Читать книгу Oval - Elvia Wilk - Страница 11
4
ОглавлениеMorgens wachte sie meist mit Nackenschmerzen auf. Die symmetrische Verspannung war stets präsent, verkrampfte auf beiden Seiten der Wirbelsäule die Muskulatur am Übergang vom Hals zur Schulter. Sie konnte spüren, wie das Stützgewebe gegen die Knochen aufbegehrte. Dieser morgendliche Schmerz war schon immer dagewesen, schon vor Louis, vor Howard, lange bevor sie mit irgendwem das Bett geteilt hatte. Sie hatte sich nicht richtig entwickelt, etwas fehlte in der Versorgungskette ihrer Wirbelsäule, die den Schädel stützte. Ihrer Konstruktion mangelte es an Sorgfalt. Das war eine Tatsache.
Für gewöhnlich machte sie nach dem Aufwachen, während Louis noch schlief, einige Dehnübungen auf der Yogamatte, die stets ausgerollt am Fußende des Bettes lag.
Als sie an diesem Morgen wach wurde, erblickte sie ihn jedoch schon selbst auf der Matte, wo er irgendwelche abgewandelten yogaähnlichen Bewegungen ausführte. Sie ließ ihren Kopf über die Bettkante hängen, drehte ihn so, dass sie zusehen konnte, wie er sich nach vorne lehnte und versuchte, seine Ellbogen in das Dreieck seiner Leistengegend zu manövrieren.
»Als ich klein war, hat meine Schwester immer gesagt, wenn ich meinen eigenen Ellbogen lecken könnte, würde ich mich in einen Jungen verwandeln«, sagte sie. Er zuckte zusammen und blickte auf, aus irgendeinem Grund überrascht, sie zu sehen.
»Und, hast du es geschafft?«
»Nö.«
»Vielleicht sind all diese Versuche von damals schuld an deinen ewigen Nackenschmerzen.«
Manchmal massierte er ihr den Nacken, was eher emotional als körperlich half. Sie überlegte, ihn darum zu bitten, da sie sich heute besonders gerädert fühlte, aber er war auf der Matte damit beschäftigt, seine Unterarme tiefer in seinen Schritt zu zwingen.
Im Badezimmer stellte sie das Radio über der Toilette an, bevor sie den Duschkopf aufdrehte, um der Schwerkraft, dem morgendlichen Feind, zu erlauben, die Blase des gesammelten Regenwassers langsam in einem schauerartigen Nieseln zu entleeren. Aus dem Radio erklang eine heitere Stimme. Beruhigende Wetterworte. Tagsüber meist sonnig, windstill, Sonnenschauer am Nachmittag. Völlig unglaubwürdig und fern jeder Realität. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sich die Diskrepanz von akzeptablem Fehler zu eklatantem Widerspruch ausgeweitet hatte. Dam war der Meinung, die Ungenauigkeit aller offiziellen Wettervorhersagen war kein Zufall, sondern eine handfeste Verschwörung riesigen Ausmaßes. Er konnte sich nur nicht entscheiden, wessen Verschwörung. Mitunter waren es die Nachrichtensender, manchmal die Internetprovider, dann wieder die Stadtverwaltung. Anja tat sich schwer damit, genügend Paranoia aufzubringen, um sich hinter eine seiner wechselnden Hypothesen zu stellen, aber es fiel ihr auch nicht leicht, eine andere, weniger unheimliche Erklärung zu finden. Dam war nicht der einzige, der darüber spekulierte; es gab viele andere, die bis tief in die Nacht auf Reddit Theorien austauschten. Es hatte etwas Bemitleidenswertes, die Bedeutung des Lebens an das geliehene Gerüst einer Verschwörungstheorie zu hängen, aber Dam verlieh der Sache eine gewisse Poesie. Sie erinnerte sich an sein Update vom Abend zuvor: Wohlwollende Wolken, stille Gewässer / Ungeheure Dankbarkeit / 30º
Sie wechselte den Sender zu NPR. Das war nach den Dehnübungen der zweite Teil ihres Morgenrituals. Louis sagte, die Englisch sprechenden Stimmen erinnerten ihn an morgendliche Autofahrten zur Schule und erfüllten ihn mit Nostalgie für ein gewisses neoliberales amerikanisches Lebensgefühl, das im Verschwinden begriffen war. Der Klang von NPR war wie eine Flaschenpost aus der Heimat, verfasst von jemandem, der nur auf den Inhalt der Botschaft hätte achten müssen, um zu wissen, dass das Medium ihrer Übermittlung schon längst seine Berechtigung verloren hatte. Und dennoch plauderten die Stimmen weiter in zweiminütigen Nachrichtenbeiträgen, selbst hier in Europa, und versicherten ganzen Generationen von Expats, dass die Vormachtstellung der englischen Sprache andauern würde und dass im Namen der Sendung All Things Considered alle Ansichten zumindest in Betracht gezogen werden würden, ganz gleich ob diese Ansichten nun wahr waren oder nicht. Nostalgie an sich ist nicht unmoralisch, hatte Louis zur Verteidigung seines Senders gesagt.
Das Wasser war lauwarm und roch irgendwie seltsam. Anja duschte nur kurz und widmete sich Teil drei der morgendlichen Routine: Mit dem Finger malte sie einen Smiley auf den beschlagenen Spiegel. Sie zeichnete ein Gesicht mit einem Fragezeichen anstatt eines Mundes :-? Wenn Louis duschte und sich das Glas mit neuem Dunst überzog, würde das Gesicht wieder auftauchen und dann würde er wissen, wie sie sich fühlte, selbst wenn sie das Haus bereits verlassen haben sollte. Sie trocknete sich gründlich ab und ließ das Radio für Louis laufen, wobei ihr auffiel, dass der schlechte Empfang im Badezimmer die amerikanischen Stimmen noch ferner klingen ließ.
Donnerstag. Er war erst seit vier Tagen wieder zuhause, und gemeinsam hatten sie schon zu ihrem üblichen Morgenablauf zurückgefunden. Howard und Laura hatten ihr zwar versichert – und Laura mehr als nur einmal–, dass Normalität im Strudel einer Tragödie die beste Strategie sei, doch Anja quälte sich noch immer mit der Sorge, Louis’ Gefühle zu unterdrücken, indem sie nicht darüber sprach. Nicht, dass er das behauptet hätte – aber zweifellos hatte er sich verändert, ob er es zugeben wollte oder nicht. Sein Körper war ein anderer Körper: ein Körper ohne Eltern. Das musste physische Spuren an ihm hinterlassen haben, irgendwo musste ein Stück von ihm fehlen, aber sie konnte nicht ausmachen, wo.
Versehrt oder nicht, der Louis, den sie kannte, wusste sich in jeder Situation angemessen zu verhalten, und so wie er verhielt sich nun mal kein trauernder Mann, der sich seiner Gefühle bewusst war und in der Lage sein sollte, über diese Gefühle auch zu sprechen. Besser als jeder andere, den sie kannte, begriff Louis jene Verhaltensmuster, die die allgemeine gesellschaftliche Realität bequem am Laufen hielten – er kannte die Regeln so gut, dass er nach Belieben mit ihnen spielen konnte, versehentlich aber brach er sie nie. Er wusste, was er tat. Er musste wissen, dass nach dem Tod eines Elternteils das einzig richtig Verhalten darin bestand, traurig zu sein. Er musste wissen, dass vorzugeben, es ginge ihm gut, nicht normal war, und dass er, selbst wenn er sich gut fühlte, ein Bewusstsein dafür zeigen sollte, dass er nicht den Erwartungen entsprach; er sollte so tun, als wäre er wenigstens ein bisschen traurig. Er war derjenige, der in dieser Sache den Ton angeben musste, ohne seine Anleitung hatte sie keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte, wie sie das Bild vervollständigen sollte, das er hätte vorzeichnen müssen. Eine Möglichkeit bestand darin, dass Anja hinsichtlich der gesellschaftlichen Erwartung völlig falsch lag, und dass es tatsächlich richtig und normal war, so zu tun, als ginge es einem gut. In diesem Fall mimte Louis einfach den Mann, der sich nicht seiner Trauer stellen will. Und falls das tatsächlich seine Art war, den Ton vorzugeben, sollte sie es ihm gleichtun. An dieser Möglichkeit störte sie, dass der Mann, der nur so tat, als verleugne er seinen Schmerz, nicht zu unterscheiden war von dem Mann, der seinen Schmerz tatsächlich verleugnete. Selbst wenn er die Verleugnung bloß vortäuschte, steckte er doch mittendrin.
Die andere Möglichkeit, die viel beunruhigender war, bestand darin, dass Louis gar keinem Skript mehr folgte und die Trauer ihn derart umgehauen hatte, dass ihm die Fähigkeit oder das Bedürfnis, sich an die Regeln zu halten, abhanden gekommen war. Nun, da sie sich einmal im Kreis gedreht hatte, dachte sie, lieferte diese Möglichkeit den stärksten Beweis dafür, dass Louis unvorstellbar litt.
Sie ging in die Küche hinüber, um Smoothies zuzubereiten – der letzte Teil der morgendlichen Routine – und während sie den Mixer hervorholte, fiel ihr auf, dass das etwas Neues war: Sie sagte sich die Schritte der Morgenroutine in Gedanken vor. Sie hatte ihre Morgen nie wirklich als Routine verstanden; sie tat es jetzt nur, weil die Routine symbolisches Gewicht erhalten hatte. Sie war sich der Norm bewusst geworden, weil sie nach jeder noch so geringen Abweichung Ausschau hielt. So erpicht war sie darauf, dass das Nachher dem Vorher ähnelte, dass sie nach einem Barometer suchte, um es zu messen.
Das bedeutete, dass sie die Abweichungen sicher größer machte, als sie wirklich waren. Dass Louis an diesem Morgen vor ihr aufgewacht war, hatte bestimmt nichts zu bedeuten. Es musste zig Morgen gegeben haben, die auch nicht nach Plan verlaufen waren. Er musste unzählige Male vor ihr aufgewacht sein. Aber in diesem Moment, da der Mixer Stücke von Fruchtfleisch zermalmte, erinnerte sie sich an keinen einzigen.
Sie trank gerade ihren Smoothie aus, als Louis die Küche betrat. Er verzog den Mund zu einer Art Kringel, die dem Smiley in der Dusche ähneln sollte. Er wollte den Rest der grünen Materie, die sich im Mixer befand, nicht, sagte er, lieber aß er einen Muffin. Die Spirulina wird schlecht, wenn du das nicht trinkst, wollte sie gerade sagen, doch sie verkniff es sich und öffnete den Toaster. Auf keinen Fall würde sie ihren zwanghaften Gedanken freien Lauf lassen; sie würde ihn nicht drängen, einen schlecht schmeckenden Smoothie zu trinken. Er durfte nicht bemerken, dass sie ihn genau beobachtete. Sie durfte seine Coolness nicht als Herausforderung sehen, denn sie hatte keinen empirischen Beweis dafür, dass er sie überhaupt herausfordern wollte – schließlich hatte sie keinen empirischen Beweis dafür, dass er litt und es vor ihr verbarg. Von außen war es unmöglich, zu unterscheiden, ob er vorgab, es ginge ihm gut, oder ob es ihm wirklich gut ging, und das Außen war alles, was sie hatte. Sie durfte nicht zugeben, dass sie sich wünschte, ihn leiden zu sehen, denn das hätte geheißen, dass sie sich wünschte, er leide. Beide Wünsche waren abartig. Sie musste sich darauf konzentrieren, ihn ganz normal zu lieben.
Weiter unten am Berg blitzte etwas Pinkfarbenes auf, als sie eine der vielen Biegungen des Pfades nahm. Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, warum der Pfad, je nach Gelände, so kurvenreich verlaufen musste, wo doch jeder Zentimeter des Berges angelegt worden war, und also auch ein gerader Weg von oben nach unten hätte angelegt werden können. Keinen Grund, außer dem Wunsch, irgendeiner albernen Vorstellung von Natürlichkeit zu entsprechen. Als der Weg wieder geradeaus führte, sah sie Matilda, eine ihrer Nachbarinnen, die eine knallpinke Strickjacke trug. Matilda zu treffen, war eine Überraschung. Es war mindestens zwei Wochen her, dass ihr jemand begegnet war, der den Berg hinauf- oder hinablief.
»Hey«, rief Mathilda, und stieg Anja leicht keuchend entgegen. Im Arm hielt sie einen kleinen, dicken Hund mit gelbem Fell. Die Zunge hing ihm aus dem Maul, das von einem leichten Sabberrand gesäumt war. »Auf dem Weg nach oben wird er immer müde«, sagte Mathilda, als sie näherkam, und tätschelte den Hund. »Ich muss ihn immer ein Stück tragen.«
»Das kenne ich«, sagte Anja. »Ich wünschte, mich würde auch jemand tragen.«
Mathilda blieb im Abstand von einem halben Meter stehen und hob den Hund zu sich, so dass seine Schnauze nahe an ihrem Ohr war. »Wie geht’s? Wir haben euch seit Ewigkeiten nicht gesehen.«
Mit ›wir‹ meinte Matilda sich selbst und ihren Ehemann, an dessen Namen Anja sich nicht erinnern konnte. Sie waren Dänen, Mitte 40 wahrscheinlich, und beide auf stattliche Art gutaussehend.
»Ach, alles gut so weit. Bis auf, naja. Ein paar Sachen im Haus.« Sie machte eine Handbewegung den Berg hinauf.
Mathilda verdrehte die Augen und sie lachten beide. »Nun, wir wussten, worauf wir uns einlassen, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie würden nicht über die Details sprechen, so viel war klar. Die Nachbarn gingen alle sehr diskret mit ihren Problemen um; es gab kein Gemeinschaftsgefühl unter ihnen. Vielleicht hatten Louis und sie sich auch zu sehr abgesondert, aber das glaubte sie eigentlich nicht. Alle waren zu unterschiedlichen Zeiten eingezogen und getrennt voneinander instruiert worden. »Ich bin froh, dass alle versuchen, die Illusion von Exklusivität aufrechtzuerhalten«, hatte Louis gesagt. »Lagerfeuer und Grillabende würden das Spiel ruinieren.«
»Wir dürfen hier ohnehin keine offenen Feuer machen«, hatte Anja angemerkt.
Matilda und ihr Mann lebten in dem Haus, das dem von Anja und Louis am nächsten lag, ein paar hundert Meter den Berg hinab. Sie konnten die Häuser der anderen Parteien aufgrund des Laubs von ihren eigenen Grundstücken aus nicht sehen, und es fiel Anja leicht, zu vergessen, dass sich jederzeit jemand in Hörweite befinden könnte. Zurückgezogenheit per Design.
»Es liegt auch an uns, dass wir euch nicht gesehen haben«, sagte Matilda. »Wir waren viel in Kopenhagen.«
»Wegen der Arbeit?«
»Ja, und auch aus familiären Gründen. Unsere Tochter. Wir haben immer noch unsere Wohnung dort.« Sie räusperte sich.
Hauptwohnsitz sollte The Berg ein, aber natürlich zwang sie niemand, dort Zeit zu verbringen. Viele der anderen Nachbarn hatten wahrscheinlich noch Wohnungen an anderen Orten, Wohnungen, in die sie sich zurückziehen konnten, wenn sie die lauwarmen Duschen leid waren.
»Und du?« Matilda lächelte. »Arbeitest du noch im Labor?«
Anja nickte und sagte, ja, es laufe alles sehr gut. Sie war nicht gerade dankbar für die Erinnerung. Voller Schuld dachte sie an Michel, der ihr in regelmäßigen Abständen Nachrichten schrieb. Noch nie hatte sie ihn so lange nicht gesehen wie jetzt. Sie hatte es als gegeben hingenommen, ihn von montags bis freitags in ihrem Leben zu haben. Es wäre sinnvoll gewesen, mit ihm über das zu reden, was mit ihnen geschah, gerade mit ihm, doch sie konnte sich noch nicht dazu durchringen, ihn anzurufen. Sie war sich nicht sicher, warum. Es wäre auch sinnvoll gewesen, Matilda zu fragen, ob ihr Abfallentsorgungssystem jemals funktioniert hatte, aber auch das würde sie nicht tun.
Matilda erkundigte sich nach Louis, und Anja musste sich sehr zusammenreißen, eine gelassene Miene zu wahren. Sie kannte Matilda nicht gut. Sie konnte es nicht einfach jedem erzählen.
»Dem geht es bestens«, sagte sie. »Schwer beschäftigt, wie immer.«
Die Unterhaltung war langweilig und wie zum Signal, dass es Zeit war, weiterzugehen, sahen sie aneinander vorbei.
»Ihr solltet bald mal vorbeikommen und uns besuchen«, sagte Matilda. »Wir würden gern für euch kochen.«
»Ich rede mal mit Louis darüber, welcher Tag am besten wäre.« Sie wussten beide, dass sie das nicht tun würde.
Matilda tat einen Schritt den Weg hinauf, und Anja einen Schritt den Berg hinab, dann sagten sie, wie schön es war, dass sie einander gesehen hatten. Als sie in umgekehrter Position standen, so dass Anja zu Matilda aufblickte, und Matilda zu ihr herunter, sagte Matilda. »Und wenn es dir nichts ausmacht, erzähl bitte niemandem von Cheeto.« Sie hob den Hund wieder an und ließ ihn mit seiner feuchten Schnauze an ihrer Wange entlangfahren. »Normalerweise wohnt er gar nicht bei uns. Es ist nur, du weißt schon.«
»Natürlich nicht.«
Abends hatte sie wenig zu berichten. Sie hatte den Tag damit zugebracht, mit Laura ihren Vertrag noch einmal zu lesen und Der Bachelor zu gucken.
»Laura schaut zu viel fern«, war alles, was ihr dazu einfiel. »Sie braucht einen Job.«
»Was hast du gegen Fernsehen?«, fragte Louis. »Braucht sie wirklich einen Job?«
Es war gegen Mitternacht und wie vorhergesehen war es im Haus sehr heiß. Er war spät heimgekommen, sie hatten Sex gehabt, er hatte geduscht. Sie hatte ihm zugesehen, wie er das Wasser von seinem Körper abschüttelte und an der Luft trocknete. Seine Silhouette war perfekt.
»Ja, sie braucht einen Job. Aber sie tut, als wäre fernzusehen ihr Job. Sie hängt ständig in all diesen Foren rum. Als würde sie für irgendeine Prüfung büffeln. Sie hat mich heute die ganze Zeit mit Trivia vollgequatscht, und war eindeutig zu empört, als ihre Spielerin rausgeflogen ist.«
»Ich wusste gar nicht, dass es beim Bachelor Spieler gibt. Ich dachte, das wäre eine Dating Show und keine Game Show.«
»Streng genommen heißen die auch nicht Spielerinnen.«
»Gewinnen die Geld?«
»Nee, nur einen Ehemann. Aber dann kriegen sie lauter Werbeverträge und Talk-Show-Auftritte, also gewinnen sie doch irgendwie Geld.«
»Es kam mir schon immer seltsam vor, dass Laura sich diesen Schrott anschaut. War sie nicht mal so eine Art Anarchistin?«
»Ja, früher war sie richtig schwarzer Block.«
»Was für ein Klischee: Die desillusionierte Revoluzzerin.«
»Nicht ganz. Sie geht da sehr anthropologisch dran. Sie nennt das kritisches visuelles Engagement.«
»Vielleicht sieht sie auch einfach nur gern fern. Ich könnte das besser akzeptieren, wenn sie es nicht als etwas Intellektuelles verkaufen würde.«
»Du solltest dankbar sein, dass ich wegen Laura so viel fernsehe, sonst würde ich all deine kulturellen Referenzen gar nicht verstehen.«
»Aber ich schaue nie fern.«
»Musst du auch nicht, du bist ja in den USA aufgewachsen. Du hast doch sicher ferngesehen, als du ein Kind warst.«
»Nie. Pat hat mich nicht gelassen.«
Interessant. Das war eine neue Information für ihre Sammlung.
Louis nannte seine Mutter beim Vornamen, das war ihr bekannt. Anja hatte solche Fakten über Louis nebenbei erlangt, wie durch Osmose. Anders als die meisten Paare, hatten sie keinen Background-Check betrieben, als sie zusammengekommen waren. Diese langgezogene Phase der Erzählungen über das eigene Ich und der Mitteilung biografischer Informationen, die Schlussfolgerungen über die Beschaffenheit der Psyche des Anderen zuließen, hatte zwischen ihnen nie stattgefunden. Aus früheren Beziehungen, selbst aus ihrer Zeit mit Howard, hatte sie diesen Prozess erwartet, sich sogar darauf gefreut, und war verwirrt gewesen, als Louis wenig Interesse daran zeigte, etwas über ihr früheres Leben zu erfahren, was sie als einen generellen Mangel an Interesse an ihrer Person missinterpretierte.
Doch es war offensichtlich, dass ihre Gespräche unendlich unterhaltsamer und aufschlussreicher waren als die vorgezeichneten Unterhaltungen aus dem Beziehungshandbuch; sie lernten voneinander und schrieben die abgestandenen Narrative darüber, wer sie waren, neu, anstatt sie zu verfestigen. Sie schafften neue Inhalte. War es wichtig, was Louis wirklich »passiert« war, vor ihr? Das Netz aus Referenzen, Witzen und Ideen, das sich in der Gegenwart entfaltete, war realer als diese Art von Küchenpsychologisierung des eigenen Selbst. Sie hatten interessantere Dinge zu besprechen. Sie lachten viel.
Zwei Jahre lang waren sie seitwärts nebeneinanderher getänzelt und hatten die Schritte hin zur Monogamie (Exklusivität, als Paar auf Partys zu gehen, ihre Freunde einander vorzustellen, zusammenzuziehen) ohne großes Trara geschehen lassen. Dies waren Krebsschritte in eine logische Richtung, und nicht die Art von Stufen in einer Aufwärtsbewegung, von denen Anja andere Frauen oft hatte als Errungenschaft sprechen hören. Und über diese Schritte wurde nie so diskutiert, als wären sie folgenschwere Entscheidungen. Louis war in der Lage, Pläne zu schmieden, aber er machte keine Versprechungen. Das musste er auch nicht.
Und dennoch widerstand sie nicht dem Verlangen, ein grundlegendes biografisches Gerüst für ihren Freund zusammenzubasteln. Sorgfältig sammelte sie die Fakten, die er nebenbei abwarf, Überreste anderer Geschichten. Diese Fakten fügte sie behutsam zusammen. Es war wichtig, dass sie ihn besser kannte als alle anderen.
Louis’ Vater war Maschinenbauingenieur gewesen, der in einem blau-grauen Bürogebäude auf der gegenüberliegenden Seite der Schnellstraße einer Fabrik für Dieselmotoren in Columbus, Indiana, gearbeitet und sonntags in einer frühchristlichen Kirche die Orgel gespielt hatte. Als Louis noch klein war (ca. 10 J.), hatte er sich eine Herzkrankheit zugezogen, und während einer Chorprobe eine Lungenembolie erlitten, an der er noch auf seinem Stuhl in der Kirche verstorben war.
»Lungenembolie« lautete die einzige Beschreibung, die sie jemals vom Vater erhalten hatte, nicht einmal ein Name, nur »Lungenembolie« – das Gesicht ein runder Klecks geronnenen Fettes und Bluts, Arme, die leblos an ihm herabbaumelten, oder vielleicht waren seine leblosen Handgelenke auch mit einem lauten Klappern auf die Tasten gefallen. Alles sehr morbid.
Die Mutter, die bis vor Kurzem noch am Leben gewesen war, hatte natürlich einen Namen. Pats Geschichte begann, wo die des anderen Elternteils aufhörte. Nach drei Monaten im Feld und acht Monaten in der Reha, kehrte Pat erst kurz vor der Lungenembolie von ihrem Einsatz im Irak zurück. Sie war noch im Begriff, sich an ihre neuen Beine zu gewöhnen, als sie sich plötzlich allein mit Louis wiederfand – und zur alleinerziehenden Mutter auf Lebenszeit wurde. Aber sie hatte auch übermenschliche Kräfte gewonnen: Die mechanischen Gliedmaßen, die Louis sich als hölzerne Würste vorgestellt hatte, bevor er sie zum ersten Mal sah, beeindruckten ihn zutiefst. Pat verkraftete den Verlust ihrer Beine ebenso spielend wie den ihres Ehemanns (was darauf schließen ließ, dass eine gewisse Härte oder Apathie in der Familie lag, wie Anja zur Kenntnis nahm).
In seiner Jugendzeit verehrte Louis Pat und versuchte verzweifelt, sie zu beeindrucken. Er folgte ihr zu all ihren Ehrenämtern. Sie arbeitete für die Interessenvertretung der Veteranen, den Gestaltungsbeirat der Stadt, die öffentliche Bibliothek, das Reinigungsteam der Kirche. Irgendwann wurden aus flüchtigen Sonntagsbesuchen der Episkopalkirche vier Wochentage, an denen sie sich die volle Dröhnung Religion gab.
So landete Louis in der Samstags- und Sonntagsschule, im Nachmittagschor, beim Benefiz Lunch, bei der Kirchenfreizeit und bei mehr als einer Übernachtungsparty. Er musste nicht lange überredet werden; die Kirche war ein sanktionierter Ort, an dem er Basketball spielen und Mädchen kennenlernen durfte. Er hatte nie an Gott geglaubt, aber er glaubte an diese beiden Dinge. Und er glaubte an Pat. Soweit Louis das beurteilen konnte, hatte Pat keinerlei Interesse daran, wieder zu heiraten, und bis er fortzog, um zum College zu gehen, fuhr sie ihn in ihrem vollautomatischen, von der Armee finanzierten Van zur Schule, zum Basketballtraining und zum Kino. (Dass Louis es hasste, selbst zu fahren, wurde während dieser fürchterlichen Fahrt nach Hamburg klar, als Louis mit dem Wagen von der Autobahn abkam.)
Als Louis es zum Studium nach New York geschafft hatte (Bundesstaat, nicht Stadt), lernte er als Erstes, dass eine Veteranin zur Mutter zu haben, hier nicht das gleiche moralische Gewicht hatte wie im Mittleren Westen. Er lernte seine kleinbürgerliche Erziehung herunterzuspielen, und als wollte er sie wettmachen, büffelte er wie verrückt – nicht für die Uni, die er im Schlaf hätte bewältigen können, sondern um sich die intellektuellen Referenzen anzueignen, die ihm aufgrund seiner provinziellen Herkunft so grausam verwehrt worden waren (ähnlich wie Anja sie von ihm erlangte, aus zweiter oder dritter Hand). Zum ersten Mal in seinem Leben schämte Louis sich für Pat, wenn sie ihn besuchte, und in ihrem braunen Van mit den vielen Veteranen-Aufklebern am College vorfuhr. Sie glaubte, dass er sich für ihre Behinderung schämte – auch wenn das ganz und gar nicht der Fall war – und es folgte eine Phase der Entfremdung zwischen ihnen. Sie vergrub sich tiefer in die Kirche.
Während der zwei Jahre, in denen er seinen Master of Fine Arts in Kalifornien machte, schwand die Scham über seine Herkunft. Viele der Freunde, die er an der Universität kennenlernte, stammten aus ähnlichen kulturellen Wüsten, hatten die Dünen der freien Künste erklommen und waren mit der Genugtuung, die unfairen Voraussetzungen überwunden zu haben, oben angekommen. Dieser gemeinsame Aufstieg aus der Mittelmäßigkeit war es, der ihnen das Recht verlieh, Kunst zu machen – im Gegensatz zu all diesen aufgeblasenen Söhnen und Töchtern von Sammlern und Kuratoren mit ihren eigenen Treuhandfonds. Er hieß Pat wieder in seinem Leben willkommen, sie war der Beweis, wie weit er es gebracht hatte.
In Kalifornien begann er, ernsthaft Kunst zu produzieren. Die meiste Zeit des zweiten Studienjahrs beschäftigte er sich mit einem einzigen Projekt und stellte eine Reihe winziger Drohnenhelikopter her. Die Drohnen waren mit Weitwinkelkameras ausgestattet, mit denen sie große Flächen absuchen und sich an verdächtige Zeichen von Armut heranzoomen konnten; baufällige Dächer, Müll, Entfernung zur Wasserversorgung, Nähe zu gefährlichen Abfällen. Diese Faktoren wurden in ihre Wiedererkennungssysteme für Bildmaterial aufgenommen. Anhand dessen, was die Drohne fand, war es theoretisch möglich, sagte Louis, die Gegenden zu bestimmen, in denen Entwicklungshilfe am dringendsten benötigt wurde. Bei der Ausstellung, die seine Abschlussarbeit begleitete, zeigte er wandgroße und erstaunlich hoch aufgelöste Drucke einer Gegend, die die Drohne aus der Luft aufgenommen und als Gefahrenzone markiert hatte: den Campus der Universität. Zerfallende Gebäude, Müllhaufen, und die gefährliche Nähe zu einer Chemiefabrik hatten den Campus als geeignetes Ziel für Hilfsleistungen identifiziert.
Sein Fünf-Jahres-Vertrag mit Basquiatt war nun schon zur Hälfte abgelaufen. Sie hatten ihn noch vor Ende seines Studiums eingestellt, das Ticket nach Berlin für die Woche nach seinem Abschluss gebucht. Er war der Einzige aus seinem Jahrgang, der direkt zum Berater aufstieg. Viele seiner Klassenkameraden sollten später auch diese Laufbahn einschlagen, mussten aber erst wenigstens den Anschein erwecken, etwas geleistet zu haben, das sie für einen Job im Consulting qualifizierte.
(Seine Zeit in Berlin war ziemlich klar; Anja hatte viele Daten über ihn aus den letzten drei Jahren. Jede Menge gemeinsame Freunde, denen sie Details aus den Rippen leiern konnte. Es hatte vor ihr ein paar Frauen gegeben, aber nur ein paar.)
Dies waren die Fakten, anhand derer sie sich ausmalte, wie Louis’ Rückkehr nach Indiana zur Beerdigung verlaufen war, die Geschichte, die sie sich selbst erzählte. Einige Informationen gab er von sich aus preis – Nierenversagen, zum Beispiel. Bei Frauen über 60 sei dies eine häufige Todesursache, hatte er gesagt. Sie war über 60 gewesen? 59.
Pat hatte ihn also nicht fernsehen lassen. Die Tatsache an sich war die erste Information. Aber dieses Detail hatte darüber hinaus eine weitere Bedeutung: Louis brachte das Gespräch nun von sich aus auf Pat. Er hatte ihren Namen seit seiner Rückkehr bislang nicht ausgesprochen.
»Du hast Pat noch kein einziges Mal erwähnt, seit du wieder da bist«, sagte Anja.
Er nickte. »Ich weiß, das ist schräg. Ich habe kaum über sie nachgedacht. Und ich habe auch seit der Beerdigung nicht geweint.« Er war nach dem Duschen nun völlig trocken und stieg in seine Shorts. Sie starrte ihn an.
»Du hast auf der Beerdigung geweint?«
»Ja, es ist so krass, was die mit der Kirche gemacht haben.«
»Mit der Kirche?«
»Die First Christian Church, in der mein Vater früher gespielt hat.«
Kirche, Vater, Orgel: Check.
»Was haben sie gemacht?«
»Die Kanzel abgerissen, das war so ein schöner Thron aus Holz. Scheinbar ist es für die Prediger nicht mehr angesagt, stillzustehen, sie sollen rumlaufen, als wollten sie Jesus verkaufen. Sie haben eine riesige Leinwand angebracht, um Filme zu zeigen und eine Stereoanlage für Christrock. Ich nehme mal an, die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Leute ist nicht mehr lang genug, um für die Dauer einer ganzen Predigt stillzuhalten, wenn es keine Multimedia Show gibt. Die verstehen nur nicht, dass dieses Gebäude nicht dafür gemacht ist, es taugt nicht zur Megakirche.«
»Das ist die Kirche von Eero Saarinen, oder?« Zusatzinformationen, danke, Google. Anja wusste, dass Columbus eine Brutstätte der modernen Architektur war. Ein Leuchtfeuer der Kultur im Mittleren Westen, die großen Namen tummelten sich hier. Louis war auf dieses Thema immer wieder zu sprechen gekommen und hatte seine Bedeutung jedes Mal aufs Neue betont.
»Nein, Eliel, sein Vater. Die Kirche war die erste große Architektur in Columbus.«
»Gibt es da keinen Denkmalschutz?«
Er saß auf dem Bettrand und zog seine Socken an, die er normalerweise beim Schlafen trug. »Columbus hat so eine schräge Mischung aus anspruchsvoll und ordinär, die echt schwer zu erklären ist. Architektonische Meisterwerke zwischen Einkaufszentren, heruntergekommenen Garagen und Wohnwagensiedlungen. Die Leute merken gar nicht, dass die öffentliche Bibliothek von I.M. Pei ist, die Teenager wissen nur, dass es in ihr viele dunkle Ecken zum Rumknutschen gibt. Dann ist da noch dieser riesige Ring an Industriebauten um die Stadt, weil die Motorenfirma zwar für all die schicke Architektur gezahlt, ihre eigenen Fabriken aber nie auf Vordermann gebracht hat. Also leben und arbeiten die meisten Leute tatsächlich in diesen echt beschissenen Anlagen, aber die Stadt sieht immer noch schön aus für die Touristen.
»Die Motorenfirma hat für die Architektur bezahlt?« Sie tastete sich vor. Kein Glück.
»Das Unternehmen wollte was für die Gesellschaft tun. Philanthropie. Damals war es noch neu, dass Unternehmen so was machen.«
Sie wusste, in welche Richtung sich das Gespräch bewegte. Es bewegte sich sehr weit weg von Pat, weg vom emotionalen Inhalt, hin zum intellektuellen. Und er hatte Laura noch beschuldigt, ihr Interesse fürs Fernsehen hinter einem akademischen Anspruch zu verstecken. Er wusste, wovon er sprach.
Doch sie zog mit, spielte ihre Rolle. »Was hatten die Leute von der Motorenfirma davon, dass sie für die Architektur bezahlt haben?«
»Das ist die Sache mit dem wohltätigen Engagement von Unternehmen, es ist nicht klar, was die davon haben. Die machen das aus vielerlei Gründen, fürs öffentliche Ansehen, die Arbeitsmoral. Aber wenn man das ein bisschen allgemeiner betrachtet, ist das auch eine Art, wie sie die Leute überzeugen, dass wir die Regierungen für öffentliche Dienstleistungen gar nicht brauchen. Wenn Unternehmen wohltätig sind und Bäume pflanzen und schöne Gebäude bauen, werden die Leute nicht die Regierung unter Druck setzen, dass die ihren Job macht und mitmischt. Wie heißt es so schön, Philanthropie ist ein Grundpfeiler des Neoliberalismus.«
Er ging ins Badezimmer und kehrte mit seiner Zahnbürste in der Hand zurück. »Warte mal, wie lange läuft Der Bachelor eigentlich schon? Ist das nicht schon vor zwanzig Jahren rausgekommen?«
»Noch länger her. Das ist die älteste noch laufende Reality-TV-Sendung aller Zeiten. Außer Big Brother vielleicht.«
»Kaum zu glauben«, sagte Louis, der wieder ins Badezimmer zurückgegangen war und sich die Zähne putzte.
Sie rief ihm zu: »Aber warum interessiert sich eine Motorenfirma für moderne Architektur? Scheint mir ein bisschen ein Nischenthema zu sein.«
»Da war ein Superhirn am Werk«, gurgelte er zurück. Sie wartete, bis er ausgespuckt hatte, und sie das Wasser in den Abfluss laufen hörte.
»Ein Superhirn also.« Er kam aus dem Badezimmer und hockte sich auf die Bettkante.
»Ja, ein Vordenker!« Er lehnte sich zurück, um sie anzusehen. »J. Irwin Miller, Prototyp des ethischen Firmenbosses der Zukunft.«
Sie lachte. »Willst du mir die Geschichte erzählen?«
»Eine Gutenachtgeschichte. Lass mich kurz nachdenken.« Er fuhr sich gespielt übers Kinn, offensichtlich gab es nichts, worüber er nachdenken musste. Er war bestens vorbereitet auf die Welt gekommen. »Gehen wir zurück in die 1940er Jahre.« Sie lachte erneut.
»Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg.«
»Okay.«
»J. Irwin Miller, in Columbus geboren und aufgewachsen, übernimmt nach dem Tod seines Onkels die Cummins Motoren Company.
»Gut. Und dann?«
»Der Company geht es nicht wirklich gut. Aber auch, wenn er keinen Schimmer davon hat, wie man so ein Unternehmen führt, bringt er sie doch schnell wieder auf Trab. Er ist von Natur aus ein großartiger Manager und alle lieben ihn. Er ist Humanist und Christ und während er bei der Navy ist und Seite an Seite mit dem gemeinen Volk schuftet, entwickelt er einen gewissen Fetisch für die Arbeiterklasse. Er setzt sich für die Arbeiterrechte ein. Er hilft sogar seinen eigenen Arbeitern, eine Gewerkschaft zu gründen.«
»Wo ist der Haken?«
»Es gibt keinen Haken.« Louis lächelte, halb ernst, wie immer. »Er ist ein guter Christ. Und schließlich ist die Firma so gewachsen, dass sich die ganze Stadt verdoppelt hat. Die Schulen und öffentlichen Gebäude sind alle nicht mehr groß genug, und die Regierung baut ganz schnell all diese beschissenen Anlagen, um die Leute unterzubringen. Also beschließt unser Held, J. Irwin, die Gewinne der Firma zu nutzen, um richtige Architekten dafür zu bezahlen, diese Gebäude zu entwerfen.«
»Und er bezahlt für alles?«
»Er stockt den Regierungshaushalt auf, um gute Architekten zu bekommen, und nicht irgendwelche Plattenbauten.«
»Also baut er zuerst eure Kirche.«
»Die Kirche ist seine ganz besondere Herzensangelegenheit. Das war so eine Art Testlauf, um die Stadt davon zu überzeugen, dass moderne Architektur schon okay ist. Die Provinzeier im Mittleren Westen ›kapieren‹ die Moderne eben nicht, wenn du ihnen das Ganze nicht mit Religion versüßt. Er überzeugt die Gemeinde, indem er den Leuten das Gefühl gibt, sie wären am Gestaltungsprozess beteiligt. Er fragt sie, was sie eigentlich von einer Kirche wollen.«
»Bürgerbeteiligung – partizipatorische Raumpraxis, bottom-up!«
»Genau.« Louis lachte. »Seiner Zeit um Lichtjahre voraus.«
»Warum weißt du so viel darüber?«
»Ich habe während des Studiums eine Arbeit dazu geschrieben.«
»Was war das für eine Arbeit?«
Er räusperte sich und tat so, als würde er eine Brille seine Nase hochschieben.
»Nun, meine These lautete, dass Irwin der Urvater der kreativen Stadtplanung ist, weil er eine Architektur bauen ließ, die kluge, junge Leute in die Einöde locken würde, um für seine Motorenfirma zu arbeiten. So begründete er das kulturelle Kapital der Stadt und konnte berühmte Architekten kennenlernen. Und gleichzeitig entwickelte er auch noch diesen aufwendigen Steuertrick. Er erfand die Unternehmensphilanthropie als Werbemaßnahme und als einen Weg, Steuern zu sparen. Er brachte öffentliche, private und persönliche Interessen in Einklang. Der perfekte Dreier.«
»Was macht Cummins heute?«
»Nichts mehr, so richtig. Die Zeit des Diesels ist vorbei. Und nach Irwins Tod haben sie ihre Innovationsbereitschaft verloren. Es war kein Geld mehr da, um neue Architektur zu bauen oder meine Kirche instandzuhalten.«
Meine Kirche. Ein sonderbarer Besitzanspruch. Ein Besitzanspruch, der einem Mangel entwuchs.
»Vielleicht brauchen die einen neuen Irwin«, sagte sie.
»Die Welt braucht einen neuen Irwin.«
»Vielleicht bist du der neue Irwin.«
»Eher nicht.« Er sah weg, in Richtung Fenster und der absoluten Dunkelheit dahinter. »Weißt du, was mir klar geworden ist, als ich zuhause war?«
»Was?«
»Ich habe keinen Grund mehr, nach Columbus zurückzukehren.«
Wie sie vermutet hatte, waren sie wieder dort angelangt, wo ihr Gespräch begonnen hatte. Sie konnte ihn mit den Händen in der Luft herumwirbeln, sich um Konzepte und seine eigenen Gedanken drehen lassen, während sie im Stillen neue Kreise zog. Irgendwann kehrte er immer zum Ausgangspunkt zurück und sie konnte entschlüsseln, warum er welchen Weg eingeschlagen hatte. Der Weg war immer ein anderer – darum ging sie überhaupt mit – aber die Methode, fortzugehen, um zurückkehren zu können, war so vorhersehbar, so ineffizient.
Zum ersten Mal verspürte sie Ärger darüber, dass Louis sich selbst immer erst hinter sich lassen musste, um dann wieder zurückkehren zu können. Wenn er die ganze Welt in Worte fassen konnte, sollte es ihm doch auch möglich sein, die eigene Existenz direkt in Worte zu fassen. Wenn er das nicht konnte, worin lag dann der Sinn all der Runden, die sie gemeinsam drehten?