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Die Nacht des Großen Bruders

Eine nicht enden wollende schlaflose Nacht lag wieder einmal hinter mir. Wie jeden Tag zogen meine Frau und ich am Vorabend eine Art Bilanz des Tages und tauschten uns aus. Meiner Meinung nach ist das generell das Wichtigste, um eine harmonische Partnerschaft aufrechtzuerhalten, doch das erfordert beiderseits eine gewisse mentale Stabilität.

Für mich als Mann ist es von Bedeutung, für meinen Partner da zu sein, die starke Schulter zu bieten, auf die man sich stützen und verlassen kann. Da jeder von uns genau solch einen Menschen braucht, schätze ich mich glücklich, so eine Frau zu haben. Wie oft flüstern wir uns vor dem Einschlafen ins Ohr: »Komm, wir reparieren uns gegenseitig.« Schönere Worte zu finden, um einen Tag zu beschließen, kann ich mir nicht vorstellen!

So erzählte meine Frau am Vortag von einem Vorfall mit einem Patienten auf ihrer Station, der sie gefühlsmäßig überaus berührte und Spuren hinterließ, die man nicht so einfach ausblenden kann; so sehr man sich das auch wünschen mag. Das von ihr Erlebte sollte mich noch eine Weile beschäftigen. Mir war klar, dass es sich um ein Einzelschicksal handelte, das mich im Grunde überhaupt nichts anging, trotzdem hatte es sich beim Einschlafen in meinem Unterbewusstsein eingenistet.

Das hatte zur Folge, dass mich ein Albtraum schweißgebadet aufwachen ließ, und letztendlich bekam ich kein Auge mehr zu. Wirre Gedanken jagten durch meinen Kopf. Die Erzählung meiner Frau vermischte sich mit der im Fernsehen ausgestrahlten medialen Gehirnwäsche. Hätte ich doch besser Bauer sucht Frau oder eine belanglose Spielshow auf einem der unzähligen privaten Sender angesehen, das wäre in meinem Fall sicherlich die intelligentere Lösung gewesen. Aber nein, ich musste mir nicht nur die Nachrichten, sondern zusätzlich noch die darauffolgende Sondersendung reinziehen, immer aktuell informiert sein, um am Ball zu bleiben.

Selten hatte ich einen vorangegangenen Traum so deutlich vor Augen wie in dieser Nacht. Immer wieder tauchte ein Großer Bruder auf. Ich machte Regierungsleute aus, die gesichtslos in Schutzkleidung steckten, wie sie in der Krankenpflege Verwendung finden, Menschen in überfüllten Krankenhausbetten an Schläuche gekettet und noch viel mehr, an das ich mich nicht mehr ausreichend erinnern kann.

Mein Unterbewusstsein hatte volle Arbeit geleistet und mich mit voller Kraft in die Ecke gedrängt. Was hängen blieb, waren ein paar immer wiederkehrende Schlagworte, allen voran der Große Bruder.

Ich begann, dem unbekannten Großen Bruder Fragen zu stellen:

Großer Bruder,

was hast du nur gemacht,

hatten wir nicht bis gestern

gemeinsam noch gelacht?

Verschwommen sieht mein Auge,

was vorher sternenklar,

wird die Welt jemals wieder so,

wie sie einmal war?

Aus zuerst noch ungereimten Wortfragmenten bildete sich nach und nach eine Geschichte. Letztendlich blieb mir nichts anderes übrig, als aufzustehen. War es vor drei Uhr morgens oder schon später? Ich sah nicht auf die Uhr. Wie besessen drehte sich der Große Bruder in einem Karussell über meinem Kopf und ich fragte weiter:

Großer Bruder,

schaust du von oben zu?

Wichtig scheint nur,

du hast deine Ruh.

Es scheint mir nicht mehr lange

und dein Volk spielt wieder Krieg

einst heile Welt,

sie dann in Schutt und Asche liegt.

Vor meinem Auge tauchten Bilder von Kriegen auf, von zerbombten Städten, schreienden Menschen und weinenden Kindern. Seltsamerweise sah ich keine Menschen mit Waffen. Tränen standen mir in den Augen, ich riss die Balkontür weit auf. Ich brauchte Luft, weil ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Der Große Bruder hatte mich in den Würgegriff genommen.

Es vergingen gefühlte Stunden, bis ich wieder an den Schreibtisch zurückkehrte. In der Dunkelheit flimmerte der kleine Bildschirm meines Tablets. Gott sei Dank hatte meine Frau tief und fest geschlafen. Ich wollte nicht, dass sie sah, wie schwach ich in diesem Moment war.

Mit zitternden Fingern begann ich meine nächste Frage ins Tablet einzutippen:

Großer Bruder,

was hast du nur gemacht?

Hey, großer Bruder –

oder sollte ich sagen Schwester?

Immerhin werden wir (tatsächlich?) von einer Frau als Staatschefin regiert.

Trrr … klickte es mit leisen Tönen. Mit der Entfernen-Taste löschte ich diesen Satz wieder aus dem Vers. – Oder hätte ich ihn sollen stehen lassen?

Großer Bruder,

was nützt dir deine Macht,

wenn zwei verlieren,

stets ein Dritter lacht!

Du warst einmal stark,

vielleicht warst du zu groß –

die Geister, die du riefst,

wirst du nun nicht mehr los.

Ich muss zugeben, dass ich so schnell noch nie einen Songtext fertig hatte. Sogar die Hook-Line für eine butterweich verzerrte Gitarre hatte ich im Ohr. Flüsternd summte ich sie in mein Tablet, auf dem ich ein simples Aufnahmestudio installiert hatte.

Angefressen von dieser Melodie schlüpfte ich frierend wieder zurück unter die Bettdecke und suchte dort den wärmenden Kontakt zu meiner Frau. Innerlich noch aufgewühlt und erschöpft, aber irgendwie auch erleichtert, schlief ich letztendlich wieder ein.

Gefühlte Augenblicke später machte pünktlich um fünf Uhr der Wecker gnadenlos seinem Namen alle Ehre. Im Halbschlaf registrierte ich, wie meine Frau zur Frühschicht aufstehen musste, ich aber liegen bleiben durfte, denn die vom Großen Bruder gemachte Krise bescherte mir das Abfeiern meiner Überstunden.

Gewiss hätte ich mir etwas Schöneres unter Urlaub vorgestellt, einen festen Plan gab es bereits, doch dabei ist es allerdings geblieben.

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