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Worüber ich nachdachte, bevor ich in den Fluss fiel
ОглавлениеEs war einer jener Abende, den ich unmöglich allein zuhause verbringen konnte. Das furchtbare Gefühl drohte mich zu ersticken, dass meine Zeit gnadenlos ablief. Nur ein beherzter Schritt zur Tat würde mich jetzt noch vor der Talfahrt in die Hölle derjenigen retten können, die während ihres ganzen Lebens keine Spuren auf diesem Planeten hinterlassen hatten. Zwar wusste ich, dass mein Vorhaben riskant war, weil ich in diesem unendlich frustrierten Zustand weder die erforderliche positive Ausstrahlung hatte, um mir eine Bekanntschaft anzulachen, noch das nötige dicke Fell, einen Abend alleine unter Fremden durchzustehen. Aber es musste sein. Schließlich gab es nur die Alternative, allein vor dem Fernseher vor mich hin zu dösen, was unweigerlich dazu führen würde, dass ich mitten in der Nacht erwachen und nicht wieder einschlafen könnte. Und dieses Dahindämmern in der Unendlichkeit zwischen Abend und Sonnenaufgang, wenn die Gedanken nur halb wach sind und umso beängstigendere Bilder der Zukunft fabrizieren, war das absolut Letzte, was ich meinte ertragen zu können.
Also raffte ich mich auf und fuhr mit dem Rad in meine Lieblings-Cocktailbar. Die Hoffnung stirbt zuletzt! Warum sollte nicht ausgerechnet heute mein Glückstag sein? War nicht vielleicht sogar mein desolater Seelenzustand und die damit einhergehende Hoffnungslosigkeit, mit der ich meine Zukunft betrachtete, ein Garant dafür, dass dies die Nacht der Nächte war, die alles ändern würde? Hieß es nicht immer, wenn man endlich „losgelassen“ hätte, dann würde das ersehnte Glück an die Tür klopfen?
Wie oft war ich schon von wohlmeinenden Ratschlägen und den dazugehörigen Erfolgsstorys von Menschen genervt worden, die „loslassen“ konnten und deshalb alles erreichten, was sie sich jemals erträumt hatten? Und wie oft hatte ich mich dann noch unfähiger mit meiner bemitleidenswert verbissenen Suche nach Glück und Erfolg gefühlt? Ich mochte jene Menschen nicht, die angeblich so großartig auf alles Glück verzichten konnten, um gerade deshalb so viel davon zu bekommen. Schließlich hatte das bei mir noch nie funktioniert – oder ich konnte einfach nicht korrekt loslassen.
Was aber, wenn es heute anders wäre? Wenn ich tatsächlich verzweifelt genug wäre, um kompetent und überzeugend loszulassen? Dann müsste genau heute der optimale Zeitpunkt für eine großartige Veränderung meines Lebens sein! Umfassender konnte die Desillusionierung über mein Schicksal gar nicht werden! Außerdem käme der Wandel keine Sekunde zu früh. Ich war 39 und damit exakt in dem berüchtigten Lebensjahr, welches allen Menschen, die den Rest ihres Lebens noch nicht in trockenen Tüchern wussten, einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Also musste es gelingen, aus meinem Leben etwas zu machen – und zwar heute!
Zwei Stunden nach diesem Entschluss saß ich immer noch alleine unter vielen anderen Menschen am Tresen meiner Lieblings-Cocktailbar. Hier gab es niemanden, wirklich niemanden, der ebenfalls alleine wie ich diesen Laden aufgesucht hatte. Alle anderen waren mindestens zu zweit, schauten sich verliebt in die Augen oder unterhielten sich prächtig mit mindestens einem halben Dutzend Freunden. Nicht mal der dürre Blonde mit Brille war da, der fast immer alleine an der Bar saß. Und so war ich heute die einzige bemitleidenswert einsame Kreatur, die nicht mal einen neugierigen Blick von einem der anwesenden Männer einfing. Selbst die Besetzung hinter dem Tresen enttäuschte an diesem Abend, denn die Einzige aus den Reihen des Personals, die ich flüchtig kannte, war eine eher unsympathische, weil arrogante Brünette, von der ich mir keinerlei mentale Unterstützung versprach.
Oh je. War es möglich, dass jemand noch einsamer und verzweifelter war als ich? Ging es desillusionierter und vor allem: Konnte jemand noch mehr jede Hoffnung auf ein besseres Leben losgelassen haben als ich in diesem Moment? Musste deshalb nicht gerade jetzt etwas passieren, was meinem Leben endlich einen Sinn gab? So lief das doch – zumindest in den Geschichten, welche in Zeitschriften oder in Talkshows erzählt wurden, wenn ein schließlich glücklich gewordener Mensch von seinen bemitleidenswert schweren Anfängen und den harten Zeiten berichtet, die er heldenhaft hinter sich gebracht hatte, um endlich von der Schatten- auf die Sonnenseite des Lebens wechseln zu dürfen.
Ich sog an meinem Strohhalm und wurde langsam ungeduldig. Wann ging es denn nun los mit der großartigen Lebensveränderung? Und wenn – was der Himmel verhüten möge – nichts passierte, was sollte ich dann tun?
Über diese nicht weniger als den Rest meines Lebens entscheidende Frage dachte ich nach ... und wartete. Zwischendurch bestellte ich noch ein Getränk und fuhr mit dem Warten fort.
Aber natürlich! Na klar! Jetzt verstand ich! Vermutlich nahm mir das Leben meine Verzweiflung gar nicht richtig ab! Vielleicht dachte es sich: Hey, die Hilde ist gerade ein bisschen schlecht drauf. Aber letztendlich macht sie doch immer alles mit, was ich ihr biete! Sie wird sich wieder fangen und alles kann so bleiben, wie es ist. Richtig loslassen und alle Hoffnungen aufgeben – nee, das kann die gar nicht! Das können nur Leute wie die moppelige Marion, die nach zwei Wochen Trennung von ihrem Lebensgefährten stolz vor aller Welt verkündete, dass sie nun wirklich jede Hoffnung aufgegeben hatte, den passenden Partner zu finden und sich prima damit abfinden konnte. Drei Wochen nach der Trennung hatte sie dann doch endlich die Liebe ihres Lebens gefunden und war mit ihr in den Urlaub geflogen. Tja – das war loslassen!
Also beschloss ich, dem Leben und vor allem mir selbst zu zeigen, dass ich es sehr wohl sehr ernst meinte mit meiner Hoffnungslosigkeit! Denn wenn ich recht überlegte: Was hatte ich schon zu verlieren? Was? Einen Job, der mich frustrierte, weil in dem Unternehmen nur vorankam, wer männlich war, kein Studium hatte, pünktlich um halb fünf nach Hause ging und dumm wie Bohnenstroh alles nachplapperte, was der Chef an Inkompetenz von sich gab? Freunde, die sowieso am liebsten zuhause saßen und fernsahen? Zwei Zimmer, Küche, Bad und einen Nachbarn, der gerne mal seinen Spiegel an einer Eisenstange um den Sichtschutz meines Balkons herum Gassi führte?
Ich erschrak. Wenn ich es genau betrachtete: Dieser Blick auf meine Situation war nicht einmal besonders negativ, so als würde ich versuchen, das Schicksal zum Widerspruch herauszufordern. Das war die krasse, ungeschminkte Wirklichkeit! Ich hatte nichts ausgelassen! So sah mein Leben aus! Und das nicht erst seit gestern, sondern irgendwie schon sehr lange.
Paralysiert von dieser Erkenntnis stocherte ich in meiner Caipirinha herum, die allerdings nur noch aus Eis und ausgewrungenen Limettenvierteln bestand. War das Leben nicht furchtbar humorlos? Da wollte ich ihm zeigen, wie ernst ich es meinte mit dem Loslassen aller Hoffnungen und der perfekten Desillusionierung, und da zeigte mir die Betrachtung über mein Leben, wie ernst es das meinte mit dem, was es mir bislang zugemutet hatte! Ich war schockiert: Konnte es wirklich sein, dass das alles war, was ich zu erwarten hatte? Auch in den nächsten 39 Jahren?
Mir wurde schwindelig. Ich realisierte, wie schwer es mir fiel, das Eis im Glas zu fixieren. Die Bilder schoben sich ineinander und verschwammen. Plötzlich fielen mir auch noch die Augen zu. War das jetzt das Ende? Just in dem Moment, als ich meiner kläglichen Existenz schonungslos gewahr wurde und mir wirklich keinerlei Illusionen mehr darüber machte, dass irgendwann doch noch alles gut werden und der Traumprinz mit Schloss und einem tollen Jobangebot unter dem Arm auftauchen würde, war es vorbei? Hatte ich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gefunden und musste nun die Augen schließen, bevor ich diese Erkenntnis jemandem mitteilen konnte? Oder verkraftete mein armes Herz den Erkenntnis-Schock nicht, nachdem es schon so lange auf ein besseres Schicksal gehofft hatte? Hatte vielleicht mein Unterbewusstsein in diesem Moment unendlicher Abgeklärtheit entschieden zu gehen, weil es jetzt wirklich keinen Sinn mehr hatte, weiterzumachen?
Panik stieg in mir hoch. Das ging jetzt alles sehr schnell. Ich war nicht wirklich vorbereitet auf diesen Moment. Ob ich gleich mit dem Glas in der einen und dem Strohhalm in der anderen Hand vom Barhocker kippen würde? Wie schrecklich! Das wäre beschämend unelegant!
Das Glas!
Plötzlich begriff ich. Darin war Caipirinha gewesen! Außerdem war es nicht das erste an diesem Abend gewesen, und wann hatte ich heute eigentlich zum letzten Mal etwas gegessen? Seit dem Mittagessen nichts mehr, und das hieß vermutlich – angesichts der Tatsache, dass ich bei einer Studentenparty vor vielen Jahren schon nach einem halben Glas Caipi nicht mehr mit dem Rad fahren konnte und mindestens eine Stunde für einen Zehn-Minuten-Weg nach Hause gebraucht hatte – dass ich sturzbetrunken war. Einfach nur besoffen – nichts weiter!
Ich atmete erleichtert aus.
Allerdings fiel mir auch just in diesem Moment auf, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass ich mich noch auf dem Barhocker halten konnte. Darüber hinaus merkte ich plötzlich, dass dieser Hocker keinen ganz festen Stand auf dem Boden hatte, sondern leicht kippelte.
Haaalt!
Ich ermahnte mich, nicht an so etwas zu denken. Stattdessen befahl ich mir, die Augen nach vorne zu richten und einen Punkt hinter der Bar zu fixieren. Meine Wahl fiel auf eine alte Blechschild-Reklame für Johnnie Walker. Dann tastete ich mit vorsichtigen Bewegungen in meiner Jackett-Innentasche nach meinem Portemonnaie. Ganz sachte! Möglichst souverän versuchte ich auszusehen, als ich die Bedienung hinter dem Tresen heranwinkte und zahlte. Stimmt so! Jetzt bloß kein Wechselgeld in die Börse stecken müssen – das könnte schief gehen!
Doch nun stellte sich mir die Frage, wie ich um Himmels willen in diesem Gedränge vom Barhocker auf den Boden und bis zur Tür kommen sollte! War das theoretisch überhaupt möglich?
Irgendwie schaffte ich es – und musste mich auch nur zweimal kurz an jemandem festkrallen, um nicht umzukippen. Ein paar Unmutsäußerungen und giftige Blicke von anderen Gästen später stand ich schließlich auf der Straße und lehnte mich ein paar Schritte weiter an ein Halteverbotsschild. Erstmal abwarten, ob die frische Luft mir gut tat oder den gefühlten Alkoholpegel in meinem Blut nach oben trieb. Danach konnte ich entscheiden, wie es weitergehen sollte.
Was für ein Abend. Was für ein Schicksal! Mein Leben war wirklich sinnlos und vor allem – hoffnungslos!
Obwohl ich reichlich Probleme hatte, meine Glieder und meine Organe – mein Magen wollte sich so gerne übergeben – zu kontrollieren, funktionierte mein Gehirn einwandfrei. Es erkannte mit erschreckender, schonungsloser Klarheit, dass es nur eine einzige konsequente Antwort auf diese Lebenswirklichkeit geben konnte, nämlich sie zu beenden. Alles andere wäre nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen, eine sinnlose Quälerei, ein Abstrampeln an der Wirklichkeit, ohne jemals etwas an der Tatsache ändern zu können, dass das Schicksal mehr als dieses klägliche Dahinvegetieren für mich nicht vorgesehen hatte!
Ich schaute hinauf zum Himmel, um mich zu vergewissern, dass man dort der gleichen Ansicht war, doch umgehend bemerkte ich, dass ich das lieber nicht tun sollte, denn nun wurde mir erst recht schwindelig. Meine Fähigkeit zum aufrechten Gang ließ dramatisch nach – und das, obwohl ich schon genügend Probleme damit hatte zu verhindern, mir selbst vor die Füße zu kotzen!
Dann hörte ich auch noch die Tür zur Bar aufgehen. Lateinamerikanische Rhythmen, Gesprächsfetzen und Gelächter quollen auf die Straße und bis zu mir hinüber. Einige Gäste standen halb auf dem Bürgersteig, halb in der Bar, zogen ihre Jacken an und verabschiedeten sich lautstark von anderen, die noch bleiben wollten. Mir war meine Situation zwischen schwanken, kotzen und vermutlich auch noch lallen, falls ich aus irgendeinem Grund angesprochen werden würde und sei es auch nur, weil sich ein fürsorglicher Mensch nach meinem Gesundheitszustand erkundigen wollte, ausgesprochen peinlich. Wie gesagt: Mein Gehirn funktionierte einwandfrei, nur alles andere entzog sich bedenklich meiner Kontrolle! Also beschloss ich, möglichst rasch von meinem sicheren Halt am Halteverbotsschild – die Ironie dieser Situation fiel mir damals jedoch nicht auf – zur anderen Straßenseite zu wechseln. Dort lag der Stadtpark, in den ich eintauchen wollte, um mich neugierigen und vielleicht auch missbilligenden Blicken zu entziehen.
Ich schaffte die Überquerung der Straße nach meinem Empfinden aufrecht und fand, dass ich auch halbwegs sicher auf meinen zwei Beinen wirkte. Nur den Höhenunterschied zwischen Straße und Bürgersteig hatte ich falsch eingeschätzt. Nach einem kleinen Stolperer fing ich mich schnell wieder – beziehungsweise scheiterte ich glücklicherweise nicht an irgendeinem Hindernis, das meinen Vorwärtsschwung hätte bremsen können – und fand mich auf einem in der Dunkelheit kaum erkennbaren Weg im Park wieder.
Hier beschloss ich abzuwarten, bis die Leute, die soeben die Bar verlassen hatten, endlich nach Hause gehen und die Luft rein sein würde. Dann hoffte ich, ein paar Minuten Zeit zu haben, um in Ruhe mein Fahrradschloss öffnen zu können. Das war schon in nüchternem Zustand schwierig, da der Schlüssel sehr klein war und das Schloss klemmte. Anschließend plante ich irgendwie aufs Rad zu kommen und nach Hause zu fahren. Dabei war ich mir sicher, dass ich auch das Aufsteigen und Losfahren gerne ohne Publikum ausprobieren wollte!
Leider schienen die vier Leute, die nun auf der Straße vor der Bar standen, eine Ewigkeit zu brauchen, um sich voneinander zu verabschieden. Ein Scherzchen gab noch eben das nächste und sie fanden kein Ende.
Währenddessen gewöhnten sich meine Augen an die mich umgebende Dunkelheit. Ich sah mich um: So undurchdringlich, wie zunächst vermutet, war die Finsternis gar nicht. Zwar hielten dicht belaubte Bäume und Büsche das Licht der Straßenlaternen weitgehend ab, doch ich gewann langsam eine Ahnung davon, wie der Weg, auf dem ich stand, weiter verlief, um schließlich, wie ich wusste, auf den Fluss zu stoßen, der die Stadt durchquerte.
Der Fluss!
Wenn ich schon mal hier und der Weg zurück zu meinem Fahrrad wenigstens in diesem Moment keine Option war, warum sollte ich mich dann nicht mal unverbindlich damit auseinandersetzen, wie es sich anfühlen mochte, wenn ich irgendwann das Unausweichliche tun und mich in die Fluten stürzen würde?
Also beschloss ich, weil es naheliegend war, ja geradezu zwingend logisch erschien, dem asphaltierten Weg zu folgen, der mich bis zum Fließgewässer führen sollte. Das war zwar nicht ganz so einfach, wie ich mir das gedacht hatte, weil manche Wegabschnitte zappenduster waren und Bänke oder Papierkörbe richtig weh tun konnten, wenn man mit dem Schienbein dagegen stieß. Doch als ich ein Auto über die Brücke fahren hörte, die den Fluss überquerte, und einige wenige Strahlen der Laterne, die die Straße erhellten, sich auch im dunklen Wasser spiegelten, welches fast lautlos zwischen den schwarzen Ufern hindurchfloss, wusste ich, dass ich es geschafft hatte!
Ich ging – oder besser wankte – ein paar weitere Schritte den Weg entlang, der nun neben dem Fluss verlief. Schließlich erahnte ich mehr, als ich ihn sah, den schmalen Einschnitt in der Böschung, der hinunter zum Wasser führte und der es der Besatzung von Paddelbooten ermöglichte, im Park eine kleine Rast einzulegen. Diesen Abstieg zum Fluss kannte ich von meinen diversen Radtouren durch die Stadt.
Vorsichtig näherte ich mich der Böschung. Es war wirklich dunkel und die wenigen Strahlen der Straßenlaterne, die sich bis hierher verirrten, verhinderten eher, dass meine Augen sich in der Finsternis orientieren konnten, als dass sie halfen, meine Umgebung einzuschätzen. Leicht fiel der Boden ab und ich konnte mittlerweile auch das zarte Plätschern des Wassers hören, welches langsam und sanft vorbeizog. Ich lauschte in die Nacht: Ich war mutterseelenallein! Zu meinen Füßen floss der Fluss, fast einladend schien er zu murmeln, ganz sanft zu überreden, so wie die Schlange Kaa im Dschungelbuch ...
„Hilde, das ist albern!“
Ich rief mich selbst zur Ordnung. Schließlich war ich hier, um ernsthaft zu erwägen, ob ich es tun könnte und wie es wohl wäre, ins Wasser zu gehen!
Eine Weile verharrte ich und starrte in den dunklen Fluss. Ich überlegte, ob es möglicherweise ganz leicht wäre, wenn man sich erst dazu entschlossen hatte. Täte es vielleicht auch gar nicht weh? Besonders dann, wenn man einiges getrunken hatte wie ich – könnte das nicht der ideale Zeitpunkt sein, um ein Leben zu beenden, welches beim besten Willen keine Perspektive bot? Und außerdem: Was hatte ich zu verlieren?
„Nichts“, war meine bescheidende Antwort.
Ich realisierte, dass es mir auf einmal gar nicht mehr schwer fiel, von meiner Zukunft zu lassen, die nicht mehr für mich bereit hielt, als eine Menge Enttäuschungen auf dem Weg in ein trostloses, einsames Rentnerdasein in meiner wohlbekannten Zweizimmerwohnung, die ich bis dahin nicht mehr verlassen würde. Nur, also womit ich immer echt Probleme hatte, wenn sich meine Gedanken tatsächlich einmal mit dieser Thematik befassten: Schmerzen und jegliche Form von Todeskampf waren mir suspekt. Deshalb war es wichtig, so etwas unbedingt zu vermeiden! Mir war klar, dass nur eine angenehme Art, aus dem Leben zu scheiden, für mich infrage käme. Wenn es also schmerzlos und irgendwie auch emotionslos, so ganz ruhig über die Bühne zu bringen wäre – ja, warum nicht? Und warum nicht gleich? Ich könnte mich wenigstens darauf vorbereiten und schauen, wie sich das anfühlen würde ... so ganz unverbindlich ...
Ich beschloss, mich noch näher an das heranzuwagen, was ich als schmalen Weg die Böschung hinunter inmitten tiefer Dunkelheit erahnte. Mein nächster, vorsichtig tastender Schritt führte schon leicht abwärts. Mann, war das feuchte Gras glatt! Auch der darunter liegende Boden war matschig und bot nicht viel Halt. Da konnte man sich aber leicht um Kopf und Kragen bringen, wenn man hier abrutschte! Vermutlich würde man dann auch noch mit dem Schädel auf einen der Steine aufschlagen, die das Ufer befestigten, wie ich von meinen Erkundungstouren bei Tage wusste!
Plötzlich hörte ich etwas knacken. Das Geräusch schien von hinter mir zu kommen. Vielleicht ein Zweig auf dem Weg, den ich entlang gewankt war? Aber warum knackte der? Hier knackte doch sonst nichts! Bis auf ab und zu ein leises Raunen im Blätterwald hoch über mir oder ein fernes Auto auf einer der Straßen rund um den Park, war hier nichts zu hören. Vielleicht sollte ich doch mal eben den Kopf wenden und nachsehen, auch wenn mich das überhaupt nicht mehr interessieren musste?
Ich drehte mich um und merkte in diesem Moment, dass das keine gute Idee war. Der unsichere Stand meiner hohen Absätze auf dem abfallenden Boden, dazu das nachtfeuchte Gras und vor allem drei Caipirinha auf vorwiegend nüchternen Magen ließen jeden weiteren Gedanken zu schmerzlosem Ableben, gefährlicher Uferbefestigung und knackenden Zweigen verstummen. Mit einem Schreckensschrei rutschte ich die matschige Böschung hinab, verlor das Gleichgewicht, meine Beine tauchten ins Wasser ein und mein Kopf schlug unsanft auf etwas Hartem auf. In diesem Moment schoss mir durch den Kopf: „So einfach kann das sein!“
+
Als ich erwachte, fühlte es sich an, als wäre eine Ewigkeit vergangen. Um mich herum war es immer noch dunkel. Wo war das Licht, von dem immer gesprochen wurde?
Dann bemerkte ich über mir eine Gestalt, deren Umrisse sich nur wenig von der mich umgebenden Dunkelheit abhoben und vor meinen Augen verschwammen. „Da steht jemand vor dem Licht, das hinüberführt“, dachte ich. Ich fühlte mich seltsam entrückt und ein bisschen benebelt. Schmerzen hatte ich keine, und auch meine Gedanken schienen endlich zur Ruhe gekommen zu sein. Was für ein herrlich entspannter Zustand! Das war gar nicht so schlecht! Warum hatte ich diesen Schritt nicht schon viel früher gewagt?
Das Verschwimmen der Bilder ließ langsam nach und ich konnte die Gestalt über mir besser wahrnehmen. Doch ich erkannte nicht mehr als die Umrisse eines Ehrfurcht gebietenden Schädels, der von etwas Hellem umgeben war – einem spärlichen Licht, das von einer Quelle weit hinter der Gestalt zu kommen schien. Es sah fast aus ... ja, so sah sicher ein Heiligenschein aus, dachte ich vergnügt ... und ließ mich fallen. Hier war ich richtig! Hätte ich zwei Auswüchse oberhalb der Stirn im Gegenlicht gesehen, hätte mich das vermutlich beunruhigt. Aber diese Gestalt ... mit Heiligenschein ... bewies mir, dass alles gut war. Hier war ich in Sicherheit!
„Bin ich im Himmel?“, fragte ich mit leiser Stimme. Ich fühlte mich noch sehr schwach und so herrlich gelöst! „Wie gut. Ich konnte einfach nicht mehr“, meinte ich erklären zu müssen, als der Wächter vor dem Himmelstor immer noch nichts sagte. Aber ich spürte, dass er mich verstand, denn eine Hand strich mir vorsichtig über die Stirn. Vielleicht war das so etwas wie ein Segen für Neuankömmlinge?
Plötzlich hörte ich von Ferne Musik an- und wieder abschwellen. Bald gesellten sich bunte Lichter dazu. Immer wieder fielen mir die Augen zu und ich wollte auch bloß ausruhen. Wann hatte ich mich das letzte Mal so leicht gefühlt? Herrlich!
Die Gestalt strich mir weiter über die Stirn und sagte etwas, was ich aber nicht verstand. Nur den Klang dieser warmen, tiefen, weichen Stimme hörte ich genau. Was sie wohl sagte? Keine Ahnung. Aber es hörte sich wohltuend beruhigend an. Vielleicht sprach man im Himmel so? Ich würde es sicher auch bald lernen. Nur die Musik – also, ein bisschen nervtötend fand ich sie schon. Waren Harfenklänge wirklich so penetrant? Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie Harfen sich anhörten, aber das war einfach nicht möglich ...
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Als ich das nächste Mal erwachte, hatte sich die Szenerie komplett geändert.
„Guten Morgen“, rief eine herrische Stimme, und sogleich hörte ich auch irgendwelche Gerätschaften klappern. Ich öffnete die Augen. Unangenehm helles Licht strahlte mir von einer weißen Wand entgegen, die sich gegenüber meines weißen Bettes befand. Ich selbst lag unter einer weißen Bettdecke. Ich schloss die Augen wieder, weil die Helligkeit und ein bisschen auch die Trostlosigkeit dieses Ortes mich blendete. Denn trostlos war das, was ich sah – im Gegensatz zu dem, wie ich mir den Himmel, mein neues Zuhause, vorgestellt hatte.
Die Stimme, die mich geweckt hatte, fand sich nun neben meinem rechten Ohr wieder. „So, ich muss mal eben Ihren Bauch freimachen. Ist nur ein kleiner Pieks und gleich vorbei.“
Die zur Stimme gehörende Person zog mir die Bettdecke weg, schob ein Gewand zur Seite, welches meinen Körper bedeckte, griff beherzt in meine Bauchdecke und bevor ich noch irgendetwas tun konnte, spürte ich, wie sie mir eine Nadel in dieselbe bohrte. Diese zog sie nach ein paar Sekunden heraus, bedeckte meinen Bauch, der unangenehm kalt geworden war, wieder mit dem Gewand und warf die Bettdecke über mich. „Ist gegen Thrombose“, erklärte die Stimme. Dann entfernten sich Schritte und eine Tür fiel zu.
Nachdem die Stille ein paar Sekunden angehalten hatte, traute ich mich, vorsichtig meine Augen wieder zu öffnen. Die Luft schien rein zu sein. Aber wo war ich hier bloß hingekommen?
Noch immer ziemlich benommen sah ich mich um. Nach und nach fügte sich ein Puzzleteilchen zum nächsten: Das weiße Bett mit der weißen Bettdecke, die weiße Wand, der graue Linoleumfußboden, der praktische Nachttischwagen auf Rollen zu meiner Linken, daneben ein Infusionsständer, der kleine Sperrholztisch mit grauer Tischplatte unter dem Fenster, flankiert von zwei unbequem aussehenden, hellblauen Plastikstühlen, und zu meiner Rechten ein ebensolches Bett wie das, in dem ich mich befand. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass es nicht belegt war. Dahinter sah ich hellblaue Einbauschränke und links davon eine Tür, die sicher in eine Nasszelle führte. Jedenfalls hoffte ich das, denn ich wusste – jetzt da mir klar war, dass dies wohl doch nicht der Himmel, sondern ein Krankenhaus war – dass ich irgendwann, vermutlich recht bald, aufs Klo gehen wollen würde.
Scheiße! Was war passiert?
Ich versuchte mich zu sammeln. Mein Kopf brummte. Außerdem fühlte er sich anders an als sonst ... irgendwie ...
Ich hob meine linke Hand und versuchte, mein Gesicht zu berühren. Die rechte brauchte ich, um mich am Bett festzuhalten. Sicherheitshalber.
Aua! Was war denn das?
Meine linke Hand schien festzuhängen! Entsetzt schaute ich auf meinen Handrücken und entdeckte die gut zugepflasterte Infusionsnadel, die hineingebohrt worden war, und die zu der klaren Flüssigkeit in dem Beutel am Ständer führte.
Oh Gott!
Ich schauderte bei dem Gedanken, wie tief diese Nadel wohl in meiner Ader steckte – die war doch sicher viel zu dünn für so etwas! – und beschloss, meine Linke auf gar keinen Fall mehr zu bewegen. Also musste nun doch meine rechte Hand das Bett loslassen. Glücklicherweise schien diese unversehrt zu sein. Willig gehorchte sie meinem Befehl und tastete nach meinem Kopf.
Ein Schock fuhr mir durch die Glieder. Meine Haare! Wo waren meine Haare?! Ich fühlte nur so etwas wie ... Stoff?
Mittlerweile war ich wach. Auch ohne Kaffee und trotz Brummen im Kopf. Fast panisch schlug ich die Decke zurück. Was war mit meinen Beinen?
Am Ende des Bettes erblickte ich meine Unterschenkel und meine Füße, deren Zehen ich sofort probehalber bewegte. Klappte einwandfrei.
Erleichtert ließ ich mich wieder ins Kissen sinken.
Au! Mein Kopf!
Jede Bewegung schmerzte und hallte dröhnend im Innern meines Schädels nach. „Lieber nicht rühren und einfach liegen bleiben“, dachte ich.
Doch nur einen Moment später drängten sich furchterregende Gedanken in mein Bewusstsein: Wie sah ich aus? War mein Gesicht noch da? Was, wenn ich durch einen Unfall total entstellt wäre und aussähe wie das Phantom der Oper unter seiner Maske? Und aufs Klo musste ich jetzt auch! Deshalb half alles nichts und die Infusionsnadel konnte mich nun auch nicht mehr schrecken. Mühsam setzte ich mich auf, ergriff resolut den Infusionsständer und erinnerte mich daran, dass Tom Hanks in „Streets of Philadelphia“ damit sogar tanzen konnte ...
Was für eine völlig überflüssige Information, die mein Gehirn da ausspuckte! Konnte es sich nicht wenigstens in diesem wirklich existenziellen Moment auf das Wesentliche konzentrieren?
Dann stand ich auf. Und setzte mich gleich wieder. Scheiße, war mir schwindelig! Nur mühsam konnte ich einen Brechreiz unterdrücken. Aber egal: Ich wusste, wo das Klo war – jedenfalls war ich ziemlich sicher, dass es sich hinter der Tür neben dem Wandschrank befand. Und da musste ich jetzt hin! Dort gab es sicher auch einen Spiegel ... außer, das fürsorgliche Krankenhauspersonal hatte ihn vorsichtshalber abgehängt, um mir den furchtbaren Anblick zu ersparen, der mich erwartete, wenn ...
Hilde! Reiß dich zusammen!
Also probierte ich es noch einmal: Ich stellte beide Füße fest auf den Boden, packte den Infusionsständer, atmete tief ein und wieder aus und stand auf. Jetzt passte es. Ich ging ein paar Schritte. Auch das funktionierte. Ich ignorierte das fast hubschraubergleiche Dröhnen in meinem Kopf und das Schwindelgefühl, das mich sofort wieder aufs Bett zwingen wollte, denn ich musste ins Bad, und zwar dringend. Also stieß ich alle Bedenken beiseite, ob ich wirklich dazu in der Lage wäre, den Weg bis dahin zurückzulegen, und hangelte mich zwischen Infusionsständer und Bett durchs Zimmer. Ich riss die Tür auf. Wo war denn hier der Lichtschalter? Verdammt noch mal, warum waren die zu blöd ... ah, gleich rechts neben der Tür, fast verdeckt von dem Handtuch, welches an einem Haken darüber hing.
Ich schaltete das Licht an und ... Gott sei Dank!
Mein Blick war in den Spiegel gefallen, und der Anblick war nicht schön, aber ich erkannte mich auf Anhieb wieder. Bis auf ein etwas verquollenes Gesicht und völlig verlaufene Wimperntusche war auch alles gut. Der restliche Kopf – okay – da war ein Verband, aber das hatte ich schon geahnt. Jedenfalls schien ich noch Haare zu haben! Vielleicht nicht am ganzen Kopf – keine Ahnung, was sich unter dem Turban befand – aber wenigstens ein paar schauten unter den weißen Stoffstreifen hervor.
Erleichtert seufzte ich. Und dann gab es kein Halten mehr und ich reiherte, was das Zeug hielt, ins Waschbecken.
+
Zwei Tage später war ich wieder zuhause. Endlich!
Ich stand mitten in meinem Wohnzimmer und sah aus dem Fenster in den trüben Mainachmittag. Nun, da ich wieder in meiner vertrauten Umgebung war, die genauso aussah wie an jenem Abend, als ich sie verlassen hatte, erschien mir die Zeit im Krankenhaus fast wie ein schlechter Traum und komplett irreal. Hatte es meinen Klinikaufenthalt wirklich gegeben?
Erleichtert hatte ich heute Mittag meine Entlassungspapiere und den Brief an meinen Hausarzt, der mir eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde bescheinigte, vom Stationsarzt entgegengenommen. Glücklicherweise hieß das, dass ich wieder nach Hause konnte! Sofort hatte ich meine wenigen Sachen zusammengepackt, das Krankenhaus verlassen und ein Taxi gerufen. Vor ein paar Minuten hatte es mich vor dem Haus abgesetzt und ich hatte die drei Stockwerke bis zu meiner Wohnung erklommen. In den letzten zwei Tagen hatte ich nichts so sehr herbeigesehnt wie diesen Moment, wenn ich endlich wieder in meiner Wohnung, in meinem Leben sein würde!
Huch! Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Ich?
Nun stand ich hier, in meinem Wohnzimmer, blickte aus dem Fenster auf den Baum vor dem Haus und daran vorbei auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich ebenfalls eine Altbauwohnung an die andere reihte, und konnte mich nicht rühren. In den letzten zwei Tagen hatte ich wohl verdrängt, in was für einem Zustand ich mich befunden hatte, als der Unfall im Park geschah. Die wenig anheimelnde Krankenhausatmosphäre sowie die nicht vorhandene Privatsphäre – ein Krankenhauszimmer ist ein öffentlicher Raum, in den jeder jederzeit, bestenfalls angekündigt durch ein kurzes Klopfen eine Zehntelsekunde vor Aufreißen der Tür, eindringen kann – hatten mich von tiefer gehenden Reflektionen über das Geschehene abgehalten. Meine gut besuchte Bettnachbarin, die mir noch am selben Nachmittag, als ich im Krankenhaus erwacht war, zugeteilt wurde, ebenfalls.
Aber jetzt, hier, in meinem alten, vertrauten Leben, da gab es nichts mehr, was mich ablenkte. Es hätte so gut getan, einfach losheulen zu können, um dem Schmerz eine Möglichkeit zu geben, meinen Körper zu verlassen, aber dafür war der Druck auf meiner Brust viel zu schwer. Es war alles wieder da, was ich vor meinem Sturz gefühlt hatte. Besonders die Aussichtslosigkeit konnte hier, im vertrauten Heim, wo sich nichts verändert hatte, wo mein Leben wieder so war, wie es war, ihre volle, alles verschlingende Wirkung entfalten.
Statt der ersehnten Tränen lief meine Nase. Mechanisch suchte meine Hand in meinem Jackett, das ich erstmals seit Freitag, der Nacht meines Unfalls, wieder trug, nach einem Taschentuch. Dort war aber keines. Stattdessen ertasteten meine Finger etwas anderes: ein kleines, glattes Stück Pappe, das vor meinem Unfall sicher nicht da gewesen war – daran hätte ich mich spätestens jetzt erinnert. Ich zog das Etwas aus der Tasche, legte es auf das Sideboard und suchte erst einmal nach einem Taschentuch, das ich bald fand. Nachdem ich vorsichtig, um nicht mehr Druck als nötig auf meinen Kopf auszuüben, meine Nase geputzt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Stück Pappe zu, das auf dem Sideboard lag. Es hatte das Format einer Visitenkarte und war weiß. Eine Schrift war nicht zu sehen – vermutlich befand sich diese auf der nach unten liegenden Seite der Karte.
Hm. Sollte der Freitagabend in der Bar vielleicht doch nicht so völlig ergebnislos verlaufen sein, wie ich ihn in Erinnerung hatte? Hatte ich eventuell einen sehr zurückhaltenden Verehrer gehabt, den ich gar nicht bemerkt hatte? Hatte dieser Jemand heimlich seine Karte in meine Jackentasche gesteckt in der Hoffnung, dass ich genauso neugierig war, wie man es Frauen nachsagte, und anrief?
Huch!
Konnte es vielleicht sogar dieser höchst attraktive große Dunkelhaarige gewesen sein, der mir zwar aufgefallen war, ich ihm jedoch nicht – jedenfalls hatte ich das bis jetzt geglaubt? Hatte ich dem Leben vielleicht doch überzeugend gezeigt, wie ernst ich es gemeint hatte mit dem „Loslassen“? Und hatte sich das Leben entsprechend beeindruckt gezeigt und endlich, aber auch wirklich auf den allerletzten Drücker, den Traumprinzen in mein Leben gezaubert, der schon so lange überfällig war?
Eine Flut von Fragen rund um die Visitenkarte, die unschuldig auf meinem Sideboard lag, türmte sich innerhalb von maximal einer Zehntelsekunde vor mir auf. Die zweite Zehntelsekunde brauchte ich, um zum Sideboard zu hasten, die Karte zu ergreifen und umzudrehen. Und die dritte, um zu lesen, was darauf stand:
Dr. Siegbert Gärtner, Praxis für Psychotherapie und Hypnose. Darunter eine Adresse und eine Telefonnummer.
Ein Psychotherapeut?
„Warum nicht?“, dachte ich gut gelaunt. „Dann ist er eben Psychotherapeut! Von irgendwas muss er schließlich leben. Vielleicht kann ich den ja tatsächlich gerade gut gebrau...“
Ich stockte. War das ein Zufall? Hatte mir das Schicksal, dieses hintertriebene Luder, ausgerechnet einen Psychotherapeuten geschickt, der in der Latino-Bar auf mich aufmerksam wurde? Das war ja wohl die Höhe! Ich war doch nicht bekloppt! Ich war verzweifelt!!! Sollte das einer dieser überflüssigen Scherze sein, die das Leben von Zeit zu Zeit bereit hielt, wenn es Langeweile und schlechte Laune hatte?
Misstrauisch betrachtete ich die Karte genauer. „Siegbert“, las ich noch einmal. Hm. Sollte der hübsche Dunkelhaarige tatsächlich mit so einem Namen gestraft sein? Wie abartig! Kein Wunder, dass er Therapeut geworden war!
Aber irgendwie schien mir das nicht recht wahrscheinlich zu sein. Ich dachte nach. Hatte sich wirklich irgendjemand in dem Laden befunden, der so alt war, wie sich der Name anhörte? Möglich wär‘s. Die Bar war voll gewesen und ich ebenso. Meine Erinnerungen an jenen Abend waren mit Sicherheit nicht die zuverlässigsten!
Irgendetwas an dieser Karte ernüchterte mich. Sie las sich einfach nicht so, wie ich mir eine Karte von meinen Traumprinzen vorstellte. Auch sah sie nicht so aus, als könnte sich dahinter ein neues, erstrebenswertes Leben verstecken, und die Berufsbezeichnung „Psychotherapeut“ irritierte mich sehr!
Dennoch – hatte ich eine Wahl?
Ich wusste, ich würde anrufen und versuchen herauszufinden, wer dieser Mensch war. Meine Neugier ließ gar nichts anderes zu! Und meine Überzeugung, dass das Schicksal sich bei dieser Sache irgendetwas gedacht haben musste, auch nicht. Schließlich war ich nachts im dunklen Park fast ertrunken, auch wenn ich wohl nicht in den Fluss, sondern nur auf den schmalen Uferstreifen unterhalb der Böschung gefallen war. Immerhin hatte mir das zweieinhalb Tage im Krankenhaus eingebracht und das fand ich im Vergleich zur sonstigen Ereignislosigkeit in meinem Leben höchst dramatisch! Auch wenn ich diese Ereignisse vielleicht ein kleines bisschen provoziert hatte mit meinem nächtlichen Ausflug zum Fluss, um halbwegs besoffen herauszufinden, wie sich „ins Wasser zu gehen“ wohl anfühlen mochte, so musste es dennoch eine Bedeutung haben, dass diese Karte in meiner Jacke war! Und: Es musste irgendwohin führen, wenn ich diesem Hinweis des Schicksals folgte. Es gab keine belanglosen Zufälle, wenn man vor der Entscheidung zwischen Leben und Tod stand!
Jetzt beschäftigte mich nur noch eine Frage: Wann war die beste Zeit, um diesen Mann anzurufen?
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Es war früher Abend. Ich meinte mich zwar daran erinnern zu können, dass mein behandelnder Arzt im Krankenhaus etwas davon gesagt hatte, dass Alkohol in der nächsten Zeit nicht gut für mich sei, aber so etwas sagen Ärzte immer. Sie können gar nicht anders. Genauso, wie sie sagen, dass man unbedingt das Rauchen aufgeben und sich gesünder ernähren soll. Ich fand, Alkohol war jetzt das Beste, was ich mir antun konnte. Schließlich litt nicht nur mein Kopf an Gehirnerschütterung, sondern vor allem mein Innerstes an Seelenerschütterung! Deshalb tat ich gut daran, mich bei einem Gläschen Prosecco mit einer Winzigkeit Aperol auf Eis zu entspannen. Außerdem konnte ein wenig alkoholbedingte Lockerheit nicht schaden, wenn ich vorhatte, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen und diese Chance, die das Schicksal mir kurz vor knapp vor die Füße geworfen hatte, sorgsam aufzulesen und zu nutzen. Gleich würde ich erfahren, was hinter dieser unscheinbaren und eher nüchtern wirkenden Visitenkarte auf mich wartete!
Ich nahm noch ein Schlückchen zur Aufmunterung, dann mein Telefon in die Hand, legte die Visitenkarte zurecht und wählte die dort angegebene Nummer. Ich war zugegebenermaßen ziemlich aufgeregt: Würde sich jetzt das Geheimnis lüften und ich mich daran erinnern können, wer dieser geheimnisvolle Mensch war, der mir seine Karte unter diesen mysteriösen Umständen zukommen lassen hatte?
Im Hörer tutete es. Ich ermahnte mich zur Ruhe und dazu, damit aufzuhören, die Eiswürfel im Glas mithilfe des Strohhalms hektisch im Kreis zu jagen.
„Gärtner“, ertönte es aus dem Hörer. Es war eine angenehme Stimme, wie ich beruhigt feststellte. Aber auch tatsächlich eine nicht mehr ganz neue.
„Hallo Siegbert“, antwortete ich und bemühte mich möglichst ruhig und tief zu sprechen – und vor allem nicht zu husten, was mir leider häufig passierte, wenn ich aufgeregt war. Dann versuchte ich, möglichst cool den Text zu rezitieren, den ich mir zurechtgelegt hatte. Unvorbereitet würde ich nie einen Mann anrufen, den ich nicht kannte, und der mir in meiner Lieblings-Bar eine Visitenkarte zugesteckt hatte!
„Ich habe hier eine Karte von dir. Dr. Siegbert Gärtner – hübscher Name“, log ich. „Ich heiße übrigens Hilde. Ich hoffe, du weißt noch, wer ich bin?“
Mit dieser Formulierung, die alles Mögliche bedeuten konnte, plante ich, mein Gegenüber ein wenig aus der Reserve zu locken. Wer konnte schon wissen, wo und in welchen Zusammenhängen der Herr Dr. Gärtner seine Visitenkarten unter das Weibsvolk schmiss? Und tatsächlich: Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Ich schien Siegbert irritiert zu haben! Vermutlich klapperte er gerade fieberhaft alle Zusammentreffen der letzten zwei Wochen ab, an deren Ende er seine Karte irgendwo hinterlassen hatte.
„Ups“, gurrte ich gut gelaunt, „erwischt! Der Herr Doktor beliebt des Öfteren, seine Visitenkarte konspirativ in die Taschen attraktiver Frauen zu schmuggeln. Und jetzt überlegt er, welcher der vielen auf diese Weise eroberten Kontakte ich wohl sein könnte?“
Ich lachte leise und hoffte, dass es charmant klingen möge. Leider kippte meine Stimme am Ende um zu einem Kiekser und ich schlug erschrocken die Hand auf meinen Mund. Himmelherrgottnocheins! Vielleicht hätte ich doch ein bisschen sparsamer mit dem Aperol umgehen sollen! Die Flüssigkeit im Glas hatte eine gefährlich tieforangefarbene Färbung gehabt!
Am anderen Ende der Leitung war immer noch nichts zu hören.
„Entzückend! Vielleicht sollte ich dir einen kleinen Hinweis geben?“, riet ich und fing an, mich sicherer zu fühlen. Langsam entwickelte ich Spaß an der Angelegenheit! Dieser Siegbert schien ein bisschen schüchtern zu sein, obwohl er Psychotherapeut war. Musste so einer nicht den ganzen Tag reden? Oder nein – er ließ vermutlich reden und saß mit nachdenklich auf seine Hände gestütztem Kopf da und lauschte. Vielleicht reichte er auch ab und an mal ein Taschentuch oder tätschelte beruhigend die Hand einer Klientin, die gerade von ihrer katastrophalen Kindheit berichtete!
„Aaalsoo ...“
Ich zog das „also“ ganz lang und hoffte, dass es unwiderstehlich charmant und selbstsicher `rüberkam. Irgendwie reizte dieser schüchterne Psychodoktor mich dazu, mit ihm zu flirten! Ich war sicher, ihm im Nullkommanichts den Kopf verdrehen zu können. Er schien fast ein bisschen hilflos zu sein, wie er da vor sich hin schwieg. Wahrscheinlich eine leichte Beute, schnell zu beeindrucken und vor allen Dingen – harmlos! Das gab mir ein Gefühl von Überlegenheit und damit die nötige Sicherheit, um ein wenig mit ihm zu spielen. Ich fand, das war genau das, was ich gerade brauchte: Ein kleiner Flirt, der mein Selbstbewusstsein aufbaute, mit einem Mann, von dem keinerlei Gefahr ausging, und vor allem in einer Konstellation, in der ich eindeutig die Souveränität hatte, das Gespräch zu lenken, wohin ich es lenken wollte!
„Ich bin die zierliche, schlanke Rothaarige, die Caipirinha getrunken hat. Schwarzes Jackett und Leopardentop. Ich hoffe, du erinnerst dich?“, fragte ich mit naiv-verführerischer Stimme. Mann, machte das Spaß! Und ich konnte es mir leisten! Schließlich hatte dieser Kerl mir seine Visitenkarte zugesteckt. Also würde er mich auch für entsprechend attraktiv halten und mir aus der Hand fressen!
Doch am anderen Ende der Leitung blieb es immer noch still. Meine Güte, das wurde jetzt aber langsam anstrengend!
„Freitag ...“, flüsterte ich, „... abend“, ergänzte ich nach zwei Sekunden Pause lasziv.
Ich wartete. Ich hörte immer noch nichts. Hatte ich es vielleicht übertrieben? War der Mann am anderen Ende der Leitung vielleicht dermaßen schüchtern, dass eine Frau, die so souverän und weltgewandt auftrat wie ich, und die so erfahren im Umgang mit Männern wirkte, ihn überforderte?
Als nach einer Weile am anderen Ende der Leitung immer noch nichts passierte, flötete ich „Hallo? Jemand Zuhause?“ in den Hörer. Ich hoffte, ich würde damit dem schüchternen Siegbert signalisieren, dass ich zwar eine unheimlich souveräne und weltgewandte Frau war, aber eben auch eine mit Humor, vor der der kleine Siegbert sich nicht fürchten musste, weil sie ganz lieb war und ihm nichts tun würde. Aber auch danach rührte sich am anderen Ende der Leitung nichts.
Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, während der mich nur die Tatsache, dass ich mir einfach nicht darüber klar werden konnte, was ich von der Angelegenheit halten sollte, davon abhielt aufzulegen, hörte ich endlich ein Räuspern.
Aha! Es lebte!
„Ja, ich bin zuhause“, kam es vom anderen Ende der Leitung, „oder besser gesagt: Ich bin noch in der Praxis. Aber das wissen Sie ja – das steht ja auf der Visitenkarte.“
Nun war ich an der Reihe verwirrt zu sein. Zuhause, Praxis – war das mein Problem, wo er sich gerade befand? Aber vielleicht hatte ich den kleinen Siegbert einfach überrumpelt und er musste halt irgendetwas sagen, um die Zeit zu überbrücken bis zu jenem Moment, wo er wusste, was er der begehrenswerten Frau mitteilen wollte, der er seine Karte zugesteckt hatte. Ich beschloss, ihm diese etwas lahme Eröffnung der Konversation seinerseits nachzusehen. Psychotherapeuten halt. Tse! Von denen war ja bekannt, dass sie selbst ihre besten Kunden waren!
„Und natürlich erinnere ich mich an Sie. Ich fische nicht so oft Frauen aus dem Fluss bei meinen abendlichen Spaziergängen im Park.“
Ich erstarrte. Was hatte er gerade gesagt?
„Es scheint Ihnen wieder besser zu gehen. Wie schön! Ich habe heute im Klinikum angerufen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Man sagte mir aber nur, dass Sie das Haus bereits verlassen hätten. Das hat mich beruhigt.“
„Ah ja“, war alles, was ich dazu sagen konnte.
Obwohl ...
Wie romantisch war das denn!!! Mein heimlicher Verehrer hatte mein Leben gerettet! Just in dem Moment, wo es für mich keinen Sinn mehr gehabt hatte! Wo ich ernsthaft entschlossen war, den aussichtslosen Tatsachen ins Auge zu sehen und alles fast schon vorbei gewesen war, da hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes mein Traumprinz zurück ins Leben gezogen. Unglaublich! Fast hätte ich geseufzt: „Oh Siegbert!“
Doch Siegbert setzte seine Rede bereits fort.
„Sie wirkten etwas verwirrt, als Sie kurzzeitig bei Bewusstsein waren. Ich hatte das Gefühl, sie bräuchten vielleicht meine Hilfe. Deshalb habe ich Ihnen meine Visitenkarte in die Tasche gesteckt. Und ich freue mich wirklich, dass Sie diesen Schritt gewagt und mich angerufen haben.“
Mein Retter!!! Jetzt erinnerte ich mich schemenhaft an die dunkle Gestalt, deren Kopf ich im spärlichen Gegenlicht einer Straßenlaterne gesehen hatte, und der mir erschienen war wie der Heilige Geist persönlich. Natürlich! Diese Stimme! War sie mir nicht gleich so seltsam vertraut erschienen? Diese angenehme, tiefe Anmutung! Aber das war nicht der Heilige Geist gewesen, der mir den Weg in den Himmel bahnte. Das war er gewesen! Mein Held! Mein Siegbert, der mir den Weg zurück ins Leben wies! Und wie ritterlich seine Ausdrucksform: „Ich freue mich wirklich, dass Sie diesen Schritt gewagt haben“. So konnte nur ein Mann mit Erfahrung sprechen! Vielleicht war so ein reiferer Herr genau das Richtige für mich?
„Ich schlage vor, wir kürzen das Ganze hier ab – ich bin auch schon auf dem Sprung meine Praxis abzuschließen.“
Ja!!! Wow, wie schnell das Leben plötzlich in die Hufe kommen konnte, wenn es wollte! Das versprach noch ein ereignisreicher Abend zu werden. Wo würde er mich wohl treffen wollen? Vielleicht wieder im Park, am Fluss, dem Ort unserer ersten Begegnung?
„Wenn Sie Zeit haben – vorhin hat ein Klient abgesagt, der morgen Nachmittag um 16:00 Uhr einen Termin bei mir hat. Die Sitzung können Sie haben!“
Stille, dieses Mal allerdings meinerseits.
Siegbert fuhr fort: „Ich nehme auch Kassenpatienten. Das macht bei mir keinen Unterschied. Bringen Sie einfach Ihre Karte mit. Die Überweisung von Ihrem Hausarzt können Sie auch später nachreichen.“