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Schicksalhaftes Päckchen

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Kavitha Rasch

Marla schaltet den Staubsauger aus. Es läutet erneut an der Haustür.

„Sind Sie Minnie Murphy?“

„Ja.“

„Ich habe hier ein Päckchen für Sie.“

„Von wem?“

Der Postbote zuckt mit den Schultern und bittet um ihre Unterschrift. Dann verabschiedet er sich wieder.

Das braune Umschlagpapier schaut verschlissen aus. Als sei das Päckchen ewig unterwegs gewesen. Auch der Absender ist nicht mehr entzifferbar. Sie zieht an der ausgefranzten Kordel. Die Paketschnur lässt sich nicht ohne eine Schere öffnen.

Wenige Minuten später sitzt sie am Esstisch und starrt auf ein Notizbuch mit Ledereinband. Sie blättert es auf und hält fassungslos die Luft an. Die Schrift ist ihr vertraut. Es sind die Worte von Jake. Über ein Jahr ist es her, dass er sie verlassen hat.

Montag, 9. Juni 2014

Was für ein ätzender Flug. Bin heute in La Paz gelandet. Die Absteige, in der ich nun vorrübergehend wohnen muss, ist schrecklich. Überall sind Wasserflecken an den Wänden. Alles ist karg eingerichtet. Erinnert mich an eine spärlich möblierte Tiefgarage. Ich kann verstehen, dass der Staatsanwalt mich in Sicherheit wissen wollte. Nur warum in Bolivien? Mein Handy musste ich noch vor der Abreise abgeben. Kontakt zu Freunden ist mir strikt untersagt worden. Minnie fehlt mir! Es war schrecklicher, ihr vorzutäuschen, sie verlassen zu wollen. Immer wieder hat mir der Staatsanwalt gesagt, wie wichtig es ist, dass mein Untertauchen so real wie möglich wirken muss.

Minnie macht einen Tee. Ihre Hände zittern vor Aufregung. Sie fühlt sich Jake so nah wie schon lange nicht mehr. Damals dachte sie, er würde schnell wieder zu ihr zurückkommen. Mit der Zeit hat sie die Trennung letztendlich akzeptiert.

Dienstag, 8. Juli 2014

Die Zeit steht still. Ich vermisse mein altes Leben, meine gewohnte Umgebung und Minnie! Dieses Tagebuch ist meine kleine Welt geworden. Wenn das weiter so geht, drehe ich noch durch. Einzig positiv: Habe die Freizeit genutzt und mein Spanisch aus der Schulzeit wieder auf Vordermann gebracht. Es reicht jetzt um Unterhaltungen zu führen. Südamerikaner sprechen zum Glück deutlich langsamer als Spanier. Ich bin einsam.

Draußen wird ist es dunkel. Die ersten Lichterketten leuchten auf. Letztes Jahr brachte Minnie es nicht übers Herz die Weihnachtstage alleine zu verbringen. Dieses Jahr sieht ihr Feiertagsprogramm völlig anders aus.

Warum hat Jake ihr dieses Tagebuch geschickt? Sie brüht einen weiteren Tee auf, macht es sich im Bett bequem und liest weiter in Jakes Vergangenheit.

Donnerstag, 31. Juli 2014

Mittlerweile gehe ich in den vielen Gassen der Stadt nicht mehr verloren und habe feste Spazierstrecken. Auch die dünne Luft bei 6000 Meter überm Meeresspiegel macht meiner Lunge nichts mehr aus. Die Menschen sind freundlich. Ich werde oft gegrüßt. Vermutlich, weil ich durch meine beachtliche europäische Körpergröße schnell als Tourist entlarvt bin. Am liebsten esse ich diese Fladen aus Maismehl auf der Avenida los Fernandos. Diese Teigpuffer aus den heißen Tonpfannen haben es mir echt angetan. Auch sonst habe ich mich an das Essen hier gewöhnt. Anfangs wollte ich kein Ziegenfleisch und einheimisches Essen probieren. Minnies Kochkünste fehlen mir sehr. Sie fehlt mir sehr! Es bricht mir das Herz, sie nicht zu kontaktieren. Ich lebe hier gefühlt in technischer Steinzeit. Muss so viele Eindrücke verarbeiten. Die Ereignisse in der Firma. Ständig kreisen meine Gedanken um alles, was im Büro jetzt liegen bleibt. Das stresst mich. Oft bezweifele ich, ob es richtig war, die Bundesaufsichtsbehörde über die fragwürdigen Vertragsabschlüsse der Geschäftsführer zu informieren. Woher hätte ich wissen sollen, dass die Staatsanwaltschaft selbst schon an der Sache dran ist und mich aus Sicherheitsgründen erstmal als einen wichtigen Zeugen am Ende der Welt versteckt?! Ja, ich bereue es. Hätte ich nichts gesagt, wäre mein Leben weiter so, wie es war. Bin traurig. Werde ich Minnie jemals wiedersehen? Was macht sie jetzt gerade ohne mich?

Sie klappt das Buch für einen Moment zu und schließt ihre Augen. Letztes Jahr war sie Ende Juli mit Freundinnen Fallschirmspringen. Darauf wäre er nie gekommen.

Donnerstag, 04.09.2014

Mir ist heute etwas Merkwürdiges passiert. Auf dem Weg zum Fladenstand bin ich mit dem Schuh in eine verfaulte Avocado getreten. Während ich mich auf einer Bank um meinen dreckigen Turnschuh kümmerte, tippte mir ein Kind auf die Schulter. Es hatte sein Gesicht mit einem schwarzen Tuch vermummt. Die Größe und kleinen Hände ließen auf ungefähr fünf bis sechs Jahre schließen. Ich habe die Worte jetzt noch in den Ohren „¿Puedo cepillar sus zapato?“ Es wollte meine Schuhe putzen. Ich lehnte dankend ab. Doch es ließ nicht locker. „Mister, por favor!“, sagte es immer wieder. Die Situation wurde mir immer unangenehmer. Auf einmal zog es in Sekundenschnelle eine Trittstufe aus Holz unter dem Mantel hervor. Noch bevor ich was sagen konnte, kniete der kleine Junge auf dem Boden und polierte eifrig meinen Turnschuh. Ich mochte gar nicht hinsehen. Immer wieder schaute ich mich um, in der Hoffnung, dass kein anderer Erwachsener sieht, wie ich mir von diesem Kind die Schuhe polieren lasse. Es hat aber niemanden interessiert.

Der Gedanke daran, dass kleine Kinder tagsüber Schuhe putzen, statt ihre Kindheit zu genießen ist für sie genauso unbehaglich, wie Jake es mit seinen Worten beschreibt. Sie schüttelt ihren Kopf und blättert um.

Montag, 03.11.2014

Hatte heute ein Vorstellgespräch an einer der Schulen hier. Letzte Woche habe ich durch den Staatsanwalt erfahren, dass ich noch bis Weihnachten oder so in Bolivien untertauchen muss. Man löse den Fall zurzeit mit Hochdruck, allerdings stehen die besagten Geschäftsführer noch immer unter strenger Beobachtung. So lange dürfe man die Ermittlung nicht gefährden. Als ich dann gestern in der Jugendherberge mitbekam, dass die Schulen in La Paz händeringend Langzeittouristen suchen, die den Kindern für kleines Geld Englisch beibringen, stand für mich fest, dass ich meine ungewollte Lebenssituation in die Hand nehmen muss. Einzige Voraussetzung war, dass man Spanisch und Englisch können muss. Und dass man ab 18 Uhr Zeit hat.

Freitag, 28.11.2014

Heute hat der Unterricht wieder Spaß gemacht. Ich habe den Kindern einiges über Europas Geschichte erzählt. Pedro kam wie gewohnt zu spät. Ich habe ihn in der Pause beiseite genommen und gebeten, dass er früher losgehen soll. Er schaute mich daraufhin verschüchtert an und entschuldigte sich mehrfach dafür, dass er es zeitlich nicht schafft noch mehr als zwei Stunden für den Schulweg einzuplanen. Aber er werde sich zukünftig bemühen schneller zu gehen.

Ich war sprachlos. Mit dem Leihwagen brauche ich nur knapp 25 Minuten bis in die Stadt. Nach dem Unterricht habe ich Pedro angeboten ihn zu fahren. Er hat sich so gut er konnte dagegen gewährt. Aber ich habe mich nicht abwimmeln lassen. Der Junge tat mir so leid. Allein der Gedanke daran, dass er um 20 Uhr noch zwei ganze Stunden alleine von der Stadt bis rauf in die verwinkelten Wohnsiedlungen in den höher gelegenen Bergen laufen muss, ging mir einfach nicht in den Kopf. Wie wissbegierig muss ein Kind sein, um solche Anstrengungen auf sich zu nehmen? Auf der Rückfahrt war Pedro ganz still. Zwischendurch gab er mit einer Handbewegung an, wenn ich abbiegen sollte. Er sah auf dem Beifahrersitz des Jeeps klein aus. Seine blauen Spiderman-Turnschuhe mit den leuchtend roten Schnürsenkeln baumelten frei in der Luft vor dem Sitzpolster.

Mittwoch, 17.12.2014

Heute ist Minnies Geburtstag! Wie könnte ich das vergessen. Ich war neulich drauf und dran, ihr eine Postkarte von La Paz zu schicken. Einfach nur, damit sie weiß, dass es mir gut geht und dass ich sie noch immer über alles auf der Welt liebe. Aber der Staatsanwalt hat es mir mehrfach verboten. Jetzt habe ich schon so lange durchgehalten und möchte es nicht vermasseln. Meine Tage hier ziehen schnell vorbei. Tagsüber bin ich in der Stadt unterwegs und freu mich auf den Unterricht mit den Kindern. Mit Pedro habe ich vereinbart, dass ich ihn zwei Mal die Woche auf dem Weg zur Schule abholen komme. Anfang der Woche war ich früh dran. Die Straßen waren leer. Er stand noch nicht wie gewohnt vor der Haustür. Ich stieg aus um nach ihm zu sehen. In der Hütte, in der er mit seine Eltern und seinen drei kleinen Geschwistern lebt, liefen an den Wänden überall wirre Kabel entlang. Manche waren mit einer Schutzschicht ummantelt, andere nicht. Behutsam schaute ich mich um. Als ich eine Frau stark husten hörte, kam Pedro um die Ecke gesprungen. Er winkte mich zu sich, um mir sein Zimmer zu zeigen. Neugierig folgte ich ihm. Eine selbstgebaute Holzleiter führte von der Küche aus durch ein Loch in der Decke hinauf in Pedros Reich. Als ich fast oben war, stellte ich schnell fest, dass ich viel zu groß bin, um dort herumzulaufen. Pedro hingegen hopste direkt auf sein Bett und zeigte auf einen uralten winzigen Röhrenfernsehr auf dem Boden. Ich weiß gar nicht wie lange es her ist, dass ich so einen Fernseher gesehen habe. Sein Vater hat ihn für Pedro repariert, nachdem er ihn auf einem Schrottplatz gefunden hatte. Das Gerät war Pedros ganzer Stolz. Niemand seiner Freunde hatte einen eigenen Fernseher. Ich stand noch immer auf der Leiter und schaute mich weiter um. Mein Blick blieb an einem abgewetzten Holzkasten, einem Schwamm und schwarzer Cremepaste hängen. Pedro bemerkte es und schob alles schnell mit dem Fuß unter das Bett. Er wollte nicht darüber sprechen. Doch ich konnte es mir denken. Der arme Junge putzt vor der Schule Schuhe. Deshalb hat er auch keine Zeit früher loszulaufen.

In der Schulpause erfuhr ich von anderen Lehrern, dass Schuhputzer in Bolivien verachtet werden. Die Kinder vermummen sich beim Arbeiten und reden daher nie darüber, um nicht verspottet zu werden. Manche Kinder sind unter fünf Jahre alt, wenn sie anfangen, damit Geld für Nahrung zu verdienen.

Während die Uhr auf Zwei zugeht, unterbricht Minnie hellwach ihre Lesestunde und geht auf Toilette. Danach murmelt sie sich wieder in die Bettdecke ein und liest weiter.

Donnerstag, 08. Januar 2015

Gestern war ich wieder in der Stadt einen Tortilla-Fladen essen. Dabei beobachtete ich am Straßenrand wieder eines der Schuhputzkinder. Es trug blaue Spiderman-Turnschuhe mit leuchtend roten Schnürsenkeln. Es war Pedro! Er war gerade dabei, einem älteren Herrn schwarze Lederschuhe aufzupolieren. Jeder Handgriff saß perfekt. Man sah ihm an, dass er das schon über Jahre machte. Als er fertig war, nahm er umgerechnet 20 Cent entgegen, klappte die Trittstufe samt Putzmaterial zusammen und ließ alles wie ein Magier in einer Tüte verschwinden. Auch seinen Umhang. Nun sah er wieder aus, wie der kleine Junge von nebenan. Ich folgte ihm unauffällig. Er lief die Straße hinunter und kaufte sich von seinem Geld ein einfaches Brötchen mit Avocado. Das Günstigste, was man an der Straße kaufen kann. Als ich ihn abends in der Schule darauf ansprechen wollte, kam er nicht zum Unterricht. Heute erfuhr ich über einen Klassenkameraden, dass Pedros Mutter verstorben ist. Er kann die nächste Zeit nicht mehr zur Schule kommen und muss sich um seine kleinen Geschwister kümmern, während sein Vater weiter Geld verdienen muss.

Montag, 10.02.2015

Liebes Tagebuch, es ist nicht zu glauben, aber ich sitze immer noch in Bolivien fest. Ich weiß nicht warum, aber in letzter Zeit mache ich mir viele Gedanken darüber, ob Minnie noch auf mich wartet. Warum soll sie auf jemanden warten, von dem sie denkt, dass er sie aus Mangel an Liebe verlassen hat? Das ergibt alles keinen Sinn.

Ich habe mich hier gut integriert. Mein Zimmer fühlt sich fast wie ein richtiges Zuhause an. Manchmal träume ich sogar in Spanisch! Der Unterricht an der Schule erfüllt mich sehr. Mehr als die Leitung der Vertragsabteilung in meinem alten Leben. Gott, was habe ich meinen Job damals geliebt. Heute sehe ich die Welt mit anderen Augen. Mitzuerleben, wie Kinder von einem besseren Leben mit einem richtigen Job träumen, ist ein unbeschreiblich gutes Gefühl. Ich bin ein Teil von ihrem Werdegang geworden und fühle mich mitverantwortlich. Ich möchte den Kindern in La Paz helfen! All‘ den kleinen Pedros die es verdient haben am Unterricht teilzunehmen, statt in so jungen Jahren so viel Verantwortung für die Familie übernehmen zu müssen. Wenn die Sache mit der Staatsanwaltschaft überstanden ist, schicke ich Minnie dieses Tagebuch zu. Sie soll mit eigenen Augen lesen, wie sehr mich das Leben hier verändert hat. Erst dann wird sie verstehen, warum ich hier leben möchte, obwohl ich sie liebe und nie vor gehabt hatte, sie zu verlassen.

Tränen rollen Minnies Wangen hinab. Sie schaut auf den Kalender über dem Bett. Dieser Tagebucheintrag ist nun gute zehn Monate alt. Eine verspätete Antwort auf ihre damaligen Fragen. Jake war der eine Mann, den sie heiraten wollte. Bis er von heute auf morgen verschwand und ihr das Herz brach. Jetzt zu lesen, dass genau das nie seine Absicht war, versetzt ihr einen tiefen Stich. Gleichzeitig ist sie erleichtert. Mit zitternden und Händen blättert sie den letzten Tagebucheintrag auf.

Montag, 03. April 2015

Liebe Minnie, dieser Eintrag ist nur für dich! Hast du das Buch gelesen? Damals durfte ich dir zu deinem Schutz nicht erzählen. Ich war wie gelähmt über das unerwartete Ausmaß und habe mich strickt an alles gehalten, was die Staatsanwaltschaft mir gesagt hat. Die Beweislage für die Geschäftsführer ist mittlerweile so erdrückend, dass ich nicht mehr viel zu befürchten habe. Deshalb stelle ich dir jetzt eine wichtige Frage: Kannst du dir ein Leben mit mir in Bolivien vorstellen? Du fehlst mir! Ich werde am 21. Mai in der Ankunftshalle am Flughafen von La Paz auf dich warten. Dieses Datum hat uns schon einmal zusammengebracht – vor genau sechs Jahren. Ich liebe dich!

Dein Jake

Minnies Magen krampft ich zusammen. Sie beginnt heftig zu weinen und schnappt nach Luft. Plötzlich geht die Schlafzimmertür auf und ein Mann setzt sich zu ihr: „Schatz, was hast du? Warum bist du noch wach?“

Minnies Verlobter, Alejandro, nimmt sie sofort in den Arm. Das lederne Notizbuch rutscht bei der Umarmung von der Bettdecke und landet lautlos auf dem Teppichboden weit unter dem Bett. Minnie bringt kein Wort heraus. „Liebling, sag‘ doch bitte was. Ist etwas mit unserem kleinen Jungen?“ Besorgt streicht der Spanier mit einer Hand über ihren mittlerweile leicht sichtbaren Babybauch.

„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich konnte nicht einschlafen und die Hormone spielen verrückt. Geh‘ du ruhig schon duschen. Du bist sicherlich erledigt von deiner Nachtschicht im Krankenhaus. Ich mache uns Frühstück.“

Auf dem Weg in die Küche wird Minnie bewusst, dass ihr Alejandro nie begegnet wäre, wenn das Notizbuch vor dem 21. Mai bei ihr angekommen wäre. Dieses Päckchen hätte ihr Leben verändert.

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