Читать книгу Unsere Zukunft auf deiner Haut - E.M. Lindsey - Страница 8
Kapitel 3
Оглавление»Sie wissen, wie leid mir das tut, Sam. Ich wollte nicht, dass das passiert.« Beths Stimme klang beschämt und entschuldigend, denn sie wusste verdammt genau, was passieren würde, wenn sie den Bericht ihrer Inspektion an ihren Chef übergab. Der gleiche verfluchte Mist wie jedes Mal, seit er den Adoptionsprozess begonnen hatte. »Es sollte wirklich nicht lange dauern.«
Er warf ihr einen unbeeindruckten Blick zu, als sie sich auf sein Sofa setzte und die Hände sittsam im Schoß faltete. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein frisch gewaschenes Haar und ließ seine Hände dann zu den Rädern seines Rollstuhls wandern. »Was soll's.«
»Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Das ist in dieser Situation nicht hilfreich.«
»Sie und ich, wir wissen beide, wie das endet«, sagte er ein bisschen zu harsch zu ihr, aber er fühlte sich innerlich zerschlagen. Es würde darauf hinauslaufen, dass ihm ein Richter sein kleines Mädchen aus den Armen riss und sie Fremden gab, und das wäre das Ende. Er hatte noch nicht mal ein Kind gewollt, verdammt. Als man sie als Neugeborenes von seiner drogenabhängigen Cousine weggeholt hatte ‒ die das Krankenhaus verlassen und sich nie die Mühe gemacht hatte zurückzublicken ‒, hatte er nichts davon gewusst. Zum Teufel, er hatte nicht einmal gewusst, dass das Baby überhaupt existierte. Der Anruf bei ihm war ein letzter Versuch gewesen, einen Verwandten zu finden, bevor man das Baby zur Adoption freigegeben hätte.
Sam hatte die Sachbearbeiterin an diesem Tag am Telefon beinahe ausgelacht, aber er war höflich gewesen und hatte gesagt, er würde ein paar Anrufe tätigen und sehen, was er tun konnte. Er wusste, dass er nicht geeignet war, Vater zu sein. Er bekam sein eigenes Leben ja schon kaum auf die Reihe, verdammt, und damit hatte seine Lähmung nichts zu tun. Es war die Tatsache, dass seine Arbeitszeiten nicht gerade mit der Erziehung eines Kindes vereinbar waren und er in einem Tattooladen arbeitete, um Himmels willen. Es war nicht so, als hätten sie im Studio eine angegliederte Kindertagesstätte. Und zum Teufel, er hatte noch nie ein Kind im Arm gehalten, geschweige denn die Verantwortung dafür getragen, dass es am Leben blieb.
Doch die Vorstellung, dass sie von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben wurde, dass jeder – einfach jeder ‒ sie sich schnappen und für sich beanspruchen konnte, ohne beweisen zu müssen, dass er würdig war? Diese Vorstellung ging ihm unter die Haut und ließ ihn nicht in Ruhe.
Irgendwie fand er sich auf der eintausendfünfhundert Kilometer langen Fahrt nach Norden zu einem kleinen Vorort wieder, wo ein Haus mit drei Schlafzimmern stand, in dem sechs Pflegekinder, eine überforderte Mutter und ein Vater lebten, der nach der Arbeit lieber sein Bier genoss, statt sich hin und wieder um den Abwasch zu kümmern. Die Mutter hatte ihr Bestes gegeben, aber sie war überarbeitet und Sam wusste, dass er Maisy nicht dort lassen würde.
Das Mädchen war ausgehungert nach Liebe und Aufmerksamkeit, denn es war einfacher, sie in ein klappriges altes Kinderbett zu legen und sie schreien zu lassen, als ihr zu geben, was sie brauchte. Sie klammerte sich an ihn, als wäre es das erste Mal, dass jemand sie im Arm hielt, und damit war die Entscheidung gefallen. Sie hatte ihm das Herz rausgerissen und hielt es in ihren pummeligen, kleinen Händen.
Der Papierkram zog sich ewig hin und es hatte ihn ein Vermögen gekostet, für vier Monate eine schreckliche Wohnung zu mieten, denn so lange hatte es gedauert, eine Bestätigung zu bekommen, damit er sie aufnehmen konnte. Wenn die Jungs im Laden nicht zusammengelegt hätten, um ihm genug Geld zu schicken, damit er über die Runden kam, hätte er es nicht geschafft. Aber irgendwann war es überstanden und er fuhr mit ihr auf dem Rücksitz seines Autos nach Hause. Sie war auf der Fahrt dorthin beunruhigend brav gewesen und hatte sich in jedem Motelzimmer wie ein Engel verhalten.
Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass die Hölle losbrach, sobald er mit ihr durch seine Haustür trat. Sie weinte zwei Wochen lang ohne Unterlass, und er bekam insgesamt vielleicht neun Stunden Schlaf. Aber letzten Endes rauften sie sich zusammen und eines Morgens wachte er mit ihr neben sich auf und ihre kleine Hand lag an seiner Wange. Sie schenkte ihm mit ihren lediglich vier Schneidezähnen ein fast zahnloses Lächeln, gab ihm einen Klaps auf die Wange und sagte: »Dadadada.« In diesem Moment wusste er, dass er buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug um sie kämpfen würde, denn sie gehörte zu ihm.
»Ich gebe nicht auf«, versicherte er Beth schließlich und fuhr mit seinem Rollstuhl in die Küche, um seine Schlüssel und seinen Geldbeutel zu holen. »Als ich sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht habe, habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sie mir nur über meine Leiche wieder wegnehmen können, und das war mein Ernst. Aber ich bin diesen Kampf einfach leid. Was auch immer Sie für Vorurteile gegen mich haben, weil ich tätowiert bin und meine Beine nicht funktionieren, Sie und ich, wir beide wissen, dass ich das Beste bin, was ihr passieren konnte.«
Beth, die ihm gefolgt war, sah ihn mit steinerner Miene an. »Es geht nicht darum, was ich denke.«
Er lachte auf. »Ich weiß. Nur dass die Art und Weise, wie Sie denken, genau die gleiche ist, wie sie denken, und wenn ich Ihre Meinung nicht ändern kann, werde ich verlieren. Trotzdem gebe ich nicht auf.«
Sie starrte ihn noch einen Moment an, dann seufzte sie und er glaubte, dass er vielleicht ‒ nur vielleicht ‒ einen kleinen Anflug von Schuldgefühlen in ihren Augen entdeckte. »Soll ich Sie mitnehmen?«
»Oh, ich kann selbst fahren, danke. Ich vermute, wir werden uns dort nicht sehen.« Danach brachte er sie zur Tür und ging anschließend zurück ins Wohnzimmer, um Derek anzurufen.
Er war dankbar, dass Derek nicht versucht hatte, ihn lange aufzuhalten oder ihn aufzumuntern, denn das war im Moment zwecklos. Er hatte dieses Spielchen schon so oft mitgespielt, dass er es im Schlaf konnte. Er würde mit mehreren Leuten zusammensitzen ‒ an einem runden Tisch, damit er sich ebenbürtig fühlte. Sie würden ihm aufdringliche Fragen darüber stellen, wie er es schaffte, allein zu scheißen oder zu duschen, und was mit Maisy passieren würde, wenn er stürzte, und wie oft er sie als Baby fallen gelassen hatte. Sie würden ihn fragen, wie sicher sein Arbeitsplatz war und ob er etwas in der Hinterhand hätte, wenn das mit den Tattoos nicht funktionierte ‒ denn anscheinend waren fast zwanzig Jahre am selben Arbeitsplatz nicht gut genug, damit seine Stelle als beständig galt, weil es in ihren Augen keine respektable Berufswahl war.
Danach würden sie einen uralten Rollator mit einem kaputten Rad aus dem hintersten Schrank holen und ihn bitten, damit durch den Raum zu gehen. Und er würde es tun. Ohne seine Schienen würde er seine gelähmten, verkümmerten Beine wie ein tanzender Affe auf der Uferpromenade über den dünnen, abgenutzten Teppich schleifen. Dann würde er sowohl Mitleid als auch Ekel in ihren Gesichtern sehen, denn während er das tat, sah er genauso aus wie der Behinderte, den sie in ihm sahen.
Sie wollten nie Videos von den Fitnesskursen sehen, die er leitete, oder von den Marathons, die er mit seinem umgebauten Fahrrad gewonnen hatte, für das er ein paar Tausender hingeblättert hatte. Sie wollten nicht sehen, dass er zu Hause besser zurechtkam als Leute mit zwei funktionierenden Beinen, wenn er das Abendessen, das Baden vor dem Schlafengehen und ein widerspenstiges Kleinkind unter einen Hut brachte. Es war ihnen egal, dass er mit einer Dreijährigen umgehen konnte, die einen Tobsuchtsanfall hatte, weil sie nach dem Abendessen kein Eis bekam, weil sie ihr Gemüse nicht aufgegessen hatte.
Nein. Sie interessierten sich nur für den einzigen Aufenthalt in der Notaufnahme, weil sie auf dem Spielplatz eine Betonstufe hinuntergefallen war und mit drei Stichen am Kinn genäht werden musste. Sie interessierten sich für die neun Monate Psychotherapie, der er sich mit sechzehn Jahren unterzogen hatte, weil er Selbstmordgedanken gehabt hatte, nachdem er mit angehört hatte, wie seine Eltern darüber sprachen, dass er den Rest seines Lebens der Gesellschaft auf der Tasche liegen würde. Sie interessierten sich für die Tatsache, dass er nicht einfach aufspringen und auf ihren Befehl hin den verdammten Charleston tanzen konnte.
Er verpackte all das zu einem hässlichen, verbitterten Ball aus Wut, der wahrscheinlich eines Tages zu einem Magengeschwür führen würde, und setzte ein Lächeln auf, während er seine Schlüssel nahm und hinausging. Es würde ein verdammt langer Tag werden, aber das war ihm egal. Er hatte nicht gelogen, als er zu Beth gesagt hatte, dass ihm klar war, wohin das führen würde, sie ihn aber umbringen mussten, wenn sie ihm Maisy wegnehmen wollten. Er würde sie nicht verlieren. Sie war sein Leben, basta.
»Okay, Mr. Braga, gehen Sie zu dieser Adresse und melden Sie sich an der Rezeption. Wir werden Sie anrufen lassen, sobald wir wissen, wann genau der Kurs stattfindet.«
Seine Finger ballten sich um die Visitenkarte zur Faust und er versuchte, sie nicht aus purer, unverfälschter Wut in seiner Handfläche zu zerquetschen. Er rang sich ein Lächeln ab, als er mit ihrer leeren Miene konfrontiert war. »Und es sind sechs Wochen, sagten Sie?«
Die Frau mit den viel zu weißen Haaren, die in ihrem Nacken zusammengebunden waren, schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln. »Sechs Wochen, ja. Dann werden wir Sie erneut beurteilen.«
»Also nehme ich sechs Wochen lang an einem Reha-Kurs teil, in dem es darum geht, wie man mit einer Lähmung zurechtkommt ‒ wobei nichts davon mit Kindererziehung zu tun hat ‒, und das ist dann nicht einmal eine Garantie dafür, dass mein Fall damit abgeschlossen ist und ich meine Tochter adoptieren darf?« Vor Frustration schnürte sich ihm die Kehle zu und er konnte das Zögern in ihren Augen sehen.
»Sehen Sie, Mr. Braga, unser Protokoll sieht vor, dass wir…«
Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Als ich den Autounfall hatte, war ich fünfzehn. Ich bin seit über zwanzig Jahren gelähmt, was bedeutet, dass ich länger einen Rollstuhl benutze, als dass ich laufen konnte. Denken Sie, ich wüsste nicht genau, wie ich im Alltag mit meiner Behinderung zurechtkomme?«
»Sir, ich…«
»Und meine Tochter lebt seit fast drei Jahren bei mir. Was bedeutet, dass ich es geschafft habe, auf und ab zu gehen, während sie drei Stunden am Stück geschrien hat, weil sie Koliken hatte. Ich habe mit ihr Krupp-Anfälle, die Grippe und jede verdammte Erkältung und Ohrenentzündung durchgemacht, die sie jemals hatte. Ich habe sie sauber gemacht, sie beschützt und ihr zu essen gegeben. Ich habe mich tadellos um sie gekümmert. Und jetzt sagen Sie mir, in Ihrem Protokoll steht, dass ich an diesem Kurs teilnehmen muss ‒ ein Kurs, den ich vor zwanzig Jahren schon gemacht habe, und dass mir das immer noch keine Garantie gibt, dass diese Beurteilungen aufhören und man sie einfach bei dem einzigen Menschen bleiben lässt, den sie als Elternteil kennt?« Sein Atem ging schnell und er konnte fühlen, wie seine Brust eng wurde, was kein gutes Zeichen war. Wenn seine Beine zu krampfen begannen, würde sie das nur in ihrem Glauben bestätigen, dass er unfähig war. Er zwang sich zur Ruhe, obwohl sie auf seine Unterlagen starrte, statt ihm in die Augen zu schauen.
»Ich bin mir nicht sicher, was Sie von mir hören wollen, Mr. Braga. Ich halte mich nur an die Vorgaben.«
»Na schön«, du verdammter Roboter, fügte er in Gedanken hinzu. Er stopfte die Karte in seine Hemdtasche, packte dann die Räder seines Rollstuhls und schob ihn zurück. Sein Rücken schmerzte, und er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, eine Bar zu finden, um seine Sorgen in einer Flasche Whiskey zu ertränken, und der Sehnsucht, nach Hause zu gehen, um Maisy festzuhalten und sie niemals loszulassen.
Er schaffte es hinaus und in sein Auto, bevor er anfing zu zittern. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und drückte den Kopf ans Fenster, während die Knochen in seinen Beinen anscheinend versuchten, seine Haut einfach abzuschütteln. Die Krämpfe nahmen ihm immer den Atem, also wartete er, bis sie nachließen, bevor er sein Handy hervorzog, um Kat anzurufen, die beim dritten Klingeln abnahm.
»Hey, Babe. Willst du mit dem Zwerg reden?«
Sam biss die Zähne zusammen und atmete durch die Nase aus. »Ich… gleich. Ich habe gerade… ich bin gerade fertig geworden und, äh…«
»Was haben sie gesagt?«, fragte sie und ihre Stimme war leise und klang beinahe gefährlich.
»Nichts. Es ist… ich muss sechs Wochen lang an einem verdammten Kurs teilnehmen, und dann werden sie meinen Fall neu beurteilen«, gestand er. Er schluckte schwer. »Und sie sagten, sie wollen versuchen, ihren leiblichen Vater ausfindig zu machen, um herauszufinden, ob es in seiner Familie jemanden gibt, der das Sorgerecht beantragen möchte.«
»Großer Gott«, hauchte sie. »Sam…«
»Hör mal, es ist ‒ es ist, wie es ist. Ich werde einfach den Mund halten und weitermachen. Das ist alles, was ich im Moment tun kann.«
Nach einem Moment der Stille sagte Kat: »Lass sie heute Nacht hier. Sie spielt mit Jazzy und wir gehen nachher Pizza essen. Du kannst nach Hause gehen und dir etwas Ruhe gönnen. Ich bringe sie morgen Früh nach Hause, okay? Und ich sage Tony, er soll deine Termine morgen verschieben.«
»Nein«, setzte er an.
»Diskutier nicht mit mir«, fuhr Kat auf. »Du weißt, dass du das brauchst.«
Er hasste, dass sie recht hatte, und ließ den Kopf aufs Lenkrad fallen. »Ja. Also gut.«
»Ruf mich einfach an, wenn du zu Hause bist, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Und ruf vielleicht Derek an, damit er dich ein wenig ablenkt, okay? Alles wird gut.«
Er wollte sie zurechtweisen, dass sie kein Recht hatte, das zu sagen, weil er im Moment wirklich keinen Grund hatte zu glauben, dass es so kommen würde. Wäre er ein anderer Mensch ‒ mit weniger Tattoos und einem besseren Ruf, mit einer heldenhaften Vergangenheit, auf die er sich berufen konnte, könnte er sich vielleicht an die Öffentlichkeit wenden und den Staat für diesen Bull-shit an den Pranger stellen. Aber er war bloß ein Niemand. Ein Niemand, dessen Eltern es nicht ertragen konnten, auch nur an ihn zu denken, und der nicht viel mit seinem Leben angefangen hatte, abgesehen davon, sich in einer kleinen Stadt einzurichten und dort Wurzeln zu schlagen.
Aber wenigstens das hatte er. Seine Familie, sein Geschäft und vorerst ‒ sein kleines Mädchen. »Ich rufe dich später an«, versicherte er ihr und legte dann auf, bevor sie noch etwas sagen konnte. Er wollte einfach nur nach Hause und diese kleine Pause, die Kat ihm anbot, na ja, die musste genügen.