Читать книгу Der elfte Tag - Enel Melberg - Страница 4

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Eines Abends, als der Wind um die Ecken pfiff und der Regen gegen die Fenster meines Vaterhauses peitschte, wurde die Außentür aufgerissen, so daß der Wind hereinwirbelte, ein Stampfen und ein hohles Husten waren zu vernehmen, dann wurde die Haustür wieder geschlossen und der Sturm ausgesperrt. Als nächstes hörte man ein Klopfen an der Zimmertür, bevor sie vorsichtig geöffnet wurde und ein dunkler Mann in einem langen Cape eintrat. Er hatte seinen Schlapphut, an dem das Wasser herunterlief, abgenommen, und man sah schwarze Haare, die wie geleckt über Stirn und Schläfen lagen, ein Paar buschige Brauen über pfefferschwarzen Augen, eine große, gebogene Nase und einen geteilten Schnurrbart, dessen lange, nasse Strähnen zu beiden Seiten eines schmalen Mundes herabhingen. Draußen in der Diele hatte er einen großen Koffer abgestellt, so groß, daß ein Mensch darin Platz gefunden hätte.

Er durfte sein Cape ausziehen, das zum Trocknen aufgehängt wurde. Darunter hatte er einen rotgeblümten Seidenschal um den Hals geschlungen, er trug eine Brokatweste, die mit Silberfäden bestickt war, und eine Uhrenkette, deren eines Ende an einem Knopf befestigt war und deren anderes in einer kleinen Tasche verschwand. Seine Finger schmückten glitzernde Ringe.

Man bat ihn, sich ans Feuer zu setzen, und die Reste des Abendessens, das gerade beendet worden war, wurden ihm aufgetischt. Auf die Frage, woher er komme, antwortete er:

»Ich bin überall gewesen. Aber wenn Sie einen Ort brauchen, um mich daran zu befestigen, können wir sagen, daß ich aus Holland komme. Oder warum nicht Kanaan oder Syrien oder Weißrußland oder die Ukraine?«

Dann schwieg der Fremdling und schaute ins Feuer. Nach einer langen Weile sah er auf.

»Ich kann Ihre Gastfreundschaft vielleicht mit einem kleinen Stück oder einer Erzählung entgelten?«

Und ohne auf eine Antwort zu warten ging er hinaus, holte seinen großen Koffer aus der Diele und öffnete ihn. Es war, als ob sich eine Schatzkammer vor unseren Augen aufgetan hätte; es glitzerte und glänzte, und merkwürdige Figuren, bemalte Holzstücke und phantastische Stoffe kamen zum Vorschein. Der Mann ordnete und arrangierte mit flinken Händen ein paar Dinge, und eins, zwei, drei stand eine kleine Bühne vor uns, ein richtiges Theater mit Vorhängen und einem hölzernen Abschluß oben, der so geschnitzt und bemalt war, daß der Eindruck eines dicken, faltenreichen Stoffes mit Fransen entstand. An beiden Seiten hingen zwei Masken, eine fröhliche und eine grausame. Der Mann verschwand hinter der Bühne, und bald wurde der Vorhang aufgezogen, und kleine Puppen begannen zu sprechen und zu lärmen und einander zu herzen und zu jagen. Sie sahen ganz wirklich aus und konnten Arme und Beine bewegen. Sie sprachen mit so unterschiedlichen Stimmen, daß man hätte schwören können, daß hinter der Bühne mehrere Personen standen. Es waren Teufel und Engel, Liebespaare und streitende Eheleute, Soldaten und kleine Prinzessinnen. Diese Miniaturwelt schien realer zu sein als die gewohnte Umgebung. Der Mann muß ein Zauberer sein, dachte ich. Als das Stück zu Ende war, saßen alle da und blinzelten, als ob sie gerade aus einem Traum erwacht wären oder als ob nach einer verzauberten Dämmerstunde, in der die Dunkelheit sich unmerklich herabgesenkt hatte, jemand die Lampen angezündet hätte.

»Sie müssen auf Ihren Reisen viel erlebt haben«, sagte mein Vater nach einer Weile.

»Oh ja«, erwiderte der Fremde. »Und ich habe auch einiges gehört. Vielleicht wollen Sie eine Geschichte hören, die mir eine alte Frau erzählt hat, als ich einmal vor der Stadtmauer von Alexandria saß und auf die Rückkehr einer Karawane wartete, die ich damals besaß?

Die Alte war in Lumpen gekleidet und umgeben von zahlreichen Bündeln, die sie um sich gelagert hatte, um die Wärme zu halten. Ihr Gesicht war zur Hälfte hinter einem schwarzen Schleier verborgen, aber um die Augen spann sich ein feinmaschiges Netz aus Falten, das die Schrift des Alters überall auf ihrem Körper ahnen ließ. Sie sprach mich mit heiserer Stimme an, und in meiner jugendlichen Einfalt glaubte ich erst, daß sie nur betteln wollte. Ich ahnte noch nicht, daß sie es war, die Schätze besaß und daß sie es war, die etwas zu geben hatte. Sie erzählte mit ihrer eintönigen Stimme, und je mehr sie erzählte, desto mehr geriet ich in ihren Bann. Es war, als ob ich in ihren zahnlosen Gaumen hineingesogen würde, als ob sie mich zwischen den Kiefern zermahlte, sanft und behutsam, aber unermüdlich, so daß zum Schluß mein ganzer Widerstand, meine Bestimmungen und äußeren Merkmale abgeschält waren, daß ich wieder ein Kind wurde und ganz Ohr war. Ihre heisere, eintönige Stimme webte ein Gespinst um mich, das mich von der Umgebung abschnitt, und neue Welten traten vor meine Augen. Sie hielt mich über Stunden verzaubert, oder vielleicht waren es Jahre, ich vergaß Zeit und Raum, und ich vergaß die Karawane, nach der ich Ausschau hielt. Ihre Geschichten, es waren derer viele, gingen unmerklich ineinander über. Sie mußte sie schon unendlich viele Male erzählt haben, und dennoch wirkten sie so, als ob sie gerade erdacht worden wären, als ob, einer inneren Logik folgend, eine die nächste gebären würde. Ich erinnere mich nur an einen Bruchteil aller Merkwürdigkeiten, die ich damals zu hören bekam, und die Geschichte, die ich jetzt erzählen werde, ist nur ein matter Abglanz ihrer magischen Lampe. Hier ist sie also:

Es war einmal eine junge schöne Frau, die tausendundeine Nacht im Schlafgemach eines grausamen Sultans hatte zubringen und ihm Märchen erzählen müssen, damit er vergaß, mit ihr ins Bett zu gehen. Denn wenn er das getan hätte, wäre sie am nächsten Morgen getötet worden. So war es all ihren Vorgängerinnen ergangen.

Der Sultan hatte größte Angst vor der Falschheit der Frauen und verdächtigte sogar seine Eunuchen, ihm seine Haremsdamen stehlen und sie besudeln zu wollen. Er träumte von einer absolut reinen Frau, einer Frau, die noch von keines Mannes Blick berührt worden war, und er ließ kleine Mädchen rauben, sperrte sie ein und ließ sie nach seinen Vorstellungen aufziehen. Sie wurden nur von Frauen versorgt und sahen nie einen Mann. Aber es ging nicht so gut mit diesen Mädchen. Die erste, die sich zu einer völlig unerfahrenen Schönheit zu entwikkeln schien, war von einem verträumten Wesen und saß oft am Fenster. Sie liebte es, Liedern zu lauschen und Märchen von Geistern und Engeln, und sie liebte es, in den Garten hinauszuschauen, ganz besonders bei Mondschein.

Eines Tages, als das Mädchen am Fenster saß, erblickte sie ein Wesen, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es war ein junger Eunuche, ein schöner Jüngling, mit bemalten Lippen und Ohrringen, der sich graziös wie eine Frau bewegte, aber dennoch anders war als all die Frauen, die sie kannte. Sein Oberkörper war nackt, und er hatte einen flachen Brustkorb ohne jede Andeutung von Brüsten, und doch war er von der Gestalt her erwachsen. Sie fand diese glatte Brust schön, und ihre Fingerspitzen wollten darüberstreichen. Sein Kinn war ebenso weich und rein wie ihres, aber der Mund war größer und die Lippen dicker, und sie bekam große Lust, in diese Lippen zu beißen. Er war den jungen Mädchen, die sie kannte, gleichzeitig ähnlich und unähnlich, es war einerseits etwas Wohlbekanntes an ihm und andererseits etwas Unbestimmbares und Fremdes, das sie lockte und Wehmut in ihr weckte. Er mußte einer von den Engeln sein, von denen sie gehört hatte, ein Wesen, das nicht von dieser Welt war. Sie wollte sich vor seine Füße werfen und von seinen nackten Armen emporgehoben werden. Als sie ihm zuwinkte, lächelte er und winkte zurück. Von dieser Stunde an war sie unsterblich verliebt.

Sie fand Wege, sich hinunterzuschleichen und ihn im Garten zu treffen, und er fühlte sich durch ihre Aufmerksamkeit geschmeichelt. Sie war noch jung und wollte gerne gefallen, und er fand sie auch sehr schön. Sie trafen sich unter blühenden Apfelsinenbäumen mit dichtem Laubwerk, saßen neben einem plätschernden Brunnen, hielten sich an den Händen und schauten einander in die Augen. Sie versuchten, die Gefühle, die da geweckt worden waren, zu lesen und zu deuten, und sie lebten wie in einem Traum, in dem man weiß, daß man träumt und bald erwachen wird. Eine Zeitlang waren sie sehr glücklich. Aber ihr Traum verwandelte sich in einen Alptraum, als der Sultan sie entdeckte und lebendig zusammen einmauern ließ.

Mit dem nächsten Mädchen ging es auch nicht besser. Inzwischen war es den Eunuchen strengstens verboten, den Garten zu betreten, in dem die knospende Blume des Sultans gefangen gehalten wurde. Die Bewachung wurde strenger, und nur eigens ausgewählte Frauen durften sich in ihrer Nähe aufhalten. Es waren alte, erfahrene Haremsdamen, Erzieherinnen und einige jüngere Frauen, die die Aufgabe hatten, die reine Jungfrau zu zerstreuen. Diese schien nicht die gleiche sehnsuchtsvolle Veranlagung wie die erste zu haben, sondern mit ihrem Dasein ganz zufrieden zu sein. Sie saß nicht am Fenster und träumte, sondern lachte und spielte mit ihren Beschützerinnen, und ihr Wesen war so einnehmend, daß sie alle entzückte. Sie ersann allerlei Streiche und überschüttete sie mit den Geschenken, die sie selbst geschickt bekam. Der Sultan hatte sie noch nicht gesehen, aber er ließ die älteren Frauen über die Entwicklung seiner Blume Bericht erstatten. Sie waren voll des Lobes und priesen wortreich ihre Unschuld und ihr sanftes Wesen. Sie war so zufrieden mit ihrem Dasein und schien sich nichts anderes zu wünschen. Tatsächlich hatte sie ja alles, was sie brauchte. Sie erlebte sogar schon das Glück und die Freuden der Liebe, denn sie war in alle ihre Freundinnen verliebt und teilte ihre Zuneigung unter ihnen auf, und diese liebten sie auch, ohne Eifersucht untereinander. Sie schlief abwechselnd bei ihnen und lernte, ihnen die wundervollsten Genüsse zu schenken, die sie ihr tausendfach zurückgaben. So besaß sie in ihrer Frauenwelt also alles, was sie sich wünschen konnte.

Als der Tag kam, da sie zu ihrem Herrn geführt wurde, brach ihre Welt entzwei. Auf der einen Seite der Kluft war ihr ehemaliges Himmelreich, und auf der anderen breitete sich die Hölle aus. Sie hatte noch nie ein solches Wesen gesehen, ein solches Monster wie diesen Mann, mit dem sie das Lager teilen sollte. Die wunderbaren Spiele, die sie bisher mit dem Reich des Bettes und des Schlafs verbunden hatte, wurden plötzlich beschmutzt, besudelt, zertreten. Harte Fäuste und gierige Zähne zerrten an ihr, ein haariges Gesicht mit keuchendem Atem und einem sabbernden Mund näherte sich dem ihren, und sie wurde wie in einem Schraubstock festgehalten, als ihr Körper von einem so gewaltigen Schmerz durchbohrte wurde, daß sie glaubte, sterben zu müssen. Und dafür war sie erzogen und bewahrt worden, das also war ihre Bestimmung! Die glücklichen Tage waren unwiderruflich vorbei. In ihrer Verzweiflung und um ihrem Schicksal zu entgehen stürzte sie sich vom Balkon und starb auf der Stelle.

Der Sultan konnte diesen Verrat weder verstehen noch verzeihen. Er wurde in seinem Glauben an die Treulosigkeit der Frauen bestärkt und versuchte eine Zeit, sich mit seinen Knaben zu trösten, aber auf Dauer genügten sie ihm nicht. Er war besessen von dem Gedanken, absolut reine Frauen zu erobern. Er ließ neue Mädchen rauben und erziehen und nur von alten Frauen bewachen, und nun sorgte er dafür, daß sie ihm nach der Liebesnacht nicht entkommen konnten. Er ließ sie selbst töten, wenn der Akt vollzogen war; auf diese Weise mußte er sich auch nicht ein zweites Mal einer gebrauchten Jungfrau bedienen.

Das Gerücht von all den ermordeten jungen Bräuten verbreitete sich im Reich, und die Mütter versuchten, ihre kleinen Mädchen zu verstecken, aber die Männer des Sultans fanden dennoch genug, um ihren Herrn zufriedenzustellen. Und auf alle wartete ein grausames Schicksal. Aber ein Mädchen war außergewöhnlich begabt und phantasievoll. Schon als kleines Kind hatte sie es geliebt, Lieder und kleine Geschichten zu erfinden, und als sie fern von der Welt im Harem des Sultans gefangengehalten wurde, erfreute sie ihre alten Wärterinnen damit, daß sie ihnen Märchen erzählte. Auch diese erinnerten sich an Geschichten, und so verging die Zeit im Treibhaus schnell. Dem Mädchen gelang es, den alten Frauen das Schicksal ihrer Vorgängerinnen zu entlocken, so daß sie gerüstet war, als die Hochzeitsnacht herannahte. Sie wurde verhüllt zum Bett des Sultans geführt, und als sie entschleiert wurde, fand er sogleich Gefallen an ihr. Sie beugte den Nacken und küßte den Boden zu seinen Füßen, und dann schaute sie auf.

»Ich weiß, was von mir gefordert wird, aber wenn es meinem Herrn beliebt, so würde ich gerne zuerst ein Märchen erzählen, um die Zeit zu dehnen und so seinen Genuß zu vergrößern«, sagte sie.

Der Sultan war über diese Dreistigkeit erstaunt, aber er fand den üblichen Ablauf inzwischen etwas eintönig und war neugierig, ob dieses Mädchen es schaffen würde, ihn kurzweiliger zu gestalten.

»Nun, laß hören«, sagte er.

Sie setzte sich zu seinen Füßen zurecht und begann ihre Erzählung:

Es war einmal ein junger Mann, der sich eines Tages in eine schöne Frau verliebte, die er auf der Straße gesehen hatte. Das war in einem westlichen Land, wo die Sitten freier sind und die Frauen unverschleiert umhergehen. Er folgte ihr, und sie führte ihn zu einer Pforte in einer Mauer. Die Pforte wurde geöffnet, und sie glitt hindurch und war verschwunden. Der junge Mann klopfte an die Tür, doch er erhielt keine Antwort, und niemand kam, um zu öffnen. Seine Verliebtheit war jedoch so heftig, daß er um jeden Preis in ihre Nähe gelangen wollte. Er schwang sich mit Hilfe eines Seils, das er auf dem Boden liegen sah, auf die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter. Dort lag ein schöner Garten mit schmalen Wegen zwischen Blumenrabatten und duftenden Büschen, ein Springbrunnen plätscherte in der Mitte, und über allem wölbte sich das dichte Laubwerk der Bäume. Weiter weg stand ein kleiner Palast mit einer alten Steintreppe, schönen Säulen, die einen Balkon trugen, und Fenstern, deren Läden fast alle verschlossen waren. Nur einer stand offen, und aus diesem strömte der wundervollste Gesang, den der junge Mann je gehört hatte. Er blieb wie verzaubert stehen und lauschte, bis die letzten Töne verklungen waren. Dann ging er zur Tür und zog am Klingelstrang. Nach einer Weile waren schlurfende Schritte zu hören, und eine uralte Frau zeigte sich in der Tür und blinzelte ihn mit tränenden Augen an.

»Was wollt Ihr?« krächzte sie.

»Ich suche eine Dame, eine schöne junge Dame, die ich gerade in dieses Haus habe gehen sehen«, sagte der junge Mann mit klopfendem Herzen.

»Hier gibt es keine junge Dame«, antwortete die Hexe barsch.

»Ich habe sie selbst gesehen, ich habe sie durch die Pforte in der Mauer gehen sehen, und hier gibt es kein anderes Haus, also muß sie hier sein. Ich habe sie auch vor einer kurzen Weile singen hören.«

»Ich sage doch, daß es hier keine Dame gibt.«

Der junge Mann wurde von Furcht und dumpfen Ahnungen ergriffen.

»Ihr haltet sie gefangen, vielleicht habt Ihr sie getötet«, argwöhnte er und versuchte, sich an der Alten vorbeizudrängen.

Aber es zeigte sich, daß diese ungeahnte Kräfte besaß, und sie schob den Jüngling mit harter Hand zurück und versperrte ihm den Weg. Da waren leichte Schritte auf der Treppe zu hören.

»Was ist, Filometta?« fragte eine jugendliche, wohlklingende Stimme.

Das ist sie, dachte der Jüngling, wurde aber sofort aufs äußerste enttäuscht, als er einen jungen Mann hervortreten sah. Es war ein Jüngling in seinem Alter mit weichen Zügen, sehr elegant und von großer Schönheit in Haltung und Stil.

Das muß ihr Bruder sein, dachte der Eindringling zunächst, aber gleich darauf durchfuhr ihn ein anderer Gedanke wie ein Peitschenhieb: Wenn es nun ihr Gatte ist!

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, mein Herr, daß ich mich so aufdränge. Aber ich sah eine entzückende junge Dame durch die Pforte gehen, und dann hörte ich eine ganz wundersame Musik durch das Fenster, und ich wollte nur eine Gelegenheit finden, diese junge Dame zu treffen, um ihr meine Verehrung zu bezeugen und sie für ihren Gesang zu preisen. Ich bitte tausendmal um Verzeihung, wenn sie Ihre Gattin sein sollte, wovon ich nichts wußte, als ich ihr hierher folgte, das versichere ich Ihnen.«

»Meine Gattin«, sagte der andere und lächelte. »Nein, nein.«

»Also Ihre Schwester. Ich dachte schon, eine gewisse Ähnlichkeit wahrzunehmen.«

»Auch das nicht.«

»Aha. Nun ja, ich mische mich da nicht ein, und sie gehört ohne Zweifel zu Ihnen«, sagte der junge Mann enttäuscht. »Ich hätte sie nur so gerne noch einmal gesehen und singen gehört.«

»Warum gehen Sie dann nicht heute abend in die Oper, dort singt sie«, schlug der andere höflich lächelnd vor. »Hier ist eine Eintrittskarte, die ich übrig habe, bitte sehr.«

Der junge Mann bedankte sich überschwenglich und wurde von der alten Frau zur Pforte hinausgeleitet.

Am gleichen Abend ging er in die Oper und erfuhr, daß die große Zambinella auftreten würde und das Stück ›Das Testament‹ hieß. Aus dem Gemurmel des Publikums um ihn herum entnahm er, daß man sich sehr viel von dem Abend versprach. Die Sängerin war wie eine Sternschnuppe, die plötzlich am Himmel aufgeht, und niemand wußte so recht, woher sie kam. Dieses Geheimnis um ihre Person steigerte noch ihre Anziehungskraft, und Spannung lag in der Luft, als der Vorhang aufging und das Orchester die Ouvertüre spielte. La Zambinella hatte ihren Auftritt in einer großen Galatoilette.

»Das ist sie!« Der junge Mann hörte, wie sein Gedanke laut ausgesprochen wurde, und er wußte nicht, ob er selbst diesen Satz ausgerufen hatte oder sein Banknachbar. Er konnte seine Augen nicht von der Frau auf der Bühne lösen. Sie war vollendet. Ihre schwarzen Locken ringelten sich weich über alabasterweiße Schultern, ihre funkelnden Augen richteten sich zuerst auf das Publikum, und fast glaubte der junge Mann, sie schaute ihn an, bevor sie ihren Blick zur Decke hob. Ihr Hals war schmal und weiß wie der eines Schwans, und ein Spitzentüchlein verbarg die Öffnung des Busens und ließ dennoch die weichesten Lilienhügel erahnen. In einer sanft geschwungenen Linie ging die Taille in die Hüften über. Sie machte eine anmutige Verbeugung zum Orchester, und dann begann sie zu singen. Der junge Mann glaubte im Himmel zu sein, die Töne entführten ihn in ätherische Gefilde, und die ganze Zeit schien es ihm, als ob diese wunderbare Frau ihn an der Hand hielte. Er geriet in Ekstase, und seine Verzückung ließ nicht nach, bis die Musik verklungen war und der Applaus um ihn herum tobte. Als sie von der Bühne verschwand, vernahm er ein Stöhnen neben sich.

»Oh, oh, sie ist es, sie ist es wirklich«, hörte er seinen Nachbarn sagen, die Worte erstickten in einem Seufzer.

Der junge Mann wandte den Kopf und erblickte einen Greis in altmodischen Kleidern und Perücke, der auf eine Krücke gestützt dasaß und seufzte.

»Was ist mit Ihnen?« fragte der junge Mann.

Der Alte schaute ihn aus rotgeränderten Augen an und sagte:

»Sie ist es, die Geliebte meiner Jugend, die Gräfin von Rosalba, ich schwöre es. Ich habe nie eine andere als sie geliebt.« Er warf sich mit einem Röcheln zurück und wurde violett im Gesicht, dann entspannten sich seine Züge, und der Blick brach.

Die Erzählerin verstummte.

»Was geschah dann? Wer war diese Frau?« fragte der Sultan. »Du mußt weitererzählen.«

»Oh, mein Herr, ich sehe, es tagt schon, und Ihr bedürft der Ruhe. Mit Eurer Erlaubnis komme ich nächste Nacht wieder und erzähle weiter.«

Der Sultan war wirklich müde und außerdem gespannt auf die Fortsetzung, er ging also auf ihren Vorschlag ein.

»Nun fahre fort!« ermahnte er sie ungeduldig in der nächsten Nacht. »Wer war der Greis, wer war diese Rosalba, und welche Verbindung bestand zwischen ihr und Zambinella?«

»Wenn es meinem Herrn beliebt«, sagte das Mädchen und erzählte weiter:

Der junge Mann half dem Diener des Greises, der in der Pause herbeigeeilt war, den Toten so diskret wie möglich hinauszuschaffen und in einen geschlossenen Wagen zu legen, der vor der Tür wartete. Als der Diener dann selbst in den Wagen stieg, folgte ihm der junge Mann, getrieben von Neugier und einem vagen Unbehagen.

»Wer ist der Tote?« fragte er seinen schweigenden Gefährten. »Und wer ist die Gräfin von Rosalba?«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte, die man jetzt vielleicht erzählen kann. Mein Herr war der Herzog von Montenegro, als er die schöne Gräfin von Rosalba kennenlernte. Sie war mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, einem Grafen, der sie nur geheiratet hatte, um ihren vollendeten Gesang zu hören. Sie war sehr schön, und nur ihre Stimme konnte an Schönheit mit ihrer Gestalt wetteifern. Man erfuhr nie, woher sie stammte oder wo der Graf sie gefunden hatte, nur daß er sie in den Adelsstand erhoben und ihr einen Rang gegeben hatte, der ihrer Schönheit und ihrer Kunst würdig war. Sie verlieh dem gesellschaftlichen Leben Glanz, wohin sie auch kam, und der Graf ließ große Bankette zu ihren Ehren abhalten. Der Herzog war damals noch ein sehr junger und heißblütiger Mann, der schon viele amouröse Abenteuer genossen hatte. Aber eine so herrliche Frau wie die Gräfin von Rosalba hatte er noch nie gesehen, und ihre göttliche Stimme ließ ihn vollends zu ihrem Sklaven werden. Er machte ihr seine Aufwartung, überschüttete sie mit Bitten um den mindesten Gnadenbeweis. Aber er erreichte nur, daß er ihren Fächer aufheben, ihre Noten tragen und ab und zu im Garten mit ihr spazierengehen durfte. Der glücklichste Tag in seinem Leben war, als sie ihm erlaubte, ihre Hand zu nehmen und sie bis zum Ellbogen hinauf zu küssen. Aber er wollte sich damit nicht begnügen, sein Begehren wurde immer unmäßiger, und schließlich kam er zu der Einsicht, daß er ihren Gatten aus dem Weg räumen mußte, wenn er Erfolg bei der Dame haben wollte. Mein Herr forderte den alten Grafen zum Duell, und jung und beweglich wie er war, gelang es ihm, seinen Rivalen zu töten.

»Nun bist du mein«, flüsterte der Herzog leidenschaftlich der Gräfin ins Ohr und wollte sie küssen, aber sie drehte ihr Gesicht weg. Da versuchte er es mit Gewalt. Sie wurde kreideweiß im Gesicht, und ihre Augen funkelten ihn wütend an.

»Behandeln Sie mich nie wieder so«, sagte sie und riß sich los. Dann floh sie und schloß sich in ihrem Zimmer ein.

Der Herzog kam immer wieder zum Schloß und bat, vorgelassen zu werden, wurde aber jedesmal abgewiesen. Schließlich kletterte er zu ihrem Fenster hinauf und schaute in ihr Schlafzimmer. Es war leer. Sie war geflohen.

Sie blieb spurlos verschwunden, und er widmete den Rest seines Lebens und sein ganzes Vermögen dem Versuch, sie aufzuspüren. Mal hörte er das Gerücht von einer wunderschönen Frau, die in Italien Kanzonetten auf der Straße sang, mal hatte er eine bezaubernde Sängerin unter umherziehenden Zigeunern entdeckt. Er folgte unermüdlich ihren Spuren, aber immer wieder wurde seine Hoffnung enttäuscht. Jedesmal wenn er ankam, war sie gerade verschwunden. Fast war sein Vermögen gänzlich zerronnen. Es war nicht mehr viel übrig, als wir in diese Stadt kamen, das weiß ich. Und dann fand er sie hier – als La Zambinella. Sie ist es wirklich, das kann ich bezeugen. Und sie ist nicht gealtert, sie ist immer noch dieselbe«, sagte der Diener.

Dem jungen Mann war wunderlich zumute bei dem Gedanken, daß seine Angebetete in Wirklichkeit eine alte Frau sein sollte, und er wollte es nicht glauben. Von Unruhe getrieben, die einem Fieber glich, zog er, nachdem er dem Diener geholfen hatte, den toten Herzog wegzubringen, weiter zu Zambinellas Haus. Auch dieses Mal stieg er über die Mauer und schlich durch den Garten zu dem kleinen Palast. Er entdeckte einen kleinen Eingang auf der anderen Seite, dessen Tür nicht verschlossen war.

Der Jüngling kam in eine Küche. Ein Feuer brannte im Ofen, und die alte Frau wandte ihm den Rücken zu und bereitete eine Mahlzeit. Auf einem Tablett standen schon eine Weinflasche und ein Glas. Ohne daß die Frau ihn bemerkte, schlich der junge Mann sich lautlos zu einer Tür, die zu einem Korridor zu führen schien, und lief die Treppe hinauf in den zweiten Stock, aus dem der Gesang gekommen war, als er das letzte Mal hier gewesen war. Er öffnete einige Türen und sah Gästezimmer mit Himmelbetten, in denen die Spinnweben wie Vorhänge hingen und der Staub wie ein Teppich den Boden bedeckte, bis er schließlich ein sauberes Zimmer fand, in dem verschiedene Kleidungsstücke verstreut lagen wie in einer Theatergarderobe vor der Vorstellung. Er ging hinein und wartete. Inzwischen untersuchte er die herumliegenden Sachen und fand Masken und Perücken, Männer- und Frauenkleider der unterschiedlichsten Stile und Epochen. Und in der Mitte der einen Wand stand ein Toilettentisch mit drei Spiegeln und einer Menge von Töpfen und Pinseln. Das Herz klopfte ihm wild in der Brust, als er auf der Treppe Schritte hörte, begleitet von einem munteren Trällern. Es gelang ihm gerade noch, sich in einem offenstehenden Schrank zu verstecken, bevor die Tür geöffnet wurde und sie hereinkam. Sie war bezaubernd. Immer noch trällernd, ging sie zum Spiegel und begann sich auszuziehen.

Zuerst nahm sie ihre Perücke ab, darunter hatte sie kurzgeschnittenes Haar, das ihrem Gesicht etwas Jungenhaftes gab, dann entfernte sie die falschen Wimpern und einen Teil der Schminke, aber sie war immer noch schön, und das Herz des Betrachters wurde von ihren weichen Zügen angerührt, die in ihrer Nacktheit noch weicher erschienen. Sie hakte den Rock auf und entblößte ein rundes, schmales Hinterteil in hellen Trikots, dann zog sie die Bluse über den Kopf. Ihr Rücken war sanft gewölbt, die etwas hervorstehenden Schultern gerade, und im Spiegel sah der junge Mann, wie sie nun den Büstenhalter auszog und eine vollkommen flache Brust zum Vorschein kam. Es gab auch nicht den Ansatz einer weiblichen Rundung. Dann drehte das Objekt seiner Bewunderung sich um und schlüpfte, immer noch trällernd, aus den Trikots. Die Hosen waren vorne etwas ausgebuchtet.

Der junge Zuschauer im Schrank wurde ohnmächtig und fiel mit einem Poltern zu Boden.

Als er die Augen wieder aufschlug, stand der junge Mann, den er bei seinem ersten Besuch im Haus getroffen hatte, mit einem Glas Wasser in der Hand vor ihm und führte es an seine Lippen.

»Sie sind also La Zambinella«, preßte er hervor.

»Ja.«

»Aber Sie singen wie eine Frau.«

»Ja, eine kleine Operation, die mich dessen beraubt hat, was für die meisten Männer das wichtigste ist, hat mir statt dessen die Stimme einer Frau gegeben, eine Stimme, die von vielen als göttlich bezeichnet wird«, sagte er bescheiden.

»Aber die Gräfin von Rosalba, wer war dann sie?« fragte unser junger Held, nachdem er die Fassung wiedergewonnen hatte.

Da geschah etwas Eigentümliches. Der schöne Jüngling verwandelte sich vor seinen Augen; die Haare ergrauten und verloren ihren Glanz, das Gesicht zog sich in tausend Falten und Runzeln, Wangen und Kinn erschlafften, die Augen ermatteten und wurden klein und rotgerändert. Die ganze Gestalt sank in sich zusammen und schrumpfte zu der eines alten Mannes, oder war es die einer alten Frau? Als das Wesen wieder sprach, war die Stimme heiser und krächzend und wurde zwischen zahnlosen Kiefern hervorgepreßt.

»Ich bin die Gräfin von Rosalba, die eigentlich der Kastrat Rossamara ist, von dem Sie sicher schon gehört haben, zumindest über Ihre Eltern, und ich bin viele andere. Aber nun, da Sie meinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind, kann ich endlich Frieden finden.«

Die junge Erzählerin verstummte.

»Aber wie hat es sich denn zugetragen, das mußt du mir auch erzählen«, befahl der Sultan und gab ihr so noch eine Nacht Aufschub.

Und die kleine Prinzessin erzählte, Nacht um Nacht, bis es tausendundeine Nacht waren. Da hatte sie von den Geschichten genug und wollte sich selbst in die Welt hinausbegeben, von der sie erzählt hatte, verspürte solche Lust, sie in Wirklichkeit kennenzulernen.

In der letzten Nacht gelang es ihr, ein Messer mit in das königliche Schlafgemach zu nehmen, und als sie ihre Geschichte erzählt hatte und sah, daß dem Sultan die Augen zufielen, stieß sie ihm das Messer ins Herz, zog ihre einfachsten Kleider an und floh aus dem Palast. Seitdem ist sie spurlos verschwunden, aber es gibt Leute, die glauben, daß sie nun eine sehr alte Frau ist, die sich davon ernährt, auf Märkten und an Stadtmauern Märchen zu erzählen.

»So beendete die alte Erzählerin ihre Geschichte, damals in meiner Jugend, als ich an der Stadtmauer von Alexandria auf meine Karawane wartete«, sagte der merkwürdige Fremdling, während draußen der Sturm heulte, das Kaminfeuer jedoch wärmte und einen flackernden Schein über das Zimmer warf, an jenem weit zurückliegenden Abend in meiner Kindheit, schloß Karen Blixen.

Der elfte Tag

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