Читать книгу Seelenwurms Tod - Emma Steinhauser - Страница 5
11:38 Uhr – Im Pfarramtsbüro St. Peter und Paul, Aschheim
ОглавлениеDie Leute liefen hier schon während des Orgelnachspiels aus der Kirche, als hätten sie noch einen wichtigen Termin, und die wenigen, die an den Gräbern ihrer Lieben noch eine Kerze anzündeten und mit den Nachbarn ein paar Worte wechselten, zerstreuten sich wie immer schnell. Der Pfarrer zog sich in der Sakristei um und ging zum Mittagessen und der Mesner brachte die Kollekte in den Tresor im Pfarrbüro und verschwand danach ebenfalls.
Nachdem sie das alles abgewartet hatten, konnten Clara und ihr heimlicher Geliebter Leonhard Rosenberg von der Empore aus unbemerkt ins Büro gelangen und sich dort wenigstens kurz sehen.
Sie saßen also auch heute nach dem Gottesdienst wieder auf eine Tasse Kaffee im Pfarrbüro zusammen wie zwei gute alte Bekannte, die sich gerade zufällig getroffen hatten.
Immerhin, besser als gar nichts!, hatte sich Clara bis jetzt immer eingeredet und war für die gestohlene Zeit fast dankbar gewesen.
Es waren wichtige Minuten in ihrem Leben und normalerweise starrte sie in dieser Zeit weder in den Pfarrgarten noch auf den weißen Kirchturm gegenüber. Aber heute war nichts normal, das spürte sie genau.
Sie sah Leonhard in die Augen, die sie plötzlich überhaupt nicht mehr an die von George Clooney erinnerten, und im selben Moment dachte sie: Seelenwurm, elender!
Clara erschrak über sich selbst, denn so etwas hatte sie bisher nur über ihren Mann gedacht.
Sie konnte sich ihre plötzliche Wut auf Leonhard nicht erklären und wusste doch, dass genau das gelogen war. Natürlich war sie stinksauer auf ihn, er hatte ihr den ganzen Schlamassel schließlich eingebrockt.
„Ich liebe dich! Mehr als alles auf der Welt“, sagte er leise.
Da platzte ihr innerlich der Kragen.
Wenn man einander mehr als alles auf der Welt liebt, führt man ein gemeinsames Leben, von dem alle wissen dürfen, verdammt nochmal!
Davon waren sie aber weit entfernt. Zu weit nach Claras Meinung und deshalb fasste sie sich jetzt ein Herz und sprach endlich das an, was ihr schon so lange auf der Seele brannte: „Wie soll das mit uns eigentlich weitergehen? Wann wird das mit uns anders?“
„Was soll denn anders werden? Wir lieben uns doch! Oder willst du jetzt ein Datum hören?“, fragte er leicht verärgert zurück.
Ja, dachte sie und heute sagte sie es auch: „Das wäre mir am liebsten.“
„Ich kann dir nicht sagen, wann wir endlich zusammen sein dürfen. Aber wahrscheinlich nicht, solange sie lebt.“
Seelenwurm, dachte sie schon wieder und schämte sich nicht einmal dafür. Er war einer.
„Weißt du, was ich langsam glaube?“, fragte sie. „Du liebst nicht mich, sondern die Sehnsucht nach mir. Deswegen liegst du immer noch bei ihr im Bett statt bei mir. Und damit du nichts verändern musst, sagst du zu mir, ich soll nur brav durchhalten.“
Ja, das predigte er immer. Er, der ihr oft genug von seinem unerträglichen Eheleben und von seinen Wünschen erzählt hatte, wollte, dass sie immer weitermachte. Jahr um Jahr.
Clara hatte gerade sarkastisch klingen wollen und so wie er jetzt aussah, war ihr das gelungen. Da musste er durch, sie war noch nicht fertig. Viel zu oft hatte sie sich schon auf die Zunge gebissen, statt es zu sagen, und nun war eben alles anders: Clara war schwanger und er war nun einmal der Vater, auch wenn es eigentlich nicht sein konnte und er deswegen nicht das Geringste davon ahnte.
„Das geht alles nicht mehr so weiter“, sagte sie. „Ich bin keine Frau, die man sich für später reservieren kann. Das mit uns ist weder Fisch noch Fleisch.“
„Was hast du denn auf einmal? Was ist in dich gefahren?“, fragte er und sie sah seine zunehmende Verunsicherung. „Versteh das doch, ich kann nicht gehen! Ich habe es ihr versprochen, damals …“
„Und ihr habt euch ein Zeichen der Treue an den Finger gesteckt, ja genau! Zählt das etwa doch noch?“
Er sah auf seinen Ring. „Nein, natürlich zählt das nicht mehr. Aber ich muss diesen Ring tragen, auch wenn sie mich nicht mehr liebt. Und ich sie auch nicht.“
Sie hielt ihm beide Hände hin. „Peter und ich lieben uns auch nicht mehr. Und? Siehst du bei mir an irgendeinem meiner Finger einen Ring? Nein? Ich auch nicht. DAS ist wenigstens ehrlich.“
„Aber dass sie mich nicht mehr liebt, ist doch kein Grund, dass ich sie im Stich lasse. Schon gar nicht in ihrer Situation …“
„Das Leben ist jetzt! Hier! Heute! Nicht erst in hundert Jahren, wenn uns die Würmer in der tiefen, dunklen Erde aufgefressen haben!“ Sie musste sich sehr zusammennehmen und senkte ihre Stimme wieder etwas. „Du darfst dich gerne mal umhören, wer hier in der Gemeinde noch die tollsten Pläne für die Rente hatte und plötzlich war er dann zu krank dafür oder sogar tot! Du sagst, du wartest. Aber du führst nicht nur dein Leben in dieser … dieser ewigen Warteschleife, sondern auch meins! Ich schaffe das nicht mehr. Ich bin nicht zum Warten auf dieser Welt! Ich will LE - BEN!“
Betroffenes Schweigen seinerseits war alles, was kam.
„Herrgott nochmal, ich bin doch keine Schattenfrau, die man nicht herzeigen darf!“ Ich bekomme nur ein Schattenkind, dachte sie und merkte, wie ihr bei dem Gedanken die Tränen in die Augen schossen. Ärgerlich blinzelte sie sie weg. „Weißt du eigentlich noch, wie du im Auto: Duck dich, da vorne ist die Weinberger! zu mir gesagt hast? Kannst du dir vorstellen, wie erniedrigend das war?“ Sie schaute ihn herausfordernd an. „So, dass ich mich danach gefragt habe, wer ich eigentlich bin, dass man mich so behandeln darf. Aber dann ist es mir wieder eingefallen. So etwas passiert einem eben, wenn man nur eine heimliche Geliebte ist. Eine Affäre. Die Nebenbuhlerin. Nicht mehr als die zweite Geige …“ Sie erschrak, mit wie viel Bitterkeit sie diese Worte gerade ausgesprochen hatte und sie sah auch, dass seine Kiefermuskeln spielten, was ein Zeichen dafür war, dass er langsam wütend wurde.
Aber sie konnte jetzt nicht aufhören, das musste einfach alles einmal raus. „Weißt du, wie dein Fühl dich geküsst, mein Schatz! bei mir ankommt, wenn du auf dem Weg nach Hause noch schnell bei mir anrufst? Ich fühle mich nicht geküsst, sondern verarscht!“ Das ließ sie so stehen, auch wenn sie wusste, dass ihn das jetzt sehr verletzt haben musste. Natürlich war das von ihm nur lieb gemeint, aber was hatte sie von einem eingebildeten Kuss?
Er sagte kein Wort.
Sie redete weiter. „Genießt du da eigentlich noch irgendwas zwischen uns? Oder geht es mittlerweile nur noch darum, dass wir nicht auffliegen dürfen? Und wenn schon! Dann ist es eben so! Meinetwegen braucht sich keiner zu schämen. Zu mir kann ein Mann stehen, wenn er es will.“ Sie machte eine Pause. „Aber ganz offensichtlich willst du es nicht.“
Er war mittlerweile bleich geworden. „Du weißt, dass es nicht so ist und dass ich das alles genauso satt habe wie du. Du bist keine Schattenfrau und nichts von den anderen blöden Sachen. Du bist so viel mehr als eine Geliebte für mich, ich stehe zu dir!“
Wie bald du schon Gelegenheit dazu haben wirst, wenn es dumm läuft!, dachte sie und ließ ihn weiter reden.
„Immer, und das weißt du auch“, sagte er und küsste sie so flüchtig, dass sie am liebsten darauf verzichtet hätte, weil ihr das noch viel mehr weh tat als gar kein Kuss.
Er hatte Angst, das spürte sie und sie hörte es in seiner Stimme. „Das Einzige, was ich in meinem Leben will, bist du, glaub mir, und irgendwann ist es soweit. Und weißt du, wovor ich am meisten Angst habe? Dass du mich nicht mehr haben willst, wenn irgendwann ist.“
„Irgendwann! Ja, sicher!“, sagte sie wütend. „Wer’s glaubt, wird selig. Bis zu diesem Irgendwann überlebt unsere Liebe von den paar Minuten, in denen wir uns sehen und den Rest der Zeit füllen wir am besten mit Träumen auf oder was? Ich warte und warte. Auf einen kurzen Anruf von dir, ganz leise, nur geflüstert, sie könnte es ja hören. Ich warte auf eine Umarmung, auf einen Kuss! Auf alles! Und irgendwann, eines Tages, habe ich dann mein Leben lang auf ein Leben mit dir gewartet.“
„Du wusstest, dass es keine einfache Zeit wird, bis wir …“
„Bis wir? Bis DU beschließt, dass wir beide zusammen leben dürfen!“, unterbrach sie ihn. „Weißt du, was ich glaube? Wenn du dieses Datum immer noch weiter schiebst, werde ich eine Belastung für dich. Weil sie nämlich bis dahin immer noch nicht tot sein wird! Deine Frau wird hundertelf! Absichtlich, um uns zu ärgern, wetten?! Und sie ist dir wichtiger als ich! Ich habe mich schon eine ganze Weile gefragt, woran es liegt, dass du keinen Schlussstrich ziehst, aber jetzt bin ich endlich auf den Grund gekommen: Du bleibst bei ihr, weil sie eine von den Frauen ist, die ihren Männern damit drohen sich umzubringen, wenn er sie verlässt, stimmt‘s?“
Er nickte fast unmerklich, wusste offenbar immer noch nicht, was er zu dem Ganzen sagen sollte.
„Sie droht damit, dass sie sich umbringt? Ja, dann lass sie doch machen …“, sagte Clara leise, mehr zu sich selbst.
„Sag so was nicht, ich bitte dich.“
„Doch, spielen wir das durch! Nur mal angenommen, sie täte sich etwas an. Was käme dann? Wir beide wären geächtet, könnten hier einpacken und wären endlich zusammen. Aber du hättest so ein schlechtes Gewissen, dass du für den Rest deines Lebens unglücklich wärst, und zwar weil du mit mir lebst! Und ich? Würde mir deswegen ewig Vorwürfe machen und denken, dass ich an allem schuld bin. Dabei wollten wir doch eigentlich nur zusammen glücklich sein.“
Er fiel in sich zusammen, sagte aber nichts. Das genügte ihr als Antwort und jetzt wollte sie ihn provozieren.
„Und jetzt die andere Möglichkeit. Was wäre denn, wenn ich es täte?“
„Wenn du was tätest?“, fragte er.
„Schluss machen. Mit allem. Schluss, aus, vorbei. Nicht nur mit uns.“ Sie schwieg eine Weile, sah in sein ängstliches Gesicht und wunderte sich, dass sich in ihren Augen keine einzige Träne bildete. „Dann wäre alles wieder wie früher und euer Leben ginge einfach ohne mich weiter.“
Er schluckte. „Dann ginge gar nichts mehr weiter.“
„Doch, das würde es ganz sicher.“ Sie sah kurz aus dem Fenster, dann wieder zu ihm. „Aber ich mache nicht Schluss. Ich habe Kinder und ich kenne meine Verantwortung und vor der werde ich nicht davonlaufen. Und deswegen wird das mit uns nicht so weitergehen. Das macht mich nämlich krank und krank helfe ich Lea und Marie nichts mehr.“
Er schaute sie fragend, fast flehend an und sie erkannte, dass sie ihm heute doch noch nicht alles erzählen konnte. Erst wenn sich das morgen beim Arzt bestätigte, ging es um ihr gemeinsames Kind und nicht mehr nur ums Durchhalten in einer Affäre bis zum Tag X.
„Wir hätten das alles niemals zulassen dürfen“, sagte sie leise, weil er immer noch schwieg. „Dann säßen wir jetzt nicht da und müssten überlegen, wie es weitergeht …“ Das war alles, was sie noch herausbekam.
„Du zweifelst an unserer Liebe?“, fragte er.
„Nein“, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. „Unsere Liebe würde für die nächsten tausend Jahre reichen, aber nicht unter diesen Umständen. Das, was wir beide unter Liebe verstehen, lebt vom realen Zusammensein, vom Fühlen. Haut. Wärme. Nicht nur von den brennenden Gedanken daran …“
Clara stand auf und ging hinaus. Zu ihrem Fahrrad, das wieder einmal unversperrt an der Friedhofsmauer stand. Und wenn es weg gewesen wäre? Auch egal. Die Bremse funktionierte sowieso nicht immer. Da klemmte manchmal irgendwas. Wie Ladehemmung, dann musste man den Griff kurz loslassen und danach ging es wieder.
Es wird wie ein Unfall aussehen …, überlegte sie kurz und setzte sich aufs Rad.
Clara wartete noch eine Weile an der Mauer, ob Leonhard ihr folgen würde. Er tat es nicht.
Auch in Ordnung!, dachte sie wütend und traurig zugleich. Dann geht eben jetzt jeder von uns heim zu seinem ganz persönlichen Seelenwurm.
Clara nahm sich vor, wenigstens zuhause ihre Gefühle zu beherrschen und das alles zu überspielen. Wie immer, wenn sie etwas innerlich aufwühlte.