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2.

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Detlev besucht keine Schule — sein Vater unterrichtet ihn. Damit es nach allen Regeln der Pädagogik geschieht, hat Herr Doktor Jensen einen Stundenplan entworfen, der — fein säuberlich auf Karton geklebt — neben einem der vielen Bücherschränke hängt und jeder Tagesstunde ihre Bestimmung verkündet.

Detlev hat ihn sich in der ersten Zeit stets voll ehrfürchtiger Bewunderung angesehen und — wie der Kanadier — darüber gestaunt, dass es wirklich möglich sei, die langen, prächtigen Sommertage, an denen die Wolken aus fernen Ländern gesegelt kommen, einzufangen und auf das Papier zu bannen, zwischen die dicken Abteilungstriche des Stundenplanes, der dem Gitterfenster eines Gefängnisses gleicht. Doktor Jensen hat das Kunststück wirklich fertig gebracht und Detlev bestaunt daher auch gebührend seinen Vater.

Noch grösser aber wurde damals sein Erstaunen, als sich Tante Klara eines Tages an das Studium des wunderbaren Stundenplanes machte und — unter dem Vorwande, dass der Papa wegen des assyrischen Volkscharakters nicht die nötige Zeit habe — sich eigenmächtig mit der Ueberwachung von Detlevs Arbeiten betraute. Und es giebt nichts, was Tante Klara seitdem eifriger betreibt, denn sie thut es, wie Detlev meint, mit einer gewissen Wollust. — —

Der Nachmittag ist gekommen, und Anton und Detlev sitzen in dem gemeinsamen Arbeitszimmer, das sich neben der Studierstube des Vaters befindet. Und wenn diese einer grossen, dumpfen Gruft ähnelt, so ist das Arbeitszimmer eine kleine und noch dumpfere Gruft.

Anton — ein dürrer Knabe mit starren Augen — hockt schweigsam über seinen Büchern, denn er nimmt es sehr gewissenhaft mit der Arbeit. Er hat den heissen Wunsch, möglichst schnell so gelehrt zu werden, wie der Vater und dazu — sagt er — gehören „Vorsätze und Grundsätze!“ Deshalb kann ihm die Siedehitze heute nichts anhaben, er lernt, obwohl er so sehr schwitzt, dass sich sein kurzes Haar symmetrisch zu kleinen, nassen Büscheln ordnet, die ihm ein igelhaftes Aussehen geben.

Der Geruch des alten, stockfleckigen Papieres von all’ den vielen Büchern mischt sich mit der schwülen Luft, die durchs Fenster hereinkommt. Es ist so heiss, dass sich alle Bande frommer Scheu lösen; Grossvater — ganz überwältigt — ist nicht wie sonst sofort nach der Vorstadt in sein Häuschen zurückgekehrt, sondern hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht — in beinahe adamitischem Kostüm — zu Jettes grösstem Gaudium. Und selbst Tante Klara hat den Gedanken erwogen, ob es ihr schädlich wäre, wenn sie die Pelzstiefel ein paar Stunden ablegte! —

Zeitweilig hebt Anton seinen von Hitze und Gelehrsamkeit überwältigten Schädel, und dann sieht Detlev das jugendlich-alte, entgeisterte Gesicht seines Bruders, wie es ihn einen Augenblick anstiert, dann wieder hinter den aufgeschichteten Büchern verschwindet und nur die Stacheln übrig bleiben, einer Dornenhecke gleich, die ihn gegen jede Versuchung der Aussenwelt schützt.

Und wie Detlev so dasitzt — schwindlig und müde — denkt er an all’ die Tage, die er hier ebenso verbracht — schwindlig und müde; zur Sommerzeit, wenn draussen die grossen weissen Wolken regungslos am Himmel stehen und die Spatzen auf der Dachkante zwitschern; und dann wieder im Winter, wenn die Scheiben dick zugefroren sind, wenn vom Feuerloch des braunen, unförmlichen Kachelofens ein breiter, roter Schein auf der Diele zittert, und ringsum tiefe Stille herrscht, dass man alle Uhren im Hause ticken hört.

Wie undenklich lang schon erscheint Detlev diese Zeit! Sie ist vergangen und hat ihm nichts gebracht, und doch weiss er, dass ihn inzwischen irgendwo „Etwas“ erwartet hat und noch erwartet. Er braucht nur hinauszulaufen in den schweigenden Wald, dann wird es ihm entgegenkommen, hinter einem Baumstamm wird es hervortreten oder sich plötzlich vom Boden erheben und vor ihm stehen — so, wie es manchmal im Traume geschieht.

Da schlägt die Uhr — die Stunde der Erlösung ist gekommen. Mit tiefem Atemzug schleicht er hinaus, während Anton sich eine Extraarbeit leistet.

Tante Rele, zu der Detlev geht, ist nicht nur seine Leidensgefährtin, sondern überhaupt so unglücklich, wie ein Mensch nur sein kann. Tante Klara verbittert ihr ja das Lieben, aber Tante Rele verbittert es sich selber noch viel gründlicher durch den Reichtum ihrer Empfindungen, der sich seit ihrer Mädchenzeit aufgespeichert und sie jetzt manchmal zu überwältigen droht.

„O, Dettchen“ — pflegt sie dann zu sagen — „im Hinblick auf die vergangene Zeit“, und dann geht sie jedesmal an ihr Bett, macht sich dort eine Weile geheimnisvoll zu schaffen und bringt oft ein Gläschen überaus süssen Liqueurs zum Vorschein.

„Da — trink’, Dettchen trink’, und möge es dir bekommen, dass du nicht auch so unglücklich wirst wie deine arme Tante, die in ihrem Leben nichts gehabt hat als Bitternis.“

Und während Detlev dann andächtig trinkt — in kleinen Schlucken, die er so lange als möglich im Munde behält — sitzt Tante Rele und schluchzt in ihr Taschentuch. Ist sie dann aber noch ein paarmal an ihr Bett gegangen, wird sie fideler, bis dann jäh wieder der Umschlag kommt, und sie sich noch elender und trauriger fühlt, als vorher. Dann geht sie weinend nach ihrer Kommode und kramt unter ihren Andenken, von denen sie ein ganzes Museum besitzt. Wenn der Anfall sehr schlimm ist, holt sie ein gesticktes Täschchen vor, in dem sich die Photographie einer Leutnantsuniform befindet. Der Kopf, der einstmals dazu gehört, ist von all’ den Thränen und Küssen, die das Bild befeuchtet, wie wegradiert. —

Als Detlev heute zu Tante Rele kommt, sieht sie vergnügt und getröstet aus — selbst die Drahtstifte ihrer Warze haben den Anschein der Biegsamkeit.

„Nun, Dettchen, das ist schön! Komm’, wir setzen uns hierher und erzählen uns was!“ Damit nimmt sie den fertigen und den halbfertigen Strumpf vom Stuhl, legt die Quälgeister aufs Bett und rückt die Sitze ans offene Fenster. „Ist Grossvater noch da?“

„Ich weiss nicht! Tante Rele — warum ist er denn immer so verdriesslich, wenn er zu uns kommt, sagt Detlev, seinen Kopf an die Brust der Tante legend.

„Dett“ — sagt sie, den Knaben an sich drückend und unablässig mit der Hand durch sein langes Haar fahrend, „würde es dir gefallen, wenn du solch’ fremde Sippschaft, wie wir es ihm doch eigentlich sind, immerfort unterstützen solltest? Als deine Mama noch lebte, hat er es ja gern gethan — aber jetzt —!“

„Und ich möchte nur eins wissen,“ sagt Tante Rele, während sie Detlev loslässt und nachdenklich auf ihrer Warze musiziert, „nur eins möchte ich wirklich wissen, wem Grossvater ’mal all das viele Geld hinterlassen wird? Er kann’s doch nicht mit ins Grab nehmen! Was hat der Mann aufgespeichert in seinem Hause — wie viel Geld steckt in den Sammlungen, schon allein in den vielen Bildern!“

„Ach ja!“ nörgelte sie nach einer Weile weiter, „der geniesst sein Leben! Der ist immer heiter, obschon er ganz einsam lebt. Früher — da ist’s ihm ja auch schlecht ergangen, als er anfing auf dem Theater. Als deine Mama noch lebte, hat er oft davon erzählt, von diesem ruhelosen Wanderleben. Wenn da dann nicht die reiche Grossmama gekommen wär, na wer weiss, wo er dann geblieben!“

Tante Rele ist ins Erzählen gekommen und hört nicht eher damit auf, als bis zum Abendessen gerufen wird. Und als dann die Lampe brennt, alle wieder um den Tisch sitzen und Grossvater — der wegen der Hitze dageblieben ist — erscheint, sieht ihn sich Detlev mit ganz anderen Augen an.

Der Alte aber lässt sich das Essen schmecken und kümmert sich keinen Pfifferling um die ganze Gesellschaft.

Das schlanke, blasse Mädchen

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