Читать книгу ARGUMENTE DER ANKLAGE - Erhard Schümmelfeder - Страница 3

DAS TAGEBUCH MEINER FREUNDIN

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Lena

Seit ich weiß, dass Mark heimlich in meinem Tagebuch liest, bin ich verunsichert. Soll ich ihn zur Rede stellen?

Ich mag es nicht, kontrolliert zu werden. Auch nicht von Mark. Da er als eifriger Tagebuchschreiber viel Wert auf seine eigene Privatsphäre legt, verstehe ich nicht, warum er mir nachspioniert.

Misstraut er mir? Habe ich ihm Anlass gegeben, meine Liebe zu bezweifeln? Soll ich so tun, als wäre nichts geschehen?

Fragen über Fragen, die mich bewegen.

Mein altes und somit „offizielles Tagebuch“ ist nur bis zur Hälfte mit meinen Aufzeichnungen gefüllt. Ich werde nicht mehr darin schreiben. Von nun an trage ich meine Gedanken in meine „inoffizielle Kladde“.

Vielleicht löst sich mein Problem auf diese Weise.


Mark

Heimlich las ich heute wieder in Lenas Tagebuch. Schlimmer noch: Ich habe die letzte Seite fotokopiert, um mir selbst in aller Ruhe Klarheit zu verschaffen über die ungeheuerlichen Ereignisse, die sich im Kopf meiner Freundin abspielen. Ich will ihr nicht schaden, sondern helfen.

Dass sie in ihrer freien Zeit Geschichten schreibt, ist ihre Sache. Ich ermuntere sie sogar zum Tagebuchschreiben und Kreativsein. Sie nimmt es mir aber jedes Mal übel, wenn ich auch nur den Hauch einer Kritik an ihren literarischen Produktionen übe. Als angehende Schriftstellerin erwartet sie von mir lobenden Zuspruch, den ich ihr, wann immer es gerechtfertigt ist, aus tiefster Überzeugung gewähre, denn ihre Geschichten sind sorgfältig gestaltet, inhaltlich gründlich recherchiert, spannend, sogar mitreißend und bewegend. Ein echtes Talent. Die Veröffentlichungen in Zeitschriften haben bereits ein breites Leserecho ausgelöst.

Ich hege aber einen schlimmen Verdacht.


Lena

Zwischen den Seiten meines alten Tagebuches habe ich einen Zahnpastatupfer, kaum größer als eine Nadelspitze, platziert, um zu prüfen, ob Mark weiterhin hinter meinem Rücken in den Aufzeichnungen blättert.

Morgen werde ich wissen, ob meine Befürchtung stimmt.


Mark

Ohne Beweise gibt es in der Rechtsordnung keine Anklage. Aber ich will Lena nicht anklagen. Ich will ihr helfen. Deshalb habe ich weitere Seiten aus ihrem Tagebuch fotokopiert. Die entnommenen Teile lassen sich zusammenfügen wie ein Mosaik des Grauens.

In ihrer Problem-Geschichte Schiefe Bahn scheitert ein junger Mann nach dem Verlust des Arbeitsplatzes in seinen sozialen Beziehungen, wird drogenabhängig, gerät auf die schiefe Bahn und endet in der Gosse. Plötzlich ist nichts mehr so wie es einmal war.

Der unangepasste, rebellische Jüngling namens Bert erlebt in Kopfsteinpflaster seinen sozialen Abstieg und findet Anschluss bei obdachlosen Alkoholikern. Sein Leben ist bereits in jungen Jahren verwirkt. Nichts ist mehr so wie es einmal war.

Ein Gefühl wachsenden Unbehagens empfand ich, als ich Lenas nächstes Werk las. Nicht weniger ernst erging es dem Protagonisten am Ende der Geschichte mit dem bezeichnenden Titel Die Nadel: Ein von Drogen geschwächter junger Mann stirbt auf offener Straße in den Armen eines Notarztes, während seine schwangere Freundin hysterisch um Hilfe schreit.

Mit sauberer Handschrift, klar strukturiert und übersichtlich, hat Lena alle Schreckensereignisse der Geschichten in ihrem Tagebuch skizziert, um sie später, bei der Reinschrift, effektvoll in Szene zu bringen.

Ich bin entsetzt.


Lena

Mein Verdacht hat sich bestätigt. Die zusammengeklebten Seiten sind geöffnet worden.

Was nun?


Mark

Lenas Geschichten verfolgen eine Absicht: Sie sollen die Leser betroffen machen. In der Tat war ich nach der Lektüre der ersten Geschichte betroffen, sogar aufgerüttelt und sensibilisiert für das sittliche Übel in der Welt, vor dem ich womöglich zu lange die Augen verschlossen hatte. Nun war ich informiert. Aber was sollte ich tun, um das Übel zu lindern? Ich war etwas ratlos. Immerhin gelang es Lena, mich wachzurütteln. Ein erster Schritt war getan.

Bei der dritten Geschichte, die ich las, wusste ich bereits nach wenigen Zeilen, was mich erwartete. Am Ende war ich wieder betroffen, entsetzt und zutiefst traurig über das Elend, welches der arme junge Mann durchleiden musste. Aber es regte sich bereits ein gewisser Zweifel an der Geschichte in mir: War das schmerzvolle Ende des Antihelden notwendig? Gab es nicht auch Möglichkeiten, das Schicksal abzuwenden?

Inhaltlich zeigen sich bei den anspruchsvoll gestalteten Geschichten merkwürdige Wiederholungen, bei denen sich ein Klischee herausbildet: Alle Hauptfiguren aus Lenas Feder sind labile junge Männer, die in ihrem Leben scheitern. Immer misslingen die Versuche, den Sturz in den Abgrund zu verhindern. Jede Hilfe kommt zu spät oder zu halbherzig. Es liegt in der Macht meiner Freundin, der erfundenen Leidensfigur in einer Story Hilfe zukommen zu lassen, aber sie verweigert sich in diesem Punkte. Als Schöpferin der Geschichten trägt sie die Verantwortung für die Handlungsabläufe. Warum enden alle Lebenswege im Sumpf? Oder im Wasser? Warum erfindet sie nicht einen Strohhalm für den jungen Mann, damit er sich daran klammern kann? –

Lena will realistisch sein in ihren Schilderungen. Ich halte ihr bei Diskussionen entgegen, auch in der Realität gebe es Fälle von gelingender Hilfe. Aber davon will Lena nichts wissen. In ihren Texten muss es immer tragisch zugehen. Sie will Leser berühren, aufrütteln, schockieren.

Übertreibt sie es nicht mit ihrem Hang zum theatralischen Leiden?

Darüber werde ich mit ihr sprechen.



Lena

Heute versuchte Mark, mit mir über meine Geschichten zu diskutieren. Dass er ohne meine Zustimmung in meinem alten Tagebuch gelesen hatte, verschwieg er.

Aber auch ich verschwieg mein Wissen über seine Heimlichkeiten.

Wohin soll das führen?


Mark


So kann es nicht weiter gehen.

Ich mache mir ernsthafte Sorgen um Lena.

Was mir bei den Geschichten und den dazugehörigen Tagebuchnotizen auffiel, ist dies:

Obwohl Lenas Recherchen äußerst gründlich erscheinen, wird bei näherer Betrachtung ihre Fahrlässigkeit deutlich. Alle labilen jungen Männer in den Texten leiden an einer Persönlichkeitsstörung und besitzen die Merkmale, die jeder halbwegs informierte Zeitgenosse als leichte, möglicherweise gar mittelschwere Depression erkennt, wodurch man zu dem Ergebnis gelangen muss: Der Betroffene wird ohne therapeutische Hilfe sein Leben nicht meistern können.

Es liegt in Lenas Macht, den betroffenen labilen jungen Männern die notwendige Hilfe angedeihen zu lassen. Aber sie kümmert sich nicht um diesen Aspekt einer möglichen Rettung. Bereitet es ihr Vergnügen, das Leid der Menschen zu zelebrieren?

Was ich ihr vorwerfe, ist das offensichtliche Verschweigen einer pathologischen Komponente in den beschriebenen Fällen sowie dieses herzlose Verhalten kalkulierter unterlassener Hilfeleistung.

Ich verstehe: Aus literarischer Sicht betrachtet, gibt eine langwierige Krankentherapie nicht viel an erregender Spannung her. Das grandiose Scheitern eines Menschen ist zweifelsohne unterhaltsamer und zugleich erschütternder.

Stets wird das Scheitern in düsteren Farben einer betont schmutzigen Realität beschrieben. Die Protagonisten wälzen sich buchstäblich im Dreck. Von den fünfundzwanzig Ausscheidungen, die der Mensch kennt, macht Lena am Schreibtisch reichlich Gebrauch. Es geht nicht ohne Blut; Tränen, Scheiße, Rotze und Kotze gehören zu den Standard-Ingredienzen ihrer Aufrüttel-Prosa. Eine Matratze auf dem feuchtkalten Fußboden einer Behausung wird von ihr erwähnt, wenn sich mindestens ein großer Urinfleck darauf befindet. Ein Waschbecken wird erst interessant, wenn sich in seinem Innern die Spuren von Erbrochenem zeigen. Ein Aschenbecher ist immer überfüllt mit qualvoll zerdrückten Zigarettenkippen, da sich in diesem Bild das Übel des von Sucht zerfressenen Protagonisten veranschaulichen lässt. In dem Bild liegt auch eine positive Deutungsvariante verborgen: Der Labile besitzt noch eine Spur von Ordnungssinn, sonst würde er seine Kippen nicht im Aschenbecher, sondern an den vergilbten Tapeten der Wände ausdrücken. Ist doch wahr! Von dieser Symbolik aber will Lena nichts wissen.

Ich habe die „Schmutzstellen“ auf den fotokopierten Passagen gelb markiert, um ihre Tendenz zur Effekthascherei auch optisch in ihr Bewusstsein zu bringen.


Lena

Ich gab vor, Kopfschmerzen zu haben, als Mark eine Diskussion über Effekthascherei mit mir beginnen wollte. Er spielt sich gern als Schulmeister auf. Dabei ist er nur vier Jahre älter als ich. Das missfällt mir sehr.

Er wechselte das Thema und redete immerzu von „heiteren Farben“. Seine Frage, ob ich einmal etwas Heiteres schreiben wolle, beantwortete ich nicht.

Hält er mich für naiv?


Mark

Meine ersten zögernden Versuche, mit Lena über ihre Betroffenheitsliteratur zu reden, waren fruchtlos. - Zugegeben: Ich habe es nicht sehr geschickt angestellt. In jedem Fall werde ich das Thema „Farben“ noch einmal zur Sprache bringen.

In ihren Texten gibt es bei der Beschreibung des Lebens keine Ausgewogenheit, keine hellen Farben: Alles ist grau, öde, trostlos, es ist eine Welt ohne Freude, ohne Humor, ohne Zuversicht. Alles, alles ist schlecht und sinnlos.

Für mich steht fest: Lena stammt aus einer verhältnismäßig intakten Mittelstandsfamilie (Vater Lehrer, Mutter Ergotherapeutin; keine Geschwister). Sie kennt das sittliche Übel in der Welt nur aus der Distanz, vom Hörensagen, aus dem Fernsehen und aus Zeitungen. Die wenigen Berührungspunkte mit den hässlichen Seiten des Lebens beschränken sich auf Spaziergänge durch die Stadt, bei denen sie heruntergekommene Bettler beobachten konnte. Der in die Drogenszene abgedriftete Freund einer entfernten Freundin wird der stärkste Impuls für ihr Interesse am Scheitern der Betroffenen gewesen sein.


Lena

Macht Mark sich vielleicht ernsthaft Sorgen um mich? -

Ich konnte ihn beruhigen mit der Ankündigung, demnächst eine Geschichte aus der Sicht eines jungen Mädchens zu schreiben.

Wie leicht es ist, ihn zu lenken!


Mark

Gestern noch empfand ich die Situation als bedrückend. Heute geht es mir besser.

Lena will bald eine Geschichte aus der Sicht einer Zwanzigjährigen schreiben. Die Notizen hierzu seien in ihrem alten Tagebuch, erfuhr ich beiläufig. Ich kenne die Passagen nicht, werde aber einmal einen Blick darauf werfen.


Lena

An vier Stellen meines Tagebuches sind Zahnpastatupfer angebracht. Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache.

Ich werde abwarten, was nun geschieht.


Mark

Zweifelsfrei steht für mich fest: Lenas Denken unterliegt einer Form von geistiger und emotionaler Verirrung.

Wahrscheinlich geht es bei ihren Gedankenausflügen in die Welt des Elends um ein peinliches Missverständnis, das sich am besten veranschaulichen lässt durch das Beispiel des Mannes, der in Gesellschaft einen schlechten Witz macht und somit das schallende Gelächter der Leute hervorruft. Man schlägt sich amüsiert auf die Schenkel, krümmt sich vor Vergnügen und wischt sich die Tränen aus den Augen. Der erzielte Effekt veranlasst den Mann bei nächster Gelegenheit, seinen Lacherfolg zu wiederholen, denn die jüngst erfahrene Bestätigung durch die zufriedenen Lacher drängt nach einer Auffrischung. Da der Erfolg auch diesmal nicht ausbleibt, entschließt sich unser Mann, künftig sein Glück als Possenreißer zu versuchen.

Ähnlich verhält es sich mit Lenas Elendsgeschichten, die sie als allmächtige Schicksalsgöttin am aufgeräumten Schreibtisch ersinnt, um ihre Aufmerksamkeitssehnsucht zu befriedigen. Auch das werde ich mit ihr besprechen.

Gegen authentische Bücher für eine bessere Welt ist nichts einzuwenden. Es ist sensibel, wenn man das Leiden anderer Menschen wahrnimmt und versucht, dieses zu lindern. Es ist nicht sensibel, das Leiden effektvoll zu zelebrieren, um sich selbst als Fürsprecher und Anwalt der Betroffenen zu profilieren.

Meine vorsichtig geäußerte Kritik, in ihren Geschichten würden immer labile junge Männer geopfert, um die Gemeinde aufrüttelbereiter Leser zu schockieren, prallte anfangs an ihr ab. Es dauerte ein paar Tage, bis mein berechtigter Einwand von ihr als willkommener Denkanstoß akzeptiert wurde. Habe ich es schon notiert, dass sie auch einmal weibliche Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen stellen möchte? - Mir graust inzwischen bei der Vorstellung, das bisher praktizierte Leidensklischee könnte nun durch junge Mädchen variiert werden.


Lena

Alle leicht verklebten Seiten sind wieder gelöst.

Ich bin sprachlos.

Was nun?

Mark

Es fällt mir schwer, dies aufzuschreiben.

Als ich morgens allein in der Wohnung war, öffnete ich die Schublade von Lenas Schreibtisch und holte ihr aktuelles gelbes Tagebuch hervor.

Seit mehr als zwei Wochen keine neue Eintragung.

Ich blätterte mit schlechtem Gewissen und gesträubten Nackenhaaren in der Kladde zurück. Man liest nicht in den persönlichen Aufzeichnungen anderer Leute, ich weiß. Aber es musste sein. Ich überflog die nach Datum geordneten Notizen und fand die gesuchten Stellen: Lena hat tatsächlich die Grundideen für zwei weitere Betroffenheitsgeschichten schriftlich festgehalten. Mit Entsetzen las ich:

Nadine, (20) wird seit Jahren von ihrem Vater missbraucht. Als sie sich endlich ihrer besten Freundin anvertraut, erfährt sie, dass auch diese von ihrem Vater geschändet wird. Gemeinsam versuchen die Mädchen, die Übeltäter zur Strecke zu bringen.

Ich kam nicht dazu, meinen Kopf zu schütteln, denn die Grundidee für das folgende Problem-Werk raubte mir den Atem:

Svenja (17) wird von vier (oder sechs) Männern vergewaltigt. Als sie ihre Schwangerschaft feststellt, bricht für sie eine Welt zusammen. Nichts ist mehr so wie es einmal war. Ihr Freund reagiert verständnislos, als sie sich weigert, das Kind abzutreiben, und wendet sich von ihr ab. Bald darauf erfährt sie von einem Arzt, dass das Kind verkrüppelt, blind und taub zur Welt kommen wird. Sie gerät in einen inneren Konflikt, lässt sich aber von Warnungen und Ratschlägen ihrer Eltern und Freunde nicht beirren. Sie sagt „Ja“ zum Leben und will dieses Kind zur Welt bringen, koste es, was es wolle ...

Ich war bereits dabei, das Tagebuch zuschlagen, als mir der Gedanke kam, auch diese Eintragungen zu fotokopieren, denn der Verdacht, bei Lenas literarischer Kreativität könne eine pathologische Komponente im Spiel sein, war und ist selbst beim besten Willen nicht zu verdrängen.

Heute Abend werde ich mit Lena darüber sprechen, denn ich will und muss ihr helfen.


Lena

Aus!



Mark

Vorbei! Lena hat mich verlassen.

Ich hätte die Seiten ihres Tagebuches nicht fotokopieren dürfen.

Vertrauensbruch. Das sehe ich ein. Aber ich hatte es nur gut gemeint.

Meine Hilfe lehnt sie entschieden ab. Jetzt ist alles zu spät. Ihre Sachen hat sie mit ihrem Bruder schon abgeholt.

Jetzt sitze ich hier am Küchentisch und versuche, das Geschehene zu begreifen. - Ich habe einen Fehler gemacht. Ist er nicht verzeihbar?

Wie hätte ich mich anders verhalten sollen?

Ich weiß es nicht.

Das ganze Leben erscheint mir plötzlich leer, öde, grau, sinnlos.

Was kann ich tun, um mein Fehlverhalten wieder gut zu machen? - - -

Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht ...

Gewiss ist im Augenblick nur eines: Nichts ist mehr so, wie es einmal war ...

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