Читать книгу Der elfte Tag - Enel Melberg - Страница 5
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ОглавлениеDie anderen Frauen brachen in gemeinsames Gelächter aus.
»Ja, da seht ihr, die Männer werden gebraucht, und wenn auch nur als Gegner«, sagte Victoria. »Eine Erzählung ganz ohne Männer wäre schon ziemlich langweilig.«
»Sag das nicht«, überlegte Virginia. »Es wäre einen Versuch wert.«
»Ja, aber niemand würde solche Geschichten ernst nehmen«, antwortete Victoria. »Sie würden irgendwie ärmlich wirken.«
»Warum denn das?« fragte Charlotte hitzig. »Oder warum soll man nicht über kleine und einfache Dinge erzählen können und sie zur Kunst erheben? Ich habe immer von solch einem Buch geträumt, einem Buch, das nur einfache, alltägliche Menschen schildert – oder warum nicht nur Frauen?«
»Ein Buch ohne einen Rochester? Nein, das glaube ich nicht, liebe Charlotte«, warf Emily ein.
»Ich auch nicht«, sagte Anne und schüttelte energisch ihre nußbraunen Korkenzieherlocken. »Stellt euch vor, wenn er wirklich hier wäre!« rief sie dann klagend aus. »Ich war ganz sicher, daß wir uns wiedersehen würden.«
»Wer«, fragte Emily, »Rochester?«
»Nein, du Dummkopf, du weißt genau, wen ich meine. William Weightman.«
»Ach so, der«, sagte Emily gelangweilt. »Ich für meinen Teil hätte Heathcliff wiedersehen wollen, und ich bin fast sicher, daß er hier ist. Ich meine ihn vorhin gesehen zu haben.«
»In einem Cape?« lächelte Karen wissend.
»Ja, in einem Cape«, murmelte Emily.
Victoria stand auf, verbeugte sich vor den anderen und erklärte, daß sie einen Spaziergang zu machen gedenke. Sie streckte sich nach den Krücken, die an den Tisch gelehnt waren, und auf diese gestützt ging sie leicht hinkend, aber in würdevoller Haltung davon.
Anne wandte sich eifrig an Emily, als ob sie darauf gewartet hätte, wieder zu Wort zu kommen.
»Aber William war doch wirklich! Im Gegensatz zu Rochester und Heathcliff und all den anderen, die wir erfunden haben. William war der einzige, der mich dazu brachte, zu leben. Ich war sicher, daß ich ihn wiedersehen würde! Sonst wäre all dieses Leiden unerträglich gewesen. All dieser Schmerz, die Krankheit, die mich von innen her auffraß, die Gewißheit, daß ich so jung sterben würde, ohne etwas von dem tun zu können, was ich gewollt hätte: noch mehr Bücher zu schreiben, zu heiraten, Kinder zu kriegen. Mein einziger Trost war, daß ich ihn auf der anderen Seite wiedersehen würde. Er ist vielleicht noch nicht da, aber er muß kommen!«
»Zu schade«, sagte Emily unbarmherzig, »du siehst doch, daß dies hier eine Frauenwelt ist! Du mußt dich eben mit den von uns geschaffenen Figuren zufrieden geben, und glaub mir, sie sind besser und spannender als dein kleiner Hilfsprediger.«
»Wie gemein du bist!« rief Anne aus. »Du gönnst mir William nur nicht, weil du selbst keinen Mann abgekriegt hast.«
»Einen Hilfsprediger!« Emily schnaubte verächtlich.
»Hört auf zu streiten«, ermahnte sie Charlotte.
»Nein, Mama«, keifte Emily zurück.
Karen mischte sich in die Kabbelei ein. In ihrem weißgepuderten Gesicht wirkte der Mund wie ein schräger Pinselstrich.
»Hört zu, ihr Mädchen, ihr seid entzückend! Aber meint ihr nicht, wir sollten versuchen, etwas zu trinken zu bekommen? Ich bin sehr durstig, besonders nachdem ich so lange gesprochen habe. Ich habe einen ganz trockenen Hals.«
»Eine gute Idee«, stimmte Vita zu. »Eine Erfrischung wäre nicht verkehrt.«
»Wie zum Beispiel Champagner«, sagte Karen. »Ich habe tatsächlich schon eine Bestellung aufgegeben, aber niemand scheint sich darum zu kümmern. Ich sterbe, wenn ich nicht bald eine Zigarette bekomme!«
»Wir versuchen es einfach noch einmal.« Vita stand auf und ging auf das Gebäude zu. »Hallo!« rief sie mit dunkler, wohlklingender Stimme ins Haus. »Ist hier jemand?«
Wie aus dem Nichts erschien das Dienstmädchen, knickste und lächelte einschmeichelnd.
»Ah, da sind Sie ja!« rief Karen aus. »Also, kann ich jetzt das bekommen, was ich schon vor langer Zeit bestellt habe, und zwar sofort!«
Das Mädchen ging zu ihrem Tisch und wedelte leicht mit einem Lappen darüber, ohne ansonsten von der Baronin Notiz zu nehmen. Der blieb angesichts dieser beleidigenden Mißachtung der Mund offen stehen.
»Das ist ja wohl die Höhe! Verstehen Sie denn nicht? Sind Sie dumm? Trinken.« Sie zeichnete in die Luft. »Hohe Gläser. Champagner. Verstanden?«
Das Dienstmädchen ahmte sie nach, machte aber keinerlei Anstalten, das Gewünschte zu holen.
»Eine Unverschämtheit!« Die Baronin hatte rote Flecken am Hals. »So etwas habe ich ja noch nie erlebt! So ein freches Ding!« Sie wandte sich keuchend an Vita: »Ich gebe es auf. Das ist mir zuviel! Glauben Sie, daß Sie etwas erreichen?«
»Ich will mal sehen«, antwortete Vita, ging auf das Mädchen zu, faßte es unters Kinn und schaute ihm in die Augen. Dann ließ sie los, und das Mädchen lief errötend ins Haus.
Karen fächelte sich mit einem alten Theaterprogramm, das sie in ihrer Handtasche gefunden hatte, Luft zu. Jemand trat auf die Terrasse hinaus, aber es war nicht die Bedienstete, sondern ein großer, magerer Mann, der seinen Hut über ein Auge gezogen hatte und eine Pelerine über den Schultern trug. Wie viele hochgewachsene Menschen ging er etwas gebeugt.
»Ein Mann!« riefen Anne und Charlotte gleichzeitig aus.
»Wie schön für euch«, fauchte Emily.
»Was soll das nun bedeuten?« fragte Virginia, die eine ganze Weile schweigend und abwesend dagesessen hatte. Ihre Augen blinzelten schlaftrunken.
Der Mann war weder jung noch alt, weder häßlich noch schön, und er sah weder reich noch arm aus. Die ganze Gestalt hatte etwas Vages. Aber seine grauen Augen schauten klar und ehrlich, als er auf Virginias Tisch zuschritt, sich verbeugte und sagte:
»Gestatten Sie? Mein Name ist Ernst Ahlgren. Ein Schriftstellerkollege. Darf ich bei Ihnen Platz nehmen?«
»Aber gerne«, antwortete Virginia.
»Nein, was soll denn das?« sagte Vita zu Karen. »Was hat der Kerl hier zu suchen?«
Karen lächelte geheimnisvoll und meinte, daß dieser unerwartete Zugang interessant sein könne. Sie bedauere nur, daß es nirgendwo einen Spiegel gebe. Erneut stöberte sie in ihrer Handtasche, fand aber weder Spiegel noch Zigaretten, nach denen es sie in diesem Moment sehr verlangte.
Offenbar voneinander absorbiert, waren Ernst und Virginia in ein Gespräch vertieft. Bruchstücke davon gelangten zu den anderen. Wörter wie »Schwesternseele« und »Arbeit«, »moralischer Halt« und »Wahrheit der Gefühle« waren zu vernehmen, und plötzlich hörte Vita, wie der Mann bat, Virginia küssen zu dürfen. Diese zuckte zusammen, aber als er ihr versicherte, daß er einen geschwisterlichen Kuß meine, gab sie schüchtern nach. Vita schnaubte:
»Julian war ein besserer Kavalier, er hatte mehr Anmut und Glut als dieses Milchgesicht!« Sie stand demonstrativ auf und ging hoch erhobenen Hauptes auf das Haus zu.
Virginia schien es nicht zu bemerken. Karen wühlte immer noch in ihrer Handtasche, und die Schwestern Brontë flüsterten miteinander.
»Ich finde ihn ziemlich elegant«, meinte Anne.
»Oh ja«, sagte Emily, »auf jeden Fall besser als eure Hilfsprediger.«
»Er sieht achtbar aus, irgendwie aufrecht und ehrlich«, fand Charlotte. »Aber Anne, du frierst doch wohl nicht«, wandte sie sich plötzlich an die Schwester.
»Nein, nein«, antwortete diese.
»Du weißt, daß ich mich um dich sorge.«
»Ja doch, liebe Charlotte, das weiß ich. Und ich werde nie vergessen, daß du mich ans Meer gebracht hast, ehe ich starb. Daß ich das noch erleben durfte, dafür bin ich dir ewig dankbar.«
»Das war das mindeste, was ich tun konnte. Ich hätte alles für dich getan. Und für dich auch, Emily, das weißt du.«
Emily schüttelte unwillig ihre dunklen Locken, schaute in den Nebel und murmelte etwas Zustimmendes.
»Aber ich durfte ja nicht!« Charlotte klang plötzlich bitter.
»Fang jetzt nicht schon wieder damit an!« sagte Emily, aber Charlotte beharrte:
»Ich durfte dich nicht einmal zu einem Arzt bringen. Wenn du mich nur das hättest tun lassen, dann wärst du mir vielleicht noch ein bißchen länger geblieben. Ich hatte ja sonst niemanden, nur Vater, und der war mit sich selbst beschäftigt.«
»Ich hatte vielleicht kein Interesse daran, noch länger zu bleiben«, unterbrach Emily sie.
»Nein, du hast nur an dich gedacht!«
Emily lachte.
»Und du hattest wieder etwas Neues, worüber du schreiben konntest.«
»Trauer und Einsamkeit«, sagte Charlotte.
Emily warf den Kopf in den Nacken:
»Das ist wohl nicht das Schlechteste. Ich finde übrigens, daß Shirley deine spannendste Hauptfigur ist.«
Jetzt wurde Charlotte wirklich ärgerlich. Ihre kleine, unscheinbare Gestalt wuchs, die Augen blitzten, die Wangen glühten, und das Haar stand um ihren Kopf wie ein Heiligenschein.
»Weil Shirley ein Porträt von dir ist«, rief sie. »Das ist typisch für dich!«
»Sie ist auf jeden Fall keine Gouvernante«, murmelte Emily etwas milder.
»Nein, und was ist bitte schön verkehrt an Gouvernanten?« zischte Charlotte.
Anne trat zwischen die beiden.
»Jetzt warst du gemein, Emily.«
»Gouvernanten und Hilfsprediger, das ist alles, was euch einfällt«, sagte Emily unbarmherzig.
»Ich möchte kein schlechtes Wort mehr über Hilfsprediger hören«, sagte Charlotte und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. »Hast du das verstanden! Im übrigen sind nicht alle gleich.«
»Nicht gleich pickelig«, konnte Emily sich nicht verkneifen zu antworten. »Aber verzeih, wenn ich auf den ehelichen Zeh getreten bin. Ich hatte ganz vergessen, daß du deinen Hilfsprediger am Ende ja bekommen hast, und auch das Liebespfand unterm Herzen.«
»Warum bist du so grausam?« Charlottes Mund zuckte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich kann niemals so grausam sein wie die sogenannte Wirklichkeit«, antwortete Emily. »Das Liebespfand hat dich das Leben gekostet. Das ist die wahre Grausamkeit.«
»Aber du mußt mich offenbar daran erinnern«, sagte Charlotte.
Jetzt unterbrach Anne sie:
»Warum streitet ihr euch eigentlich! Denkt lieber einmal an mich.«
»Das hat gerade noch gefehlt«, wandten sich beide Schwestern ihr zu. »Haben wir nicht immerzu an dich gedacht?«
»Was meint ihr, wie es war, die jüngste Schwester Brontë zu sein?«
»Du warst die liebreizendste«, sagte Charlotte. »Dir sind die Angriffe der Kritiker gegen das ›Unweibliche‹ in unseren Büchern erspart geblieben. Wir haben weiß Gott genug zu hören bekommen über unsere ›Bitterkeit‹, unseren ›Zorn‹, unsere ›Schwarzseherei‹.«
»Ja, dir ist es erspart geblieben, ihrer Angst vor den dunklen Kräften gegenüberzustehen«, ergänzte Emily verächtlich. »Nein, tausendmal lieber eine Hölle, in der es knistert und brennt und glüht, als ihre gepflegten Paradiesgärten.«
Karen, die dem Streit der Schwestern interessiert zugehört hatte, applaudierte bei der letzten Replik.
»So ist es gut, Mädchen«, sagte sie. »So muß es sein!« Sie wandte sich aufmunternd an Emily und fragte sie, ob sie nicht von ihrer paradiesischen Hölle erzählen wolle, aber Emily drehte ihr mit einem störrischen Nein den Rücken zu.
Charlotte versuchte, ihre Unhöflichkeit herunterzuspielen:
»So ist sie immer!«
Plötzlich heulte es hinter dem Haus, es knackte und krachte, als ob sich die gefesselten Kräfte eines rasenden Dämons befreiten, in einem gewaltigen Brausen, das über das Dach hinwegfuhr und dann über den Felsen stürzte, ein Sturm brüllte, Blätter, Röcke, Haare wurden emporgewirbelt. Eine winterliche Kühle brach über die Frauen herein, und sie fröstelten und schüttelten sich. Das Heulen wurde ohrenbetäubend und ging in ein Geräusch über, das wie ein hohles Lachen klang. Dann hörte der Spuk ganz plötzlich auf, der Wind legte sich, und die Kälte zog sich zurück.
Erschreckt schauten sich alle um, alle außer Emily, deren Blick plötzlich von einer ungeheuren Sehnsucht erfüllt war. Sie stand mit ausgestreckten Armen da, als ob sie den Wind zurückrufen wollte.
»Was war das?« fragten Virginia und Ernst gleichzeitig und schauten einander erstaunt an.
»Was meinst du, Emily, was war das?« Karen lächelte sybillinisch.
Emily sagte nichts.
»Sie glaubt wohl, daß es Heathcliff war«, antwortete Anne für sie. »Jedenfalls sieht sie aus, als ob sie Heathcliff getroffen hätte. Er ist ihre Seele, ihr zweites Ich, er ist mehr sie als sie selbst. Das sind ihre Worte.«
»Dann hätte es ebensogut Rochester sein können«, sagte Charlotte. »Mein Rochester.«
Emily hatte sich ihnen wieder zugewandt.
»Dieser Waschlappen«, sagte sie verächtlich. »Du mußtest ihn zum Invaliden machen, ihn blind und hilflos und unbrauchbar werden lassen, bevor deine Jane ihn kriegen konnte.«
»Sie wurde sein Gesicht und seine rechte Hand. Sie war im wahrsten Sinn des Wortes sein Augenstern«, sagte Charlotte.
»Ja, das ist schön«, fügte Anne ein. »Aber Heathcliff ist das ganze Buch hindurch dämonisch.«
»Heathcliff ist stark, seine Leidenschaft reicht bis auf die andere Seite des Grabes. Bis in die Hölle«, sagte Emily mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel. »Er ist der Ausgestoßene, er ist frei! Er ist Kain, Luzifers Sohn.«
Nun schaltete Virginia sich in das Gespräch ein.
»Dein ganzes Buch ›Sturmhöhe‹ bewegt sich in einer Kinderwelt; auch wenn deine Figuren erwachsen sind, handeln sie mit dem Zorn von Kindern, dem Hunger von Kindern nach Nahrung und Liebe, dem totalen Egoismus von Kindern. Es ist eine Welt vor der Zivilisation. Es ist dieses Unmittelbare und Elementare, was dein Buch so großartig macht. Aber über etwas anderes habe ich oft nachgedacht«, fuhr sie fort. »Woher stammen eigentlich eure temperamentvollen und dämonischen Männerfiguren? Steckt da euer Vater, der Pfarrer, dahinter oder euer Bruder, das gescheiterte Genie?«
»Nein, wie können Sie nur so etwas glauben!« rief Charlotte indigniert aus.
»Liebe Virginia«, sagte Karen, »wissen Sie denn nichts von Träumen? Ich finde das sehr interessant, diese dämonischen Gestalten, dieses Interesse für die Hölle, an dem Emily zu tragen scheint. Können wir nicht etwas von Ihrer paradiesischen Hölle hören?«
»Nein«, antwortete Emily. »Ich habe keine Lust.«
Es wurde still. Das Schweigen schien eine Ewigkeit zu dauern, bis schließlich Ernst das Wort ergriff.
»Dann kann ich mir vielleicht erlauben, statt dessen vom Paradies zu erzählen«, sagte er leise.
Die anderen drehten sich etwas erstaunt zu ihm um.
»Ja, warum nicht«, antwortete Karen erleichtert. »Wenn es mit der Hölle nicht klappt, versuchen wir es eben mit dem Paradies.«
»Gerne, erzählen Sie vom Paradies«, bat Virginia.
»Oh ja, das wäre nett«, sagten Anne und Charlotte.
Emily schwieg.