Читать книгу Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend - Emmy Ball-Hennings - Страница 5

STRASSE, GARTEN UND ELTERN

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Da ich das Verlangen trage und im Begriff stehe, ein Stück Lebensgeschichte einzufangen, tauchen tausendundein Bedenken in mir auf, so daß ich genötigt bin, mir meine Umständlichkeit ein wenig vom Herzen zu schreiben. Ich hege starke Zweifel, ob mir mein Unternehmen gelingen wird, denn ich gehöre nicht zu jenen Menschen, die sicher und sorglos von ihrem Können überzeugt sind. Die kühne Behauptung: «So war es und nicht anders» ist etwas, was mir nicht liegt. Eine Lebensgeschichte schreibt sich nicht an einem Tag. Was mir in einer Stunde hell und schön erscheint, erblicke ich ein andermal dunkel und tief, und schon oftmals hatte ich Grund, meinen eigenen Augen zu mißtrauen. Es gibt Erlebnisse, die ich immer wieder von verschiedenen Seiten aus betrachte, und ich weiß, daß es nicht aufrichtig wäre, wenn ich mich für eine klare Eindeutigkeit entscheiden wollte.

Unübersehbar erscheint mir mein Leben, und ich weiß nicht, ob ich es verstanden habe. Wenn ich die Vergangenheit betrachte, geschieht es mit den Augen der Gegenwart. Da sich der Mensch nur bis zu einem gewissen Grade zurückverwandeln kann, stehe ich meiner Erkenntnis skeptisch gegenüber. Werde ich noch einmal die Augen wiederfinden, mit denen ich zum erstenmal voller Vertrauen in die Welt blickte? Wie wäre dies möglich! Wie könnte ich die Summe der Jahre und die Last der Erfahrungen vergessen? Mein Gedächtnis, die Erinnerung, ist eine Dichterin. Ich weiß, es kann manches, es kann alles anders gewesen sein.

Wie ein Traum erscheint mir alles, was ich sah, und diesen Traum möchte ich so getreu als möglich mir noch einmal erzählen, bevor ich ihn vergesse und bevor ich selbst vergessen bin.

Vielleicht ist es nur heute, daß ich den Anfang nicht finden kann. Einen großen Teil des Lebens, die früheste Kindheit, habe ich wohl in einem Märchen verbracht, das versunken ist. Vielleicht ist dies das Schönste gewesen, was mir nie ins Bewußtsein kam. Woran mag es liegen, daß mir ist, als habe ich gerade in jener Zeit das Kostbarste empfangen, das ich doch nicht bewußt aufzunehmen fähig war? Manchmal ist es, als umwehe mich noch der Duft aus einem fernen Traumgarten; aber ich kenne die Blumen nicht mehr, die mich blühend grüßten und mich stumm ansahen, mein frühes Leben, ein Leben ohne Worte. Wann war das? Es muß eine Zeit hegen wie hinter weißen Schleiern. Wo mögen sie geblieben sein, die ersten, hellen Lichtjahre der Liebe? Mein Gott, tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Und aus vieltausendjährigem Schlaf bin ich vielleicht erwacht, um in einen anderen Schlaf zu fallen. Und eine Welt ist es, die mit mir zu träumen scheint.

Langsam tauchen die ersten frühen Bilder aus meiner Kindeszeit auf, und ich sehe zunächst eine kleine, ungepflasterte Straße, weit draußen im Vorort der kleinen Hafenstadt. Eigentümlich verschollen wirkt diese Gegend, einsam, als wäre hier die Welt zu Ende, oder als wäre sie am Anfang, denn irgendwo muß sie doch beginnen. . . Kinder spielen im Kreis und sagen einander, daß der Himmel heut so niedrig hängt, und daß man vielleicht bald auf Gewölk gehen könne. Auf Gewölk? Es gibt Wolken, die weiße Schwäne sind und sich dann in ein Boot verwandeln, das eine Weile im Blauen schwimmt, und dann ist plötzlich alles fort. Sieht man nach oben, ist alles weich und weiß, fließend und blau. Sieht man nach unten, verändert sich rein gar nichts. Da bleibt die Erde dunkel und still. «Dort oben soll heute unten sein, und unten soll oben sein. Und hier, hier fängt die Welt an.» So bestimmt ein kleines Mädel mit glattem Blondhaar und blauen Augen. Sie ist fünf Jahre alt und hat schon vergessen, wo rechts und links ist. Vor einigen Wochen hat sie es noch genau gewußt, weil sie an der rechten Hand einen kleinen, braunen Fleck hatte.

Also, wo der Fleck sitzt, ist rechts, hat der Vater gesagt, und die andere Seite, wo kein Fleck sitzt, ist links. Danach konnte man sich sehr gut richten; aber leider geht das nicht mehr, weil der Fleck spurlos verschwunden ist und man nicht mehr weiß, an welcher Hand er einmal gesessen hat. Man weiß auch nicht, wo der Fleck hingekommen ist. Das ist beinahe, als wäre er nie gewesen. Jetzt kann es vorläufig nicht mehr rechts und links geben. Damit ist es aus. Schade; aber es gibt manche Dinge, die man mehr als einmal in der Welt lernen muß, bis man sie vielleicht endgültig vergißt. Daß aber hier in der kleinen Straße einmal die Welt anfing, das vergißt sich nicht leicht.

Es hat viel für sich, in einer kleinen Straße geboren worden zu sein. Zwei Häuser rechts und zwei Häuser links, das ist leicht zu überblicken. In jedem Hause wohnen vier Familien, deren Geschichte man kennt, und was man nicht kennt, errät man. Jedes zweistöckige Haus hat an der Vorderfront acht Fenster, während es auf der Rückseite, nach dem Hof und Garten zu, vier Fenster hat, und überall hängen Tüllgardinen mit mehr oder weniger interessanten Mustern. Es waren Wege, die in Wälder führten, in eine Gegend, in der noch kein Mensch gewesen war, nur ich, nur ich. Die Gardinen, hinter denen ich geboren bin und die ich als Kind Tausende von Malen bewundert habe, muß ich erwähnen. Es waren Wintergardinen und daher aus dunkelbraunem Kattun. Das Muster war entzückend. Grüne Zweige, kleine Bäume, in denen viele bunte Vögel singend saßen. Daß sie sangen, war leicht zu sehen, denn sie hatten die Köpfchen ein wenig nach oben gestreckt und die Schnäbel geöffnet. Es war der reine Frühling im Winter. Ein Blütenwald mitten im Januar, und oft habe ich die Gardinenvögel angesungen, wenn die Fenster noch halb mit Eisblumen bedeckt waren: Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle. . .

An den Fenstern nach der Straße zu sieht man rote Geranien und grüne Blattpflanzen, und wo junge Mädchen im Hause sind, auch die Myrte, die für den Brautkranz großgezogen wird. Ja, die Fenster machen schon viel aus, machen viel Staat in der Straße. Manchmal am Abend werden brennende Lichter auf die Fensterbänke gestellt, wenn Hochzeit ist, oder wenn ein Kind geboren wird, was ziemlich oft vorkommt. Dann also werden die Kerzen abends angezündet. Das soll ein Gruß für das Neugeborene sein und vielleicht auch sagen: Licht vom Licht, aus Gott geboren.

Ich weiß, daß dieses Licht auch einmal für mich geflammt hat. Schade, daß ich die freundliche Illumination nicht persönlich ansehen konnte. Ich hätte den Nachbarn auf ihren lieben Gruß antworten mögen: Ja, ich bin gern hier geboren worden, und es wird mir niemals leid tun, daß ich hierhergekommen bin, und hoffentlich wird’s auch euch immer recht bleiben.

Es ist keineswegs gleichgültig, ob ein Kind unter reichen oder dürftigen Verhältnissen aufwächst. Nun habe ich das große Glück gehabt, das Kind sehr reicher Eltern zu sein, denn sie waren anspruchslos. Und die Genügsamkeit meiner Eltern, in der ich erzogen wurde, ist ein Erbgut, das mir zugefallen ist und das ich vorzüglich habe brauchen können. Es ist sehr wichtig, wenn beide Eheleute gleichzeitig von diesem Kapitel mit in die Ehe bringen; denn es trägt die schönsten Zinsen, die man sich nur denken kann, nämlich die Zufriedenheit, das Glück selbst.

In welch hohem Maße besaßen meine Eltern die Gabe, mit wenigem glücklich zu sein! Heute, als gereifter Mensch, vermag ich dies zu beurteilen, wofür ich als Kind wenig Verständnis hatte, da es mir an Vergleichen mangelte. Auch dort, wo ich Kinder reicher Eltern sah, ist mir der Unterschied kaum je aufgefallen. Ich hielt meine Eltern für reich, was meine Ansicht geblieben ist, nur daß ich dies heute anders begründe. Reich waren wir, weil wir neben unseren zwei Zimmern noch ein Dachstübchen hatten. Das Bild eines Schiffes, ein Ölgemälde, war eine Kostbarkeit, um die ein feiner Admiral gewiß froh gewesen wäre. In unserer besten Stube hatten wir einen runden Tisch mit einer grünen Sammetdecke, während die Möbel mit blaßrotem Rips bezogen waren. Wir hatten eine Etagere, auf der eine kleine bunte Nippfigur stand, eine Schäferin, die ein tiefgrünes Röckchen trug, ein gestreiftes, allerliebstes Schürzchen und über einer weißen Bluse ein wundernettes, bunt verschnürtes Mieder. Oh, das war etwas sehr Feines, etwas für immer. Und in der Schlafstube hatten wir an unseren Betten am Kopfende eine große, kunstvoll geschnitzte Weintraube. Das hatten die Nachbarn alle nicht. Begreiflicherweise können nicht alle Weintrauben an den Betten haben, aber wir waren gesegnete Leute.

Unser Garten war ein Paradies im kleinen, doch muß ich hier, um einem Irrtum vorzubeugen, erwähnen, daß dieses Paradies nicht viel größer war als eine mäßig große Wohnstube. Aber wir hatten einen Wall anschließend am Garten, und auf diesem Wall standen vier Holunderbäume, und das war ein Wald mit Grün und Sonnenspielen zwischen dem Grün, und der Himmel, den man durch das Gezweige erblicken konnte, dieses Stück gehörte auch eigens zu unserem Hause. Im Garten selbst war in der Mitte ein kleines Rundbeet, in dem ein Rosenbaum stand. Mit sieben Jahren wußte ich, daß das Paradies ähnlich angelegt war wie eben unser Garten, aber wir hatten natürlich keinen Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Statt dessen stand bei uns der entzückende Rosenbaum, der rote Rosen hervorbrachte, was ja weit schöner war als die gefährlichen Früchte. Um den Rosenbaum herum wuchsen Primeln und Aurikeln, und das war ein großer, reizender Kranz. Die Stiefmütterchen blickten einen immer so lustig an, daß man ihnen unwillkürlich zulächeln mußte.

Etwas hatte unser Garten noch dem Paradies voraus. Wir hatten die Beete höchstwahrscheinlich besser geordnet, als es dort gewesen sein mochte, nämlich das Karotten- und Petersilienbeet. Auch war es fraglich, ob es im Paradies Rhabarber gegeben hatte, von den Stachelbeeren ganz zu schweigen. Wir hatten eine hohe Stange, an der oben ein großer Reifen mit fünf kleinen Schiffen angebracht war, Segelschiffe mit kleinen Segeln gleich Schmetterlingsflügeln, und bei gutem Wind fuhren die Schiffchen durch die Luft wie durch ein sehr nachgiebiges Meer. O ja, wir konnten es gut aushalten. Uns fehlte nie etwas.

Mein Vater arbeitete auf der Schiffswerft. Dort war er Rigger oder Takler. Er hatte die Hißtaue an den Schiffsmasten anzubringen und alles zu ordnen, was mit dem Segelwerk und dem Stapellauf eines Schiffes zu tun hat. Mein Vater war aber nicht immer Rigger gewesen. Schon in seinem zwölften Jahre war er zur See gegangen und hatte als kleiner Schiffsjunge schon sehr weite Reisen gemacht. Er war in allen Erdteilen der Welt gewesen, zufällig nicht in Grönland, aber da war auch nicht viel los. Was hätte er in Grönland sollen? Nach und nach hatte er sich dann zum Steuermann emporgearbeitet, und das war keine Kleinigkeit, denn es ist keine einfache Sache, ein Schiff zu steuern, zumal wenn es ein Segelschiff ist. Abends bastelte mein Vater ein wunderbares Segelschiff, das größer war als mein siebenjähriger Arm. Oh, es war ein Traum von einem Schiff, und ähnlich der «Santa Maria», jenem herrlichen Schiff, mit dem Kolumbus sein Land entdeckt hatte.

Über die Hälfte seines Lebens hat mein Vater auf dem Meere verbracht, und erst nach meiner Geburt, vielleicht mehr meiner Mutter zuliebe als aus eigenem Antrieb, ist er auf dem Lande geblieben. Für mich jedoch blieb er meine ganze Kindeszeit über vor allem der weitgereiste Seemann, den ich liebte und bewunderte, und in einer gewissen Hinsicht hegte ich manchmal ein seltsames Mitleid für ihn.

Als einmal ein großes neues Schiff Stapellauf hatte, war es aus irgendeinem Grunde notwendig, daß mein Vater als Rigger dieses Schiff ein Stück Wegs aus der Förde hinausgeleitete. Er kehrte dann am nächsten Tag in einem kleinen Boot allein zurück. Von der Schiffstaufe brachte mein Vater, wie er dies manchmal zu tun pflegte, kleine bunte Seidenbänder mit, die an der Weinflasche befestigt waren, die als Zeichen der Taufe an das Schiff geworfen wurde. An diesen bunten Seidenbändern nun fand ich ein großes Gefallen. Ich bewahrte sie sorglich in meinem «Wertkasten», in dem auch einige glitzernde Muscheln, einige Lieblingsgedichte und getrocknete Blätter, die eine besonders schöne Form besaßen, ihren Platz gefunden hatten. Diesmal war das eine Band golddurchwirkt. Mein Vater mußte wohl ein beträchtliches Ansehen genießen, daß man ihm ein solch köstliches, goldenes Band zum Andenken an das Schiff überließ. In der Tat war dieses Band sogar besonders billig, aber einem achtjährigen Kinde ist noch alles Gold, was glänzt. Während ich nun am Tisch saß und mich an diesem Glanz erfreute, bemerkte ich plötzlich, daß mein Vater mir gegenüber das Gesicht etwas traurig hatte. Vielleicht war er müde vom langen Rudern, ich aber deutete sein in sich gekehrtes Wesen ganz anders. Vater war betrübt, weil er nicht ins offene Meer hinausdurfte. Es gelang ihm nicht, mich davon zu überzeugen, daß dies nicht der Grund seiner Niedergeschlagenheit sei. Ich war der Meinung, mein Vater verschweige nur Mutters wegen seine Sehnsucht nach dem Meer, und dieser Verzicht aus Rücksicht für einen andern Menschen begann mir zu imponieren. Da ich Vater für einen heimlichen Dulder hielt, nicht immer, aber von Zeit zu Zeit, steigerte sich meine Bewunderung für ihn. Und wie um ihm einen Ersatz zu bieten für sein Leben auf dem Bande, lobte ich sein vergangenes Seemannsleben nicht nur ihm, sondern auch den andern Kindern gegenüber.

Gestehen muß ich, daß ich es hierbei mit der Wahrheit nicht sehr genau nahm, doch kam es mir selten zu Bewußtsein, daß meine Erzählungen nicht stimmten. Ich konnte nicht leben, ohne zu verehren und zu bewundern, und dafür war mein Vater, der mir ja der Nächste war, sehr geeignet. Von den Reisen meines Vaters wußte ich jedenfalls viel mehr oder doch vieles anders als er selbst. An den Kindern in unserer Straße fand ich für meine Reiseberichte das denkbar beste Publikum. Nach meinen Schilderungen hätte mein Vater es mit Sindbad, dem Seefahrer, und Robinson ganz gut aufnehmen können; solchen Vergleichen wäre er gewachsen gewesen, obwohl ich weder von Sindbad noch von Robinson wußte und ähnliche Bücher in meiner Kindeszeit nie gelesen habe. Ich hatte für meine Erzählungen genügend Anhaltspunkte, und man darf mir diesmal Glauben schenken, wenn ich sage, daß mein Vater wirklich sehr große und gefahrvolle Reisen zu Wasser ausgeführt und nicht nur China, Japan, Amerika und Australien, sondern auch sehr abgelegene Inseln kennengelernt hat. Wir hatten ein Album, in dem eine Anzahl Bilder von sehr fremdartigen Personen war, aus China und Japan; und einige Australneger waren Vaters besondere Freunde. Diese Reisebekanntschaften hatten natürlich auch ihre besonderen Geschichten, und mein Vater war sogar in Buschklepperfamilien gut eingeführt. Manchmal war mein Vater vielleicht ähnlich dem Mann, der «in Neapel fremd einherspazierte», fremd, sehr fremd. Und dieses Fremde war es, das zu schildern mir leicht gelang. Wo meine Phantasie den Stoff hernahm, ist mir allerdings noch heute ein Rätsel. Der Duft der fernen Länder, die mein Vater einmal sah, muß mir ins Blut gegangen sein; denn wie anders wäre es sonst zu erklären, daß ich darüber aussagen konnte? Schön wie exotische Blumen waren die Menschen dort, wo Vater gewesen war, und ihre Sprache war wie Vogellaut, und die Vögel einer fernen Insel, die noch nie Menschen gesehen hatten, kannten kein Mißtrauen. Sie kamen den Seeleuten nahe, ganz nahe. Sie setzten sich auf die Schultern, wollten Grüßgott sagen. Und solch zutrauliche Vögel waren meinem Vater begegnet. Diese Vögel waren ähnlich denjenigen, die man auf unserer Wintergardine erblicken konnte, aber sie waren noch, bunter, noch beschwingter als diese. Meine Vögel sangen und liebten, kurzum, sie lebten, und dennoch halte ich es für möglich, daß ich diesen stummen Gardinenvögeln mancherlei zu danken habe.

Schiffbruch, das war so ziemlich das Tollste, was einem begegnen konnte. Mein Vater hatte ja zweimal die Reise um die Erde gemacht, wobei er aber nicht an Grönland vorbeigekommen war. Was Grönland mir bedeutete, das kann ich noch heute nicht sagen. In dieser Gegend muß es einmal Eisberge gegeben haben, deren Unheimlichkeit meine Phantasie nicht gewachsen war. Jedenfalls suchte ich Grönland in meinen Berichten möglichst zu vermeiden, und ich glaube, es wäre schlimm gewesen, wenn zufällig eines der Kinder mich auf Grönland aufmerksam gemacht hätte.

Mein Vater hat zweimal Schiffbruch erlitten. Er hat dies zwar in meiner Gegenwart niemals genau erzählt. Ich glaube jedoch, daß gerade seine knappen Andeutungen, die meiner Kindesphantasie einen weiten Spielraum ließen, mich zu den wunderlichsten und schauerlichsten Märchen inspiriert haben. Märchen, die abgründig und dunkel waren und denen meine Spielkameraden wie hinweggenommen mit weit geöffneten Augen und offenen Mündern und sehr scharfen Ohren lauschten. Nach vielen Jahren, als ich wieder einmal in meine Heimat kam, sind mir einige meiner Gespielinnen wieder begegnet, und da fragten sie mich, ob ich mich noch an die Abenteuer meines Vaters erinnere, von denen meine Freundinnen manche besser behalten hatten als ich selbst.

Sehr richtig ging ich als kleines Mädel von der Voraussetzung aus, daß mein Vater als Seemann zu denen gehörte, die ohne Vorsicht leben müssen. Am Meer geboren, wußte ich, daß das Meer weich und wild ist, schmiegsam und zugleich gefährlich, zärtlich und grausam. Die Förde ließ sich zwar übersehen, zumal meine gesunden Augen recht weit reichten; aber ich wußte, daß die Förde nur der Beginn des großen Meeres ist, und auch das Meer selbst hatte ich schon kennengelernt. In meinem vierten Lebensjahr machte ich mit meiner Mutter eine Reise nach Jütland, wo ich von der ungeheuerlichen Größe des Meeres den ersten Eindruck empfing, obwohl ich diesen Eindruck noch heute nicht in Worten wiedergeben kann. Ich kann nur sagen: Ich kenne das Meer, weil ich ein Kind vom Meer bin, und weil das Meer das eigentliche Element meines Vaters war, dem er sich anvertrauen mußte. Und dieser mein heldenhafter Vater war in Schiffsnot gewesen. Meine Vorstellung von dieser Not war sehr klar, und ich könnte das Bild noch heute genau malen, wie ich es mit acht Jahren sah. Mein Vater trieb auf einer Planke, die von den hohen Wellen auf und ab geschaukelt wurde. Ach, keine Luftschaukel auf dem Jahrmarkt konnte mich so hoch werfen und so tief hinabsausen lassen als die gewaltige Welle, die ihr Spiel mit meinem Vater trieb. «Die Wellen gingen haushoch», so bemerkte mein Vater wie nebenbei. Wagte ich dann zu fragen: «Vater, wie hoch meinst du dieses Haus?» Dann antwortete Vater sehr sachlich: «Nun ja, genau kann ich’s nicht angeben, aber jedenfalls gingen die Wellen höher, als unser Haus ist.» Herrgott noch einmal, daß es solche Wellen geben konnte! Und bei Gelegenheit sah ich mir unser Haus darauf hin an. Das mußten ja unheimlich hohe Wellen gewesen sein. . . mitten in der Nacht. Der Himmel bewölkt. Sturm und Dunkelheit. Und nur ein Stern am Himmel. Und mein armer Vater, schmal und lang und schlank, treibend auf einer Planke. Kaum wage ich zu sagen, daß dieser ungemütliche Zustand zwei Tage und zwei Nächte gedauert hat. Nicht auszudenken, aber es war Tatsache. Ein Segen, daß nachts dieser Stern am Himmel zu sehen war. Das konnte ja nur Jesus höchstpersönlich gewesen sein, der diesen Stern hatte leuchten lassen.

Nirgends Rettung, nirgends Land

Vor des Sturmwinds Schlägen. . .

Wo denn sonst als bei dem Herrn

Sehet ihn, den Rettungsstern!

Christ, Kyrie! Erschein uns auf der See!

Man hätte meinen mögen, dieses herrliche Lied sei eigens für meinen Vater gedichtet worden.

O wieviel Unbegreifliches gab es bei den Schiffsnöten meines Vaters zu bedenken! Er hatte ihn vielleicht nicht gesehen, ihn, der über Wellen stand und über Wellen ging, da Petrus im Sinken begriffen war. Er war der Stern aller Meere, der jedes Fahrzeug und jedes Wrack zu lenken wußte. Einen armen, schiffbrüchigen Steuermann, der da nachts einsam auf einer Planke trieb bei haushohen Wellen, einen solchen zu retten, das war ihm eine Kleinigkeit. Fürchte dich nicht, glaube nur! Ach, das Fürchten paßte ja gar nicht zum Beruf meines Vaters. Die Furcht geziemte dem Seemann nicht. Es gab allerdings Fälle, über die schwer zu entscheiden war. Wo der Privatmut aussetzte, begann der Glaube, das unbesiegbare Vertrauen in die Allmacht Gottes. Ach, es war ein Privatmut, der noch nicht wußte, noch nicht gleich erkannte, daß er nicht aus sich selbst entstanden, sondern aus einer Güte geboren und geschenkt war. Doch ist dies etwas, was ich erst sehr spät einsehen lernte, daß nämlich alle Lust, alle Kühnheit, jeder Mut und jedes Gefallen am Abenteuer von Gott stammt und nicht das Verdienst des Menschen ist.

Mein Vater hieß mit Vornamen Matthias, ein Name, der zwar keineswegs selten in meiner Gegend ist, den ich aber für selten hielt, weil er mir zufällig nicht begegnet war. Der Evangelist hieß Matthäus, und sonderbar, wie Kinder sein können, faßte ich mir eines Tages ein Herz, um mich bei meinem Lehrer nach dem Privatleben des hl. Matthäus zu erkundigen. Der Lehrer, ziemlich erstaunt über mein Interesse, konnte mir erst am nächsten Tag Auskunft geben, die aber dann zu meiner höchsten Zufriedenheit ausfiel. An sich betrachtet, war es nicht viel, was ich in Erfahrung brachte; doch fand ich es wunderschön, daß der hl. Matthäus noch nach seinem Tode eine Reise übers Meer gemacht hatte und man seine heiligen Gebeine von Äthiopien nach Salerno überführte, wo ich ihn einmal nach vielen Jahren an seinem Festtag, am 21. September, besucht habe. Da ich meinem Lehrer sagte, daß mein Vater den Namen Matthias trage und ich mich nach der Bedeutung des Namens erkundigte, hörte ich, daß Matthias «Geschenk Gottes» heißt, und dies zu wissen, erfüllte mich mit besonderer Freude.

Meine Mutter, Anna Dorothea, stammte, wie mein Vater, aus einer Seemannsfamilie. Von der Mutter weiß ich, daß sie das Meer fürchtete; doch hatte sie hierfür einen triftigen Grund, da sie ihren Lieblingsbruder und vor allem ihren ersten Gatten schon früh an das Meer verloren hatte. Mutter stand in ihrem neunundzwanzigsten Lebensjahr, unmittelbar vor ihrer Hochzeit, als ihr Bruder mit seinem Schiff und der gesamten Mannschaft versank. Dies war für Mutter ein schwerer Verlust. Noch härter mag es für sie gewesen sein, daß kaum ein Jahr später ihr Mann «ausblieb», wie man unter Seeleuten sich ausdrückt, was besagen will, daß er nicht wiederkam.

Meine Mutter hatte ein schwarzes, fein gebundenes Buch, in das sie mit ihrer zarten, sorglichen Handschrift eine Anzahl Gedichte eingetragen hatte, die sie ihrem Manne Johannes bei seiner Rückkehr für die nächste Reise zum Geschenk mitgeben wollte. Es waren einige geistliche Lieder und Gedichte von volkstümlicher Frömmigkeit. Da stand zu lesen:

An einem Sommermorgen ward ich jung.

Da fühlt’ ich meines Lebens Puls

Zum erstenmal, — und wie die Liebe sich

In tiefere Entzückungen verlor,

Erwacht’ ich immer mehr. . .

Ach, noch so viele unbeschriebene Blätter hat das Buch, das schon ein wenig vergilbt ist. Es wurde aber nicht weitergeschrieben, weil Johannes, für den das Buch bestimmt war, auf den Korallengrund sank. Und die letzte Eintragung meiner Mutter klang so traurig, sogar die Schrift, die Buchstaben schienen zu weinen:

Ach, die Welle hat verschlungen

Junges, schönes, erstes Glück.

Lenz und Liebe sind verklungen.

Nur Erinn’rung blieb zurück.

Und doch heilte dieses erste, junge Leid, da Mutter meinen Vater kennenlernte.

Jede Ehe ist ein Heiligtum und ein Geheimnis, das niemand zu berühren wagt, und doch habe ich schon als Kind darüber nachgedacht, in welch seelischer Verfassung meine Eltern wohl einander begegnet sein mögen. Mutter selbst hat mir erzählt, wie Vater sich um ihre Hand bewarb, und ich konnte mir leicht vorstellen, wie schön das gewesen sein mußte. Es war einige Jahre nach dem Tode des ersten Mannes, um den Mutter noch immer trauerte, wenn sie auch nicht mehr das schwarze Kleid trug. Es war kein Blumenstrauß, den Vater bei seiner Werbung mitbrachte, und wie es sich vielleicht sonst gut gemacht hätte.

Nein, er brachte etwas anderes mit, das seinen Antrag so gut unterstützte, daß meine Mutter dem Vater gleich ihr Jawort gab. Ein Kind, ein winzig kleines Mädchen, das noch kaum gehen konnte. Es war das Töchterchen meines Vaters aus seiner ersten Ehe, Rebekka, meine spätere Schwester. Mutter sah das süße Kind auf den Armen meines Vaters, und es kann sein, daß ihr zärtliches Herz zunächst Mitleid für beide empfand, und daß dieses schöne Mitleid sich nach und nach in eine frohe Liebe verwandelte. Jedenfalls war es wirklich eine gute und glückliche Ehe, die meine Eltern miteinander führten. Ich kann mich nicht entsinnen, daß sie sich auch nur einmal ernstlich miteinander gezankt hätten.

Mein Vater war eine stille und nachgiebige Natur, während meine Mutter in ihrer Art energischer war. Indessen war mein Vater keineswegs ein schwächlicher Mensch, nur andern gegenüber zeigte er sich von einer Gutmütigkeit, die meiner Mutter manchmal zu weit ging. Von einem gütigen Menschen sagt man: Er gibt sein letztes Hemd weg, und diese Redensart traf beinahe buchstäblich auf meinen Vater zu. Heimlich, wie ein Kind, das nicht ertappt werden will, holte er ein Hemd nach dem andern aus dem Schrank, um es irgendeinem armen Kollegen zu geben. Bemerkte meine Mutter dann: «Es ist ja kaum mehr ein Hemd von dir im Schrank», stellte mein Vater sich fremd, murmelte etwas vor sich: «Irgendwo werden die Hemden wohl sein.» Dann konnte es aber passieren, daß meine Mutter einem Nachbarn begegnete, der das Hemd meines Vaters trug, was leicht zu erkennen war, da es aus Flanell oder Baumwolle war und gemustert. Stellte Mutter dann meinen Vater zur Rede, sagte er: «Warum sollte Jensen nicht zufällig dasselbe Hemd haben wie ich? Du hast ihm doch hoffentlich nichts gesagt?» Nein, das hatte Mutter nicht gemacht, aber sie wußte Bescheid. Wenn sie für Vater eine Winterjacke gestrickt hatte, war sie genötigt, ihm zu sagen, daß er sie nur nicht gleich verschenken solle; denn Vater pflegte nicht das wegzugeben, was für ihn wertlos geworden war, sondern oft gerade das, was er selbst nötig brauchte und sich keineswegs leicht anschaffen konnte, da er nur 18 Mark Wochenlohn verdiente.

Das Haus freilich war unser Eigentum, und wir hatten drei kleine Wohnungen an einfache Familien vermietet. Da die Mieter die Freigebigkeit meines Vaters sehr genau kannten, kam es ihnen nicht darauf an, hin und wieder den Zins nicht zu zahlen. Dann mußte Vater nach Feierabend auf Mutters Geheiß das Geld holen. Es ging stundenlang, bis mein Vater zurückkam, und meistens ohne Geld. War Mutter dann ungehalten, sagte Vater: «Möchte nur wissen, wozu du unbedingt das Geld brauchst. Es läuft dir doch nicht weg.» Es lief aber doch manchmal weg, und das Typische an diesen kleinen Sreitereien war, daß meine Eltern beide recht hatten.

Meine Mutter war in ihrer Weise ebenso freigebig wie mein Vater. Wie schön ist es, wenn eine Mutter über den kleinen Kreis der Familie hinaus auch an andere denkt! Dies zu beobachten, scheint mir für Kinder ein sehr wertvolles Erlebnis zu sein. Mutter war sehr gefällig anderen gegenüber. Ja, sie suchte und fand Gelegenheit, unseren Nachbarn, oder wem sie sonst begegnete, Gefälligkeiten und Dienste zu erweisen, wobei sie keine Mühe scheute.

Sie nähte für die kinderreichen Familien der Verwandtschaft, wußte aus alten, unscheinbaren Stoffen Neues und Nettes zu machen. Die Nachbarinnen kamen zu uns, damit Mutter ihnen die Kleider zuschnitt oder selbst nähte, wenn die Frauen keine Zeit hierfür hatten. Mutter war zwar selbst viel beschäftigt, doch verstand sie die Stunden auszunutzen.

Einmal kam ein armes, kleines Mädchen an unsere Tür, eine kleine Hausiererin, die recht dürftig gekleidet war.

In eins, zwei, drei hatte Mutter dem Kinde Maß genommen, und während das Mädelchen in den Straßen seinem Geschäfte nachging, änderte Mutter mit geschickten Händen zwei Kleider von mir, die sich das Kind später abholte. Und wie sorglich Mutter darauf achtete, daß die Kleider dem Kind doch ja richtig paßten!

Fünf Jahre über blieben meine Eltern mit der kleinen Rebekka allein, während ich mir noch in den Gefilden der Ewigkeit das Kommen überlegte. Daß ich so spät geboren wurde! Es ist ja auf eine Weise immer spät oder immer früh, da wir weder an der Vergangenheit noch an der Zukunft so teilnehmen können, wie wir dies vielleicht gerne möchten.

Vergleicht man einmal das Leben mit einem Kunstwerk, das wir nach gottgegebenen Anlagen und nach der Freiheit unseres Willens, nach einer bedingten, in Gott gegründeten Freiheit bis zu einem gewissen Grade selbst gestalten können, dann werden wir die Kindheit als die erste, kräftig angelegte Skizze bezeichnen dürfen, und dem erwachsenen Menschen bleibt nur die Ausführung des Kunstwerkes. Gewiß ist, daß jede Kindheit prophetisch ist, und wenn wir einmal im späteren Leben uns nicht begreifen können, kann uns sehr oft die Erinnerung an die Kinderzeit Aufschluß geben.

Du lieber Gott, es sieht danach aus, als wäre ich immer noch nicht geboren worden. Als warte ich noch. . . Ich habe nämlich so lange auf meine Geburt warten müssen, infolgedessen gewiß auch meine Leser einige Geduld aufbringen werden. Wir haben ja Zeit. Wir haben viel Zeit, weil wir Ewigkeit haben, und wir dürfen mit liebender Langsamkeit zu Werke gehen. Meine lieben Eltern haben einmal sehnsüchtig auf mich gewartet, und ich kam und kam nicht, vielleicht, weil ich anderswo unabkömmlich war. Schließlich wurde mit meiner Ankunft nicht mehr gerechnet.

Als meine Mutter mich nicht mehr erwartete, gefiel es mir urplötzlich zu kommen. Mutter stand in ihrem zweiundvierzigsten Lebensjahr, als sie mich zu ihrem höchsten Erstaunen in die Welt brachte. So seltsam es klingen mag, aber es ist Tatsache: sie war sehr zage auf meine Ankunft vorbereitet. Ich war ihr erstes Kind und bin auch ihr einziges geblieben. Mein Vater war bei meiner Geburt schon fünfzig Jahre alt, und ich kenne ihn nur mit den friedlich-weißen Silberfäden, die sein dunkles Haar leis durchzogen. Meine Mutter dagegen behielt ihr blondes, reiches Haar bis in ihr hohes Alter.

Meine frühesten Erinnerungen, kleine, vorüberwehende Bilder, gleichen Blumen ohne Wurzeln. Die Bäume im Garten warfen helle und grüne Schatten, und jeder Zweig war eine große Welt für sich. Vom Schlafstubenfenster aus sah ich vierjährig, wie sich die Zweige leise bewegten, ohne daß man hätte entdecken können, was es war, das die Zweige bewegte. Sie wollten nur grüßen, und ich bewegte dann die Hände ähnlich wie der Zweig. Meine Arme rauschten sachte hin und her, und wenn Mutter mich einmal bei solchem Tun überraschte, war es nicht leicht zu erklären, warum ich den Baum grüßte. Und in der Dämmerung lebten auch fremde Wesen im Baum. Warum? Ich wußte es nicht. Ich sah es nur und grüßte, eine kleine Hirtin des fremden, leisen Lebens. Es blühte an einem sehr fernen Saum.

Vaters großer Bart war wie der Wald, wie die Marienhölzung, aber ganz nahe, und Mutters Seidenband, das sie im Haar trug, war ein Regenbogen, war derselbe Regenbogen, den man mir einmal zeigte und der so hoch war, daß man die Augen davor schließen mußte. Das Haarband meiner Mutter war ein verwandelter Regenbogen, nach dem man hätte tasten können, und die Augen liebkosten das Band, das eine Brücke war über blonden Wellen, so weich war dieses Haar. Und die Stimme meiner Mutter war blau, und das Haar war weich wie die Stimme, wenn sie mich singend rief. Vielleicht hätte ich antworten mögen: «Meine blonde, meine blaue, meine weiche Heimat», aber ich wußte nicht, wie man dies sagt, obwohl ich schon sprechen konnte; doch habe ich es, wie meine Mutter mir oft erzählt hat, sehr spät gelernt.

Dunkel kann ich mich besinnen, welch starken Eindruck mir die Sprache machte, und welch Behagen ich an den ersten Lauten empfand. Ich war aber schon über drei Jahre alt, und obwohl ich schon mancherlei zu sagen gelernt hatte, äußerte ich mich, sobald mich nur etwas freudig bewegte, in einem Taubengurren, das einige Minuten anhielt. Meine Eltern waren lange Zeit in einer leisen Besorgnis, ich könnte an einer Sprachstörung leiden, weil ich teilnahmsvoll und aufgeweckt schien und mich doch nicht recht zum Sprechen bequemen konnte. Dann eines Tages kam ich auf den Geschmack der Sprache und fand Gefallen daran, manches Wort wie ein kleiner Papagei einfach nachzusprechen und oft zu wiederholen. Eine Spieluhr, die nur wenige Klänge hat, eine kleine Melodie, die der Spieluhr selbst vollauf genügt und mit der auch die Zuhörer wohl oder übel zufrieden sein müssen. Mit der Zeit, nach und nach, ließ ich mich herbei, meinen leicht übersehbaren Wortschatz etwas zu vergrößern. Das Drollige hierbei war, daß ich winziges Persönchen nicht geneigt war, mich belehren zu lassen, wenn ich nicht auch selbst ein wenig belehren durfte. Ich hielt den Sprachunterricht offenbar für ein Spiel, bei dem auch meine Eltern richtig mitmachen mußten. Forderten sie mich auf, dies oder jenes zu sagen, und kam ich diesem Wunsche nach, hörte ich stets das zufriedene Lob meiner Eltern: «Das war richtig.» Danach ersuchte ich: «Sag Aijalu. . .»

Hörte ich dann, was ich zu hören wünschte: «Aijalu . .», entgegnete ich befriedigt: «Das war richtig.» Wollten meine Eltern mir etwas beibringen, mußten sie sich auch, für meine Privatkindessprache interessieren, jene Sprache, die sich von selbst in mir gebildet hatte und die nach Aussage meiner Eltern gar nicht so dürftig war, wie man bei einem kleinen Kind annehmen möchte. Aus dem ersten, unwillkürlichen Lallen des Kindes entsteht jene kleine Sprache, die den Erwachsenen süß wie Vogellaut klingt und die ich erst in meinem vierten Lebensjahr nach und nach aufgegebenhabe, um mich der Sprache meiner Umgebung anzuschließen.

Sehr deutlich weiß ich mich an einige Spiele zu erinnern, besonders an Kreisspiele, die ich zusammen mit anderen Kindern auf der Straße machte. Von den vielen Liedern, die ich fünfjährig lernte, werde ich kaum eines vergessen haben; aber gerade das erste Lied, das ich kennenlernte, ist mir besonders lieb geblieben. Ich fand es so schön und geheimnisvoll, daß ich es noch mit sieben Jahren ohne Bedenken als Abendgebet benutzte, wie ich überhaupt zwischen dem Morgen- und Abendgebet von Zeit zu Zeit dem lieben Gott irgendein kleines Gedicht anbot, das mir gefiel. Meine Beziehung zum lieben Gott war, wie wohl bei den meisten Kindern, die denkbar einfachste. Er war ja so leicht zu erreichen, er hatte so feine Ohren. Nur leise brauchte man ein Gebet zu sprechen, und der liebe Gott vernahm es in weiter Ferne, so daß man über diese Entfernung nicht nachzudenken brauchte. Das Wettermachen war ihm eine Kleinigkeit, und weil ich helles Wetter und den Sonnenschein gern hatte, saß ich bei Regenwetter am Fenster und bettelte:

Laß die Sonne scheinen,

Sonst wird das Kindlein weinen.

Manchmal half es, aber auch nicht immer. Es half nicht, wenn vielleicht Mathiessen eigens um Regen gebeten hatte. Ich erlebte nämlich, gerade was das Wetter anbelangt, daß die Wünsche verschieden sein können. Mathiessen hatte einmal Regen bestellt. Wir Kinder, die wir ja nichts anderes zu tun hatten, beschäftigten uns viel mit Wettermachen. Wir besangen den Regen:

Regen, Regen, rutsch.

Der König fahrt in der Kutsch.

Laat de Regen öwergahn.

Laat de Sünn man wedder kam.

Regen, Regen, rutsch . . .

Weil der König in der Kutsche fuhr, mußte der Wettergott ein Einsehen haben und Sonne schicken. Als ich nun mit meinen Gespielinnen in der Haustür sitzend beim Wettermachen war, kam Mathiessen vorbei, der unser Lied, das wir der besseren Wirksamkeit halber oft wiederholten, sich grade anhörte.

«So meint ihr’s also?» sagte Mathiessen, «unsereins ist froh, wenn’s regnet, weil wir den Regen nötig haben fürs Land, und ihr, kleines Volk, sitzt da und singt gegen den Regen an.» Wir waren in diesem Fall rücksichtsvoll genug, zugunsten von Mathiessen, der seinen Regen brauchte, auf unser Schönwettermachen zu verzichten. Blieb meine Bitte um Sonnenschein erfolglos, hatte ich, da ich noch nicht weit denken konnte, Mathiessen in Verdacht, daß vielleicht er derjenige sei, der das Regenwetter verursacht hatte. Er war für mich der Regenmann, während ich das kleine Sonnenmädchen war. Schade, daß nicht jeder sein Privatwetter bestellen und haben konnte, so daß das Wetter des einen nicht mit dem des andern zusammenzustoßen brauchte. Weil es bei uns viel regnete, hatte ich für die Regenlieder ein besonderes Interesse. Das erste Regenlied, das von mir zum Nachtgebet erhoben wurde, lautete:

Es regnet auf der Brücke, und ich ward naß.

Ich hab’ etwas vergessen, ich weiß nicht, was.

Schöne Jungfrau, zart und fein,

Schließ mich in den Reigen ein.

Unter deinem Schirm laß mich behütet sein.

Wie mich dieses schlichte Verslein beschäftigt hat! Durch Jahre hindurch hat es mich begleitet, kam immer wieder. Zunächst mögen es Tonfall und Melodie gewesen sein, die mich gefangennahmen. Dann aber war es der Sinn der Worte, in den ich mich versenkte. Eine Welt, die geneigt war, mich zauberisch zu umfangen. Ach, im Grunde werde ich es nicht erklären können, warum mir dieser kleine Kindervers soviel bedeutet hat. Ich weiß nicht das Warum, ich kenne nur das Wie.

«Ich hab’ etwas vergessen, ich weiß nicht, was. . .»

Ich lernte das Lied kennen in jener Zeit, da ich einen Begriff gewonnen hatte vom Vergessen. Wie ich schon erwähnte, hatte ich von einem Tag zum andern vergessen, was rechts und links ist. Dies nur, weil mir der kleine braune Fleck der rechten Hand abhanden gekommen war. Ich wußte den Grund meines Vergessens, und vor allem beschäftigte mich das Vergessenkönnen an sich. Es war mir gar nicht so wichtig, darüber aufgeklärt zu werden, daß man sich rechts und links auch ohne braunen Fleck merken konnte. Meine Großmutter, die damals bei uns im Hause war, klagte täglich über Vergeßlichkeit, und noch dazu vertraute sie das mir kleinem Mädel an, wobei sie nicht im entferntesten daran dachte, wie sehr bereit ich war, auf dieses Thema einzugehen. Die Vergeßlichkeit war der erste Fehler, den ich an mir erkannte, und ich hatte den Wunsch, mit dem Vergessen aufzuhören. Da meine Großmutter so gar oft darüber jammerte, mußte es doch etwas Schlimmes sein, diese Vergeßlichkeit. Vielleicht war es etwas, was sich vermeiden ließ. Sobald ich nun vom Vergessen hörte, wenn’s auch nur nebenhin erwähnt wurde, tauchte in meiner Vorstellungswelt das Regenlied auf, das zum Bild wurde, und dieses habe ich nie vergessen können.

Ich sehe die Jungfrau, die weiße Schleierfrau auf einer Brücke. Sie steht im Sonnenregen und trägt über sich einen hellgrünen Schirm, durch den ein seltsam schönes Licht fällt, ein sehr zartes seidiges Licht, noch hellgrüner, noch lieblicher als das Grün des schönen Schirmes. Am Ufer jenseits sehe ich ein tieferes Grün, einen Wiesenstreifen, auf den langsam ein feierlicher Schatten fällt. Das Bild bewegt sich in mir; es lebt und verwandelt sich. Und über der Brücke, über der Schirmfrau erscheint plötzlich der Regenbogen, dieses große, leichte Luftzeichen.

So hat sich mir das Bild im Laufe meines Lebens immer wieder gezeigt, oftmals und meistens, wenn ich es nicht erwartete. In einer Fiebernacht, als ich einmal in einer fremden Stadt allein und krank lag, kam das Bild zu mir, trostreich, ein Gruß aus der Märchenferne meiner Kindheit. Es war noch dasselbe Bild, wie ich es zum ersten Male in mich hineingeträumt haben muß.

Schon oft konnte ich es halten mit einer Bitte: «Verweile, bleibe noch», und dann sah es mich an mit einem Blick, der mir befreundet und vertraut und dennoch fremd und rätselhaft war.

Ich hatte mehrere Jahre ein und dieselbe Puppe, die Liese hieß und einen gemalten Holzkopf hatte, der jede Weihnachten aufgefrischt wurde. Auch das Kleid wurde oft erneuert, weil Liese, obwohl sie etwas bunten Putz liebte, dennoch nicht genug auf sich achtete. Sie hatte nur wie ihre Puppenmutter kleine Anwandlungen von Eitelkeit, die rasch wieder verflogen. In meinem siebenten Jahr machte Liese mir viel Sorge.

Sie erhielt von einem Tag zum andern den Namen Toni Minde, und zwar nur, weil ich zufällig ein Gespräch über eine gewisse Toni Minde angehört hatte, das gar nicht für meine Ohren bestimmt war. Meine Toni war auf Reisen gegangen. Wahrscheinlich hielt sie sich in Hamburg auf, doch wußte ich als Mutter nichts Näheres darüber. Toni saß hoch oben auf der Sofalehne, während ich ihr den Rücken zugewandt hielt, denn ich wußte ja nicht, wo sie sich zur Zeit aufhielt. Toni fuhr sowohl mit der Bahn als auch zu Schiff, sie war immer unterwegs; aber ich, die Mutter, konnte sie nicht begleiten, eben weil ich nie eine sichere Adresse wußte.

Als Frau Minde hatte ich eine Nachbarin in Form eines dicken Sofakissens, das Frau Marquardsen genannt wurde. Um ihre Taille hatte ich eine dicke Schnur gebunden, die ich sehr gut verknoten mußte, damit Frau Marquardsen nicht immer wieder von der unbefugten Hand meiner Mutter auseinandergenommen wurde, was mir eine Qual war, sooft ich das entdecken mußte. Sonst hielt Frau Marquardsen sich recht wacker, und es störte mich wenig, daß auf ihrem molligen Kleid «Nur ein Viertelstündchen» zu lesen stand.

Frau Marquardsen kam zu mir zu Besuch und nahm an dem traurigen Geschick, das ich mit meiner Tochter hatte, den innigsten Anteil.

«Haben Sie Nachricht von Ihrer Tochter Toni erhalten?»

«Ja, aber es ist schon ziemlich lange her. Sie unterschreibt sich jetzt Ditha, und es kann sein, daß es gar nicht mehr meine Toni ist.»

«O Frau Minde, was machen Sie sich für Gedanken! Natürlich ist sie es. Es gibt Leute, die ihren Namen wechseln.»

«Wirklich?»

«Bestimmt. Aber wie geht es ihr denn?»

«Sie ist Seiltänzerin in Hamburg, auf der Reeperbahn.»

«Was?! Seiltänzerin? Was ist denn das?»

«Nun, sie geht zwischen Himmel und Erde. Damit verdient sie ihr Geld, aber leider nicht genug. Sehen Sie, dieses Kontobuch hat sie mir geschickt. Betrachten Sie sich das mal in Ruhe, Frau Marquardsen, und sagen Sie mir dann, wie Sie denken. Es sind die Schulden meiner Tochter, die ich zu zahlen habe. Dabei habe ich selbst kein Geld. Es ist ein Kreuz mit meiner Toni. Sie kommt nämlich immer weiter herunter.»

Während Frau Marquardsen sich mit dem Kontobuch befaßte, eilte ich rasch zu meiner Puppe, um sie mit der Sicherheitsnadel etwas mehr in der Mitte des Sofas zu befestigen, weil ich mir so das «Herunterkommen» vorstellte.

Dann wandte ich mich Frau Marquardsen zu, die sehr gerne die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte, wenn sie Hände gehabt hätte.

«Tz, tz, tz», machte Frau Marquardsen vor Schreck.

Dann aber wurde sie zu einer spitzen Bemerkung veranlaßt, über die Frau Minde sich sehr ärgerte.

«Sagen Sie, Frau Minde, ist Seiltanzen nicht ein ziemlich ruppiges Brot?»

Frau Minde suchte sich zu beherrschen, war aber doch sehr verschnupft.

«Frau Marquardsen, Brot ist Brot. Und meine Tochter verdient es ehrlich genug. Ich lasse nichts auf sie kommen.»

«Nun, ich meinte ja auch nur. Seine Meinung wird man doch wohl sagen dürfen.»

«Nicht immer.»

«Gut, dann kann ich ja vor meiner eigenen Türe kehren.»

«Ich rate es Ihnen. Hier ist Ihr Besen.»

«Dann will ich also gehen, Frau Minde.»

«Nach Belieben. Ich halte Sie nicht, Frau Marquardsen.»

Dann wurde das Sofakissen unter das Bett geschleudert, wo Frau Marquardsen wahrscheinlich zu kehren hatte. Am nächsten Tag wurde das Spiel fortgesetzt, bis das Thema erschöpft war; aber die Puppe mußte angesteckt an der Sofalehne hangenbleiben, weil sie noch nicht weit genug «heruntergekommen» war, und niemand wußte, weshalb.

Ein kleiner Holzschemel war mir beinahe noch lieber als meine Toni-Liese. Er stellte mein Brüderchen vor, das ich am liebsten auf dem Arm mit mir herumtrug. Wußte ich mich unbeobachtet, küßte ich den Schemel: «Du kleiner Liebling, gib acht, wie fein das wird, wenn du erst laufen kannst.» Meine große Schwester hörte einmal zufällig diese Worte, und da sie nichts von diesem Spiel verstehen konnte, begann sie hellauf zu lachen, was mich sehr verletzte; doch war das Lachen meiner Schwester nicht fähig, mich von einem Augenblick zum andern aus der Illusion zu reißen. Ich war verwirrt und bestürzt, und da es für mich eben mein Brüderchen war, über das man sich lustig gemacht hatte, flüsterte ich ihm rasch zu: «Mach dir nur ja nichts draus, mein Siurlai, Kleines.» Der Schemel aus Holz weinte nicht, nur ich begann zu weinen.

Am schönsten aber war das Spiel im Garten, das mehr einem Traume glich. Auf dem Wall unter den dunklen Fliederbäumen blühten ein paar blasse Blumen, deren Verlassensein mich rührte. Es waren keine Blumen, die von Vaters Hand gesät waren. Sie waren von selbst gekommen und so bescheiden, daß sie nicht etwa bei den dicken Pfingstrosen blühten, sondern halb im Schatten, wo sie nicht einmal vorherwissen konnten, daß ich sie entdecken würde. Es waren ungewöhnlich feine und zarte Blumen. Sie waren zwar vollkommen still, aber sie hätten weinen können, die süßen Blumen. Ich sah es ihnen an, daß sie ein Weinen in sich zurückhielten. Oh, diese schluchzende Blässe der kleinen Blumen! Ich sah sie lange an in meinem ohnmächtigen Mitleid, und dann glitt ein kleines Lächeln aus jeder Blüte, ein weißschimmerndes Lächeln. So, also so lächelten Blumen.

Es duftete dunkel nach Erde. Wie gut das tat, diesen seltsam dunklen Duft tief einzuatmen und daneben die Blumen schimmern zu sehen, die in dieser duftenden Erde wurzelten! Die Blumen wünschten, daß ich am nächsten Tag wiederkomme. Sie sagten mir dies zwar nicht direkt, aber es war ihnen leicht anzusehen. . . Bevor ich aus dem Garten ging, trug ich noch ein paar Steine von der Grotte auf den Wall. Die «Grotte» war ein kleines Arrangement von bunten Steinen, das ich aber sehr groß sah, — was mir schon mit sieben Jahren begegnete, daß ich die Dinge manchmal klein, ein andermal dieselben Dinge ungeheuer groß sah. Ich nahm von der Grotte einen bläulichen Stein und einen Bergkristall, wie es deren mehrere dort gab. Gerade als ich mich mit meinen Steinen zum Wall begeben wollte, traf das Licht den hellen Stein. Das machte mich träumen. Ich sah wie unter Wasserschleiern einen Mann, den ich nicht kannte, aber ich hielt ihn für Johannes, für den ersten Mann meiner Mutter. Er lächelte und sah mich an, und da ich zurücklächeln wollte, zerrann das Bild, und ich stand mitten im Garten. Der bläuliche Stein war mir entfallen, und ich hob ihn auf und trug dann beide Steine hinauf auf den Wall zu den Blumen.

Am übernächsten Tag war es oben auf dem Wall bei den weißen Blumen ein Beet, ein kleiner Garten für sich geworden, das war das Reich des Johannes. Einige Muscheln hatte ich noch hierhergetragen, und obwohl ich sie doch selbst auf den Boden legte, wußte nur Johannes, was dies bedeuten sollte. Das heißt, ich wußte es wohl, ich konnte es nur nicht lesen. Johannes aber verstand die Inschrift. Es war der Name meiner Mutter: Anna Dorothea.

Er war der Versunkene, der in der Tiefe träumend schlief, und zugleich schien es hier zu spielen. Spielte er denn mit mir? Ich sah ihn, als wäre ich selbst gar nicht dabei. Er war auf einer Insel, die mit einigen Rauschbäumen bewachsen war, die mit ihren wogenden Kronen, mit ihren großen, weich wehenden Blättern sich vom weiten blauen Himmel abhoben. Wie herrlich es hier war! Das Meer duftete. Ich wähnte den Salzgeschmack auf den Lippen zu spüren. Das Meer war nahe. Es war wirklich sehr nahe. Johannes besaß eine Muschel, eine schöne, sehr große Muschel, und legte man diese Muschel ans Ohr, rauschte und sang es. Vielleicht rief es aus den Wellen: «Anna Dorothea». Es war Johannes, der meine Mutter liebhatte, ganz für sich allein. Der einsame Strand gehörte ihm, und an diesem einsamen Strand wußte niemand von meiner Mutter. Eine hohe Felswand schimmernd im Licht. Als hätte diese Wand den Namen vernommen: «Anna Dorothea». Ich war es selbst, die träumend auf dem Wall saß, die Muschel am Ohr und das Meer belauschend, während die weißen Blumen mich umblühten.

Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend

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