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Bei Felsche

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Reisen heißt: Sein Ich an fremden Orten wiederfinden.

Wenn das wahr ist, so fand ich mein Ich in Leipzig zuerst bei Felsche wieder. Ja – das war unbestreitbar Ich, der da mit nimmermüden Händen nach den Pfannkuchen langte, die zu anmutigem Berge gehäuft auf der Metallschale lagen, „Café Français“ stand auf dieser Schale eingraviert – so hatte das Kaffeehaus am Augustusplatz vor dem Kriege geheißen. Jetzt nennt man es einfach „Felsche“, nach dem Namen des Inhabers. – –

Da sitze ich also nun, esse einen Pfannkuchen nach dem anderen (ohne mir nach jedem den Daumen und Finger abzulecken, wie die schönen Mädchen ringsum!) und ich bin so froh bewegt, weil ich mir keinen großen, grünbaumwollenen Regenschirm und keine Sacktasche mit eingesticktem Königspudel für diese Reise gekauft habe, wie ich zuerst gewollt, um für einen ganz echten Sachsen gehalten zu werden. Jetzt erkenne ich ja: Die Sachsen sehen ganz anders aus, als wie ich sie auf der Bühne in Berlin zu bewundern gewohnt bin. Ich begreife: Die Bühnen-Sachsen sind Karikaturen, wie die Bühnen-Engländer mit den großkarierten Anzügen. Die Leipziger aber sind Großstadtmenschen, sind Klein-Pariser (Kollege Goethe hat ganz recht – wie immer!) und in der Mode, der Damenmode, uns weit voraus. Die wadenfreien Röcke der Berlinerinnen kommen mir plötzlich wie Schleppkleider vor, als ich jetzt so manches holde Kind kniekehlenfrei über den Kies des Augustusplatzes schweben sehe. Diese Überlegenheit stimmt mich ein wenig melancholisch – Trost gewährt mir nur die Kopfbedekkung der Droschkenkutscher, die nicht ganz so einheitlich ist, denn vor dem Bahnhof sah ich etliche mit Mützen, andere mit gewölbten Filzhüten, wieder andere mit schwarzlackierten Pappzylindern und schließlich welche mit echten seidenen Klapphüten – diese Droschkenkutscher lassen sich offenbar nicht unter einen Hut bringen.

Mit diskretem Rattern gleiten die Elektrischen vorüber, zuweilen wird es so still, daß ich – auf der Terrasse – die Finken höre, die in dem frischen Grün der Baumkronen schmettern. Die Riesenfläche des Platzes wird nicht leer, unaufhörlich kommen und gehen, gehen und kommen Menschen über diesen Platz, der wie ein Magnet auf alles wirkt, was Beine und Räder hat, und der einem ehemaligen Exerzierplatz gleicht. Aber ich unterdrücke diese Ansicht, denn mein Reisehandbuch belehrt mich, daß sich mit dem Augustusplatz „in bezug auf Großartigkeit und Schönheit kaum ein Platz in einer anderen Stadt vergleichen lasse.“ – Solche mit Bestimmtheit vorgetragenen Ansichten schüchtern mich immer ein und ich schlage deshalb rasch nach, was über den Mendebrunnen gesagt wird, den ich da rechts sehe und der mit seinen nach allen Richtungen vorgestreckten Haken wie ein riesiger Kleiderständer auf mich wirkt. Und ich erschrecke, bin beschämt, als ich nun lese, wie viele Koryphäen der Kunst sich zusammengefunden haben, um diesen Monumentalbrunnen zustande zu bringen, den Paul Heyse mit einem Sprüchlein geschmückt, das mit den Worten beginnt: „Zum Himmel streben...“

Ach, ich weiß ja noch nicht, daß ich nicht nur in der Stadt der Höflichkeit, sondern auch in der der Superlative bin, in der Stadt mit dem größten Bahnhof der Welt, dem größten Denkmal der Welt, dem größten Tanzsaal der Welt, dem größten Volkspark der Welt und dem größten Vergnügungs-Etablissement der Welt, denn alles dies erfahre ich erst in den nächsten Tagen, als ich schon dicht an dem Mendebrunnen vorbeizugehen wage, ohne Angst, an irgend etwas von ihm hängen zu bleiben, unbesorgt jetzt, daß mir der vorgestreckte Fuß oder ein Arm der Figuren den Hut vom Kopfe schlagen werde – kurz, als ich mich, sozusagen, schon etwas eingewöhnt habe und mein Blick für das Absonderliche bereits abgestumpft ist. Da werde ich schwach und gebe zu, daß auch der Mendebrunnen etwas Schönes sei. Warum auch sich mit diesen liebenswürdig-höflichen Menschen streiten, deren Artigkeit mich überrascht. Das Mädelchen, das ich vorhin auf der Straße um eine Auskunft bat, tat einen Augenaufschlag, wie die Duse und sagte: „Es tut mir herzlich leid, das weiß ich nicht!“ Und die Verkäuferin in dem Ansichtskartengeschäft zwitscherte beim Bezahlen: „Danke recht sehr!“ Der Zigarrenhändler hielt mir den Anzünder bereit und sagte: „Bitte, wenn sich der Herr bedienen wollen!“ Nur einmal bin ich während meines Aufenthaltes in Leipzig angeschrien worden – aber auch nicht von einem Menschen, sondern nur von einer Inschrift, durch die Worte: „Erst Hosen zu!“ Die ich las, gerade als ich irgendwo weggehen wollte...

Wie ich da so sitze und über meine ersten Eindrücke nachdenke, verdrießt es mich plötzlich, daß man mir die Milch gleich in die Tasse gegossen hat. Ich weiß, es geschieht aus Sparsamkeit – aber in meinem Hotel serviert man mir doch den Kaffee so, daß ich nach meinem eigenen Belieben Milch zugießen kann. Und ist nicht etwa für Verschwendung – bewahre! Trotzdem es ein erstklassiges Hotel ist, übt man streng die Tugend der Sparsamkeit, wie die mit Krepp-Papier gedeckten Tische beweisen, mit Krepp-Papier, das bis zum letzten ausgenutzt wird, denn ich finde, diese Tischtücher, zu handlichem Format zerschnitten, nachher an anderem Orte wieder.

Radlerinnen, Autos, Equipagen und Droschken – alles, was da vorüberfährt, bringt dem Fußgänger keine Gefahr, bewegt sich, trotz größter Schnelligkeit so behutsam, als sei ein Menschenleben wirklich noch ein Menschenleben. Und doch hat dieser Wagenverkehr etwa nichts Kleinstädtisches. Der brave Karl von Holtei würde sich wundern, wenn er dieses Rädergewirr beobachten könnte, und sicherlich heute seinen Ausspruch korrigieren, in dem er, trotz aller ekstatischen Bewunderung für diese Stadt, doch von einer „nicht gänzlich abzulegenden Kleinstädterei Leipzigs“ spricht.

„Gestatten?“ fragt der Kellner, und schon nimmt er mir die Kuchenplatte vor der Nase fort, da ich seiner Meinung nach offenbar genug gegessen habe. Ich gebe dem fürsorglichen Manne recht und beschließe, mich satt zu fühlen, zumal – wie ich jetzt beim Bezahlen merke – das Vergnügen – „in dem Gelde läuft!“

Aber am Nachmittag bin ich schon wieder da, jetzt in einem Raum, den ich „Damenzimmer“ taufe, weil die Weiblichkeit überwiegt. Sie sitzt, hofft, wartet – Gott weiß auf was! Zuweilen wird ein Spiegelchen aus dem eleganten Lackledertäschchen oder dem Perlbeutel genommen und die Frisur, das Gesicht, nachprüfend betrachtet. Und immer dieselbe Szene, wenn einer Neuangekommenen die Kuchenplatte zur Auswahl auf das Marmortischchen gesetzt wird: Die sanftesten Mädchenaugen bekommen da plötzlich den Ausdruck gleich dem eines Stoßvogels. Während die eine Hand die Platte langsam dreht, zuckt die halberhobene andere mit den griffbereiten Fingern unschlüssig in der Luft – je nach der Aussicht, die sich bietet, denn einmal angefaßt, kann man den Kuchen doch kaum wieder zurücklegen. Und wenn man dann endlich doch zulangt, scheint man sich allemal vergriffen zu haben – denn während man ißt, haften die Blicke zehrend an einem anderen Kuchen, der noch auf der Platte liegt...

Unter der jungen, eleganten Damenwelt auch viele behäbige Mütterlichkeit mit Töchterlichkeit, die Ansichtskarten schreibt und diese zur Unterschrift am Tische kreisen läßt. Aber das ist keine Eigentümlichkeit der Leipzigerin allein, das tut auch die Berlinerin ebenso gern, wie schon der vor dem Kriege Deutschland bereisende Duret beobachtete und sich darüber wunderte, daß – selbst dem Adressaten ganz Fremde – die Karten dann zur Unterschrift vorgelegt erhalten und muß, gleichsam entschuldigend, notieren: „Unbekannterweise grüßt...“

Ich will mir eine Zigarette anzünden, erfahre aber, daß in diesem Raume nicht geraucht werden darf. So ziehe ich mich in die Vorhalle zurück, in der, trotz aller Korbmöbelbehaglichkeit, die Raucher ein gequetschtes, fast geduldetes Dasein zwischen fortwährend sich öffnenden und schließenden Türen verbringen, wenn sie nicht in das weniger reizvolle Obergeschoß des Kaffeehauses steigen wollen.

Und hier – zwischen all diesen Männern – ein einsames, weibliches Wesen von der melancholischen Schönheit der Bettlerin von Pont des arts. Das süße Gesichtchen unter dem giftgrünen Hütchen wie erstarrt – so sitzt sie da vor ihrer leeren Tasse, aber zuweilen dreht sie das Köpfchen und dann gleitet ihr Blick über all diese Männer, die sie fortwährend verstohlen beobachten. Nicht weit von ihr sitzt ein alter Herr, der mit seinem Bart einem Schiffsreeder (aus der großen Seestadt Leipzig) gleicht, ein sehr sorgfältig angezogener alter Herr, dessen Genickpartie so von Linien durchfurcht ist, daß sie einer Landkarte ähnelt. Hin und wieder kreuzen sich die Blicke der beiden und wenn der alte Herr dann nach der Tasse greift, zittert seine Hand. Das kann nicht von dem Milchkaffee kommen...

Ich warte auf den Ausgang dieser Tragödie – sehe, wie der alte Herr dem Blumenverkäufer, der von der Straße hereinkommt, ein Sträußchen von Veilchen und Maiglöckchen abkauft, sehe, wie er schon die Hand ausstrecken will, um diese Blumen der jungen Dame hinüberzureichen und – wie ihm im letzten Augenblick der Mut versagt unter all’ der Beobachtung ringsum.

Wieder vergeht eine Viertelstunde, da wendet die melancholische Schönheit noch einmal das Köpfchen, eine unsägliche Verachtung liegt in dem Blick, der uns alle streift, nur als er den alten Herrn trifft, wird er mitleidig. Und jäh steht sie auf und geht davon – wir aber sitzen da und bemühen uns so auszusehen, als wäre nichts gewesen.

15. Mai 1921

Leipzig - wie ich es sah

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