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DIE GESCHICHTE VOM VERLORENEN TON

Die schönsten Augenblicke des Schuljahres hatten wir Kinder in Plunderland an unserem Geburtstag. Dann nämlich war jeder für einen ganzen Vormittag der Mittelpunkt der Klasse.

Als Angeber seinen zehnten Geburtstag hatte, gaben Eule, Beule, Keule und ich uns die allergrößte Mühe, ihm diese un­vergesslichen Augenblicke gehö­rig zu ver­salzen, denn er hatte es nicht besser ver­dient. Ich konnte Angeber nicht leiden, weil er mich manchmal nachäffte. Angeber äffte mich manchmal nach, weil ich ihn nicht leiden konnte. Wir hatten ein etwas ver­zwick­tes Verhältnis zuein­ander.

Während die Klasse Happy Birthday anstimmte, sangen wir so schräg und falsch wie wir nur vermoch­ten. - Aber Angeber merkte es nicht einmal. Nur Frl. Lampe wirkte während des Singens manchmal ein wenig irritiert. Sie sah auch nicht, wie wir oft ohne Ton trällerten und nur zum Schein unsere Lippen be­wegten, doch schnitten wir dabei unsere grässlichsten Gri­massen.

Gegen Mittag setzte sich Frl. Lampe für Angeber sogar ans Klavier. Sie klappte den Deckel hoch und begann Happy Birthday. Aber an einer Stelle des Liedes streikte das Klavier und ließ nur ein gedämpftes Tuck, tucktuck ertö­nen.

„Nanu“, sagte Frl. Lampe verwundert. „Mit dem Klavier scheint etwas nicht zu stimmen.“

Tuck, tucktuck ...

„Das Klavier ist kaputt!“, freute Keule sich.

„Es muss gestimmt werden“, sagte Babette und blin­zelte mir listig zu.

„Das kostet zweihundert Mark“, bemerkte Tina.

„So?“, sagte Frl. Lampe ratlos.

„Ja. Meine Mutter hat letzte Woche unser Klavier stimmen lassen. Mein Vater hat darüber geschimpft.“

„Und warum?“, wollte Frl. Lampe nun wissen.

„Er sagte: ’Ungestimmt klingt das Klavier viel bes­ser!‘“

„Nun ja“, sagte Frl. Lampe. „Über Geschmack kann man nicht streiten. Was - was machen wir denn jetzt nur?“

„Ich kenne einen, der jedes Klavier reparieren kann“, rief ich in die Runde. „K-k-ostenlos!“

„So - wen denn?“, fragte unsere Lehrerin hoffnungs­voll und erhob sich von ihrem Drehhocker.

„Herrn Presszeh!“, riefen alle Jungen und Mädchen wie aus einem Munde.

„Ich hole ihn!“

Noch bevor Frl. Lampe widersprechen konnte, war ich aus dem Klassenzimmer herausgestürmt. Ich sauste durch das Treppenhaus, schlinderte über den blankge­bohnerten Flur des Obergeschosses und riss, ohne an­zuklopfen, atemlos vor Aufre­gung, die Tür der Klasse meines Vaters auf.

„Herr Presszeh!“, entfuhr es mir, wobei ich einen flüchtigen Blick auf die verdutzten Gesichter in den Bänken warf. Gelas­sen hielt mein Vater beim Schrei­ben an der Tafel inne.

„Mein Freund“, sagte er, „kann ich dir vielleicht hel­fen?“

„Fräulein Lampe“, japste ich, nach dramatischen Worten rin­gend.

„Was ist denn mit Fräulein Lampe?“

„Sie kriegt keinen Ton heraus!“, brachte ich die komplizierte Lage treffend auf den Punkt.

„Na sowas“, sagte mein Vater lächelnd. „Wir wol­len mal se­hen, ob wir ihr helfen können.“

Mit wildem Gejohle stürmten alle Kinder der Klasse über Ti­sche und Bänke und eilten mit meinem Vater in das Unterge­schoss des Schulgebäudes.

„Gibt es ernstliche Probleme?“, fragte mein Vater, als er un­seren Klassenraum betrat. Seine linke Hand steckte in der Ho­sentasche.

„Das Klavier ist kaputt!!!“, riefen alle Kinder mit merkwürdiger Begeisterung. „Heilemachen!!“

„Nun, dann wollen wir mal sehen, was sich machen lässt“, sagte mein Vater fachmännisch.

„Der C-Akkord hat uns verlassen“, erklärte Frl. Lampe ach­selzuckend.

„Keine Sorge, der kommt schon wieder“, beruhigte mein Vater sie.

Er klappte den oberen Deckel des Klaviers hoch und beugte sich darüber, um einen Blick in das Innere zu werfen.

„Aha“, sagte er triumphierend. „Die Geschichte vom verlore­nen Ton kommt zu einem glücklichen Ende.“

„Haben Sie den Fehler?“, fragte Frl. Lampe und at­mete dabei erleichtert auf.

„Allerdings“, bemerkte mein Vater und griff mit der rechten Hand tief in das Gehäuse hinein. Er an­gelte ein kleines graues Paket ans Tageslicht. Es sah aus wie ein in Pergamentpapier gewickeltes Früh­stücksbrot.

„Nanu“, sagte Frl. Lampe und wurde ein wenig rot.

„Ihr Pausenbrot ist wieder da!“, jubelten die Kinder mit vergnügten Gesichtern.

„Das sehe ich. Mich würde nur interessieren, wer – “

„Aufessen! “, unterbrach ich sie.

„Ja! Aufessen!“, tobten alle durcheinander.

„Sie sehen, uns bleibt keine andere Wahl, als uns dem Willen des Volkes zu beugen“, sagte mein Vater und wickelte das Pa­pier von dem Brot. Er gab Frl. Lampe eine der beiden Schnitten und blickte sich amüsiert nach allen Seiten um. In diesem Mo­ment bimmelte die Schulglocke. ”Mahlzeit“, sagte er troc­ken und biss vorsichtig in das mit Käse belegte Brot. Doch dann verzog er das Gesicht, wobei er aussah wie Herr Piesepampel, unser mürrischer Hausmeister. „Ziegelhart“, sagte er. „Diesen Bela­stungen sind meine Zähne nicht gewachsen.“

„Meine auch nicht“, sagte Frl. Lampe lächelnd.

„Wer von euch hat zu Hause ein Schwein?“, fragte mein Vater in die Klasse hinein.

„Wir haben sechsundzwanzig Schweine im Stall“, rief Eule aus der mittleren Bankreihe.

„Das trifft sich gut“, sagte mein Vater. ”Dann über­trage ich dir hiermit den schwierigen Auftrag, diese zwei Käsebrote mit Hammer und Meißel in sechsund­zwanzig möglichst gleich­große Stückchen zu zerteilen. Traust du dir diese Aufgabe zu?“

„Klar“, sagte Eule, nahm die Brote in Empfang und steckte sie in seine Büchertasche.

Angeber, an den niemand mehr gedacht hatte, mel­dete sich nun zu Wort. „Wann bekomme ich denn mein Geburtstagsab­schlusslied?“

„An deinem Geburtstag“, erklärte ich und fügte schadenfroh hinzu: „Im nächsten Jahr!“

Dann lief ich mit den anderen Kindern hinaus auf den Schul­hof, denn der Unterricht war zuende an diesem Tag.

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