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Vorwort Ausnahmezustand. Heiter

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Da kommt einer im schönen Mai aus Berlin nach Leipzig, um die Reize der Gaststadt im leichten, pointierenden Stil eines wohlwollenden Flaneurs für einen ähnlich gelaunten Leser aufzuschreiben. Beinahe nebenher findet er an den Mauern der Johanniskirche Spuren blutiger Auseinandersetzungen, die nicht älter als zwei Monate sind. Hat er sich doch ausgerechnet im Jahr 1921 aufgemacht, um bis in den Sommer hinein den Ort seiner vergnüglichen Erkundungen zu besuchen. Die mit einem Generalstreik verbundenen sogenannten Märzkämpfe zwischen mitteldeutschen Arbeitern und einer Obrigkeit, die sich der Hilfe schlagender Militärs bedient, sind gerade vorbei. Noch herrscht in Sachsen der Ausnahmezustand. Es gibt Sondergerichte, Verurteilung zu lebenslanger und Festungshaft. Nicht nur die Leipziger und keineswegs allein die Armen haben tagtäglich einen anderen sehr lästigen Gast zu Tisch: Den Hunger. Die Folgen des verlorenen (Ersten) Weltkrieges lasten auf dem Land, einem Ascheberg gleich, aus dem immer wieder die Glut aus aufständischen und konterrevolutionären Nestern schießt. Gerade hat der britische Premier dem Botschafter der Deutschen Regierung ein Ultimatum überreicht, wonach das Reich 132 Milliarden Reichsmark als Reparationsschulden an die Siegermächte zu zahlen hat. Anderenfalls droht die Besetzung des Ruhrgebietes. Im Osten gibt es Kämpfe zwischen Polen und Deutschen um Gebiete Oberschlesiens, die beide beanspruchen. Sogenannte Erfüllungsgehilfen – das sind vor allem Politiker, die sich den überaus harten Bedingungen des Versailler Vertrages beugen wollen – werden nicht nur von erzreaktionärer Seite her übel beschimpft. Einen von ihnen, den Reichsfinanzminister Erzberger, wird man am 8. August heimtückisch ermorden. Die Kohle- und Umsatzsteuer muß erhöht werden, da die Sieger der Bitte der deutschen Regierung um Stundung von Reparationszahlungen nicht nachkommen wollen.

Wie man es auch dreht und wendet: Es ist ein bitterer Frühling, ein harter Sommer, in denen sich Erdmann Graeser aufgemacht hat, Leipzigs Reize zu suchen. Er will sie nicht nur sehen, er will sie anders sehen: In freundlich-friedlicher Absicht, mit der Gemütsverfassung des unbeschwert Reisenden, der die ganz und gar unfreundlichen Zeitläufte weitgehend ignoriert. Kann das gutgehen? Muß sich nicht einer, der solches unternimmt, den Vorwurf gefallen lassen, ihn habe die Verdrängungssucht zu oberflächlicher Betrachtung verdammt? Das hieße freilich zu verdächtigen, was gerade in Notzeiten bitter gebraucht wird: Ein Überlebenswille aus heiterem Geiste. Ich sage hier Geist und nicht Gemüt. Das kippt leicht um zu Mißmut. Graeser verfügt über genügend Witz, um das Kunststück gelingen zu lassen. Wenn er die Vergangenheit bemüht, dann sucht er sie bei den Zeitgenossen früherer Jahrhunderte auf und gewinnt auf diese Art und Weise eine läßliche Zuversicht, wenn nicht gar eine für den Feuilletonisten gefährliche Nähe zur Verklärung. Etwa wenn er das Schillerhaus besucht und nachgerade aus dem Gegensatz zwischen des Dichters betulich-bescheidener Unterkunft und der überaus herzlichen Aufnahme durch den Gönnerkreis die Überzeugung gewinnt, das Lied an die Freude kann nur hier und nirgendwo anders zum ersten Mal gejubelt worden sein. So erklärt, glaubt es der Leser gern. Den jungen Goethe sucht Graeser dort auf, wo der seinen Spaß fand: Bei Klärchen Schönkopf und Friederike Oeser, den Töchtern respektabler Leipziger Bürger. Den Dichter Gellert spürt er in der Gruft der Johanniskirche auf, er schenkt ihm die Minuten der Beachtung, die der fast Vergessene neben der letzten Ruhestätte Bachs sonst kaum genießt. Und der durchaus nicht in Ehrfurcht erstarrte Gruftbesucher vergißt keineswegs den Totengräber Müller zu loben, dessen Pingelichkeit beim Begleichen eines Eichensarges auf des Thomaskantors Spur führte. Fast nebenbei erklärt Graeser Leipzig zur Weltstadt, indem er das Blütenfest im Park Meusdorf (wo ist es geblieben?) mit dem Pariser Montmartrefest vergleicht und sich gern einreden läßt, er befände sich mithin auf dem größten Tanzsaal Europas. Bei Felsche probiert er die berühmten Pfannkuchen, im Thüringer Hof sucht er jene Art von unprätentiöser Behaglichkeit, die er offenbar in Berlin nicht finden kann. Beim Wetten während des Pferderennens macht er mit dem Glück des Anfängers einen kleinen Gewinn. So bleibt er inmitten des Trubels bei heiterer Gelassenheit. Freilich lächelt er hie und da über den Leipziger Dialekt, aber es geschieht ohne die Überheblichkeit, mit der man im übrigen Deutschland gewöhnlich das Sächsische quittiert. Vor dem Völkerschlachtdenkmal ergeht es ihm, wie es den meisten noch heute ergeht: Man erschauert angesichts der aufgetürmten Kolossalität, nicht aber im Gedenken an die auf Leipzigs Feldern Gefallenen.

An manches wird der Leser erinnert, was der letzte Krieg im Stadtbild tilgte. Die Johanniskirche, das Bildermuseum am Augustusplatz, die Albertsäle, die Markthalle, beinahe alle typischen Leipziger Höfe. Der Brühl, heute wenig mehr als ein Straßenname, war in den Zwanzigern voller Leben. Graeser weiß es anschaulich zu beschreiben. Und o Wunder, wo einst vor allem die Pelzhändler jüdischen Glaubens für heftige Bewegung sorgten, spricht er von ihnen als Menschen. Von solchen wie du und ich. Das mochte damals noch weniger üblich gewesen sein, als es heute ist.

Soviel noch: Man möge Herausgeber und Verleger dieses Büchleins in die Nähe des Verfassers der Leipziger Ansichten rücken. Auch ihr Ehrgeiz erscheint auf sympathische Art aus einem heiter ironischen Gemüt zu kommen. Wer müht sich sonst, solche Texte aufzufinden und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?

Juli 2005

Joachim Nowotny

Leipzig - wie ich es sah

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