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Anja schlitterte den Hang hinab, der durch die Überbeanspruchung matschig geworden war. Er war bislang weder gepflastert oder auch nur mit Kies bestreut worden, weil Fin-Start nicht zugeben wollte, dass der Zustand des Pfades vernünftigerweise nicht länger als provisorisch bezeichnet werden konnte. Anstatt das Provisorium zu optimieren, um es während der nicht endenden Zwischenzeit funktionaler zu gestalten, wurde es ignoriert, wie zum Zeichen, dass etwas Besseres, etwas Großartiges – der bestmögliche Pfad – kommen würde.

Louis verglich diese Situation mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem. Die Weigerung, eine Nichtlösung mit einer Behelfslösung zu verbessern, sagte er, sei die Geisteshaltung, die einen Großteil der Welt zu einem schlammigen Hang machte, der der Instandsetzung bedurfte. Genau diese Argumentation hatte ihn tatsächlich während seines ersten Jahres bei Basquiatt viel Zeit gekostet, der NGO, für die er arbeitete und die seiner Meinung nach einem ideologischen Glauben an große Lösungen aufsaß, die niemals erreicht werden konnten, und zwar zum Nachteil von kleinen, praktisch anwendbaren Kompromissen. »Lasst uns realistisch sein!«, parodierte er sich häufig selbst. »Was können wir heute tun, um die Lage zu verbessern?«

»Was glaubst du, warum Flüchtlingslager nie mit einer anständigen Infrastruktur ausgestattet werden?«, hatte er Anja nur wenige Tage vor seiner überstürzten Abreise in die USA gefragt. Sie hatten im Regen ihre Einkauftaschen den Hang hochgeschleppt zu ihrer Wohnung, die Oberkörper stets gegen den Anstieg gestemmt, während ihre Turnschuhe im Matsch wegrutschten; es war jämmerlich.

»Schlammige Szenen der Verwahrlosung«, rief er ihr den Berg hinunter zu, fest entschlossen, die Diskussion aus irgendeinem Grund genau in diesem Moment zu führen. Je schlimmer die Dinge in ihrer Wohnung wurden, desto stärker neigte er zu Tiraden. »Der Schlamm soll ein Zeichen sein, dass die schlimme Situation nicht ewig andauern wird, egal, wie lange sie schon andauert. Sie wollen dich glauben lassen, das Lager gäbe es nur vorübergehend, damit niemand die Verantwortung dafür übernehmen muss.« Seine Stimme wurde lauter, je weiter sie zurückfiel. »Die Lebensqualität im Hier und Jetzt«, brüllte er über die Schulter, »wird dem Ideal geopfert. Verstehst du, was ich meine?«

Natürlich verstand sie, was er meinte. »Aber dir ist schon klar, dass du The Berg mit einem Flüchtlingslager vergleichst, oder?« Damit war die Diskussion beendet.

Heute trug sie nur einige Avocadoschalen in den Taschen ihres Vinyl-Anoraks. Die ganze Wohnung glich einer einzigen heißen, geschwollenen Beule, sie traute sich nicht, irgendwas in den Abguss zu stopfen. Sie winkte einer Gruppe Elektriker in Blaumännern zu, die gelangweilt um einen Pfeiler standen, der eines der Kabel der Seilbahn tragen sollte. Sie hatten die Gondel auf einen Stapel Holzpaletten gehievt. Einer der Arbeiter warf einen Zigarettenstummel auf das bloßliegende Ende eines halb im Matsch vergrabenen Kabels, und es stieß einen kläglichen Funken aus.

Als sie ihr Fahrrad von einem Pfahl am Fuß des Hangs losmachte, sah sie, dass Louis’ Rennrad noch immer an einen Baum angeschlossen dastand. Er musste die Bahn genommen haben. Sie steckte ihr Telefon in das Ladegerät auf der Lenkstange, und checkte ihre Nachrichten. Dam hatte bereits die ersten Wetternews des Tages verschickt: 35° trocken/Lavendel/schwülheiße Westböen.

Zum Vergleich blickte sie auf die Wetter-App ihres Telefons. Höchsttemperatur 24 Grad, windstill, wolkenlos. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Version und der von Dam – der richtigen Version – sollte sie längst nicht mehr stören, tat es aber. Sie steckte sich Ohrstöpsel in die Ohren und begab sich auf die lange Fahrt hoch in den Prenzlauer Berg, zu Howards Wohnung. Normalerweise benötigte sie dafür eine halbe Stunde, die Länge eines Podcasts, aber heute trat sie schwerfälliger als sonst in die Pedale, bei jedem Tritt schwang sie von einer Seite zur anderen. Sie war erschöpft, und wie von Dam vorhergesagt, kam aus Westen heißer Wind. Der Himmel war blass lila, mehrere Wolkenebenen lagen übereinander, jede von ihnen eine identische, verblasste Kopie der anderen. Ebene hinzufügen. Ebene hinzufügen. Diese Ebene duplizieren. Auf Hintergrundebene reduzieren.

Mit einem Teil ihres Hirns hörte sie den Podcast, mit dem anderen dachte sie darüber nach, was jetzt wohl gerade im Labor vonstatten ging. Sie war leicht angespannt, weil sie den Vormittag dort verpassen würde. Wahrscheinlich hätte sie Howard bitten sollen, sich abends nach der Arbeit zu treffen.

In der Woche zuvor hatte die Simulation, die sie und Michel seit Wochen programmierten, endlich die Kultivierung von Zellen autorisiert. Heute war der erste Tag seit zwei Monaten, an dem sie nicht vor ihren Bildschirmen sitzen mussten, sondern winzige Dinge mit ihren wirklichen Händen in wirkliche Polystyrenschalen legen würden. Es war seltsam, sich auf einen Vorgang zu freuen, von dem sie zweifelsfrei wussten, wie er ablaufen würde. Immer und immer wieder hatten sie in Hochauflösung gesehen, wie die Routine sich vollzog; die absolute Vorhersagbarkeit der Ereigniskette war der einzige Grund, warum sie die ganze Sache überhaupt in einer Schale geschehen lassen durften.

Vor ihrem inneren Auge sah sie die Animation. Eine Zellmembran schwoll an, um an ihrer Peripherie einen neuen Fleck unterzubringen – einen verrückten Moment lang ein Ei mit zwei Eigelb – dann drängte der neue Fleck nach außen, bis schließlich der Rand der Zelle aus seiner Begrenzung ausbrach, um ein neuer, eigener Rand zu werden. Er schlüpfte bemerkenswert weit davon und rülpste sich in seine eigene, geschlossene Form – aus unmöglich wurde möglich. »Plop« sagte Michel jedes Mal, wenn sie die Duplikation auf dem Bildschirm verfolgten. »Plop-plop-plop.«

Sie tröstete sich mit der Tatsache, dass heute nicht der wichtigste Tag war. Erst morgen würde sich aus all diesen langsamen Plops eine Oberfläche bilden, die für das bloße Auge sichtbar war. Die Plops waren so entwickelt worden, dass sie sich sehr langsam vollzogen – so wuchsen sie zu einem Strang greifbarer Materie. Die Oberfläche würde zunächst durchsichtig sein und sich im Verlauf der Stunden zu einer perfekt symmetrischen Doppelwelle formen, wie die Kontur eines Gaumens, aber unfassbar glatt. Und so klein – perfekt angepasst an die Rahmenbedingungen der flachen Schale mit ihren nur 88 Millimetern Durchmesser, an die simulierte Sitemap einer simulierten Unterkunft, an das für das Gebäude vorgesehene Terrain. Gegen Ende des zweiten Tages würden die sich duplizierenden Zellen ein zartes, kleines Heim gebaut haben, indem sie Schicht auf parametrische Schicht legten, bis alles stimmte: ein vollkommen kreisförmiges, doppelbögiges Dach. Dann würde es aufhören. Knorpelgewebe in der ersten offiziellen Anwendung als Architektur. Ein perfektes, wachstumsfähiges, reproduzierbares, haltbares Dach, das Fin-Start in Form eines kleinen Bündels Zellen, die auf Kommando wachsen würden, überall in die Welt verschicken konnte. Zellen, die ursprünglich in ihrem Labor bei RANDI herangezüchtet worden waren.

Sie konnte Michel schon vor sich sehen, wie er seine Aufregung zu unterdrücken versuchte. Sie würde ihn hänseln, ihn Dr. Evil nennen, doch wenn das Ding ausgewachsen war, würden sie sich beide ein paar Minuten lang dem Eigenlob hingeben. Diese Woche würde ein Ventil bieten für all die öden Monate, die sie damit zugebracht hatten, Variablen in riesige Datenblätter zu tippen und dabei so zu tun, als wäre ihnen ihre Arbeit scheißegal. (Andererseits würden sie einander mit einigen verlegenen Blicken eingestehen müssen, dass der Erfolg einen Wendepunkt darstellte, nun waren sie verantwortlich für das, was sie bei RANDI taten. Bisher hatten sie das Unbehagen hinter Sarkasmus und Augenrollen verbergen können, aber bald würden sie sich mehr Mühe geben müssen, Gleichgültigkeit vorzutäuschen und zu behaupten, sie wüssten nicht, wo all dies hinführte. Darüber wollte sie sich nächste Woche Gedanken machen, sobald sie die kleine Formübung durchgeführt hatten, ein Nachweis der Machbarkeit, der sicher nur ein kleiner Schritt in einem Vorgang war, der erst in Jahren zur Anwendung kommen würde.)

Die Ampel an der Jannowitzbrücke unterbrach ihr Strampeln und das imaginäre Zellwachstum. Ein Schwarm Teenager in roten Kappen überquerte die Straße, für einen kurzen Moment war sie von ihnen umgeben. Drei Mädchen, die ihre Kappen verkehrt herum trugen – oh, kläglicher Widerstand! – liefen dicht hintereinander her. Es war einfach, anhand der Geometrie dieser Herde sofort das beliebteste Mädchen an der Spitze des Rudels auszumachen. Was hatte dieses Mädchen an sich, fragte sich Anja, dieses etwas reizlose, mit seinem Telefon beschäftigte Mädchen, dass es den Mittelpunkt der Gruppe bildete, das Eigelb im Zentrum der Aufmerksamkeit? Wie lautete der Faktor des sich selbst erneuernden Algorithmus, jener auffallend konsistenten Geometrie der Beliebtheit? Und wie konnte es sein, dass Anja nach all den Jahren die Antwort immer noch nicht kannte, dass sie selbst als erwachsene Wissenschaftlerin die versteckte Logik sozialer Übereinkünfte nicht verstand? Die Ampel schaltete auf Gelb, und die Gruppe eilte an ihr vorbei, angetrieben von einer Aufsichtsperson in einem roten T-Shirt. Zur gleichen Zeit übernahmen laut Podcast, der nun wieder zu ihr durchdrang, Quallen die Ozeane. In dem viel zu warmen Wasser starben andere Arten aus und überließen den Quallen den Raum, sich weiter zu vermehren. Einer dicken Steppdecke gleich breiteten sich die Quallen unterhalb der Wasseroberfläche aus, verstopften die Getriebe von Kraftwerken und blockierten den Fluss von Sauerstoff in die Tiefen des Meeres.

Howard ließ sie zwei Minuten warten, beinahe lang genug, dass sie noch einmal geklingelt hätte, eher er ihr die Haustür öffnete und sie ins Gebäude einließ. Sie wusste, dass er sie durch die kleine Kamera an der Klingelanlage sehen konnte, und fragte sich, ob er sie in aller Ruhe gemustert hatte, bevor er den Knopf drückte. Sie schleppte ihren klebrigen Körper hinauf ins Obergeschoss, auf dem Treppenabsatz hielt sie inne, um die Haut unterhalb ihrer Augen mit einem Taschentuch abzuwischen. Ein großer Teil ihrer angeblich wasserfesten Mascara war verlaufen. Schwitzen verbrennt Kalorien, hätte ihre Schwester gesagt.

Howard öffnete die Wohnungstür und drückte einen Kuss auf ihre erhitzten Wangen. Sie bemerkte einen feuchten Film auf seinem Kopf – der Kopf schwitzte, das war etwas, was sie bisher nicht für möglich gehalten hatte. Aber natürlich schwitzte ein Glatzkopf genau wie jeder andere. Sie ermahnte sich, nicht zu starren – Männer mochten das nicht – doch hier handelte es sich ja um Howard; er war seiner selbst sicher. Er war schon sehr früh kahl geworden und trug seine Glatze ohne all die Ängste jener Männer, denen das erst später im Leben widerfährt, er brachte sie nicht mit schwindender Männlichkeit oder irgendetwas anderem in Zusammenhang.

So handhabte er fast all seine besonderen Merkmale, als wären sie nebensächlich und mitnichten bemerkenswert. Wie etwa die Tatsache, dass er die einzige Schwarze Person in den oberen Rängen von Fin-Start in Deutschland war, was er nie thematisierte. Theoretisch arbeitete er in der PR-Abteilung von Fin-Start, aber Anja hatte im Laufe der Zeit verstanden, dass die Art von sanfter Macht, die er über die Jahre erlangt hatte, viel gewichtiger war, als sein offizieller Titel es erahnen ließ. Er würde nie nach London zurückziehen, so viel war klar. Er saß hier fest im Sattel. Sein tadelloses Deutsch konnte schneidend sein wie Papier.

Howard führte Anja den Flur entlang am Wohnzimmer vorbei, einem 50er-Jahre Wald aus Teakholz und Mahagoni, in die enge Küche, wo sie immer saßen. Möglichst weit weg vom Bett.

»Nur Wasser, danke«, sagte sie, als er ihr einen Becher anbot.

»Detox?«

»Ein bisschen hibbelig. Ich brauche kein Koffein.«

»Viel zu tun im Labor?«

»Ja, tatsächlich. Beziehungsweise kommt das jetzt auf uns zu. Diese Woche ist eine große Nummer.« Dabei umrahmte sie ›große Nummer‹ mit Anführungszeichen.

Ohne zu fragen, kippte er ein Päckchen Elektrolyte in ein Glas mit Wasser und reichte es ihr samt einem Löffel zum Umrühren.

»Dann ist das ja gutes Timing. Ich habe große Neuigkeiten«, wobei nun er ›große Neuigkeiten‹ mit Anführungszeichen umrahmte. »Wahrscheinlich weißt du es schon, aber Fin-Start strukturiert einige Abteilungen von RANDI um.« Sie schwieg, dann kapitulierte sie und gab mit leichtem Kopfschütteln zu, dass sie es noch nicht wusste. »Oh«, sagte er. »Naja, nun weißt du es. Sie streichen nicht den ganzen Bereich oder so, aber sie führen viele Teilabschnitte zusammen. Der Großteil von Legierungen fließt in den Allgemeinen Zukunftsbereich ein, und der Knorpelsektor geht zurück zu Biologisch abbaubare Materialen, wo er wahrscheinlich von Anfang an hätte bleiben sollen.«

Ihr Herz stockte für einen Augenblick. »Zurück zu Bioabbaubar? Da war ich vorher, erinnerst du dich, aber dann haben wir alle beschlossen, dass Knorpelgewebe eine eigene Abteilung werden sollte, weil wir aufbauen und nicht abbauen.«

»Richtig. Deine Spezialmission, du hast uns damit in den Ohren gelegen. Aber nun ist deine Mission erfüllt. Voilà.«

Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum und fummelte an den Ohrstöpseln in ihrer Tasche. Ear buds, dachte sie: Ohrknospen. Winzige Klumpen Knorpelgewebe, aus denen Ohren sprießen würden.

»Eigentlich ist es aber noch gar nicht fertig«, sagte sie langsam. »Wir haben das Ding, das wir machen sollen, noch nicht wirklich im Labor wachsen lassen.«

»Von der Wissenschaft dahinter verstehe ich nichts«, sagte er und lachte, »aber nimm es als fettes Lob von ganz oben. Scheinbar denken die, du hättest das, was du dir vorgenommen hast, erfüllt.«

»Wir kehren also dahin zurück, wo wir herkamen. Kompost.«

»Nein. Das ist die Sache. Ich weiß nicht, was mit dem Typen ist, mit dem du zusammengearbeitet hast, aber dich entlassen sie in die Freiheit.«

»In die Freiheit? Bin ich gefeuert?«

»Warum erwartest du immer das Schlimmste?« Er machte eine dramatische Pause. »Vielmehr haben sie dich direkt zur Beraterin befördert. Laboratory Knowledge Management Consultant nennen sie das, glaube ich.«

Sie schüttelte den Kopf. Das ergab alles keinen Sinn. »Nein, Howard. Ich bin nur eine Labortechnikerin. Ich habe nichts getan, womit ich sie beraten könnte.« Beraterin war kein Titel, den sie jemals für sich vorgesehen hatte, weder in der Gegenwart noch in der Zukunft. Louis war der Berater, nicht sie.

Er schien ihre Gedanken lesen zu können. »Oh, aber Louis, der hat das? Du weißt schon, dass man keine Erfahrung in der Beratung haben muss, um Berater zu werden.«

Sie biss zurück. »Louis ist für seinen Job tatsächlich höchstqualifiziert.«

Howard hob die Hände in gespielter Verteidigung. »Ich habe ja nicht behauptet, dass er das nicht ist. Ich sage nur, dass die Qualifikation nicht das ist, wofür du sie hältst. Die Qualifikation besteht darin, dass die da oben entscheiden, du kannst das.«

Sie kaute nun heftiger auf ihrer Wange herum. »Was macht ein Knowledge Manager?«

»Was immer du willst. Du erhältst eine Gehaltserhöhung und darfst von nun an allen sagen, was sie machen sollen. Setz sie unter Druck, wenn sie nicht schnell genug arbeiten. Fordere Überprüfungen an, führe Personalgespräche, schlag Umstrukturierungen vor, wenn du glaubst, dass es nötig ist. Du kennst den Drill.«

»Wie lange?«

»Weiß nicht. Vermutlich erst mal für ein Jahr.«

»Aber warum sollten sie mir meinen Job wegnehmen, nur um mich dann fürs Nichtstun zu bezahlen?«

Er hob die Hände. »So funktionieren Unternehmen. Du bist eine gewisse Zeit dabei, dann steigst du auf, wenn du Glück hast. Warum so viele Fragen?«

Sie schwenkte ihr Glas mit Elektrolyten in der Hand, ohne davon zu trinken. »Eine Frage habe ich noch: Seit wann bist du mein Boss? Das alles sollte mir jemand aus der Personalabteilung mitteilen.«

Er zuckte unschuldig mit den Schultern. »Ich habe heute Morgen mit der Personalabteilung telefoniert, habe erwähnt, dass du vorbeikommen würdest, und da meinten sie, ich soll es dir ruhig schon sagen. Du kannst sie gerne anrufen, wenn du mir nicht glaubst.«

Natürlich war Howard schon seit langem in ihren Job bei RANDI, in ihr Zuhause – in einfach alles – am Rande verwickelt. Fin-Start hatte mit all dem zu tun und ab einem gewissen Zeitpunkt war Howard zu ihrer Hauptschnittstelle zu Fin-Starts Backend geworden. Howard wusste Dinge, Howard war die Cloud, das war seine Daseinsberechtigung. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, konnte es nicht überraschen, dass Howard ihr diese Informationen übermittelte. Nichts änderte sich zwischen ihnen, im Grunde genommen. Aber sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Neuigkeiten, die er ihr soeben überbracht hatte, übergriffiger waren als einige der anderen Methoden, die er gefunden hatte, um sich in ihr Leben einzumischen.

»Bin ich zu unsensibel in dieser Angelegenheit?«, fragte Howard. »Du wirkst irgendwie so verhalten.«

»Ich muss darüber nachdenken.«

»Sei kein Mädchen.« Er lächelte. »Steh deinen Mann. Nimm, was dir zusteht.«

»Ich liebe es, wenn Männer mir sagen, ich soll meinen Mann stehen.«

»Ich versuche nur, dein Selbstbewusstsein zu stärken. Aber nimm dir ruhig Zeit. Die werden dir einen Vertragsentwurf zur Ansicht per E-Mail schicken. Das ist alles, was ich weiß.«

»Danke.« Sie versuchte, aufrichtig zu klingen. Schuld, Dankbarkeit: Die beiden waren immer Zwillinge. Es war an der Zeit, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Wenn Howard sich dumm stellte, war nicht zu ihm durchzudringen.

»Meinst du, sie ziehen mich auch zur Beratung hinsichtlich meines eigenen Hauses heran?«, fragte sie. »Der Berg könnte eine Wissenschaftlerin gebrauchen.«

Howard lachte. »Das bezweifele ich. Der Berg ist sein ganz eigenes Monster. Wie läuft es zuhause? Ich vermute, darüber wolltest du eigentlich reden.«

Sie stellte fest, dass sie keinen wirklichen Grund hatte, hier zu sein, ebenso wenig wie Howard einen hatte, derjenige zu sein, der sie feuerte und neu anstellte. Weder die technischen Probleme zuhause noch ihr Job hatten offiziell mit ihm zu tun. In Wirklichkeit war sie wegen Howard selbst und seiner besonderen Mischung aus Zuneigung, Anerkennung und Autorität hier. Er würde ihren Beschwerden nachgehen, wie er es immer tat, im Gegenzug dafür erhielt er das Gefühl, dass sie auf ihn angewiesen war. Er mochte es, gebraucht zu werden, und sie bot eine Auswahl an Bedürfnissen.

»Ich wollte nur fragen, ob du irgendeine … Ahnung hast, was auf dem Berg los ist«, sagte sie. »Die Temperatur und alles andere ist völlig unberechenbar. Sämtliche Türen sind zugeschwollen. Die Leute beschweren sich bestimmt schon.«

»Nicht so häufig wie ihr beide«, sagte er und lächelte. »Hast du mal mit den Nachbarn gesprochen?«

»Mit ein paar.«

Das war eine Lüge. Anja und Louis redeten nie mit den Nachbarn. Am Anfang hatte Anja einige Nachmittage mit einem dänischen Paar mittleren Alters verbracht, beide Berater, aber die zwei waren vor Monaten in Urlaub gefahren und nie zurückgekehrt. Wenn sie es sich recht überlegte, standen mindestens drei der Häuser die meiste Zeit leer. Eines davon war zeitweise als Studio für irgendwelche Fotoshootings genutzt worden.

»Ich weiß, ihr beiden mögt das ganze Gemeinschaftsgetue nicht, aber ihr könntet ein bisschen aufgeschlossener sein.«

Ihr Telefon vibrierte in ihrer Tasche und sie warf unter dem Tisch einen Blick darauf. Louis: beileidshighlight: blumen auf meinem schreibtisch. rührender bestechungsversuch :)

Sie steckte das Telefon zwischen ihre Oberschenkel und sah auf. »Es war nie die Rede davon, dass wir in einer Kommune leben wollen.«

»Stimmt. Ich meine ja nur, das Ganze lässt sich leichter handhaben, wenn ihr miteinander redet. Jeder da oben muss mit den gleichen Problemen klarkommen. Erneuerbare Energien sind nicht narrensicher; die funktionieren nicht wie ein Uhrwerk. Das weißt du. Die Risiken stehen in eurem Vertrag.«

»Ich weiß. Tut mir leid, dass ich durchgedreht bin. Es ist nur, dass« – Kippmoment, innerer Schwindel – »wir sind gerade ziemlich gestresst.« Mit dem ›wir‹ hatte sie Louis in die Unterhaltung geholt, und der wahre Grund, warum sie hier war, kam zum Vorschein. Sie reichte Howard ihr Bedürfnis auf einem silbernen Tablett.

Wenigstens hatte sie eine Pointe, eine Bombe, die sie explodieren lassen konnte: den Tod von Louis’ Mutter. Wie schlimm das klang, wie unverhandelbar.

Doch Howard nickte bereits wissend. »Ich wollte mich nicht aufdrängen«, sagte er, »aber ich habe von Louis’ Mutter gehört, und es tut mir aufrichtig leid. Das ist wirklich schrecklich.«

Das war der schlimmste Schock an diesem Morgen – ein übergriffiger, vielschichtiger Schock. Sie hatte gedacht, es sei an ihr, von dem Todesfall zu erzählen. Erst jetzt, da ihr dieses Recht geraubt worden war, erkannte sie, wie sehr sie sich selbst an die Neuigkeit geklammert hatte. Mehrfach hatte sie sich ausgemalt, wie sie Howard die Neuigkeit feierlich mitteilen würde: Statt ›tot‹ würde sie ›verstorben‹ sagen und ihre Tränen dabei wegblinzeln. Sie erinnerte sich an den finsteren Nervenkitzel, als sie diese Worte ihren Eltern und jenen Freunden gegenüber ausgesprochen hatte, die »ein Recht darauf hatten, es zu erfahren«, an die Gewissheit, diejenige zu sein, der die Verbreitung dieser privilegierten Information anvertraut worden war.

Es vor allen anderen zu wissen, es als Erste erfahren zu haben, hatte irgendetwas bewiesen. Die Zerbrechlichkeit des Beweises, der nun auseinanderfiel, brachte die Kleinlichkeit ihres Bedürfnisses zum Vorschein.

»Wie hast du davon erfahren?«, fragte sie, und noch bevor sie die Frage ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie dumm war. Louis war zwei Wochen fort gewesen. Angelegenheiten wie diese waren nie ein Geheimnis. Der Tod entfaltete privaten Schmerz ins Offene.

»Ich war letzte Woche wegen einer Beratungssache bei Basquiatt drüben«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich wollte schon früher mein Beileid aussprechen, aber wie gesagt, ich wollte nicht stören.« Natürlich wollte er stören. »Wie geht es ihm?«

»Ich weiß nicht. Ihm geht’s gut.«

»Das muss hart sein.«

»Ich weiß nicht, was er von mir erwartet.«

»Du musst einfach nur für ihn da sein.«

»Das sagen alle. Aber wo soll ich sein? Wo ist da?«

»Du weißt doch, was das bedeutet. Es heißt, präsent und aufmerksam zu sein. Er will wahrscheinlich nur zur Normalität zurückkehren.«

»Das kommt mir aber irgendwie so beschissen vor.« Sie schüttelte den Kopf. »Normal erscheint grausam in dieser Situation.«

»Vielleicht muss er verdrängen.«

»Alle wollen verdrängen! Was noch lange nicht heißt, dass das gut ist.«

»Du kannst von niemandem erwarten, dass er die ganze Zeit leidet. Er muss die unterschiedlichen Bereiche seines Lebens getrennt halten, wenn er einen Todesfall überleben will.«

»Einen Todesfall überleben«, wiederholte sie, und erinnerte sich daran, dass Howards Vater vor langer Zeit gestorben war. Sie hatten nie wirklich darüber geredet. Sie überlegte, die Unterhaltung herumzudrehen, und über Howard zu sprechen. Es würde nicht funktionieren.

»Es lässt sich nicht vorhersagen, was passieren wird, oder was er brauchen wird«, sagte Howard mit beruhigender Stimme. »Sei einfach geduldig. Die Wege des Traumas sind unergründlich.«

»Aber gibt es nicht auch universelle Dinge? Es ist ganz einfach kategorisch schlecht, wenn ein Elternteil stirbt. Selbst wenn du ambivalente Gefühle ihnen gegenüber hegst, oder sie hasst, ist es im Großen und Ganzen schlimm, wenn sie sterben.«

»Vielleicht ist es nicht für jeden gleich schlimm.«

»Wenn meine Eltern sterben würden, wollte ich, dass alle um mich herum durchdrehen, Kram verbrennen und alles zerstören.«

»Aber es ist nicht dir passiert. Es ist ihm passiert.«

Sie holte tief Luft und öffnete sich ihm völlig. »Ich weiß, dass ich nicht meine Gefühle auf ihn projizieren sollte, aber ich will nicht ahnungslos abwarten, nur damit er dann plötzlich ausrastet.«

»Vielleicht rastet er gar nicht aus. Manche Leute nehmen das Leben eben leichter.«

»Glaubst du das wirklich? Aus dir spricht das pure Privileg.«

Er zeichnete mit seinem Finger einen Kreis um sein Gesicht. Sieh mich an. Eine Minderheit.

»Ach, komm schon. Du weißt, was es heißt, privilegiert zu sein.« Sie ahmte seine Geste nach, zeichnete einen größeren Kreis in die Luft, der die renovierte Altbauküche mit dem blauen Keramikwaschbecken und der Edelstahlwaschmaschine einschloss.

»Ich will damit nur sagen, dass Louis eine eher unkomplizierte Person ist.« Die nicht gerade subtilen Sticheleien gegen Louis nahmen zu. Sie ignorierte sie. Sie hatte um Rat gebeten; sie musste das, was mit dem Ratschlag einherging, schlucken. »Du neigst dazu, dich zu sehr in das Leben von Menschen einzubringen, die dir etwas bedeuten«, sagte er. »Das ist zwar sehr liebenswert und vorbildlich, aber nicht immer gut für dich. Setzen Sie zuerst Ihre eigene Sauerstoffmaske auf.«

»In Ordnung. Das ist genug väterlicher Rat für heute.«

»Ich klinge nur wegen meines britischen Akzents so herablassend.«

»Das sagst du immer.« Sie lächelten einander an, und dann fragte sie: »Und wie läuft es mit – deinen Sachen? Hast du irgendwelche Sorgen?« Das übliche, unaufrichtige Angebot. Sie kannten beide die Dynamik, die zwischen ihnen herrschte. Sie war unausgeglichen, aber stabil. Alles, was sie über ihn wusste, war, dass er viel über sie wusste.

Er lehnte sich ihr leicht entgegen, eine kaum wahrnehmbare Geste, der kein Außenstehender Bedeutung beimessen würde, die aber eine umso intimere Botschaft übermittelte, weil sie so verkümmert war.

»Wenn du schon fragst, wir stecken momentan in einer kleinen PR-Krise«, sagte er.

»Ach ja?«

»Unter uns.«

»Okay.«

»Nicht einmal Louis geht das etwas an.«

»Ich hab’s verstanden.«

»Um ganz ehrlich zu sein«, sagte er und legte seine Fingerspitzen auf den Tisch, so dass die Hände kleine Zelte bildeten, »die Probleme mit The Berg sind nicht bloß technischer Natur.« Sie sah ihn ausdruckslos an, einen Moment besorgt, dass sie über ihre Schummelei mit dem Müll Bescheid wussten. Niemand beobachtet uns, rief sie sich in Erinnerung. Nur die stille, sich drehende Linse der Kameras. »Es ist zu internen Machtkämpfen zwischen den Architekten und den Ingenieuren gekommen, sogar die PR-Abteilung war involviert. Wegen der Unstimmigkeiten steht momentan alles still.«

»Unstimmigkeiten in Bezug auf was?«

»Sie haben sich nie offiziell darüber geeinigt, wie viel Technik es tatsächlich auf dem Berg geben soll. Einige der Architekten sind der Meinung, ihr solltet es nicht ganz so gemütlich haben. Die finden es zum Beispiel nicht sehr authentisch, dass ihr Klimaanlagen habt.«

»Aber das System zur Regulierung des Klimas hängt am zentralen Stromnetz. Das ist eintausend Prozent CO2-neutral. Das schadet der Umwelt gar nicht.«

»Ganz offensichtlich. Ich bin auf eurer Seite. Es ist immer eine willkürliche Entscheidung, was natürlich genannt wird, und was künstlich. Diese Entscheidungen sind alle symbolisch, und jede von ihnen repräsentiert eine politische Stellungnahme.«

»Aber wenn irgendjemand entscheidet, dass unsere Klimaanlage und unsere Heizung unnatürlich sind, was kommt dann als nächstes? Dann findet irgendjemand, dass sauberes Wasser fake ist, und dann findet jemand, dass auch LEDs fake sind, und dann sagt jemand, wir dürften nichts essen, was wir nicht selbst anbauen. Wer entscheidet diese Angelegenheiten eigentlich?«

»Das ist sozusagen das andere Problem. Eine Gruppe von Architekten hat gekündigt. Sie waren verärgert, dass ihre Pläne wie Vorschläge behandelt wurden und nicht wie verbindliche Vorgaben.«

»Und keiner weiß davon.«

»Daher der PR-Aspekt. Ich habe alle Hände voll zu tun, da ’nen Deckel draufzuhalten. Wir wollen nicht, dass die Leute durchdrehen.«

»Es scheint dir egal zu sein, ob ich durchdrehe.«

»Ich glaube, du kannst damit umgehen.«

»Kann ich auch. Aber was sollen wir tun? Wir können nicht ewig in diesem Haus sitzen und abwarten. Immerhin hast du uns da reingeholt?«

»Nur Geduld. Sobald die da oben ihre Entscheidungen getroffen haben, sind die Lösungen einfach. Um die Heizung zu reparieren, müssen sie, glaube ich, nur ein paar durchgetrennte Kabel wieder mit dem Herzstück verbinden, oder wie sie es auch immer nennen, dieses ZPE-Ding.«

»Du hast wirklich keine Ahnung von der Technik.«

»Nicht die geringste. Ich halte mich an die Politik. Ich meine PR.«

Ihre Schwester hatte sie damals überzeugt, die Geschichte mit Howard zu beenden. »Er projiziert irgendeine Fantasie auf dich«, hatte Eva gesagt. »Wie alt ist er, fünfundvierzig? Er will jemand ewig Junges. Er glaubt, du fändest es okay, das Mädchen für nebenbei zu sein. Er wird sich nie wirklich für dich entscheiden.«

Anja hatte nie erwartet, dass Howard sich für sie entschied – tatsächlich wollte sie ganz genau das nicht –, aber die Vorstellung, von irgendjemandem als das »Mädchen für nebenbei« wahrgenommen zu werden (neben was eigentlich?), war schlimm genug, dass sie sich überzeugen ließ, Schluss zu machen. Da sie sich nicht in der Lage fühlte, aus sich heraus die Verbindung zu kappen, gelang es ihr, sich einzubilden, dass er sie zurückwies, und damit begab sie sich hinab in den Tunnel körperdysmorpher Störungen. Sie machte sich selbst glauben, Howard befände sich auf der Suche nach irgendeinem Idealbild mädchenhafter Perfektion und jede kleine Unebenheit disqualifiziere sie. Es konnte nicht sein, dass sie an ihm romantisch gesehen vielleicht gar nicht so sehr interessiert war; nein, das war keine Option; er war eine einflussreiche Person; die Erklärung konnte nur lauten, dass sie inadäquat war.

Sie gab sich Selbstzweifeln hin, verdeckte in seiner Gegenwart ihre Arme, ihre Waden, ihre Brüste, wurde sprunghaft, und sorgte für immer peinlichere Szenen. Am Tiefpunkt ihrer Beziehung beschuldigte sie ihn, beim Sex immer nach ihren fettesten Körperpartien zu greifen. Er sagte: »Selbstverständlich, die mag ich am liebsten«, und das war dann das Ende.

Louis hingegen wurde von Eva akzeptiert. »Ich hab ein Bild von ihm im Internet gefunden«, sagte sie. »Der ist heiß. Siehst du, es hat nur einen Monat gedauert, bis du einen Besseren gefunden hast. Du solltest eine höhere Meinung von dir selbst haben.«

Anja beschloss, in diesen Angelegenheiten nicht mehr auf Eva zu hören. Sie hatte das schon oft beschlossen und war immer wieder eingeknickt, doch bei Louis gelang es ihr endlich, Eva nicht immer weiter mit Details zu füttern; Louis sollte ein heiliger Raum bleiben, frei von bohrenden Fragen. »Du musst es ernst mit ihm meinen«, hatte Eva gesagt. »Ich höre keinen Mucks von dir. Nutzt er dich aus? Ich habe gerade erst online einen Artikel gelesen, da ging es um dieses Mansplaining.«

So konnte sie nicht Evas schlechten Ratschlägen die Schuld geben, als sie und Louis nach nur wenigen Monaten in eine Krise gerieten. Es lag an ihrer Wohnsituation – an der wiederum Anja die Schuld trug. Der Schrebergarten, in dem sie illegal lebten, sollte abgerissen werden und sie hatten keine Ahnung, wohin. Sobald irgendwo tief im Inneren des Ordnungsamtes das betreffende Papier den betreffenden Stempel erhalten hatte, sollte die gesamte jahrhundertalte Schrebergarten-Kolonie zugunsten eines Apartment-Komplexes plattgemacht werden. Man konnte den Verlust des geschichtsträchtigen Erbes beklagen, noch lauter ließ sich jedoch über den Mangel an erschwinglichem Wohnraum klagen, und so war der Bau der Wohnanlage ohne großen Protest beschlossen worden.

Ihr Schrebergarten lag gerade noch innerhalb des S-Bahn-Rings, der die Grenze jenes Teils der Stadt markierte, in dem sich komfortabel leben ließ. Vor langer Zeit waren die Tausenden von Gartenparzellen als urbane Zufluchtsorte geschaffen worden, über die Stadt verteilte Naturstücke, in denen ausgelassene Kinder frei herumtollen konnten. Doch als während des Ersten Weltkriegs Nahrungsmittel plötzlich knapp wurden, verwandelte man die kleinen Gärten rasch in urbane Bauernhöfe, was einer Urbewegung des nachhaltigen Lebens gleichkam. Später, als der Krieg vorbei war, die Embargos gelockert wurden und die vom Elend erschütterte Stadt kurzzeitig sich selbst überlassen war, richteten sich die Ärmsten der Ärmsten in den Gärten ein. Hütten wurden zu Heimen, aus hausen wurde wohnen. Doch bevor es sich irgendjemand zu gemütlich machen konnte, leerte der nächste Krieg die Gärten ein weiteres Mal, überließ sie dem Wildwuchs, und zum ersten Mal in vielleicht tausend Jahren übernahm wieder die Natur.

In der nächsten Nachkriegszeit, der Ära der großen Teilung, wurden einige Gärten in der Mitte durchgeschnitten und entwickelten sich zu Portalen des Schmuggels unter dem wuchernden Grün. Schließlich fiel die Mauer, oder besser gesagt, die Mauer wurde von Tausenden von Händen und Maschinen niedergerissen, und wieder einmal verwandelte sich die Stadt in eine riesige Fläche von leeren Immobilien; die Gärten wurden wieder parzelliert und in Naherholungsgebiete fürs Wochenende umfunktioniert; die Vorfahren von Menschen wie Anja und Louis begannen aufzukreuzen. So wurde jeder winzige Garten mitsamt all seinem historischen Gepäck ein Stückchen Privatbesitz zu Freizeitzwecken. Die ganze Sache, das heißt, die ganze Stadt, bewegte sich im Kreis, die Geschichte drehte und verwickelte sich wie ein Haarknäuel im Abfluss.

Zu dem Zeitpunkt, als Anja in der Stadt ankam, waren die Mieten innerhalb des S-Bahn-Rings höher denn je und alle zentral gelegenen Schrebergärten bereits renoviert und vergeben. Nicht übersaniert wie die meisten Wohnblöcke in der Stadt, vielmehr nutzte man ihren Miniaturcharme, um sie in winzige, überteuerte Mieteinheiten zu verwandeln, die Städtern eine »Ausflugserfahrung« bieten sollten. Nur einige entlegenere Gärten jenseits der Peripherie waren immer noch verwahrlost und nicht reguliert. Anja hatte ihren Garten auf einem langen Wochenendspaziergang Richtung Süden entdeckt. Fernab von allen Bahnhöfen stieß sie auf die umzäunte Anlage aus zwölf kleinen Häusern, die durch zottelige Hecken voneinander getrennt waren und zusammen nur etwa den Platz von zwei Häuserblöcken einnahm. Die meisten dieser Hütten waren besetzt, doch drei standen leer, und eine davon hatte sogar ein anständiges Dach. Nachdem sie ein paar Mal zurückgekehrt war und herumgeschnüffelt hatte, fand sie die Frau, die die Verwaltung zu improvisieren schien, und zahlte bei ihr in bar für sechs Monate im Voraus.

Nachdem die sechs Monate um waren, mittlerweile war Louis bei ihr eingezogen, konnten sie zu keiner Entscheidung gelangen, was sie nun tun sollten. Sie waren sich einig, dass die Hütte immer unbewohnbarer wurde, der Zustand des Daches verschlechterte sich von Tag zu Tag, doch eine richtige Wohnung zu finden und zu bezahlen schien unmöglich. Strenggenommen noch immer nur als Praktikantin bei RANDI angestellt, verdiente Anja zu dieser Zeit lächerlich wenig Geld, und wollte weder ihren Fonds anzapfen noch zulassen, dass Louis den Großteil der Miete für eine neue Wohnung alleine zahlte. Louis war es egal, ob er dafür zahlen musste (mit seinem aufgeblasenen Gehalt bei Basquiatt hätte er leicht die Miete für eine neue Wohnung stemmen können), er wollte einfach nur raus aus dem feuchten, zerfallenden, dem Untergang geweihten Gartenhaus. Anja bestand jedoch darauf, dass ihn zahlen zu lassen eine ungesunde Abhängigkeit schaffen würde. Sie konnten sich nicht darauf einigen, wie der nächste Schritt aussehen sollte und bewegten sich am Abgrund einer Trennung entlang.

Das sechsseitige Einladungsschreiben, dem neuen sozio-ökologischen Wohnexperiment beizutreten, tauchte wie aus dem Nichts in ihrem Postschließfach auf. Es war in komplexem, bürokratischem Deutsch verfasst, das Louis, bevor Anja nach Hause kam, mittels Google zu übersetzen versucht hatte, was ihn, da er glaubte, es handele sich um einen Räumungsbescheid, in Panik versetzt hatte. Anja überflog die erste Seite und wusste sofort, wer für dieses Schreiben verantwortlich war.

(Howard war sich des maroden Zustands der Gartenhütte sehr genau bewusst, da er selbst ein paar Mal dort übernachtet hatte, in der Zeit vor Louis. Die Schäbigkeit hatte ihm gefallen, war sie doch ein handfester Beweis dafür, dass er Sex mit einer Sechsundzwanzigjährigen hatte. Mit ihr auf der Matratze am Boden zu liegen, hatte ihm das Gefühl gegeben, sehr weltoffen zu sein.)

Der Brief war eine protzige Demonstration seiner Großmut, deren Ausmaß allein die Geschichte mit Anja unbedeutend erscheinen ließ, und prahlte gleichzeitig mit seinem Einfluss – wie viele soziale und professionelle Hebel musste er in Bewegung gesetzt haben, um dieses Kunststück zu vollbringen? Sie verstand den Subtext nur zu gut. Howard war ein reifer Mann, der keinen Groll hegte. Er hatte ihr nicht nur eine kostenlose Wohnung zuteilwerden lassen, die aufgeladen war mit kulturellem und moralischem Kapital, sondern einen Ort, an dem sie beide leben konnten: Anja plus Louis, der Typ, der ihn ersetzt hatte. Hatte Anja etwa kleingeistige Eifersucht und Rachsucht von ihm erwartet?

Sie hatte gezögert, das Angebot anzunehmen, aber Louis hatte sich entschlossen gezeigt. Die Ökosiedlung war zu gut, als dass sie hätten Nein sagen können, ganz egal, wie die Sache zustande gekommen war. Eifersucht war kein Thema für ihn, und alles in allem, hatte Anja entschieden, war sie dankbar dafür.

Oval

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