Читать книгу Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend - Emmy Ball-Hennings - Страница 7
DIE SCHULE
ОглавлениеEs war ein schöner Frühlingsmorgen um die Osterzeit, als meine Mutter mich zum ersten Male in die Schule brachte. Die Bäume an der Apenrader Landstraße standen im ersten jungen Grün, und mir ist, als hätten die Weißdornhecken, an denen ich in der Vorstadt auf meinem Schulweg vorüberkam, geduftet. Im Garten der Bresdorfschen Villa blühten die Osterglocken, und das Primelnbeet wurde besorgt, als wir vorübergingen. Weiter oben im Park stand das weiße Birkenhaus mitten im Grün der hohen Bäume. Dies war das Gartenhäuschen, das einmal klein und einmal groß war. Es hatte die seltsame Eigenschaft, sich verwandeln zu können. Sehr gern hätte ich einmal den Augenblick der Verwandlung beobachtet. Ob das nicht jetzt in früher Morgenstunde vor sich gehen konnte? Ich blieb am Gitter stehen, wie ich es jedesmal zu tun pflegte, wenn ich hier vorüberkam. Meine Mutter ließ mich eine Weile gewähren. Vögel zogen in langen Ketten in der reinen Morgenluft über den Garten hinweg.
«Komm, Kind, wir haben keine Zeit länger. Sieh, die Vögel fliegen in die Schule, um singen zu lernen.»
Kurz vor dem Nordertor ragte das Schulhaus, dunkel und sehr hoch. Ich hatte schon in der Stadt große Häuser gesehen. Das Schulhaus musterte ich jedoch mit besonderer Aufmerksamkeit, um dann meiner Mutter zu erklären, es sei mir zu groß, und ich wolle da nicht hinein. Mutter lachte, ja, man könne jetzt kein Schulhaus extra für mich anschaffen, und «sieh dir die Kinder an, wie die vergnügt in die Schule gehen.» Das stimmte freilich, und ich gab schließlich, wenn auch etwas widerstrebend, nach, das Schulhaus zu betreten. Vorher hatte ich mich gesperrt wie ein bockiges Kälbchen, und der Lehrer hatte dies beobachtet. Freundlich kam er auf uns zu, begrüßte meine Mutter und wandte sich dann lächelnd mir zu, ob ich nicht Lust hätte, etwas Rechtes zu lernen, oder ob ich lieber dumm bleiben wolle. Eigentlich wollte ich lieber dumm bleiben, denn es mußte wohl auch Dumme in der Welt geben; doch merkte ich, daß man nicht gesonnen war, mit mir eine Ausnahme zu machen, obwohl ich es sehr darauf angelegt hatte, die Schule zu umgehen. Es war gewiß nur das Unbekannte, die große Veränderung, die mich beängstigte.
Der Lehrer, ein langer, junger Mann, betrachtete mich lächelnd, und es fiel mir ein, daß Mutter mir aufgetragen hatte, ihm die Hand zu geben. Ich holte das nach, aber zum Knix, den Mutter gleichfalls bei mir bestellt hatte, kam es nicht, weil mir der Lehrer die Hand auf den Kopf legte und mir sagte: «Nun, Gott segne dich, mein Kind.» «Ja, danke, gleichfalls», erwiderte ich, zwar noch etwas beklommen, aber durch solch liebenswürdigen Gruß begann ich doch schon etwas Vertrauen zu fassen.
«So, Helga, wirst du jetzt auch immer schön brav und fleißig sein und dem Lehrer auch immer richtige Antworten geben?» Ja, das wollte ich. Daran sollte es nicht fehlen. Es konnte nur darauf ankommen, was der Lehrer von mir zu wissen begehrte. Das Allernächstliegende nämlich, den eigentlichen Zweck der Schule, habe ich lange nicht zu begreifen vermocht, und mir scheint, daß es hier bei vielen Kindern nicht mit wenigen erklärenden Worten getan ist. Weil nun der Lehrer selbst über sein Amt nichts oder nur sehr wenig sagte, hegte ich die absurdesten Meinungen über ihn. Mich wunderte, daß er Gefallen daran fand, vierzig Kinder die Kreuz und die Quere auszufragen über so manche Dinge, die ihn doch eigentlich gar nichts angingen. Die kleine vorläufige Intelligenzprüfung verstand ich vollkommen daneben. Der Herr Lehrer war recht neugierig und machte nicht den mindesten Hehl daraus. Er fragte nach den Berufen unserer Väter, und war das nicht doch etwas vorwitzig? Wie entzückt war er, von einem kleinen Mädchen — leider nicht von mir — zu vernehmen, daß zwei und zwei vier sind. Das Rechnen schien seine schwache Seite zu sein, und in diesem Punkt war er mir ähnlich. Aber etwas konnte er, und daheim lobte ich gern, was zu loben war: das herrliche Geigenspiel des Lehrers. Es wäre mir sehr recht gewesen, wenn er sich darauf beschränkt hätte, uns den lieben langen Vormittag etwas vorzugeigen, doch konnte er offenbar nicht lange bei der Sache bleiben. Es gab jeden Morgen nur einen kleinen Happen Musik, der Lust nach mehr erweckte. Am zweiten Morgen war er so entgegenkommend, zu seinem Geigenspiel zu singen. Oh, das war herrlich, diese warme, braune Stimme zu hören:
«Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren. Lob ihn, o Seele, mit Jauchzen, das ist mein
Begehren.
Kommet zuhauf! Psalter und Harfe, wacht auf! Lasset den Lobgesang hören.»
Oh, wie das rauschte! Wie kühn das hinanstieg! Wie leicht war ich hinweggenommen! Wie leicht hinangetragen! Leichter war ich als ein Wölklein, das sich auflöst.
Nein, dieser Lehrer war ein Spielmann des lieben Gottes, dem man keine Vorschriften machen konnte. War es nicht möglich, sich mit der Musik zu begnügen, mußte man es einem solchen Herrn nicht überlassen, womit er sich außerdem noch beschäftigen wollte? Seines Geigenspiels und seiner begnadeten Stimme wegen konnte man ihm manche Wunderlichkeit hingehen lassen. «Was für was», pflegt man bei uns zu sagen, wenn man für eine Wohltat sich erkenntlich zeigen will. «Was für was.»
In den ersten Schultagen waren es lediglich die musikalischen Genüsse, die mich in das hohe dunkle Haus zogen. Was mir widrig war, die Rechnerei, nahm ich gleichsam mit in den Kauf.
Wenn nur die Zahlen nicht so unerquickliche Geschöpfe gewesen wären! Sie wurden uns manchmal in gedruckten Lettern schwarz auf weiß vorgeführt. Jede Zahl war eine steife Behauptung: So bin ich, so bleibe ich, und zwar unerbittlich und unabänderlich. Merkwürdig, wenn der Lehrer eine Zahl auf die Wandtafel malte und sie nachher mit dem Schwamm auswischte, kam’s mir vor, als ärgere sich die Zahl darüber, daß sie ausgelöscht wurde. Und irgendwo spukte sie ungeniert weiter. Das war unangenehm, sehr unangenehm. Nach und nach kam es mir unbescheiden vor, mit Zahlen umzugehen. Nun ja, bis zu zehn mochte man zählen, wenn es durchaus sein mußte und sein sollte, aber allzuweit hätte es nicht gehen dürfen. Nicht so weit, wie es bei uns in der Klasse ging. Es war für mich jedenfalls ein höchst betrübliches und beunruhigendes Kapitel und nicht abzusehen, wie sich das noch weiterentwickeln würde. Unser Lehrer machte auffallende Fortschritte im Rechnen. Er entwickelte eine Kenntnis, wie ich sie niemals einem Menschen vorher zugetraut hätte. Die Ansichten über meinen Lehrer änderten sich von Tag zu Tag, so daß ich meiner eigenen Meinung kaum mehr nachkommen konnte. Daran war nur der Lehrer selbst schuld, der mich von einer Verblüffung in die andere versetzte. Das war nun einmal seine Art. Es war nicht leicht, sich daran zu gewöhnen.
Wohin mochte das führen, wenn man gleich in den ersten zwei Wochen so klug gemacht wurde? Da ging ich langsam und nachdenklich von der Schule nach Hause, beladen mit einer ungeheuerlichen Wissenschaft. Die Nachbarinnen nickten mir vergnügt und in schwer begreiflicher Harmlosigkeit zu: «Tag, Helgalein, na, wie geht’s in der Schule? Kommst auch hübsch voran?»
Ob ich gut vorankam? Es war der reine Hohn. Ich wußte ja schon die unerhörtesten Dinge. Ich wußte etwas Übergewaltiges. Ich wußte, wie die Welt entstanden war. Ich wußte um das Paradies. Ich wußte um Gott, um Adam und Eva wußte ich. Um den ersten grausamen Engel wußte ich, der mit seinem flammenden Schwert die Pforte des Paradieses bewachte, damit nur ja die armen Menschen, die man ohne Kündigungsfrist vor die Tür gesetzt hatte, sich dort nicht wieder blicken ließen. Vor dem Bresdorfschen Garten stellte ich mich auf, um die Last meiner Wissenschaft ein wenig zu ordnen. In solchem Birkenhaus hatten wahrscheinlich Adam und Eva gewohnt. Das war anzunehmen. Dieses ungewöhnlich hübsche Haus war immer leer. Nie sah ich jemand hinein- oder herausgehen, bis mein Kindesherz das reizende Birkenhaus eines Tages belebte. Aber das war später, viel später. Nach Jahren erst. Ich hatte ja nicht das Verfügungsrecht über das schöne Birkenhaus. Es gehörte Herrn Bresdorf, dem Direktor von der Werft. Ich wußte nur, daß niemand das Gartenhaus lieber haben konnte als ich. Es war eine Liebe auf den ersten und auf den letzten Blick, und es konnte niemandem schaden, wenn ich es für mich als «mein Birkenhaus» bezeichnete. Einmal war es mein Schloß, dann wieder meine Laube. Das Haus hatte, wie gesagt, die wunderbare Eigenschaft, von einem Tag zum andern groß oder klein zu erscheinen, wie uns manchmal das Leben selbst vorkommen kann, einmal klein und einmal groß.
Daheim machte ich meinen Eltern bei Tisch die Mitteilung, daß ich genug wisse, und es sei besser, wenn ich jetzt mit dem Lernen aufhöre und die Schule nicht länger mehr besuche. Meine Eltern werden ihren Ohren nicht getraut haben, oder sie nahmen meine Erklärung für den unberechenbaren Einfall eines Kindes, den man belächeln kann, dem man jedoch keine sonderliche Beachtung zu schenken braucht. Ich war keinesfalls ein bequemes Kind, das sich unter irgendwelchen Vorwänden von der Schule drücken wollte. Ich war geneigt, fleißig zu lernen, indem ich meine Schulaufgaben mit der größten Gewissenhaftigkeit ausführte. Ich hatte nur eine große Furcht, das Gelernte innerlich nicht bewältigen zu können, weil es zu große Anforderungen an meine Verstandeskräfte und vor allem an meine Phantasie stellte, Forderungen, denen ich nicht gewachsen war. Die instinktive Abwehr vor dem Zuviel, die ich zeitlebens behalten habe, wurde mir später bewußt, und ich bin mit dem, was ich an geistiger Nahrung zu mir nahm, stets vorsichtiger gewesen als mit der Nahrung, die ich meinem Körper zuführte. Eine Magenverstimmung läßt sich viel leichter kurieren als eine geistige Überladung. Es gibt Menschen, die mit großer Sorgfalt ihren Speisezettel zusammenstellen und die jede unbekömmliche Speise streng vermeiden, während sie geistig mit vollendeter Unbedenklichkeit alles verschlingen, was ihnen geboten wird und wonach sie zufällig Appetit verspüren. Solche Menschen lesen gute und schlechte Bücher, und dies in erstaunlichen Mengen und mit einem Heißhunger, daß man annehmen möchte, sie gieren bei dem einen Buch bereits nach dem andern. Sie besuchen Gesellschaften, Theater, Kino, Versammlungen, kurzum, sorgen dafür, daß sie niemals zur Ruhe und Einkehr kommen, und die eigentliche Empfindsamkeit, das klare eigene Denken gehn durch dieses Zuviel selbstverständlich verloren, von anderen geistigen Schäden ganz zu schweigen. Mit dem Studium wird es sich ähnlich verhalten, obwohl ich zugeben will, wie ja auch die Erfahrung es lehrt, daß es starke Menschen gibt, die Verschiedenes zugleich aufzunehmen imstande sind; doch mögen dies besonders begabte Ausnahmen sein, während im allgemeinen das Zuviel-auf-einmal-lernen-wollen nur auf Kosten der Gründlichkeit geschehen kann.
Indessen half mir mein Sträuben gegen die Schule wenig, und es genügte meiner Umgebung keineswegs, daß mir selbst mein Wissen genügte. Ich wurde oft gehänselt, weil ich, wie Vater es nannte, gern eine Analphabetin bleiben wollte. Ich war es ja, aber ich bin’s dann doch nicht geblieben. Wäre ich in Sizilien oder Sardinien geboren, hätte ich meinen Willen vielleicht durchgesetzt und hätte nur gelernt, statt meines Namens ein Kreuzlein zu zeichnen; so aber, wie es gekommen ist, bin ich imstande, sowohl Geschriebenes als auch Gedrucktes zu lesen; doch erwarte ich nicht, daß man mich deswegen sonderlich bestaune. Nur ich selbst wundere mich manchmal, daß ich sogar wider meinen Willen einiges gelernt habe.
In der ersten Klasse saß ich neben meiner Kusine Doris, nicht gerade als Allerletzte, aber doch als Vorletzte, aber da wir beide keinen Ehrgeiz kannten, schien uns der letzte Platz genau so gut wie der erste. Doch will ich hier gleich hinzufügen, daß ich mit 14 Jahren sogenannte Klassenerste war, als ich die Schule verließ. Das heißt, ich war auch hier die Vorerste gewesen und bekam den ersten Platz, nachdem meine Nachbarkollegin Alegine in eine höhere Schule versetzt wurde, da sie Lehrerin werden wollte. Mit meiner Kusine Doris hatte ich bisher wenig gemeinsame Interessen, obwohl wir doch nahe miteinander verwandt waren und nebeneinander Haus an Haus wohnten. Doris war ein flottes Persönchen und schon mit kaum fünf Jahren sehr «praktisch» veranlagt. Ihre und meine Mutter, die einander Schwestern waren, hatten eines Tages nach Frauenart über das Mittagessen gesprochen, wobei meine Tante, die auch Doris hieß, bemerkte, daß sie einige Eier brauchen könnte, die im Laden zufällig nicht zu haben waren. Daraufhin erwähnte meine Mutter, daß sie soundso viele Eier im Küchenschrank habe, und nebenbei sagte sie, daß sie fortgegangen sei, ohne die Tür zu schließen. (Das Gespräch fand nämlich an der Straßenecke statt.) Die kleine Doris, die völlig unbeachtet neben ihrer Mutter stand, schlich sich heimlich davon und holte meiner Mutter sämtliche Eier bis auf eines aus dem Küchenschrank und brachte die Eier wohlbehalten in die Küche ihrer Mutter, während diese noch eine Weile mit meiner Mutter weiterplauderte. In diesem Alter konnte Klein-Doris kaum wissen, was «mein» und «dein» ist, aber mit sieben Jahren hatte sie schon eine Ahnung davon.
Sehr klar erinnere ich mich, daß sie am ersten Schultag ihre Mappe, für die es unter der Bank einen eigenen Platz gab, den ganzen Vormittag über auf dem Arm behielt und mich aufforderte, es genau so zu machen. Gut. Ich wußte zwar nicht, warum, doch hielt ich es genau wie Doris, holte mir die Mappe aus dem Fach, und so saßen wir dicht an dicht nebeneinander, jedes sein Gepäckstück am Arm. Der Lehrer, der acht Bänke weit von uns entfernt saß, auf seinem hohen Pult, bemerkte, wie wenig einfach wir es uns machten, kam zu uns, um zu erklären, wie wir unsere kleinen Siebensachen verstauen könnten. Er legte sogar persönlich unsere Mappen in das Fach. Kaum hatte er den Rücken gedreht, gab Doris mir mit den Augen ein bedeutungsvolles Zeichen, holte die Mappe wieder heraus, hängte sie sich an den Arm, und ich mußte dasselbe tun. Der Lehrer bemerkte es bald und kam freundlich nochmals zu uns zurück, da er uns für etwas schwer von Begriff hielt; ich kann nur sagen, daß der Lehrer uns gegenüber eine Geduld zeigte, für die ich damals wenig Verständnis hatte. Er war wirklich ein Kinderfreund und daher auch ein guter Lehrer, aber es war nicht leicht, aus uns klug zu werden. Wir, meine Kusine und ich, haben später oft darüber gelacht, wie wir den Lehrer veranlaßten, dreimal erfolglos hin- und herzulaufen, bis Doris ihm in ihrem drolligen Plattdeutsch erklärte, wir müßten unsere Mappen am Arm behalten, da sie uns leicht gestohlen werden könnten. Ich weiß nicht, ob Doris nach dieser Richtung hin schon Erfahrungen gemacht hatte. Ich wußte nur, daß sie selbst meiner Mutter die Eier aus dem Schrank geholt hatte, aber das war ja etwas, was in der Familie blieb. Dieses Eiernehmen war nicht ganz in der Ordnung, aber Doris hatte wohl nur ihrer Mutter gefällig sein wollen. Meine Kusine meinte es sehr gut mit mir; doch klang es immerhin etwas beunruhigend, wenn sie sagte: «Man muß sehr auf seine Sachen aufpassen.»
«Jaja», pflichtete ich bei, «das muß man schon.» Trotzdem verstand ich nicht, was gemeint war, doch wollte ich mich einer so gewandten Kusine, die schon soviel Erfahrung hatte, gern ebenbürtig zeigen. Doris hatte so viele Geschwister, daß sie nicht einmal genau wußte, wie viele es waren. Ihre Brüder und Schwestern, schon erwachsen, waren zum Teil in der Fremde. Ein Bruder war von der Wanderschaft nach Hause gekommen, hatte an die Tür geklopft, und Klein-Doris hatte diesen großen Bruder mit den Worten empfangen: «Wir geben nichts.»
«Nanu?» hatte der Bruder gelacht. «Also so seid ihr hier? Ihr gebt nichts? Das ist ja niedlich. Und warum gebt ihr nichts?»
«Wir haben selbst nichts. Wir brauchen, was wir haben.»
«Das sind ja schöne Aussichten. Aber einen Kuß könnte ich vielleicht bekommen, oder steht’s auch damit knapp?»
Klein-Doris wußte noch nicht recht, daß einem Menschen manchmal an einem Kuß viel mehr gelegen sein kann als an einem Stück trockenen Brot oder an einem kühlen Zweipfennigstück. Sie ließ den fremden Mann, den sie für einen Handwerksburschen hielt, an der halboffenen Tür stehen, beugte sich übers Treppengeländer und rief hinab:
«Mutter! Komm mal rasch herauf. Hier ist ein Mann, der einen Kuß will. . .»
Tante Doris, die sich unten mit der Nachbarin unterhielt, rief zurück: «Was will er?»
«Einen Kuß!!!»
«Ich komme sofort!»
Es stellte sich dann rasch heraus, daß der fremde Mann ein Bruder von Doris war.
Mit ihrer großen Schwester war es ihr ähnlich gegangen, und ich fand es recht interessant, eine so schwer übersehbare Familie zu haben. Mit den Brüdern, die sich auf der Wanderschaft befanden, beschäftigten wir uns besonders. Es mußte ja herrlich sein, durch ganz Deutschland zu spazieren und nur hin und wieder ein bißchen als Zimmergeselle zu arbeiten, nur um etwas Geld zum Weiterwandern zu verdienen. Man konnte auch für den Anfang etwas Brot in der Umhängedose mitnehmen, und später, im Laufe der Wanderung, würde man auf dem Lande bei den Bauern genügend zu essen bekommen, so daß man also nicht zu verhungern brauchte. Allerdings mußte man bereit sein, den Bauern bei den Landarbeiten zu helfen, aber das war ein Vergnügen. Wir würden Borsdorfer Äpfel auflesen und blaue Pflaumen, wie sie in üppiger Fülle in den Obstgärten von Kalleby gediehen. Man mußte wohl nicht gerade jede Frucht in den Korb werfen. O ja, das Auswandern hatte entschieden viel für sich. Doris wußte großarig mit allem Bescheid, und für mich war die Auswanderei notwendig geworden, da ich in der Rechenstunde mehr rückwärts als vorwärts kam. Der Lehrer hatte mich gefragt, wieviel zehn und zehn zusammen ausmachen, und das hatte ich in der Eile nicht gewußt. Als der Lehrer mir dann gesagt, daß zehn und zehn zwanzig sind, hatte ich betrübt den Kopf geschüttelt und gesagt: «Ich kann’s nicht glauben.» Für solche aufrichtige Antwort hatte ich dann einen Klaps auf die Finger bekommen, womit sogar meine Eltern einverstanden waren, was mich sehr kränkte. Nein, Doris und ich wollten auswandern, so jung wir waren. Das Alter spielte dabei keine Rolle. Es kam ja auf uns an, wie wir uns dabei hielten.
Es gab bei diesem Plan nur ein Hindernis, und das war der Geburtsschein, den man nach Doris’ Kenntnissen überall vorzeigen mußte. Nun war mir zufällig noch nie etwas von Geburtsscheinen zu Ohren gekommen, aber Doris suchte mir einen Überblick zu geben von der großen Scheinwirtschaft, die es ja tatsächlich gibt. Da ich ein wenig dazu neigte, nur an das zu glauben, was mir paßte, paßte es mir mit dem Geburtsschein ganz und gar nicht. Der liebe Gott hatte Adam und Eva doch auch keinen Geburtsschein ausgestellt. Wäre dies der Fall gewesen, hätte der Lehrer eine solch wichtige Sache sicher erwähnt. Ja, es sei inzwischen manches anders geworden, wußte Doris mich aufzuklären.
«Ach, wir gehen ohne Geburtsschein», bettelte ich.
«Dann kommt die Polizei und fängt uns ein, und damit ist uns nicht gedient.»
Dagegen ließ sich nichts einwenden. Vom Polizisten ahnte ich freilich, daß er eine sehr große Macht besaß, Londelius war von einem Polizisten eines Abends aus der Wohnung geholt worden und war so ruhig neben ihm gegangen, so, als wisse Londelius genau, daß jeder Widerstand vergeblich sei.
Mein letzter Vorschlag war:
«Wir gehen ohne Hut und behalten die Schürze an, und dann denkt die Polizei und denken überhaupt alle Menschen, daß wir überall wohnen und zu Hause sind. Wir spielen Ball und nehmen noch unser Springseil mit.»
Leider beharrte Doris auf dem unerläßlichen Geburtsschein, von dem ich genau wußte, daß meine Mutter ihn mir nicht gutwillig aushändigen würde. So kam es, daß wir unsere vorzeitige Wanderlust bis zu einer besser passenden Gelegenheit unterdrückten. Auf der Schulbank saßen wir nebeneinander wie zwei unschuldig Verurteilte im Gefängnis, bis wir dann nach und nach Geschmack am Lernen fanden und uns der schöne Sinn der Schule allmählich aufging.
Eines Tages gab es einen seltsamen Himmel. Es war nicht mehr der Himmel vom Tag zuvor. Es war nicht nur der weiche, blaue Himmel, in dem die Vögel in leichten Scharen zur Schule flogen. Sie lernten singen:
Lobt froh den Herrn, ihr jugendlichen Chöre.
Er höret gern ein Lied zu seiner Ehre.
Das sangen die Vögel und wußten es nicht. Ich aber wußte es. Oh, ich wußte so viel. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Man sah es plötzlich dem Himmel an, daß der liebe Gott ihn erschaffen hatte.
Auch die Sonne war anders geworden. Am Strand bemerkte ich es, angesichts der unzählbaren Wellenstreifen. Es war, als wolle die große Sonne am Himmel mit ihren unzähligen Strahlen sich in jeder Welle fortsetzen, und die vielen Wellensonnen strahlten ein demantenes Licht. Und die große Ursonne selbst blendete. Man konnte sie nicht ansehen, ohne die Augen zu schließen. Daß sie durch ein Wort entstanden war! Es werde Licht! Und es ward Licht. Hervorgerufen durch ein Wort. Oh, es war so tief erstaunlich! Die einsame Stimme des Schöpfers, da sein Geist noch über den Wassern schwebte. Oh, noch immer über der Förde meiner Heimat. Die vielen Sonnen über den Wellen. Sie glitzerten. Sie sprangen und tanzten, als hätten sie jubeln mögen. Wie vom Munde des lieben Gottes geweht, entstand wieder und immer wieder das Licht. Siehe, es war sehr gut, hatte der liebe Gott selbst gesagt. O ja, es war unendlich gut. Es war schön, bezaubernd schön. Es war der Himmel des lieben Gottes und das Licht des lieben Gottes. Und ich wußte darum.
Wir hörten in der Schule die Schöpfungsgeschichte, wie sie im Alten Testament zu lesen steht. Unser Lehrer versuchte nicht, das überirdisch Große zu verkleinern. Er ließ zunächst die ehrfurchtgebietende Majestät der biblischen Sprache auf unsere jungen Herzen einwirken, die vor dieser Größe in Andacht erbebten. Erst nachher gab er uns einige Erklärungen, die unserem kindlichen Verstand entsprachen. In dieser Zeit lernte ich rasch lesen und schreiben. Die Aussicht, in der Bibel lesen zu dürfen, war es, die meinen Eifer beflügelte. Ich erinnere mich deutlich an meine kleine Lesefibel, in der gleich beim ersten Buchstaben, beim A, ein Apfel abgebildet war, und wie ich diesen Apfel oft betrachtete und mir dabei dachte, daß ich schon bald die Geschichte von Adam und Eva würde lesen können, die seltsame Geschichte, die ich schon kannte.
Einen Tag lang versetzte mich die Vertreibung aus dem Paradies in eine unbeschreibliche Kümmernis. Es war, als arbeite das, was ich vernahm, selbständig in mir, ohne daß ich etwas dazu tat. Von einer großen Freude wurde ich plötzlich in einen tiefen Gram versetzt, und ich stand meinen eigenen Empfindungen machtlos gegenüber. Was mir sonst noch in der Schule geboten wurde, erschien mir belanglos gegen dieses eine, das mir einzig zu wissen wichtig schien. So viele Jahre sind seitdem vergangen; doch ist mir, als wäre es gestern gewesen, was ich an einem Mittwochmorgen vernahm: «Du bist Erde und sollst zu Erde werden.»
In welche Betrübnis versenkte mich dies Wort! Am Nachmittag war ich mit einem Nachbarskind, mit Martha, einer kleinen Freundin, auf dem Kartoffelacker, wo wir bei der Ernte helfen durften. Es waren die großen mehligen, sogenannten Rosenkartoffeln, die wir in große Körbe legten. An einer Staude befanden sich zwölf bis achtzehn schöne Kartoffeln. Ich zählte, weil ich an das Wort dachte: Dornen und Disteln soll dir der Acker tragen . . . Ich fand, es war nicht so schlimm . . . Der liebe Gott war milde in unserer Gegend . . . Es war eine schöne Ernte.
Es wurde einiges dürre, von der Sonne versengte, trockene Kraut auf dem Felde verbrannt, und in der Abendstunde lagen und saßen wir um dieses Feuer herum. Es war so schön, in die Flamme zu sehen. Man hätte bitten mögen: Verlösche nicht. . . Der Himmel war silbern, und schon zeigte sich die blasse Mondsichel am Himmel. Es war zunehmender Mond, und ich wußte, woran man dies erkennt. Ich wußte ja so viel. . . Meine kleine Freundin Martha war so lieb. Sie saß neben mir. Es tat gut, sie nahe zu fühlen, ganz nahe. Ich sah, der Flammenschein fiel über ihr Gesicht, spielte in ihren flachsblonden Haaren. Nur die Erde, auf der wir saßen, war dunkel. Du bist Erde und sollst zu Erde werden. Es war nichts dagegen zu machen. Unabänderlich, es gab soviel Erde, und der leere Acker war ein Schatten, ein großer, dunkler Schatten. Gedankenlos ließ ich eine Handvoll Erde durch meine kleinen Hände rinnen. Sie duftete gut, diese dunkle Erde. Dann wieder sah ich in die Flamme, die am Verglühen war, aber sie hielt sich noch ein wenig. Noch spielte ein wenig Licht in Marthas hellem Haar. Ein letzter Glanz, nach dem ich verlangend griff. Ich haschte danach und zog meine kleine Freundin an mich: Ich hab’ dich heut so lieb. Sie schmiegte sich an mich. Und dann tauchten die ersten Sterne aus dem Silber des Himmels auf. Das waren die Lichter an der Feste des Himmels. Es gab ein großes Licht, das den Tag regierte, und ein kleines, das die Nacht regierte. Und diese Lichter schieden Tag und Nacht voneinander, gaben Zeichen und Zeiten, Tage und Jahre. Und an diesem Tag stand der Mond im zunehmenden Zeichen. Wir bemerkten es mit leiser Freude.