Читать книгу Das schlanke, blasse Mädchen - Erdmann Graeser - Страница 5
1.
ОглавлениеUnter der weissgetünchten, niedrigen Stubendecke kreisen die Fliegen — schläfrig tickt die Uhr — draussen brütet die Mittagssonne.
Tante Reles Kopf sinkt in regelmässigen Zwischenräumen vornüber, und Detlev schwebt in Sorge, dass sie sich mit dem Strickzeug in die Augen stechen werde.
Aber er sagt nichts — denn Tante Klara ist da! Tante Klara sitzt auf dem glatten, harten Ledersofa und fängt ab und zu eine Fliege, die sie dann mit der flachen Hand auf der Tischplatte totschlägt. Denn sie hasst die Fliegen, die sie „Ungeziefer“ nennt.
Da kommt wieder eine angesegelt — zielt — setzt sich auf Tante Klaras Tituskopf und zwitschert in dem Haargewirr. Tante wird blass vor Aerger — blickt, als wäre der daran schuld — nach Detlev, dann nach Tante Rele. Doch Detlev sitzt wie angepicht über seinem Lehrbuch, und Schwester Rele wird in ihrer Schlaftrunkenheit gleich vom Stuhle stürzen. Da reckt Fräulein Klara mit tiefem Atemzuge den Hals nach dem Spiegelchen, äugt in die Höhe und schlägt sich mit Wucht auf die Frisur.
Fröhlich steigt die Fliege nach der Stubendecke empor, und Tante Klara klemmt die schmerzenden Fingerspitzen zwischen die Kniee, mit einem Gesicht, als wolle sie eine Flasche aufkorken.
Detlev weiss, dass er jetzt für die Fliege büssen muss, deshalb scheint er plötzlich von seiner Lektion überwältigt, hält sich die Augen zu und spricht das Gelernte lautlos nach der Decke hinauf. Aber Tante Klara lässt sich nicht täuschen, ein böser Zug kommt um die Lippen, — sie steht auf und tritt zu Detlev, der sein Buch mit beiden Händen umklammert.
„Nun — gieb nur her, Junge! Wie weit bist du?“
Der Junge zeigt irgendwohin, denn es ist ja gleichgültig, was er bezeichnet, da er nichts kann.
„Und wie weit hat dir der Papa aufgegeben?“ Detlev zeigt die durch einen Nägeldruck kenntlich gemachte Stelle. „So lernst du bis dahin“ — sagt Tante Klara — eine neue Stelle mit ihrem scharfen Fingernagel einkerbend. „Du hast noch eine Stunde Zeit!“
Detlev hütet sich, auch nur tiefer zu atmen, da er weiss, dass die Portion sonst gleich verdoppelt wird. Aber als sich Tante Klara nun abwendet, betrachtet er die grosse, knochige Gestalt mit ganz eignen Blicken. Es liegt — für ein Kind umso verwunderlicher — etwas Stolzes und Ueberlegenes darin, eine überraschend scharfe Beurteilung — nichts von Trotz oder Erbitterung. — —
Inzwischen sitzt die Fliege auf der gestickten Schlummerrolle, wirbelt schadenfroh die Vorderbeine umeinander und beobachtet Tante Klara. Die geht auf und ab, dröhnenden Schrittes, da sie wegen ihrer ewig kalten Füsse Sommer und Winter eine Art Stulpenstiefel mit Pelzbesatz trägt.
Detlev, der nur zu gut weiss, wie argwöhnisch Tante Klara sein Gesicht belauert, müht sich jämmerlich, mit seiner Aufgabe weiterzukommen. Doch — da macht die gestiefelte Dame plötzlich Kehrt und geht hinaus. Auf der Treppe wird ihr Schritt lautlos — wie eine Katze, so vorsichtig und behende, gleitet sie hinunter. Und so gelingt es ihr wirklich, Jette, das bucklige Hausinventar, wieder dabei zu erwischen, als es sich gerade an den saftigsten Stücken des Kalbsbraten delektiert und hin und wieder einen Schluck der abgeschöpften Bouillon schlürft.
„Aha!“ und Tante Klara springt aus dem dunklen Flur auf die Entsetzte los.
Jettes grauer Kopf zittert vor Schreck so stark, dass der klägliche Haarknoten sich löst und die Rattenschwänze nach allen Richtungen starren. „Jottachjott — ick hab’ man bloss jekost’t“ — sagt sie wimmernd.
Tante Klara hält ihr die geballte Hand unter die Nase und treibt Jette bis in die äusserste Küchenecke. „Duuu —!“ sagt sie — „’rein, Tisch zurecht machen, ich pass’ jetzt hier auf!“
Jette sieht sie noch eine Weile stier an, wischt sich dann die fettigen Finger am Kopf ab — an den sie überhaupt alles schmiert — und verschwindet. — — —
Oben — im ersten Stock — haben Tante Rele und Detlev sich erlaubt, die Haltung ihrer Beine zu wechseln. Nun blicken sie sich beide an wie zwei Ziehhunde, die ihre Karre nicht weiterbekommen können, und dann beschäftigt sich Tante Rele mit ihrer Warze. Sie hat eine — ein erbsengrosses Ding unter dem rechten Ohr — geschmückt mit drei Haaren, die hart und steif wie Drahtstifte sind. Detlev meint, sie gäben bei einer Berührung Töne von sich, so metallisch erscheinen sie ihm. Wie Tante Rele jetzt darauf klimpert, ist es auch, als lausche sie wohlgefällig einer leisen Musik.
Detlev vergleicht inzwischen kummervoll das, was er angeblich schon gelernt hat — erkenntlich daran, dass es gelb und fleckig aussieht — und das, was er noch lernen soll — weiss, rein und sehr lang.
Und Tante Rele fängt nun auch wieder an und misst einen halbfertigen Strumpf — der, soweit Detlev denken kann, nie länger geworden ist — an einem wirklich ganz fertigen. „Ach ja — ja!“ seufzt sie leise dabei.
Endlich schlägt die Uhr und in demselben Augenblick sinken Tante Reles und Detlevs Hände schlaff auf den Tisch. „Geh — Dettchen, sieh nach, ob Grossvater schon da ist — es ist ja Mittwoch!“
Als Detlev vor die Hausthür tritt, biegt der Alte gerade um die Ecke, den Cylinder wegen der Hitze in der Hand. Zeitweilig fährt er wild mit der Hand empor, als wolle er sich alle Haare ausraufen — fährt dann aber immer wieder rasch zurück — denn er hat nur noch ein paar, und die sitzen in den Nasenlöchern, der Schädel ist blitzblank.
Wie der Alte Detlev erblickt, leuchtet es in dem faltigen, bartlosen Komödiantengesicht auf. „Ja — ja, Koujon, da bin ich,“ sagt er, munter wie ein Jüngling seinen Elfenbeinkrückstock schwingend und greift mit seiner beringten, welken Hand in Detlevs langes Haar. „Allons!“ und im Weiterschreiten summt er ein lustiges Liedchen.
Im Esszimmer wird Grossvater jedoch sofort still und mürrisch. Die beiden Tanten und Anton, Detlevs älterer Bruder, sind schon da, nur Papa fehlt noch — wie immer.
Jette wird abgeschickt, ihn zu holen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn Dr. Jensen beschäftigt sich — seit er die Schulthätigkeit aufgegeben — mit der wichtigen Untersuchung über den assyrischen Volkscharakter, von dem er, den Gegnern zum Trotz, beweisen will, dass er ein durchaus kriegerischer gewesen sei. Das nimmt den Herrn Doktor so in Anspruch, dass er der Nahrung nicht mehr bedarf. Seitdem man ihn aber neulich zu früh an den gedeckten Tisch gerufen, ist ihm Essen und Trinken zuwider geworden. Jette muss ihn deshalb — damit er nicht verhungert — so lange peinigen, bis er nachgiebt. Doch hat sie sich vorher eine Deckung zu suchen — da Dr. Jensen die üble Angewohnheit besitzt, wie einst in der Schule, mit Büchern zu werfen. —
Als die hagere Gestalt heute erscheint, ist der Mund in dem wächsernen Gesicht so fest zusammengekniffen, als werde er keinen einzigen Bissen zu sich nehmen, und die Augen sehen misstrauisch hinter der goldenen Brille hervor. Wie er dann nachher widerwillig im Essen stochert, fragt sich Grossvater — wie oft schon — was dieser Mann wohl Bezauberndes an sich gehabt, dass seine „Fleure belle“ gerade diesen begehrt. Diesen pedantischen Schlucker, mit dem Anhang der beiden altjungferlichen Schwestern, den hatte das reiche, verwöhnte Kind ertrotzt. Und das merkwürdigste: diese Ehe war glücklich geworden, sehr glücklich sogar!
Grossvater versteht es noch heute nicht — aber, warum sich damit quälen, die arme, wilde „Fleure belle“ hat sich rasch zu Tode geflattert, die Jahre sind vergangen, man ist ruhig geworden, so — und jetzt steht das Mittagsbrot hier — lasst uns essen, ehe es kalt geworden! Und der Alte hat solchen Appetit, dass er nicht einmal wartet, bis Tante Rele ihr stilles Tischgebet beendet hat.
Schweigsam und feierlich geht es zu, Detlev denkt, es sei eine Henkersmahlzeit. Denn — so gut auch das Essen — alle thun, als wenn sie Seegras und Kieselsteine schlucken.
Endlich ist man fertig und Doktor Jensen erhebt sich eilig, um wieder zu seinem assyrischen Volkscharakter zu kommen. Ehe er aber verschwindet, findet er doch noch Zeit, zu sagen: „Detlev — pünktlich drei Uhr oben sein, du hast deine Präparation zu machen!“