu der Flucht gesagt haben mochten, beunruhigte sie aufs höchste. Auch an Leo dachte sie, aber nicht etwa, ob er wohl betrübt sein würde, sondern voll heimlichen Triumphgefühls. Sie erschien sich ihm gegenüber als siegreiche Heldin, denn sie hatte eine Tat ausgeführt, die er ihr gewiß nicht zugetraut hatte. Womöglich langte schon heute ein um Verzeihung flehender Brief von ihm an, und gewiß würde er selbst mit dem Papa kommen, um sie zurückzuholen. So blind gefangen war unsre Ilse, so fest glaubte sie Leo durch ihre Heldentat einen [pg 54]gewaltigen Respekt eingeflößt zu haben! Die Erwartung auf eine Nachricht von Hause trieb sie aus dem Bette. Sie zog die hellgeblümten Gardinen zurück und öffnete das Fenster. Man merkte heute nichts mehr von dem gestrigen Unwetter, kein Wölkchen trübte den Himmel, der Ilse tiefblau entgegenlachte. Goldener Sonnenschein breitete sich über die kahlen Gärten und lag blendend auf den hellen Häuserwänden. Überall hatten die Leute Türen und Fenster geöffnet, daß die frische Herbstluft in vollen Strömen hereindringen konnte. So hatte Ilse gestern früh daheim auch am Fenster gestanden und sich über den klaren Herbstmorgen gefreut. Wenn sie da geahnt hätte, welches Ungemach ihr der Tag noch bringen würde! Was hatte sie durchmachen müssen! Es war zu schrecklich.


Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, die wieder feucht wurden, aber die hervorquellenden Tränen wurden tapfer zurückgedrängt. Nellie und ihr Mann sollten nicht sehen, daß sie geweint hatte, sie würden sonst wohl [pg 55]denken, daß sie Reue fühlte, was ja so viel bedeutete, als ihr Unrecht eingestehen. Vor Doktor Althoffs prüfenden und ironischen Blicken hatte sie Furcht, sie kannte diese noch zu gut von der Schule her. Er konnte so freundlich lächeln mit spottlustigen Augen; kein Tadel, nicht die schärfste Rüge traf so sicher, als ein solcher Blick von ihm.

Durch ein Pochen an der Tür wurde sie in ihren Betrachtungen gestört, gleich darauf wurde dieselbe leise geöffnet, und Nellies Gesicht kam zum Vorschein.

„Schon wach, lieb Ilschen?“ rief sie freundlich und begrüßte die Freundin mit einem herzlichen Morgenkuß. „Wie hast du geschlafen, darling? Ich hoffe, du hast eine gute Nacht gehabt.“

„Herrlich habe ich geschlafen, liebste Nellie; was ich aber geträumt habe, weiß ich wirklich nicht mehr.“

„Kann ich dich bei dein Ankleiden helfen, Kindchen?“ fragte Nellie, als sie sah, daß Ilse sich jetzt beeilte, in ihre Kleider zu kommen. Die Toilette war bald beendet, und von den beiden hatte keine das Thema berührt, das doch am nächsten lag und sie so lebhaft beschäftigte. Erst als Ilse Arm in Arm mit Nellie vor dem Eßzimmer stand, fragte sie zögernd: „Nellie, ist dein Mann da?“

„Gewiß, Ilschen, und er freut sich riesig, sein früheres furchtbar niedliches Schülerin wieder zu sehen.“

„Hast du ihm meine Flucht eingestanden, Nellie?“ fragte Ilse ängstlich.

Die junge Frau zögerte mit der Antwort. Sie hatte gestern abend allerdings versprochen, Fred nichts davon zu sagen, aber nur um Ilse nicht weiter aufzuregen; doch jetzt wollte sie die Wahrheit nicht verschweigen – so leid es ihr tat!

„Lieb Ilschen,“ sagte sie innig, „ich konnte nicht anders, ich wollte mein Fred nichts vorlügen. Bist du mir böse?“

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„Nein, nein,“ versicherte Ilse, „aber ach, Nellie, was wird dein Mann von mir denken?“

„O, Ilschen, er denkt nur Gutes von dich – aber nun komm –“

Und um Ilse über die peinliche Lage hinwegzuhelfen, öffnete sie schnell die Türe und schob die sich Sträubende hinein. Doktor Althoff kam ihr entgegen.

„Guten Morgen, Fräulein Ilse, wie freue ich mich, Sie zu sehen,“ rief er freundlich und reichte ihr die Hand zum Gruße.

Mit niedergeschlagenen Augen gab sie ihm ihre Rechte, aber kein Wort kam über ihre Lippen, und vor Verlegenheit wagte sie nicht aufzublicken. Nellie war auch hier der rettende Engel. Sie führte Ilse an den gedeckten Kaffeetisch und schob ihr einen Stuhl hin; dann schenkte sie Kaffee ein und reichte ihrem Mann und Ilse die Tassen. Ihr tat die Freundin leid, welche wortlos dasaß und krampfhaft auf das Muster der Kaffeeserviette sah, als hätte sie sich tief in das Studium der Schnörkel und Arabesken in derselben versenkt. Die Röte der Beschämung brannte noch auf ihren Wangen, und vergeblich hatte Nellie sie verschiedenemale angeredet. Jetzt warf diese ihrem Manne verständnisvolle Blicke zu, die ihm bedeuteten, er solle dieser ungemütlichen Stimmung ein Ende machen. Aber Männer sind nicht so leicht jeder Lage gewachsen, wie eine kluge Frau, und das dachte auch Nellie, als ihr Mann sie gar nicht verstand. Ja, er hatte sie sogar mit den Fragen: „Was soll ich, Kind?“ und als sie ihn mit dem Fuße anstieß: „warum stößest du mich denn?“ recht in Verlegenheit gesetzt. Sie versuchte deshalb von neuem das Schweigen zu brechen, was ihr bisher nicht gelungen war. Zum zweitenmale füllte sie jetzt Ilses Tasse und reichte ihr Zucker und Sahne. Sie wollte dabei ein Gespräch anfangen, aber ihre Scherze blieben unbeachtet und auf ihre freundlichen [pg 57]Fragen bekam sie einsilbige Antworten. Ilse vermochte die Furcht vor Doktor Althoffs ironischen Augen, die sie wie zwei Brennpunkte auf sich gerichtet wähnte, nicht zu überwinden. Sie konnte ja nicht wissen, daß sie sich täuschte, daß seine gefürchteten Blicke diesmal nicht spöttischer Art waren. Ernst und voller Mitleid sah er auf seine ehemalige Schülerin, – kannte er sie doch so genau, alle ihre Vorzüge, alle ihre Schwächen. Viel, viel muß die Kleine noch lernen, so dachte er in diesem Augenblick, und bittere Stunden wird sie das noch kosten. Nicht jeder wurde schon so frühzeitig durch eine harte Schule geläutert, wie seine Nellie sie hatte durchmachen müssen. Diese hatte ja das Leben schon als Kind unter fremde Menschen gebracht; dadurch war ihre Erfahrung gereift worden, und sie hatte gelernt, Rücksichten zu nehmen. Zärtlich blickte er zu ihr hinüber und beobachtete mit strahlenden Augen, mit welcher Anmut sie sich bewegte und wie sie verstand, einen Hauch der Behaglichkeit überall zu verbreiten. So saßen die drei wieder eine Weile schweigend am Kaffeetisch, jeder lebhaft mit seinen Gedanken beschäftigt.

„Ilschen,“ fing Nellie endlich an, „weißt du auch wohl, daß du hier eine alte Bekannte triffst, die seit weniges Monate mit ihrem Mann hierher versetzt ist? Ich hatte ganz vergessen, in meinem letzten Brief davon zu sprechen. Rate einmal, darling!“

Die Frage wirkte erlösend auf Ilses Schweigsamkeit, sie hob den Kopf und sah Nellie fragend an.

„Rate, Ilschen,“ wiederholte diese.

„Wer denn, Nellie? Etwa Rosi Müller? Die artige Pastorin ist ja aber schon seit dem Sommer hier in der Nähe verheiratet, die kannst du doch wohl nicht meinen.“

Nellie schüttelte lachend den Kopf; sie war froh, ein Thema berührt zu haben, das Ilse interessierte.

„Ein wenig muß ich dir noch foltern,“ neckte sie lustig, [pg 58]„aber du rätst ja leicht, denn nur wenige von unsre Freundinnen sind verheiratet.“

„Ach, nun weiß ich,“ rief Ilse, „natürlich Flora ist es! Ich dachte im Augenblick wirklich nicht an sie. Richtig, die ist ja auch schon eine ehrbare Ehefrau!“

„O, nix da, Ilse – ein ehrbares Frau ist unsre Dichterin nicht geworden.“

„Wie kommt sie denn eigentlich hierher?“ unterbrach Ilse, „ihr Mann lebte doch auch in B., wo Floras Eltern wohnen.“

„Laß dich erzählen, darling. Du weißt, daß Floras Mann ein Arzt ist, er ist nun als Direktor an das Spital hier berufen – eine sehr gute Stelle, mit gute Einnahmen. Er soll ein tüchtiger Mann sein, wir mögen ihn gern, er ist so nett. Nicht wahr, Fred? Und, oh, er hat ein so herzig Baby von 4 Jahr – denn Flora ist seine zweite Frau.“

„Ja,“ warf Althoff ein, „Doktor Gerber ist ein liebenswürdiger, gescheiter Mann, sein einziger Fehler ist seine Frau. Für diese poetische Seele ist er viel zu prosaisch, zu materiell! Die arme Flora ist noch ebenso überspannt wie früher, sie dichtet leider immer noch.“

Ilse wagte bei diesen Worten Nellies Mann zum ersten Male mit einem scheuen Seitenblick zu streifen, bis dahin hatte sie es noch immer vermieden, ihn anzusehen. Nun fand sie, daß der Gefürchtete garnicht so aussah, wie ihr böses Gewissen sich ihn ausmalte. Seine Augen hatten nicht den von ihr vermuteten spottlustigen Ausdruck, und das freundliche Lächeln, mit welchem er sie anblickte, als wenn nichts vorgefallen wäre, verscheuchte bald jede Befangenheit, so daß sie nun in die Scherze des jungen Ehepaares mit einstimmte, und mit Nellie immer neue Erinnerungen über Flora auskramte.

Lächelnd hörte ihnen Doktor Althoff zu und warf nur dann und wann eine treffende Bemerkung dazwischen. Die [pg 59]beiden waren unerschöpflich in ihren Witzen über Flora, und die eine wußte immer noch mehr als die andre.

„O, und die viele zerbrochene Herzen, die in ihre Romane stets vorkamen, darling, weißt du noch?“ fragte Nellie. „Und wie wir sie immer mit ihre Gedichte ärgerten?“

„Ach ja, das war himmlisch!“ beteuerte Ilse unter Lachen, „und wie böse sie dann wurde und schalt, daß wir für ihre Poesien kein Verständnis hätten.“

„Ihr seid ein böses Volk,“ sagte Doktor Althoff, „wie könnt ihr euch nur so über eure Freundin lustig machen?“

„O, du scheinheiliges Mann,“ drohte ihm Nellie mit dem Finger, „hast doch die größte Spaß an unsre Scherze. Weißt du, Ilschen, bald gehen wir zu der Dichterin, das gibt ein famose Jux! Sie muß uns aus ihre neuesten Werke vorlesen.“

„Das wird sie gern tun,“ sagte er, „denn ihrem Mann darf sie gewiß mit solchem Unsinn nicht kommen. Er ist viel zu vernünftig, und ich hoffe ja immer noch, daß er Flora ändern wird.“

„Das große Gegenteil von unsre Dichterin ist Rosi, das würdige Pastorenfrau,“ sagte Nellie mit feierlicher Stimme. „O, Ilse, einmal haben wir ihr besucht, o, sie ist so brav und züchtig, noch ganz die ‚Artige‘ aus die Pension. Und der Mann ist so still und sanft, er trägt eine lange Rock, bis über den Knie, und eine hohe Kragen, dazu eine große Brille und hat eine glatte Scheitel von blondes Haar, ganz zu die brave Rosi passend, – sie sind ein würdige Ehepaar.“

Ilse brach über die Beschreibung in lautes Lachen aus, und Nellie stimmte mit ein. Auch Doktor Althoff freute sich über seine drollige Frau.

„Du bist eine kleine Boshafte,“ sagte er zu ihr. „Überhaupt, Kinder, ihr seid mir zu mokant, das kann ich nicht vertragen, deshalb gehe ich fort. Adieu!“

Er legte die Serviette neben die Tasse und erhob sich [pg 60]mit scheinbar ernster Miene, sodaß Ilse ganz erschrocken zu ihm aufblickte. Waren sie wirklich zu weit gegangen?

Als sie aber seine lustig zwinkernden Augen sah und Nellie mit fröhlichem Lachen ihn umschlang, da wußte sie, daß er nur Spaß machte.

Als er fortgegangen war und die beiden allein gelassen hatte, da war Ilses erste hastige Frage:

„Nellie, ist denn nichts für mich angekommen, kein Brief, keine Depesche?“

„Ja, Ilschen, hier ist eine Depesche von deine Eltern, sie ist eben angekommen.“

Ilse riß sie ihr aus der Hand und öffnete sie, dann las sie laut:

„Ilse soll Brief abwarten. Papa.“

Das waren nur wenige Worte, die ihre Ungeduld nicht stillen konnten. Ja, sie brachten sie nur noch mehr in Aufregung, denn alles mögliche las sie aus der kurzen Zeile heraus. Wie ernste strenge Richter standen die einzelnen Buchstaben vor ihren Augen. Hart klang der Befehl, den sie enthielten; daraus schloß sie, wie böse ihre Eltern auf sie sein mußten.

„Nellie,“ seufzte sie ängstlich, „was werden die Eltern von mir denken? Sie sind gewiß furchtbar böse.“

„Du mußt ihnen gleich schreiben,“ sagte Nellie.

„Erst will ich ihren Brief abwarten; ach, wenn er doch erst da wäre!“

Nellie nickte beistimmend und meinte, so wäre es auch wohl am besten.

„Komm, wir wollen in meine Stube gehen, darling,“ sagte sie und öffnete die Türe, die in ihr Allerheiligstes führte, das zwischen dem Eßzimmer und ihres Mannes Zimmer an der Eckwand des Hauses lag. Ein kleiner nach außen vorspringender Erker verlieh dem Raum eine anheimelnde Gemütlichkeit. Nellie hatte ihn dicht mit Blattpflanzen besetzt, [pg 61]davor zwei kleine Sessel aus Bambusrohr nebst einem ebensolchen winzigen runden Tischchen gestellt und dadurch ein lauschiges, reizendes Plaudereckchen hergerichtet. Hierhin nötigte sie jetzt Ilse, die sich rings im Zimmer umsah.

„Es ist entzückend bei dir,“ versicherte sie wieder, und trotzdem Nellie bescheiden abwehrte, freute sie sich doch über das ihr gespendete Lob.

„Fred macht es so viel Freude, wenn die Wohnung hübsch ist, da macht es mich auch Spaß,“ und dabei fuhr sie liebkosend über die spiegelblanke Platte ihres zierlichen Schreibtisches und rückte an den Figürchen und Nippes, die darauf standen.

„Die vielen reizenden Sachen, die du hast, Nellie!“

„Die schenkt mich alle mein Fred. Er ist so gut zu mir, unbeschreiblich lieb; o Ilschen, was bin ich für ein glückliches Frau. Ich denke nur immer daran, ob er mit mir auch so glücklich ist.“

Eine so dankbare uneigennützige Liebe leuchtete aus ihren Augen, daß Ilse beschämt die ihrigen zu Boden senkte; so wie die Freundin eben sprach, hatte sie noch nie gefühlt, solche Gedanken waren noch nicht in ihr aufgestiegen. Dies machte sie doch stutzig. Hatte sie eigentlich jemals eine Regung des Dankes für alle Liebe und Zärtlichkeit Leos gehabt? Nein, das war ihr nie eingefallen! Und hatte sie sich jemals geprüft, ob auch sie alles tue, ihn glücklich zu machen? Nein! gestand sie sich wieder. Jetzt tauchten zum ersten Male diese Fragen in ihr auf und regten sie zu ernstlichem Nachdenken an. „Aber Nellie ist eine schwärmerische, hingebende Natur, und das bin ich nicht und will ich auch nicht sein,“ sagte sie sich schließlich, und bei diesem Gedanken beruhigte sie sich. Und doch konnte sie die Augen der Freundin nicht vergessen und beneidete sie fast im stillen.

„Nellie,“ fragte sie plötzlich, „wann kommt denn der nächste Zug von Moosdorf hier an?“

[pg 62]

„Warum, Ilschen? Glaubst du, deine Eltern kommen dich zu holen? Oder erwartest du deinen Bräutigam?“

„Nein, nein, das denke ich nicht, – ich fragte überhaupt nur so,“ sagte Ilse errötend.

Und doch hatte Nellie ihre Gedanken richtig erraten, denn sie erwartete, ja hoffte mit banger Sehnsucht, daß Leo den Tag nicht vergehen lassen würde, ohne zu ihr zu eilen. Gewiß hatte er jetzt eingesehen, wie unrecht er ihr tat. Aber wenn er kam, dann wollte sie ihm verzeihen, sie wollte nicht länger widerspenstig, sondern nachgiebiger sein als sonst. Das alles malte sie sich im Geiste aus und konnte doch eine Sorge, eine unbestimmte Ahnung, daß es vielleicht nicht so kommen würde, wie sie sehnlich wünschte, nicht unterdrücken.

Die folgenden Stunden waren nicht die behaglichsten für Ilse. Sie war in steter Erwartung, bei jedem Klingeln schreckte sie zusammen. Der Mittagszug war längst da. Sie hatte während dieser Zeit wie zufällig am Fenster gesessen und auf die Straße gesehen. So oft eine Gestalt in der Ferne auftauchte, schlug ihr das Herz, und immer von neuem wurde sie enttäuscht. Dann ballten sich ihre Hände fest zusammen, und sie mußte sich beherrschen, um nicht in lautes Weinen auszubrechen. Nellie und ihr Mann überließen sie sich selbst und ihrer Stimmung. Die beiden, feinfühlenden Menschen ahnten, was in ihr vorging und sie bewegte.

Ilse wurde von den selbstquälerischsten Gedanken geplagt; sie war heute so viel milder gestimmt als gestern, sie dachte an den geliebten Vater, welche Angst er wohl um sie ausgestanden, an die Mama, wie sie sich um ihr Ausbleiben beunruhigt haben mochte; an aller Sorge der lieben Eltern war sie schuld. Dies innere Geständnis machte sie sehr weich, wie die Tränen verrieten, die in hellen Tropfen auf ihre verschlungenen Hände fielen.

Der Herbsttag neigte sich bereits seinem Ende zu, die [pg 63]Dämmerung war hereingebrochen – und wieder saß Ilse am Fenster. Ihre Hoffnung, daß Leo noch kommen würde, war gesunken, und nur mechanisch sah sie noch auf die Straße hinunter. Die Gestalten, die jetzt schattenhaft vorüber huschten, verfolgte sie nicht mehr mit ungeduldig klopfendem Herzen, sie war mutlos geworden! Vor ihrer geängstigten Seele stand Lucies Bild, und wie es sie gestern zur Umkehr bewegen wollte, blickte es sie jetzt mit schmerzlichen Augen an und schien ihr zu sagen: „Er kommt nicht! Du wirst umsonst auf ihn warten.“ Ihre aufgeregten Nerven ließen ihr diese Worte fortwährend in den Ohren klingen. Auf einmal empfand sie die Schwere des unglückseligen Schrittes, den sie gewagt hatte, und die Angst legte sich gleich einem Alp auf ihr Herz. Wie eine Erlösung wirkte es daher jetzt auf sie, als zwei Arme sie zärtlich umschlangen und Nellies Köpfchen sich an ihre heiße Wange legte. Es war ihr, als würde sie aus einem häßlichen Traum aufgeweckt, und erleichtert holte sie Atem.

„Darling,“ sagte Nellie, „ich habe eine Nachricht von deine liebe Mama.“

Ilse fuhr in die Höhe.

„Wo hast du den Brief, bitte, gib ihn mir,“ flehte sie förmlich und sah suchend nach Nellies Händen.

„Warte nur, Kindchen, ich gebe ihn dir schon; aber erst muß ich mit dir sprechen; deine gute Mama schreibt so reizend. Sehr aufgeregt waren deine Eltern über deine Flucht, aber sie haben dir verziehen, und du darfst nun für einige Zeit bei mich bleiben; o, wie freue ich mir!“

Ilse horchte gespannt.

„Was steht sonst noch im Briefe?“ fragte sie hastig. „Was hat Papa gesagt?“

„Dein Papa wird dir schreiben, wenn ein Brief von dich angekommen ist. O, dein Vater ist ein so lieber Herr, er zürnt nicht mehr mit dir,“ versicherte Nellie treuherzig. [pg 64]„Hier lies ihn selbst, das Brief, was sonst noch darin steht,“ sagte sie und reichte ihn Ilse hin, die ihn mit zitternden Händen aus dem Kuvert nahm. Hastig faltete sie die engbeschriebenen Blätter auseinander, suchend überflogen ihre Augen Zeile auf Zeile, und eine schmerzliche Enttäuschung malte sich in ihren Zügen, als sie fertig gelesen hatte. Schweigend legte sie den Brief wieder zusammen und gab ihn Nellie zurück.

„Nun, Kindchen,“ sagte die junge Frau, „freust du dich nicht über den lieben Brief von deine Mama? Wie müssen dir deine Eltern lieb haben! Wie schön, daß du bei uns bist! Bleibst du auch gern hier?“

Ilse nickte. „Sehr gern, Nellie, und ich weiß auch,“ fuhr sie mit erregter Stimme fort, „daß mich meine Eltern lieben, sehr lieben, mehr wie irgend jemand auf der Welt. Ich will deshalb auch immer bei ihnen bleiben und sie nie verlassen!“

„O, Kind –,“ sagte Nellie vorwurfsvoll; aber Ilse unterbrach sie. „Ja das will ich, das will ich bestimmt, denn er ist ja doch nur froh, wenn er mich los ist!“ rief sie laut und warf mit bitterem Lachen den Kopf zurück.

Nellie sah die Freundin erschrocken an, und zurechtweisende Worte drängten sich auf ihre Lippen. Aber sie sagte nichts, ihr mitleidiges Herz hielt sie zurück, als sie sah, wie aufgeregt Ilse war, und daß sie nur mit Mühe einen leidenschaftlichen Ausbruch zurückhielt.

„O, darling, ich kenne dich nicht wieder,“ sagte sie leise und sah ihr traurig in die Augen. Da löste sich die Spannung von Ilses Gemüt, sie legte beide Hände vor das Gesicht und brach in heftiges Weinen aus.

„Was hast du, Herz? Sprich doch,“ bat Nellie, „vertraue mich, ich bin doch deine geliebte Freundin und verrate dich nicht. Sprich dir aus, Ilschen, mach dein kleine Herz leichter! Oder darf ich dir sagen, warum du so weinst? [pg 65]Ist es, weil dein Bräutigam nicht schrieb oder nicht kam, seine Schatz wieder zu holen? Ist es nicht dies Kummer, was deine Seele drückt? Gestehe es mich doch.“

Zärtlich und einschmeichelnd klang ihre Bitte, und Ilse wurde dadurch bezwungen. Sie nickte und lehnte sich an Nellies Schulter, indem sie leise fortweinte.

„Siehst du, ich dachte es mich wohl, darling, aber nun höre mich an. Ich bin dein vernünftige alte Freundin und muß dir ein paar ernste Worte einreden. Du kennst noch nicht die Männer, du lernst sie erst verstehen, wenn du deines Leo kleine Frau bist. Er ist viel zu nachgebend gegen dich; aber wenn ihr verheiratet seid, wird er nicht immer tun, was lieb Ilschen will. Das wird im Anfang viel Streitigkeit geben, denn die Männer wollen haben, daß wir uns in sie fügen, weil sie die Herren der Schöpfung sind. O du, du wirst lernen, wie schön das ist; denn haben wir uns einiges Mal gefügt, so können wir das liebe Mann um den kleinen Finger wickeln, und er merkt es nicht! Darum lieb’ Schatz, sei nicht hartnäckig. Du mußt dein Leo schreiben und ihn bitten, daß er dich verzeiht.“

Bis dahin hatte Ilse ruhig zugehört; nun brauste sie auf, und ihre Augen funkelten, als sie hochaufgerichtet vor Nellie stand.

„Um Verzeihung bitten?“ rief sie spöttisch. „Nellie, du kennst mich schlecht! Ihn um Verzeihung bitten, nein, dazu bin ich zu stolz. Nellie, so weit erniedrige ich mich nicht, nie und nimmer!“ Sie betonte die letzten Worte nachdrücklich und fuhr leidenschaftlich mit dem Taschentuch über ihre Augen, die noch von den eben vergossenen Tränen feucht glänzten, als wolle sie damit ausdrücken: „er ist es nicht wert, daß ich seinetwegen Tränen vergieße.“

Nellie sah sie angstvoll an, sie begriff die Freundin nicht.

„O Ilse,“ sagte sie, „wie kannst du so sprechen? Es [pg 66]ist große Unrecht von dich. Wie hast du mich selbst so oft geschrieben, wie treu und gut dein Leo ist, wie lieb –“

„Ich bitte dich,“ fiel ihr Ilse ins Wort und erhob flehend ihre Hände; „laß uns über diese Geschichte schweigen. Ich sehe ja, du bist auch auf seiner Seite. Ich natürlich, nur ich habe schuld! Ich soll mir alles gefallen lassen von ihm, so denkst auch du, Nellie; aber deshalb demütige ich mich doch nicht vor ihm!“

Nellie schwieg. Sie merkte, daß jetzt keines ihrer gutgemeinten Worte etwas fruchten, ja, daß ihr Zureden Ilses Trotz nur verschlimmern könnte. Aber sie wünschte in diesem Augenblick sehnsüchtig, daß bald die Zeit kommen möchte, die Ilse bekehren und ändern würde.

Das schrieb sie auch an Frau Anne und versprach ihr, allen Einfluß aufzubieten, der ihr zu Gebote stände; vorläufig aber müsse man den geliebten Trotzkopf ganz in Ruhe lassen.

Am andern Morgen saß Ilse eifrig schreibend in ihrem Stübchen, als Nellie hereintrat.

„Ich schreibe an die Eltern,“ sagte sie errötend und kam mit diesen Worten einer Frage Nellies zuvor. Dann sprang sie auf und ergriff Nellies Hände.

„Wollt ihr mich denn auch wirklich für einige Zeit behalten, bin ich euch nicht zur Last, und ist es auch deinem Manne recht und hast du mich auch noch ebenso lieb wie früher, Nellie?“

So ließ sie in ihrer lebhaften Weise die Fragen durcheinanderschwirren. Die junge Frau zog sie an sich.

„O, darling, wie kannst du so fragen? Wenn es dich verwöhnte Schoßkind nur bei uns einfache Leute gefällt, so werden wir froh sein. Wie freue ich mir auf dein Aufenthalt! Wir wollen eine vergnügte Zeit durchleben,“ rief sie jubelnd. In diesen Jubel stimmte Ilse nicht mit ein, sondern blickte gedankenvoll vor sich hin. Sie wollte [pg 67]Leo zeigen, daß sie fest bleiben könne; dieser Entschluß vollzog sich jetzt in ihrem Innern und verlieh ihren Zügen einen trotzigen Ernst.

Der Brief an die Eltern war abgeschickt, und Ilse war sicher, daß er sie wieder ganz versöhnen würde. Sie hatte dieselben herzlich um Verzeihung gebeten, aber zugleich die inständige Bitte ausgesprochen, nicht nach dem Grunde ihrer Flucht zu forschen.

In den nächsten Tagen traf ein großer Koffer mit Sachen für sie ein, worin ein langer zärtlicher Brief von ihrem Papa lag. Kein Tadel, kein Vorwurf enthielt derselbe; die sorgende Liebe, die aus jeder Zeile sprach, beschämte sie tief. Hatte sie dieselbe wohl verdient?

Am Schlusse des Briefes schrieb der Papa:

„Amüsiere dich nur recht gut bei deiner Nellie, liebes Kind, sei heiter und vergnügt, aber bleibe nicht zu lange fort und vergiß nicht deinen alten Vater!“

Diese Worte rührten sie sehr.

Nein, gewiß! Vergessen würde sie ihren einzigen guten Herzenspapa nicht. Leo wurde von ihm mit keiner Silbe erwähnt, und auch als ihr der andre Tag einen Brief von Frau Anne brachte, war sie enttäuscht, denn derselbe bewahrte ebenfalls tiefes Stillschweigen über ihn. Von allem erzählten die Eltern ausführlich, aber über Leo schwiegen sie beharrlich. Sie wußten gewiß, was zwischen ihnen vorgefallen war, und glaubten wohl, es würde ihr peinlich sein, wenn sie diesen Punkt berührten. Viel lieber wäre es ihr gewesen, von ihnen darüber zu hören, denn sie hätte gern gewußt, wie Leo die Entdeckung ihrer Flucht aufgenommen hatte; aber dennoch wollte sie um keinen Preis die Eltern danach fragen. Sie nahm sich fest vor, nicht mehr daran zu denken, ob ihr Leo schreiben würde oder selbst käme, um sie zu holen. In ihrem Herzen freilich lebte die sehnsüchtige Hoffnung nach einem Lebenszeichen von ihm fort und ließ [pg 68]sich durch alle ihre Vorsätze nicht zurückdrängen. Ohne daß sie es sich gestand, wuchs ihre Ungeduld von Tag zu Tag, und sie war schließlich in einer fieberhaften Aufregung. So oft der Briefträger kam, zitterte sie vor banger Erwartung, jedes Klingeln an der Türe ließ sie zusammenschrecken. Den Eltern schrieb sie eifrig, fast täglich, und erhielt ebenso regelmäßige Antworten. Wenn ein Brief von daheim ankam, ging sie schnell auf ihr Zimmer, riegelte die Tür zu und erbrach ihn mit zitternden Fingern. Sie durchflog die Seiten und wurde immer von neuem enttäuscht. Dann stürzten ihr oft heiße Tränen aus den Augen, und sie knitterte zornig das unschuldige Papier zusammen.

So schwanden ihr die Tage unter Zweifel und Ungewißheit dahin, und sie litt schwer darunter. Nellie war ihr eine treue Freundin voll zarter Aufmerksamkeit. Aber auch sie berührte nicht mehr das peinliche Thema. „Es ist besser, du schweigst,“ hatte ihr Mann gesagt, als sie wieder einmal versuchen wollte, ob sie Ilse bewegen könne, an ihren Bräutigam zu schreiben. Sie wußte von Ilses Mutter, daß Leo, empört und zugleich betrübt über die Tat seiner Braut, ihr auf keinen Fall schreiben oder gar selbst kommen würde. Aber sie brachte es nicht übers Herz, Ilse das zu sagen. Sie fürchtete einen neuen leidenschaftlichen Ausbruch und glaubte Ilses Widerstand dadurch nur noch größer zu machen. „Armes darling, wie tust du mich leid,“ sagte sie oft leise, wenn sie in dem blassen Gesichte der Freundin deren heimliche Kämpfe las, und sie fühlte mit ihr, wie sie litt.

Zwei Wochen waren für Ilse in Hangen und Bangen verstrichen. Sie hatte sich bei ihren liebenswürdigen Freunden vollständig eingelebt, und Nellie hatte es verstanden, sie bisweilen etwas aufzuheitern. Aber dann konnte sie auch wieder lange schweigend vor sich hinstarren, und die trotzig aufgeworfene Oberlippe ließ erraten, woran sie dachte.

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„Ich muß ihr etwas zerstreuen,“ sagte Nellie zu ihrem Mann. „Sie ist so blaß und hat schwarze Ringels unter den Augen; sie darf nicht mehr so viel an der Sache denken. Sie ist eine kleine Widerspenstige, und ihr künftiger Mann muß ihr sehr heilen, bis sie eine so sanfte Weibchen wird, wie ich es bin,“ fügte sie mit einem schalkhaften Blick hinzu.

„Ja,“ lachte Althoff, „wenn man einen so guten Mann hat, wie ich es bin, der zu allem ‚Ja‘ und ‚Amen‘ sagt, dann ist es leicht, sanft zu sein.“

„O, du,“ drohte Nellie scherzend mit dem Finger, aber er schloß ihr den Mund mit einem Kusse.

„Heute müssen wir einige Visiten machen,“ sagte Nellie eines Tages zu Ilse. „Die Leute betrachten dir schon wie eine verwunschene Prinzessin, weil ich dich nirgends zeige. Und Florchen, wie wird sie grimmig sein, wenn sie hört, daß du bist schon lange bei mich und hast ihr noch nicht ins ‚eigene Heim‘ besucht. Das ist nämlich ihr Lieblingsausdruck.“

Ilse zeigte wenig Lust für diese Besuche, ließ sich endlich aber doch dazu bewegen.

Seit dem Abend ihrer Ankunft war sie nur einige Male in der Dämmerung mit Althoffs spazieren gegangen, heute sah sie die kleine Stadt zum ersten Male im hellen Tageslicht. Mancher neugierige Blick folgte den beiden. Frau Doktor Althoff hatte Besuch, und davon wußte man nichts? Das war doch unerhört! Wer mochte denn die junge Dame sein? Frau Doktor Althoff hatte ja gar nicht erwähnt, daß sie Besuch bekäme, warum hatte sie das verschwiegen? So zerbrachen sich Nellies Bekannte, die ihnen begegneten, den Kopf. In der breiten Hauptstraße vor einem hübschen Hause machte Nellie Halt.

„Hier wohnt die Dichterin Frau Doktor Flora Gerber, in dies Haus, eine Treppe hoch,“ sagte sie und öffnete die Haustüre.

[pg 70]

Als sie oben angekommen waren, flüsterte sie Ilse zu: „Ilschen, wenn dir das neugierige Flora nach alles fragt, nach dein Hiersein, dein Verlobten, laß mir nur machen, ich geb’ ihr Antwort.“

Wie ein Stein fiel es Ilse bei diesen Worten vom Herzen, denn heimlich hatte sie schon überlegt, ob sie Floras Fragen ausweichen oder sie beantworten sollte. Sie drückte Nellie mit einem dankbaren Blicke die Hand.

Auf Nellies zweimaliges Schellen wurde die Türe von einem wenig sauberen Mädchen geöffnet.

„Sind die Herrschaften zu sprechen?“ fragte Nellie.

„Der Herr Doktor sind nicht zu Hause,“ stotterte das Mädchen verlegen, „aber ich will mal nachsehen –“

Ohne den Satz zu beenden, verschwand sie eiligst hinter der Türe. Nach einem Weilchen erschien sie wieder, riß die gegenüberliegende Stubentüre weit auf und meldete lakonisch:

„Da sollen Se rein gehen.“

Flora war nicht im Zimmer, und Ilse hatte Muße, sich gründlich darin umzusehen. Sie bedurfte übrigens nur weniger Blicke, um einen deutlichen Eindruck zu gewinnen. Wie viel vermißte hier ihr stark ausgeprägter Schönheitssinn! Traulich, harmonisch, geschmackvoll war es bei Nellie, ungemütlich, geschmacklos, ein wirres Durcheinander bei Flora! Die Möbel, gut und neu, entbehrten jeder Pflege, das sah man ihnen nur zu deutlich an, denn eine graue Staubdecke lag darauf. Die Bilder an den Wänden hingen schief, die Pflanzen am Fenster und im Blumentisch ließen durstig die Köpfe hängen, und die gelben vertrockneten Blätter an den Stengeln gaben ihnen ein traurig verkommenes Aussehen. Ilse, die eine große Blumenfreundin war, betrachtete sich die Ärmsten mitleidig und sah sich unwillkürlich nach einer Gießkanne um, ohne jedoch eine solche entdecken zu können. Auf dem Tisch vor dem Sofa, über den eine blaue Samtdecke gebreitet war, welche schief herab[pg 71]hing, lagen eine Menge Bücher, zum Teil aufgeschlagen, mit Flecken und umgebogenen Ecken, dazwischen Visitenkarten, Briefe, lose Blätter in einem wahren Chaos zusammen.

„Nellie, sieh nur,“ rief Ilse halblaut und zeigte mit der Hand auf diesen Wirrwar, „das nennt Flora gewiß ‚malerisch‘.“

„O, störe mir nicht in mein heiliges Andacht,“ gab Nellie zur Antwort, und als sich Ilse bei diesen mit Pathos gesprochenen Worten umwandte, sah sie Nellie mit gefalteten Händen vor einem Schreibtisch stehen, der seinen Platz am Fenster hatte.

„Hier schafft unser große Dichterin, Ilschen. An was für ein herrliches Mordgeschicht’ mag sie wieder dichten,“ fuhr sie in demselben feierlichen Tone fort.

Ilse hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen, denn Nellie war zu komisch.

„Eben hat Florchen dieses Platz verlassen, wir haben ihr gewiß aus ihre schönste Gedanken gescheucht,“ fing Nellie wieder an.

Sie schien mit ihrer Vermutung recht zu haben, denn die Feder glänzte noch feucht von Tinte, der Stuhl stand jäh zur Seite geschoben, und einige Blätter, die an der Erde lagen, waren wohl beim eiligen Aufstehen auf den Boden geflogen. Mit beschriebenen und unbeschriebenen Blättern war der ganze Schreibtisch bedeckt, kaum daß die Stelle freigeblieben war, wo ein über und über bespritztes Tintenfaß thronte, das nicht aussah wie für einen Damenschreibtisch bestimmt.

„Sieh hier, darling,“ sagte Nellie leise und zog die noch immer sich verwundert umsehende Freundin mit sich fort, „das ist Florchens Mann.“

Sie zeigte auf ein Bild, das über dem Schreibtisch hing. Ilse trat näher heran und sah sich den nicht gerade [pg 72]hübschen aber interessanten Männerkopf mit dem kurz geschorenen Haar und Bart voll Interesse an. Sie war noch in der Betrachtung des Bildes versunken, als sich die Türe ungestüm öffnete und Flora auf der Schwelle erschien. Dieselbe fuhr erstaunt zurück, als sie Ilse gewahrte, deren Besuch sie gar nicht vermutet hatte.


„Mein Gott, Ilse, bist du es wirklich, oder ist es dein Geist?“ rief sie theatralisch mit weit vorgestreckten Händen.

„Beruhige dich, Flora,“ antwortete Nellie, „komme zu dich, es ist nicht ihre Geist, es ist die liebe Ilse in wahre [pg 73]Leibhaftigkeit. Sie kam uns auf recht lange Zeit zu besuchen.“

„Das Mädchen sagte mir, es wäre noch eine Dame dabei, aber ich hatte natürlich keine Ahnung, daß diese Dame Ilse war. Ich dachte, es wäre vielleicht Rosi.“

„Wir wollten dir überraschen, Flora,“ erklärte Nellie.

„Aber nun willkommen, herzlich willkommen im eigenen Heim!“ rief Flora und ging mit geöffneten Armen Ilse entgegen, die kaum das Lachen verbergen konnte, weil Nellie sie bei dem ‚eigenen Heim‘ mit dem Ellbogen angestoßen hatte.

„Und nun setzt euch, Kinder,“ sagte Flora, als die Begrüßung vorüber war und sie sich von dem Erstaunen über Ilses plötzliches Erscheinen etwas erholt hatte. Sie führte die beiden zum Sofa und ließ sich ihnen gegenüber in einen der blauen Plüschsessel fallen, die um den Tisch standen. „Seid nur nicht böse, daß ich noch im tiefsten Negligee erscheine,“ entschuldigte sie sich und wies auf ihren allerdings recht primitiven Morgenrock. Mit einem schwärmerischen Ausblick fuhr sie fort:

„Doch, wenn ich einmal im Schaffensdrang bin, verläßt mich der Gedanke an die Wirklichkeit vollständig. Was liegt auch an dem elenden Putz und Tand! Am liebsten hülle ich mich in eine einfache Kutte, nur um die Zeit zu sparen und mich noch mehr meinen Arbeiten widmen zu können.“

Sie seufzte leise bei diesen Worten. Ilse und Nellie erwiesen ihr nicht den Gefallen, auf ihre Phrase vom Schaffensdrang näher einzugehen. Nellie schnitt das Thema kurz ab mit der Frage: „Wo ist dein Mann, Flora? Und die kleine Baby?“

„Ernst macht Krankenbesuche und kommt erst zu Mittag nach Hause,“ gab Flora gedehnt zur Antwort, die letzte Frage scheinbar überhörend.

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„Ach Kinder,“ fuhr sie fort, „ihr glaubt nicht, wie entsetzlich schwer es ist, die Frau eines Arztes zu sein. An was muß man sich da nicht alles gewöhnen! Der Beruf ist furchtbar prosaisch, entbehrt jeder Poesie. Schon allein die Karbol- und Jodoformgerüche, in welche sich der Arzt hüllen muß, – puh, unausstehlich!“

Sie schnitt bei dem Gedanken an diese verpönten Gerüche ein wegwerfendes Gesicht und hielt sich unwillkürlich ihr stark parfümiertes Taschentuch unter die Nase.

„O, ich finde sie ein sehr schönes Parfüm, nix rieche ich lieber als Jodoform und Karbol,“ sagte Nellie ganz ernsthaft.

Entsetzt sah Flora sie an.

„Pfui, Nellie! das kann dein Ernst nicht sein,“ rief sie. „Aber freilich, du warst von jeher eine trockene, nüchterne Natur, du hättest eigentlich gut zu Ernst gepaßt.“

„O ja,“ erwiderte Nellie lächelnd, und aus ihren Grübchen sah der Schelm hervor, „und ich glaube, du gut zu mein Alfred, weil er hat ein so fein Verständnis für deine Poesien.“

Ilse freute sich im geheimen über Nellies Schlagfertigkeit, aber über Floras Gesicht ergoß sich eine brennende Röte. Sie fühlte den Stich aus Nellies Worten deutlich heraus, denn noch heute konnte sie Doktor Althoffs Kritik über ihre Werke nicht verschmerzen. Zugleich hatte Nellie unbewußt auf eine kleine Schwäche angespielt, die sie noch immer für ihren früheren Lehrer besaß. Sie antwortete nicht, sondern verbarg ihren Unmut und wandte sich an Ilse.

„Wie geht es deinem Bräutigam, du glückliches Menschenkind?“

Jetzt war an Ilse die Reihe zum Erröten, und die Verlegenheit trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Zum Glück deutete Flora ihr Erröten ganz anders; sie fand es [pg 75]entzückend, reizend, es sollte ihr den Stoff zu einem Gedicht geben, dessen Titel unbedingt heißen mußte: „Das schämige Bräutchen.“ Sie fand diese Idee wundervoll, einzig in ihrer Art, und war so begeistert davon, daß sie laut ausrief:

„Nun sieh mir nur einer das schämige Bräutchen an.“ Und träumerisch vor sich hinblickend, fuhr sie fort: „Ja, Ilse, die Brautzeit ist die poesievollste des ganzen Lebens. In süßem Tändeln verfließen die Tage, die angeborene Rauheit des Mannes liegt da noch gebändigt in den Rosenfesseln der Liebe, in duftigen Zauber gehüllt vergeht die Zeit, nur der Körper berührt noch mit flüchtigem Fuß die profane Erde. Der Geist, das Herz, sie entflohen in himmlische Gefilde und träumen dort den ewigen Traum der Liebe, fern vom lauten Getümmel der Welt, der Prosa des Lebens!“

Nellie und Ilse hatten sich bei diesem poetischen Erguß schon einige Male verständnisinnig angeblickt; aber als Nellie die letzten Worte Floras mit einem urkomischen Gesicht begleitete, die Augen schwärmerisch aufgeschlagen und gen Himmel gerichtet, konnte Ilse ihre Heiterkeit nicht mehr verbergen und fing zu lachen an. Natürlich stimmte Nellie mit ein. Flora war empört über den verkehrten Eindruck ihrer Worte und wütend sah sie die beiden an.

„Ihr scheint noch ebenso albern und verständnislos zu sein wie in der Pension,“ sagte sie erregt. „Ich glaubte wirklich, Nellie, du wärst als Frau vernünftiger geworden und du, liebe Ilse, scheinst mir ja eine recht prosaische Braut zu sein. Mein Gedankenflug war eben zu hoch für euch, wie ich merke.“ Die letzten Worte betonte sie besonders und sah dabei die beiden herablassend an.

Ilse ärgerte sich über Flora, sie war ganz ernst geworden und hatte eine Erwiderung auf den Lippen. Aber Nellie kam ihr zuvor.

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„Da haben wir unsere Teil,“ sagte sie mit der liebenswürdigsten Miene, ohne durch Floras Abfertigung im mindesten aus der Fassung gebracht zu sein. „Florchen, ich werde mich bessern, damit ich mit dich fliegen kann in deine hohe schöne Land.“

Diese spöttischen Worte erregten Floras Zorn noch mehr.

„Nimm mir nicht übel, Nellie,“ rief sie, „aber in dir lebt auch nicht ein Funke von Poesie, du ziehst alles in den Staub und Schmutz herab.“

Ilse war außer sich über diese Schmähung ihrer geliebten Freundin.

„Nun ist es aber genug, Flora!“ rief sie heftig, doch weiter kam sie auch diesmal nicht, denn die Türe wurde geöffnet, die intelligente Dienstmagd erschien und meldete, Herr Referendar Lüders wünsche Frau Doktor zu sprechen.

Flora schnellte wie elektrisiert empor.

„Wie furchtbar fatal, – Herr Lüders und ich noch in Morgentoilette. Aber, er ist ja unser Hausfreund. Ich könnte mich schon so vor ihm zeigen.“

Sie trat vor den Spiegel und besah sich musternd, aber nicht ohne Wohlgefallen.

„Was meint ihr?“ fragte sie, „kann ich ihn so empfangen?“

„Ich meine nicht,“ antwortete Ilse in ihrer gewöhnlichen Offenheit. „Es ist doch schon Mittag jetzt, und dann, denke ich, darf man im Morgenrock überhaupt keine Herren empfangen.“

„So denkt man wohl bei euch auf dem Lande,“ entgegnete Flora gereizt, indem sie Ilse über ihre Schultern hinweg einen mitleidigen Blick zuwarf. „Ich muß gestehen, das nenne ich enge Ansichten. Hätte ich nur meine hochelegante Matinee an, dann natürlich würde ich Herrn Lüders sofort empfangen. Sage Herrn Referendar, ich ließe ihn [pg 77]bitten einzutreten, ich würde sofort erscheinen,“ wandte sie sich zu dem Mädchen, das stumpfsinnig und bewegungslos an der Türe stand, der Dinge harrend, die da kommen sollten.

„Adieu, Flora, wir müssen gehen,“ sagte Nellie und erhob sich.

Trotzkopf's Brautzeit

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