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Grabgeschichte
ОглавлениеMarina Büttner
Ich liebe diese Stadt, könnte anderswo nicht leben. Doch die Stadt tut nur gut, wenn es dir gut geht. Geht es dir schlecht, beginnst du sie zu hassen. Du siehst plötzlich all das mit andern Augen, was dir sonst so gefällt... die Vielfalt der Menschen, das bunte Treiben, die unendlichen Möglichkeiten, die hier auf dich warten, die Verrücktheit, die Schäbigkeit, die stete Bewegung, die Gelassenheit, die üblen Ecken, der ewige Wind, der durch die Straßenzüge pfeift. Alles verkehrt sich dann plötzlich ins Gegenteil... du fühlst dich einsam unter all den vielen Menschen, überflutet vom Lärm und belästigt vom Dreck. Die Stadt geht dir auf die ohnehin angegriffenen Nerven. Du hast jedoch eine Möglichkeit gefunden, dich abzuschirmen gegen die Wucherungen und die Übergriffe der großstädtischen Tentakel. Du hast einen Ort entdeckt, der dich unantastbar macht. Es ist ein Schutzraum, ein Kokon der Stille, der dich von allem Unerträglichen trennt, in dem alle gleich sind: Das Reich der Toten.
Mein Friedhof bietet mir behutsame Ruhe, Naturwelten (wusstest du, dass Eichhörnchen schreien?) und egal an was man glaubt, einen Hauch von Ewigkeit und Seelenfrieden. Der Friedhof ist zu meinem zweiten Zuhause geworden. Ich schreibe dort, ich las die russischen Klassiker dort, die noch in meinem Repertoire fehlten, ich diskutierte über Schicksal und eigenen Willen, meditierte, habe innig geküsst und auch intensiv geschwiegen. Ich habe dort Leute mit Missionen und Visionen vorgefunden. Eine Frau hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich täglich um die liebevoll eingerichteten Futterplätze der Vögel zu kümmern, ein anderer füttert die Eichhörnchen. Ich lauschte wohlklingendem Gitarrenspiel, ganz leise; einmal übte einer Kickboxen mit einem Punchingball, ziemlich laut. Ich treffe oft auf schwarz gekleidete Jugendliche, weihrauchduftend, die sich vor Jugendstilgräbern in Szene setzen, um sich fotografieren zu lassen. Ein Schauspieler übt hier seine Dialoge, eine Sängerin trainiert ihre Gesangsstimme.
Die Menschen, denen du hier regelmäßig begegnest, sind anders als außerhalb der Friedhofsmauern...
Ich habe meinen Job verloren, mein geliebter Beruf ist vom Aussterben bedroht. Mein Freund hat eine andere. Es wird Herbst. Alles Wasser auf die Mühlräder einer Depression, die ich glaubte, für immer hinter mir gelassen zu haben. Ich bin nicht in einem Alter, in dem man einfach mal so mit links wieder neu anfängt. Ich fühle die Verzweiflung heute deutlich und bevor ich zu meinem Beratungstermin erscheinen muss, will ich noch ein wenig zu mir kommen. Ich biege von der Hauptstraße ab, gehe die paar Stufen hinunter und befinde mich in Sicherheit. Sofort umfängt mich Stille. Mein Weg führt mich entlang zwischen den Gräbern zu „meiner“ Bank. Sie steht so, dass der Blick auf das Grab von Rahel von Varnhagen fällt. Kurz stutze ich, denn da ist eine junge Frau beschäftigt an einem der Gräber gleich in der Nähe. Eigentlich möchte ich allein sein. Soll ich meine Richtung ändern, den Weg in den anderen Kirchhof einschlagen? Doch schon tragen mich meine Füße weiter in diese Richtung. Die Sonne erreicht gerade das eine Ende der Bank. Sie steht tief, es ist Herbst, sie wird bald hinter den Bäumen verschwinden, doch sie wird mich einen kurzen Augenblick wärmen. Lange werde ich ohnehin hier nicht sitzen können, bevor ich weiter muss. Ich nehme Platz, schließe die Augen, fühle die Strahlen auf meiner Haut. Versunken.
Wie immer habe ich ein Buch bei mir, doch heute will ich nicht lesen, nur einfach hier sitzen und sinnieren. Ich sehe die Worte auf dem Grabstein. War es damals einfacher zu Zeiten des Literatursalons der von Varnhagen Verleger, Buchhändler oder Schriftsteller zu sein? Darin vergrüble ich mich fast immer, wenn ich hier sitze. Für mich, die ich die Literatur so liebe, ist es ein erschöpfendes Thema. Damals schrieb man mit der Hand, man schrieb noch Briefe (hast du jemals den Zauber von Kafkas Briefen an Felice gespürt oder im Briefwechsel der Bachmann mit Celan geschwelgt?). Vielleicht wäre ich in einer früheren Zeit besser aufgehoben gewesen... Jetzt ist das internationale Netzzeitalter im Gange und nicht mehr zu bremsen. Es wird an kleinen Computern gelesen und ich, die ich noch am Papier meiner Bücher rieche und beim Umblättern der Seiten ein Wohlgefühl verspüre, bin zum Dinosaurier meiner Berufszunft geworden.
Ein Geräusch zieht meine Aufmerksamkeit nach außen. Als ich aufblicke, merke ich, dass die junge Frau sich ans andere Ende der Bank gesetzt hat. Neben ihr liegt zerknülltes Blumenpapier, sie hat einen Strauß auf das Grab gestellt. Nun kramt sie in ihrer Tasche. Einen kurzen Moment überlege ich, ob es mir passt, dass sie hier sitzt. Doch schon weiß ich, es ist okay. Sie fragt, ob es mich störe, wenn sie rauche. Nein, sage ich. Ich bin verblüfft darüber, dass sie fragt. Sie muss nicht fragen. Ich wundere mich, warum ich ihr nicht sage, dass ich es ungewöhnlich und nett fände, dass sie frage und, nein, dass es mich gar nicht störe, dass ich Raucher möge und selbst gerne rauchen würde, nur schmecke es mir eben nicht. Ich möchte plötzlich ein Gespräch mit ihr beginnen, anknüpfend an ihre Frage. Dann will ich erfahren, warum sie so traurig ist, sie sieht zumindest so aus. Ich möchte es wirklich wissen. Ich möchte wissen, wer sie ist, was sie hierher führte, was sie bewegt im Leben. Ich spüre ihre Traurigkeit und meine. Und ich empfinde nun ein großes Gefühl der Nähe zu ihr und auch der Zuneigung. Und wie ich weiter so mit mir ringe, sie doch endlich anzusprechen, das für und wider abwäge, steht sie auf und verabschiedet sich. Ich reagiere automatisch und sage ebenfalls tschüss. Was ich wirklich will ist, dass sie bleibt. Warum zündet sie sich keine zweite Zigarette an und bleibt mir nahe, meinetwegen auch im Schweigen? Doch sie geht. Sie hatte zu Ende geraucht, ich hatte es nicht gemerkt, ob meines inneren Dialogs. Ich war so im Denken und Fühlen vertieft gewesen und hatte damit meine Chance versäumt. Ich sehe ihr nach. Sie trägt Jeans und Stiefel, eine Kapuzenjacke unter dem leichten Mantel.
Ich sehe, wie sie davon geht und verspüre in mir eine Trauer des Verlassenseins. Es ist ein solch schmerzliches Gefühl, dass mir Tränen in die Augen schießen und ich kurz und wild versucht bin, ihr nachzugehen, um mich zu erklären. Und solches sogar in der Hoffnung, sie würde mich genau verstehen und sagen, ja, ihr wäre es ebenso ergangen. Wir würden uns schließlich in die Arme sinken, zwei, die sich wiedererkannt hätten. Endlich in aller Unendlichkeit.
Ich tat nichts dergleichen. Ich hatte sie weder angesprochen, noch war ich ihr nachgegangen. Ich war an jenes Grab getreten, an dem ich sie hatte stehen sehen. Sie hatte Blumen gebracht zum Geburtstag. Zum Geburtstag einer Frau, derer hier gedacht werden konnte an diesem Totenort. Das Grab einer Frau, die vielleicht die Mutter gewesen war. Die Traurigkeit der jungen Frau, die vielleicht Trauer um die verstorbene Mutter war, die ich in mir gespürt hatte. Die Trauer um eine Mutter... Die Trauer um eine lebende Mutter... um eine tote Mutter... Unsere Traurigkeit war eine gemeinsame; ein tiefes Gefühl, dass uns verband.
Ich finde mich in einem Zustand wieder, der mich in eine unbekannte Stärke führt, der mein Innerstes durchdringt und weitet. Mein Herz war berührt worden, vielleicht ein Schlüssel gefunden, um neue Türen zu öffnen.
Ich mache mich auf den Weg.