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Wodurch ich erkannte, dass mein Leben depressiv war
ОглавлениеIch weiß nicht, wie ich erklären soll, dass ich nach diesem Telefonat nicht aus dem Küchenfenster meiner Zwei-Zimmer-Altbau-Wohnung in den Hinterhof gesprungen bin, sondern tatsächlich am nächsten Tag um 15:59 Uhr an der Tür eines zu einer Gemeinschaftspraxis umfunktionierten, zweistöckigen Wohnhauses am Stadtrand klingelte. Vielleicht lag es an meiner Wohnung, die in der dritten Etage und damit nicht besonders hoch gelegen war – der Ausgang der Angelegenheit war mir zu ungewiss. Schließlich hatte vor ein paar Tagen mein erster, mehr oder weniger unfreiwilliger Versuch, aus dem Leben zu scheiden, ja auch nicht in den Himmel, sondern nur ins Klinikum geführt, und mit dem Ergebnis war ich nicht zufrieden gewesen!
Ich hatte die dem Telefonat folgende Stunde mit einer Abfolge emotionaler Abgründe verbracht, wie ich sie in dieser Intensität noch nicht gekannt hatte. Zunächst war da die Schockstarre gewesen, die ich minutenlang, immer noch mit dem Hörer in der Hand, auf meinem Sofa zugebracht hatte, obwohl Siegbert – oder in Zukunft wohl doch eher Herr Dr. Gärtner – längst aufgelegt hatte, nachdem er mir noch einen schönen Abend gewünscht hatte. Ich hatte mich gefühlt, als wäre ich von einer Dampfwalze überrollt worden, und war unfähig gewesen zu begreifen, dass sich das, was ich zuvor erlebt hatte, tatsächlich abgespielt hatte. Nachdem ich begann, das Erlebte wenigstens für möglich zu halten – schließlich hielt ich den Telefonhörer noch in meiner Hand – wurde meine Empörung darüber geweckt, wie das Leben, dieses unaussprechlich hintertücksche Luder, mir so einen grausamen Streich hatte spielen können. Wie sehr wollte es mich denn noch demütigen? War ich nicht bereits ausreichend am Boden zerstört? Meine Empörung wanderte vom Leben weiter zu Herrn Dr. Gärtner, der durchaus, wie ich fand, schon etwas früher seinen Teil dazu hätte beitragen können, das Missverständnis aufzulösen. Anschließend überfiel mich siedend heiß die Scham über meinen unter diesen Umständen unsagbar peinlichen Monolog, der auf der Annahme gründete, ich hätte es mit einem heimlichen Verehrer und nicht mit einem altruistischen Menschenversteher zu tun. Und schließlich quälte ich mich mit der Frage, wie unendlich jämmerlich und verzweifelt ich am vorherigen Freitag gewirkt haben musste, wenn der einzige Mann, der mich hatte kennenlernen wollen, ein Psycho-Pate war, der Mitleid mit einer total kaputten Existenz hatte!
An dieser Stelle hatte ich mir einen weiteren Aperol Spritz gemixt, dem Universum zugeprostet und mich für das aufmunternde Selbstbildnis, das es mir gerade großzügig beschert hatte, bedankt. Mehr brauchte es meiner Meinung nach nicht, um mich tief in den schauderhaften Sümpfen der gnadenlosen Realität zu versenken und daran zu verzweifeln. Und hier schloss sich der Reigen und ich begann von vorne, das Leben, das unaussprechlich hintertücksche Luder, zu verfluchen.
Nachdem ich diese Abfolge von Einsichten in mein zweifellos groteskes Schicksal einige Male mithilfe weiterer Prosecco-Mischungen durchexerziert hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich – wenn ich schon in den Augen anderer eine bemitleidenswert kaputte Existenz war – diesen Zustand auch mit Würde tragen konnte. Und das bedeutete, dass eine Klarstellung der Situation gegenüber Herrn Dr. Gärtner unbedingt nötig war! Zumindest sollte mir das dabei helfen können, dieses traumatische Telefonat zu verarbeiten. Da ich glücklicherweise noch krank geschrieben war und mich nicht gleich am nächsten Tag zurück in die vom Wahnsinn umjubelten Hallen meiner Arbeitsstelle begeben musste, war auch der vom Herrn Doktor vorgeschlagene Termin um 16 Uhr für mich realisierbar.
Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, hatte ich endlich ein wenig entspannen und recht angetüdelt auf meinem Sofa einschlafen können.
Und nun stand ich um 15:59 Uhr vor dem Eingang dieses quietschgelb gestrichenen Hauses und wartete. Während ich wartete, sah ich mich um: Oberhalb der Tür war ein JingundJang-Zeichen angebracht, das mich durchdringend musterte. Links von mir, an einem Balken des Vordachs, hing ein Windspiel, welches wegen Flaute gerade nicht spielte. Rechts vom Eingang plätscherte Wasser über ein paar Keramikkugeln und verschwand in einem kleinen Becken.
„Aha“, dachte ich, als ich mit Befremden diese Anzeichen esoterisch geprägter Gestaltungskultur wahrnahm.
Ich warf einen Blick auf das Schild links neben der Tür, welches das Haus als „Zentrum für ganzheitliche Heilkunst“ auswies. Darunter waren Namen von Therapeuten sowie eine beeindruckende Anzahl von unterschiedlichen Professionen vermerkt: Von Ayurveda über Basenfasten, Energiearbeit, Focusing, Heilsingen und Kerala Fußmassage bis hin zu Ohrakupunktur, Schröpfen, Tarot-Beratung und Zungendiagnostik – um nur eine bescheidene Auswahl zu nennen – war alles vertreten, was ich nicht mit mir in Verbindung bringen konnte. Ich nahm es entsprechend distanziert zur Kenntnis.
Unter diesem aufwändig gestalteten Schild war noch ein sehr viel kleinerer, im Gegensatz zu dem obigen auffallend schmuckloser Hinweis angebracht, welcher auf meinen Lebensretter hinwies: Dr. Siegbert Gärtner, Psychotherapie und Hypnose, 1. Stock. Ich fand, dass selbst Hypnose im Zusammenhang mit den oben genannten Aktivitäten geradezu spießig wirkte.
Ich hatte meinen Lebensretter bei unserem ersten Zusammentreffen nur als dunkle Gestalt mit einem hellen Schein um den Kopf herum wahrgenommen. Auch das Telefonat hatte keinerlei Aufschluss darüber gebracht, wie dieser Mann tatsächlich aussah, dem ich gleich gegenüberstehen würde. Nicht einmal sein Alter konnte ich schätzen. Meine diesbezügliche Annahme beruhte einzig und allein auf seinem Vornamen „Siegbert“, und demnach musste er mindestens hundert sein. Dass er mir darüber hinaus unsympathisch sein würde, wusste ich seit unserem gestrigen Telefonat.
Angesichts von Windspiel, Heilsingen und Co. entstand nun in meiner Fantasie das Bild eines kleinen, dicken, einen verwanzten Wollpullover tragenden Mannes mit Nickelbrille, ausgebeulter Cordhose und komplett abgelatschten Gesundheitsschuhen, der einen selbstgetöpferten Becher mit Tee vor sich hertrug, aus dem es ab und zu tropfte, weil er ihn in Ermangelung ausreichender Aufmerksamkeit und Körperspannung ständig gefährlich schräg hielt. Herr Dr. Gärtner wurde mir mit jeder Sekunde, die ich vor der Tür wartete, unsympathischer!
Ich schärfte mir erneut ein, mich auf gar keinen Fall auf eine Therapie oder Ähnliches einzulassen. Zwar hatte mein Lebensretter das gestern Abend ziemlich uncharmant so verfügt, doch ich zog es vor, einfach nur das durch meine Fehleinschätzung entstandene Missverständnis auszuräumen, mich dafür zu bedanken, dass er mich aus dem Wasser gezogen hatte, und dann wieder zu verschwinden. Das Ganze war mir zwar unangenehm, weil Herr Dr. Gärtner einen ganzen Termin für mich freigehalten hatte und sicher erwartete, neue Kundschaft akquiriert zu haben, doch ich plante in dieser Angelegenheit hart zu bleiben. Und vielleicht sollte ich jetzt, solange auf mein Klingeln noch keine Reaktion erfolgte, einfach die Gelegenheit nutzen und wieder verschwinden? Ich hatte es versucht – ehrlich! Aber wenn niemand öffnete – was konnte ich dafür?
Kaum hatte ich das gedacht, da ertönte auch schon der Türsummer. Es war Punkt 16:00 Uhr. Ich seufzte. Schade! Hätte das Schicksal nicht einmal etwas unkompliziert in meinem Sinne regeln können? Aber vermutlich hätte mich dann doch irgendwann das schlechte Gewissen gepackt, weil ich einen verabredeten Termin nicht ordnungsgemäß wahrgenommen hatte. Also fügte ich mich der Vorsehung und drückte die Tür auf. Was hatte ich noch gleich sagen wollen? Ach ja: „Guten Tag, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wie, Sitzung? Nein, nein, das ist wohl ein Missverständnis ...“
In dem kleinen, orangefarben gestrichenen und mit Terracotta-Fliesen ausgelegten Eingangsbereich fiel mir zunächst ein rotes Etwas aus Ringen, Puscheln und Federn auf, das von der holzgetäfelten Decke hing. Vielleicht ein Fliegenfänger, nur ohne Fliegen? Hm. Ich berührte es vorsichtig mit den Fingerspitzen, doch es schien nicht klebrig zu sein. Seltsam. Oder sollte es möglicherweise böse Geister fernhalten? Ich grinste. Dann könnte ich so ein Gerät bei mir im Büro ausprobieren und schauen, ob es auch gegen meinen Chef wirkte!
Unter dem seltsamen Etwas, gleich neben der Tür, die weiter in das Hausinnere führte, stand ein Regal mit Schuhen. Altmodische, ausgeblichene rote Damenstiefel aus Wildleder – wann waren die denn mal modern gewesen? – standen neben klobigen, ausgetretenen Herrensandalen. Darunter befanden sich ein Paar Turnschuhe und dunkelblaue Ballerinas mit Schleifchen. Gleich daneben bemerkte ich ein Schild: „Bitte ziehen Sie die Schuhe aus, um keine schmutzigen Energien in den inneren Raum zu tragen. Danke!“
Ich stutzte. Galt das auch für Besucher? Solche wie mich? Sollte ich wirklich meine Schuhe ausziehen, oder machte ich mich damit in den Augen des Psychotherapeuten, den ich aufzusuchen gedachte, erneut verdächtig, weil sich diese Aufforderung natürlich nur an den Heilsing-Kreis richtete und nicht an normale Menschen? Und würden meine Schuhe noch dort stehen, wenn ich die Praxis wieder verlassen wollte? Wer garantierte das? Wie sollte ich im Falle eines Falles ohne Schuhe nach Hause kommen? Ich überlegte einen Moment lang, ob ich es ohne Aufsehen zu erregen schaffen könnte, auf Socken bis zu meinem Auto zu gelangen. Zumindest theoretisch schien mir das möglich zu sein, wenn es auch Überwindung kosten würde!
Nachdem ich abgewogen hatte, ob es nun unangenehmer wäre, den Hinweis falsch zu deuten und irrtümlich auf Socken durch die Praxis zu rennen oder von einem empörten Insassen auf meine Dreistigkeit hingewiesen zu werden, das Haus durch schmutzige Energien entweiht zu haben, entschied ich mich schließlich dafür, mich vorübergehend von meinen Schuhen zu trennen. Sie waren sowieso nicht mehr ganz neu.
Beim Ausziehen stellte ich erleichtert fest, dass ich morgens ein Paar verhältnismäßig neue Socken erwischt hatte. Zwar achtete ich gemeinhin sehr auf meine Garderobe, doch zugegebenermaßen vernachlässigte ich meine Strümpfe, weil ich normalerweise nicht in die Verlegenheit geriet, diese der Öffentlichkeit präsentieren zu müssen.
Schon ein wenig stolz auf meine zufälligerweise ansehnliche Fußbekleidung verließ ich den Eingangsbereich durch die angelehnte Tür, die in einen großen Flur führte, und stieg die mit grober Naturfaser bespannten Treppenstufen empor. Auf einem Absatz in mittlerer Höhe begegneten mir auf einem kleinen Rattan-Tisch große rosafarbene Salzkristalle, die hinter einer goldfarbenen Statue drapiert waren, die vermutlich Buddha darstellen sollte, aber ich kannte mich da nicht so aus. Gab es noch andere dicke, sitzende Heilige, von denen Statuen gefertigt wurden?
Dann hob ich meinen Blick zur nächsten Etage und erblickte auf einer lachsfarben gestrichenen Wand einen Behang aus Stoff mit einer nackten Figur, die von kreisförmigen Ornamenten bedeckt war. Zugegeben: Mit jedem weiteren Detail, das ich in diesem Haus entdeckte, wurde ich unsicherer, ob es klug gewesen war hierherzukommen, ohne wenigstens meiner Nachbarin Bescheid zu geben, wo ich mich aufhielt. Wo war ich hier nur gelandet?
Vorsichtig schritt ich die letzten Stufen zum oberen Stockwerk hinauf. Währenddessen drangen aus einem der Räume dort oben langgezogene metallische Töne an mein Ohr. Aus dem Erdgeschoss vernahm ich für einen Moment so etwas wie ein Stöhnen, als eine Tür geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Doch sonst war es still und niemand war zu sehen.
Als ich fast oben angekommen war, überlegte ich in Anbetracht der vielen Türen, die vom Flur abgingen und die alle geschlossen waren, wie ich verfahren sollte, um zu meinem Lebensretter zu finden. Sollte ich nach ihm rufen? Ich könnte ja auch einfach wieder gehen, wenn sich daraufhin niemand meldete. Vielleicht hatte jemand den Summer nur versehentlich betätigt und Herr Dr. Gärtner war gar nicht da?
Doch kaum hatte ich die letzte Treppenstufe erklommen, da öffnete sich eine der zahlreichen Türen und ein großer, schlanker Herr um die sechzig, bekleidet mit einem weißen Hemd und Krawatte zu einem grauen Anzug stand im Flur. Seinen Aufzug hätte ich sicher in einem Versicherungsfachbüro erwartet, aber bestimmt nicht hier! Einzig und allein die braun-karierten Hausschuhe, die sich in einem seltsamen Kontrast zu der übrigen Kleidung befanden, wiesen darauf hin, dass dieser Mensch hierher gehören musste, denn Klienten brachten sicher in den seltensten Fällen Hausschuhe mit. Oder etwa doch?
Auf den zweiten Blick erkannte ich mit Erstaunen, dass ich hier vermutlich meinen Lebensretter vor mir hatte, denn die kurzen, hellgrauen Locken erinnerten mich sofort an den „Heiligenschein“, den ich Freitagnacht vor mir gesehen zu haben meinte.
Das also war Dr. Siegbert Gärtner?
Herr Dr. Gärtner vermochte – trotz des unpassenden Schuhwerks – eine selbstsichere Autorität zu verströmen, als wäre sein Aufzug in diesem esoterisch geprägten Umfeld das Selbstverständlichste, was man sich denken könnte. Er sah mich an: Nicht unfreundlich, aber beobachtend. Ich schaute zurück, ebenfalls nicht unfreundlich, aber irritiert. So eine Erscheinung hatte ich nicht erwartet!
Nachdem wir einige Sekunden regungslos voreinander gestanden hatten, streckte er mir seine Hand entgegen.
„Gärtner“, sagte er knapp und wies nach einem kurzen Händedruck einladend ins Innere des Raumes, aus dem er herausgetreten war. Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen, mich in die Höhle des Therapeuten zu begeben, sondern das, was ich zu sagen hatte, möglichst in zwei prägnanten Sätzen und zwar noch vor der Tür loszuwerden, doch wie hypnotisiert befand ich mich schon kurze Zeit später in seinem Arbeitsbereich.
Na gut, dann würde ich das Missverständnis eben hier aufklären!
Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass es in seinem Sprechzimmer völlig anders aussah als im Rest des Hauses, soweit ich es gesehen hatte. Hier wirkte alles ganz normal: weiße Wände, ein hellgrauer Teppich und hohe weiße Bücherregale, die fast bis zur Decke reichten. Gegenüber des großen Fensters, welches mit halbgeöffneten Lamellenjalousien verhängt war, stand ein großer weißer Schreibtisch, auf dem sich neben einem Bildschirm, der Tastatur und einigen Büroutensilien wie Locher, Hefter und Stiften, jede Menge Zeitschriften, Schnellhefter und schmale Aktenordner stapelten. In einer Ecke neben dem Fenster befand sich eine kleine Sitzgruppe aus schmalen schwarzen Ledersesseln und einem kleinen Tisch, der aus einem Chromgestell mit einer Glasplatte darauf bestand.
Herr Dr. Gärtner war nach mir ins Zimmer getreten und hatte die Tür geschlossen. Noch bevor ich zum eigentlich Grund meines Besuchs kommen konnte, wies er mit seiner Hand auf die Sitzgruppe.
„Bitte“, sagte er knapp und erwartete vermutlich, dass ich mich setzte.
So, jetzt musste ich aber langsam meine Sprache wiederfinden, sonst würde ich hier am Ende noch tatsächlich zu einer Therapiestunde verhaftet!
„Entschuldigen Sie, ich möchte da etwas klarstellen ...“, begann ich, doch Herr Dr. Gärtner fiel mir ins Wort. „Das können wir auch ganz in Ruhe im Sitzen besprechen. Bitte!“
Sein „Bitte“ war zwar freundlich, aber bestimmt. Da ich mich nicht streiten wollte und weil es mir auch unangenehm war, ihm mitteilen zu müssen, dass er nun nicht, wie vermutlich erwartet, mit einer neuen Kundin rechnen konnte, folgte ich seiner Aufforderung und nahm Platz.
Jetzt aber!
„Möchten Sie Tee?“, fragte mein Gegenüber noch bevor ich Luft holen konnte.
Irritiert schaute ich ihn an. Aber dann fragte ich mich, warum ich nicht ein Tässchen mit ihm trinken sollte? Schließlich hatte er mir wohl das Leben gerettet und da wäre es grob unhöflich, ihm so etwas unverbindlich Harmloses abzuschlagen, wie gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken. Was sprach schon gegen einen kurzen Höflichkeitsplausch bei einem Heißgetränk? Außerdem, stellte ich erleichtert fest, hatte ich noch nie davon gehört, dass bei einer Therapiesitzung Getränke gereicht wurden. Vermutlich hatte er längst begriffen, dass ich nicht vorhatte, mich von ihm gehirnwaschen zu lassen? Sicherlich hatte ich unser Telefonat einfach falsch gedeutet.
Also nickte ich und lehnte mich entspannt im Sessel zurück.
„Dann hole ich mal eben eine Kanne. Ich habe festgestellt, dass meine Klienten sich bei Tee leichter entspannen und öffnen können.“
Ich zuckte zusammen.
„Die Küche ist unten, aber ich brauche nur ein paar Minuten. Beginnen Sie doch schon mal damit, den Bogen auszufüllen. Falls Sie mit einer Frage nicht klar kommen – ich bin gleich wieder da“, sagte er und reichte mir einen dünnen Stapel Papier.
„Herr Dr. Gärtner, ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Allerdings möchte ich Ihnen sagen ...“
„Machen wir alles gleich“, fiel er mir ins Wort, „wir haben Zeit.“
Damit verließ er den Raum und ließ mich ratlos mit dem Papierstapel zurück.
Was sollte ich jetzt machen? Ihm hinterherlaufen und erklären, dass ich nicht vorhatte, eine Therapie bei ihm zu beginnen? Meine Tasche schnappen, mich auf meine Socken machen und einfach verschwinden?
Ich warf einen Blick auf den ersten Bogen. Das sah aus wie ein Psychotest! Ach, wie spannend! Die gab es ja auch manchmal in Zeitschriften und ich füllte sie immer gerne aus. Hm ... mal sehen ... was wollte der Test denn so wissen?
Ich blätterte den mehrseitigen Bogen auf und überflog die erste Seite. „Grübeln Sie viel?“, lautete eine Frage. Ja, doch, ich denke schon. Obwohl – ich reflektierte mich halt. War das so schlimm?
„Haben Sie Angst davor Entscheidungen zu treffen?“
Entscheidungen treffen? Ich hatte den Aszendent Waage – da fiel es mir natürlich schwer mich zu entscheiden. Aber dafür konnte ich nichts, das war mein Sternbild!
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?“
Ich fühlte mich ertappt. Obwohl „stimmt teilweise“ kam der Wahrheit doch schon recht nahe, oder? Ich meine, ich hatte ja nicht ernsthaft vorgehabt ... das war ja eigentlich ein Versehen gewesen!
Irgendwann war ich mitten drin und kreuzte an, dass ich bislang noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten war (war das jetzt gut oder schlecht?), dass ich es eher schwierig fand, eine an mich gestellte Bitte abzulehnen, dass Alleinsein kein Problem für mich darstellte und ich anderen Menschen viel zu selten sagte, was ich wirklich von ihnen dachte. Seite für Seite arbeitete ich durch und beantwortete brav einen Punkt nach dem anderen.
Manchmal fand ich die Fragen schon ein wenig unangenehm und musste deshalb die angekreuzten Antworten mit Bemerkungen, die ich an den Rand kritzelte, erläutern: Natürlich war ich absolut davon überzeugt, dass ich ein nützlicher Mensch war und man mich brauchte. Nur andere Menschen wussten das nicht! Aber dafür konnte ich doch nichts? Und woher sollte ich wissen, ob mir Sex noch genauso viel Spaß machte wie früher? Ich hatte keinen!
Als ich die letzte Seite ausgefüllt hatte, fand ich, dass auch mein Gesprächspartner sich mal wieder blicken lassen könnte. Ich sah hoch – und begegnete dem Blick von Herrn Dr. Gärtner. Er saß im Sessel gegenüber und starrte mich unverwandt an. Ich hatte nicht gehört, dass er zurückgekommen war, und nun erschrak ich, als er so plötzlich vor mir saß.
Als ich mich wieder gefasst hatte, überlegte ich, dass er doch Tee hatte holen wollen. Dann fiel mein Blick auf den Tisch, und wie von Zauberhand stand dort plötzlich ein Tablett mit einer Thermoskanne, Milch und Zucker. Eine Tasse mit dampfendem Tee stand genau vor mir auf der Glasplatte.
Erstaunt sah ich wieder zu meinem Gegenüber. Sein Blick hatte sich nicht verändert und war immer noch direkt auf mich gerichtet. Nicht unfreundlich, aber beobachtend. Ich fühlte mich komplett durchleuchtet und mir wurde heiß und kalt.
„Fertig?“, fragte er.
Ich nickte und reichte ihm die Bögen über den Tisch. Dann nippte ich erst einmal an dem Getränk und versuchte mich zu sammeln. Moment mal! Eigentlich wollte ich doch gar nicht von ihm therapiert werden! Und jetzt gab ich ihm sogar die Gelegenheit, Dinge über mich aus den Bögen zu lesen, die ich selbst meinen besten Freunden gegenüber niemals zugegeben hätte? Das lief aber gerade gar nicht optimal!
Mein Gegenüber schien meinen Konflikt nicht zu bemerken und las sich meine Antworten sofort durch. Auch das war mir unangenehm. Da ich befürchtete, irgendeine Reaktion in seinem Gesicht ablesen zu können, was mir erst recht unangenehm gewesen wäre, studierte ich stattdessen lieber seine Bücher in den Regalen, denn von denen gab es eine Menge. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ – das hörte sich ja ganz nett an. Dann sah ich „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ gleich neben „Ich bin Viele – Eine ungewöhnliche Heilungsgeschichte“. Huch, das war ja auch ein Schicksal! Im Regalfach daneben fiel mir „Zur Psychologie des Massenmords“ ins Auge. Daneben stand „Stalking and Psychosexual Obsession“ sowie „Operation Triebtäter – Kastration als ultima ratio“. Ja, sag einmal ... mit so etwas befasste er sich? Um Himmels Willen! Was waren das für Leute, die normalerweise hier in diesem Sessel saßen? Stalker, Triebtäter und Massenmörder?
Umso besser, dachte ich nach einer Schrecksekunde. Dann würde ja nach dem Studium meiner Antworten in diesem Bogen endlich klar sein, dass ich hier nichts zu suchen hatte und sich Herr Dr. Gärtner woanders um Klienten bemühen musste!
Während ich geneigt war, mich an diesem Gedanken festzubeißen, räusperte sich mein Gegenüber, ordnete die von mir ausgefüllten Bögen auf seinem Schoß und sah mich zufrieden an.
„Gut“, sagte er, „das ist doch sehr aufschlussreich.“
„Was genau meint er jetzt damit?“, dachte ich, nun doch wieder verunsichert wegen seines zufriedenen Gesichtsausdrucks. Spätestens jetzt müsste doch klar sein, dass hier, mit mir, für ihn überhaupt nichts zu holen war. Schließlich befasste er sich normalerweise mit Triebgestörten und Traumatisierten. Ich jedoch verfügte über keinerlei nennenswerte Traumata, hatte keine schlimmen Dinge getan und kam so im Großen und Ganzen ganz gut mit meinem Leben zurecht – na ja, bis auf darauf, dass ich manchmal daran verzweifelte, aber das war ja nur zu verständlich. Wir könnten doch jetzt eigentlich unseren Tee austrinken, noch ein paar Artigkeiten austauschen und uns dann voneinander verabschieden? Was suchte ich eigentlich hier? Hatte ich hier überhaupt etwas zu suchen?
Mein Gegenüber hörte nicht auf mich anzustarren. Nicht feindselig oder strafend, weil ich ihm seine Zeit stahl und er vielleicht auf einen interessanteren Fall gehofft hatte. Nein, eher nachdenklich und ... ja, komplett emotionslos! Das verunsicherte mich noch mehr. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, was er so dachte! Doch eigentlich gab es in meinem Fall ja auch nichts zu denken. Punkt.
Hm. Vielleicht wusste Herr Dr. Gärtner nur nicht, wie er aus der Nummer wieder herauskommen sollte? Schließlich hatte er mich aufgegabelt, mich zu einem Termin einbestellt und einen ganzen Stapel von Fragen zur Beantwortung vorgelegt. Vielleicht war es ihm peinlich, mich falsch eingeschätzt zu haben? Womöglich überlegte er fieberhaft, wie er mir sagen konnte, dass ich eigentlich ganz okay war und nach Hause gehen konnte!
Aber so, wie er mich ansah, so vollkommen regungslos, konnte es noch eine Weile dauern, bis diese Erkenntnis soweit von ihm verdaut war, dass er sie vorzutragen vermochte. Deshalb beschloss ich ihm zu helfen, die peinliche Situation erträglicher zu machen und zügig aufzulösen. Außerdem hatte ich nun das dringende Bedürfnis, die Stille zu durchbrechen – und sein Starren!
„Wirklich – ein toller Fragenbogen. Superinteressant!“, lobte ich.
Vielleicht würde eine positive Rückmeldung das Eis brechen?
„Hat er denn irgendeinen Aufschluss über mich gebracht?“
Mit dieser Frage signalisierte ich ihm, dass ich das durchaus für möglich hielt, und ich seine Einschätzung, die dazu geführt hatte, dass er mich zur Therapie vorlud, nicht für völlig bekloppt hielt, was ich natürlich tat. Ich muss sogar zugeben, dass ich mir im Geiste zuhause schon einen Kaffee kochte, eine Schachtel Pralinen bereit stellte und Freundin Imke anrief, um ihr von diesem wirklich erstaunlichen Nachmittag brühwarm und ausführlichst zu erzählen.
„Oh, nichts Ungewöhnliches. Alles ganz normal“, sagte Dr. Gärtner.
Ich atmete erleichtert aus. Na, wenn er das jetzt endlich einsah, dann konnten wir die Angelegenheit auch baldigst zum Abschluss bringen. Ich hätte dann auch noch Gelegenheit, den freien Nachmittag zu nutzen, um mal wieder in der Stadt zu shoppen. Man kam ja so selten dazu, wenn man keine Lust hatte, sich nach Feierabend oder samstags ins Gewühl zu stürzen.
Dann dachte ich, dass es mir trotzdem ein bisschen peinlich war, dass ich Herrn Dr. Gärtner enttäuschen musste, weil er keinen neuen, interessanten Fall auf die Couch bekam. Allerdings fand ich, dass das irgendwie auch nicht meine Schuld war und beschäftigte mich bereits mit dem „Wie“ eines geordneten Rückzugs. Diesen Gedanken jedoch konnte ich nicht zu Ende denken.
„Sie leiden unter einer Depression. Keine besonderen Auffälligkeiten. Verbunden mit einer leichten sozialen Phobie, aber das können Sie sich vermutlich selbst denken.“
Ich musste zugeben, dass ich das bislang nicht gedacht hatte. Wollte er mich auf den Arm nehmen?
Natürlich! Ganz bestimmt hatte er einen besonders trockenen Humor! Ganz wie mein Ex-Freund, der todernst die absurdesten Dinge behauptete, und sich dann diebisch freute, wenn man darauf hereinfiel!
Um ihm zu zeigen, dass ich seinen Scherz durchaus verstanden hatte, lächelte ich ihm gönnerhaft zu. Nach einer Zeit merkte ich, wie das Lächeln auf meinem Gesicht einfror, denn Herr Dr. Gärtner stimmte nicht in meine Heiterkeit mit ein. Er schaute mich nur an.
Jetzt nervte er aber! Irgendwann konnte es auch mal gut sein!
„Ernsthaft?“, grinste ich ihn an um zu zeigen, dass ich Spaß verstand. Dabei hoffte ich, dass er die Scharade nun endlich beenden würde. Ich hatte keine Lust, bis in die Unendlichkeit um diesen Scherz herum zu mäandern und hoffte, ihm eine Auflösung der Situation zu entlocken, damit ich endlich gehen konnte. Der Feierabend nahte und dann würde die Stadt wieder entsetzlich voll sein und das Einkaufen überhaupt keinen Spaß machen!
„Natürlich!“, antwortete er und schaute nun seinerseits irritiert, als wollte er sein Befremden darüber ausdrücken, wie ich seine Aussage in Frage stellen konnte. Und dieses „natürlich“ klang so überzeugt und komplett humorlos, als würde er über ein Naturgesetz sprechen, dass ich mit einem Schlag realisierte, dass er es wirklich ernst meinte!
Ich? Depressiv? Sozial phobisch???
Bevor ich es verhindern konnte, standen mir Tränen in den Augen. Dann heulte ich los. Es überschwemmte mich einfach, brach unaufhaltsam aus mir heraus. Ich verstand überhaupt nicht, was in mir vorging. Wann hatte ich das letzte Mal geweint – ich meine, außer bei der Wiederholung vom kleinen Lord in der Vorweihnachtszeit? Was, um Himmels willen, machte ich hier? Mein Verstand war entsetzt! Aber meinem Gefühl war das egal und es heulte jetzt eben. Die Tränen liefen, die Nase auch und mein Gegenüber reichte mir wortlos ein Tuch aus der Kleenex-Box, die urplötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war und nun neben der Thermoskanne auf dem Tisch stand. Kurze Zeit später reichte er mir noch ein Tuch. Und dann noch eines.
Und dann wurde ich sauer. Genauso plötzlich, wie mich die Heulerei aus dem Hinterhalt angefallen hatte, übermannte mich nun die Wut. Was ging denn hier ab? Das war ja wohl die Höhe! Hatte ich nicht alles, aber wirklich alles unternommen, damit es mir und meinem Leben besser ging? Was konnte ich dafür, dass das leider nicht gelungen war?
Was konnte ich für einen Job, der mir jeden Tag Bauchschmerzen bereitete? Was konnte ich dafür, dass ich mich schon so viele Jahre lang engagiert hatte und doch immer wieder nur meinen Ärger herunterschlucken musste, weil ich erneut übergangen und meine Leistungen negiert wurden? Wie oft hatte ich mir gesagt, man dürfe eben nicht empfindlich sein und schon gar nicht beim ersten Misserfolg aufgeben, sondern müsse beharrlich den eigenen Weg verfolgen? Was konnte ich dafür, dass ich immer noch, trotz der bei weitem überlegenen Ausbildung, den meisten Überstunden und den perfektesten Arbeitsergebnissen, die jeder Prüfung standhielten, täglich um Akzeptanz kämpfen musste? Dass ich mit ansehen musste, wie bestenfalls normal begabte, wenig engagierte, eingebildete Blödmänner und -frauen karriere- und gehaltsmäßig an mir vorbeizogen, obwohl sie jede seltene Überstunde peinlich genau notierten, abfeierten und jeden Tag in Ruhe in die Kantine gehen konnten, was ich oft vor lauter Arbeit gar nicht schaffte?
Und wie oft hatte ich alle Register gezogen, um meinem Beziehungsleben auf die Sprünge zu helfen? Kannte ich nicht jede, aber auch wirklich jede Form der Partnervermittlung aus eigener Erfahrung? War ich mir jemals zu schade gewesen, mich auch mit den absonderlichsten Männern zu verabreden, weil ja vielleicht doch hinter einem von ihnen ein Traumprinz lauerte und ich ihm nur eine Chance geben musste? Was war an mir falsch, wenn ich – obwohl ich sehr auf mein Aussehen achtete – die meiste Zeit allein war? Womit hatte ich es verdient, dass meine Beziehungen meistens katastrophal verliefen und bereits nach kurzer Zeit in einem Akt der Notwehr von mir beendet werden mussten?
War nicht außerdem ich immer wieder diejenige, die ihre Freundinnen aus ihren Wohnlöchern und vorm Fernseher wegzog, um etwas zu unternehmen und dem Leben ein bisschen Spaß und Chancen auf interessante Bekanntschaften abzuringen? Hatte nicht sogar ich(!), die soziale Phobikerin(!), mich auch alleine in Discos, Bars, auf Konzerte und sogar in den Urlaub gewagt, wenn niemand anderer da war, um mich zu begleiten, nur damit ich nicht versauerte?
Und wie viele Stunden hatte ich schon kettenrauchend auf meinem Balkon verbracht und über mein Leben nachgegrübelt, um eine Antwort darauf zu finden, warum es nicht besser lief? Was hatte ich nicht schon alles unternommen, um es zu ändern? Und warum sollte es eigentlich mein Problem sein, dass die unzähligen Ratgeber-Bücher, die ich gelesen hatte, um den Partner oder den Job fürs Leben zu finden, alle nichts taugten? Was verdammt nochmal konnte ich dafür, dass nichts, aber auch gar nichts von dem, wozu ich mich tagtäglich immer wieder aufs Neue aus dem Bett zwang, irgendetwas anderes gebracht hatte, als eine enttäuschende Erfahrung mehr?
In diesen Gedankenschwall hinein hörte ich plötzlich eine Stimme fragen: „Was denken Sie gerade?“
Ich sah hoch und blickte in das Gesicht meines Problemverursachers. Es gab so Vieles, was ich auf seine Frage zu entgegnen hatte – man hätte Romane damit füllen können. Aber dann brachte ich nur eines heraus und schrie ihn an: „Hallo? Ich bin nicht depressiv! Mein Leben ist nun mal beschissen!“
Täuschte ich mich oder entdeckte ich tatsächlich einen Hauch von Mitgefühl in der bislang emotionsneutralen Mimik meines Gegenübers?
„Ich denke, da können wir was machen“, entgegnete er ruhig.
Diese Antwort überraschte und verwirrte mich so vollständig, dass ich anfing, hysterisch zu lachen.