Читать книгу Die Angst reist mit - Eric Ambler - Страница 6
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ОглавлениеDie Schauerleute waren mit dem Verladen fertig und machten die Luken dicht. Eine Winsch arbeitete noch, hievte aber nur die Ladebäume in Position. Wenn sie einrasteten, vibrierte jedes Mal die Kabinenwand, an der Graham lehnte. Ein weiterer Passagier war an Bord gekommen und vom Steward zu einer Kabine weiter hinten geführt worden. Der Mann hatte den Steward mit einer leisen, brummigen Stimme und in stockendem Italienisch angesprochen.
Graham stand auf und suchte mit der unversehrten Hand in seiner Tasche nach einer Zigarette. Langsam wurde es ihm etwas eng in seiner Kabine. Er sah auf seine Uhr. Das Schiff würde erst in einer Stunde ablegen. Er wünschte, er hätte Kopejkin gebeten, mit an Bord zu kommen. Er versuchte, an seine Frau zu denken, sich vorzustellen, wie sie in England mit Freunden beim Tee saß, doch ihm war, als hielte jemand ein Stereoskop vor sein inneres Auge, jemand, der unablässig Bilder zwischen ihn und sein Leben schob, um ihn davon zu trennen, Bilder von Kopejkin und Le Jockey Cabaret, von Maria und dem Mann im zerknitterten Anzug, von Josette und ihrem Partner, von zuckenden Blitzen in einem Meer von Dunkelheit und von bleichen, erschrockenen Gesichtern im Hotelkorridor. Da wusste er noch nicht, was er jetzt wusste, was er in der kalten, scheußlichen Morgendämmerung erfahren hatte. Die ganze Sache war ihm erst anders erschienen: unangenehm, eindeutig unangenehm, aber doch plausibel, erklärbar. Er fühlte sich wie einer, dem man gerade mitgeteilt hat, dass er an einer tödlichen Krankheit leidet, und ihm war, als gehörte er in eine andere Welt, von der er nur wusste, dass sie abscheulich war.
Die Hand, die das Streichholz an die Zigarette hielt, zitterte. »Ich muss schlafen«, dachte er.
Die Übelkeit legte sich. Frierend stand er in seinem Badezimmer. Durch die Watte, in die sein Kopf eingepackt zu sein schien, drangen wieder Geräusche. Von weit her glaubte er ein unregelmäßiges Pochen zu hören. Da wurde ihm klar, dass noch immer an seine Zimmertür geklopft wurde.
Er wickelte sich ein Handtuch um die Hand, ging in das Zimmer zurück und machte Licht. In dem Moment hörte das Klopfen auf, und es erklang ein metallisches Geräusch. Jemand benutzte einen Hauptschlüssel. Die Tür flog auf.
Als Erster kam der Nachtportier herein und schaute sich unsicher um. Hinter ihm im Flur standen die Leute aus den benachbarten Zimmern, ängstlich zurückweichend, um nicht zu sehen, was sie zu sehen hofften. Ein kleiner dunkler Mann in einem roten Morgenmantel über einem blau gestreiften Schlafanzug drängte sich am Nachtportier vorbei. Graham erkannte den Mann wieder, der ihn zu seinem Zimmer geführt hatte.
»Es sind Schüsse gefallen«, hob der Angestellte auf Französisch an. Dann sah er Grahams Hand und wurde blass. »Ich … Sie sind verwundet. Sie sind …«
Graham setzte sich auf das Bett. »Es ist nicht schlimm. Wenn Sie einen Arzt rufen, der meine Hand verbindet, werde ich Ihnen berichten, was passiert ist. Aber zuerst: Der Mann, der geschossen hat, ist durchs Fenster entkommen. Vielleicht könnte man ihn noch erwischen. Was ist unter dem Fenster?«
»Aber …«, fing der Mann schrill an. Er hielt inne, riss sich aber deutlich zusammen. Dann sagte er zum Nachtportier etwas auf Türkisch. Der Portier ging hinaus, machte die Tür hinter sich zu. Draußen erhob sich ein aufgeregtes Durcheinander von Stimmen.
»Außerdem muss der Hoteldirektor benachrichtigt werden«, sagte Graham.
»Pardon, Monsieur, das ist schon geschehen. Ich bin sein Stellvertreter.« Er knetete die Hände. »Was ist passiert? Ihre Hand, Monsieur … Der Arzt wird jeden Moment hier sein.«
»Gut. Aber Sie sollten wissen, was passiert ist. Ich bin heute Abend mit einem Freund aus gewesen. Vor ein paar Minuten kam ich zurück. Als ich die Tür aufmachte, stand jemand dort am Fenster und hat drei Schüsse auf mich abgegeben. Der zweite traf meine Hand, die anderen beiden gingen in die Wand. Ich habe gehört, wie er sich bewegte, aber sein Gesicht habe ich nicht gesehen. Ich denke, es war ein Dieb, den meine unerwartete Rückkehr überrascht hat.«
»Unerhört!«, rief der Hotelmanager. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ein Dieb! Ist Ihnen irgendetwas gestohlen worden, Monsieur?«
»Ich habe noch nicht nachgesehen. Dort drüben steht mein Koffer. Er war verschlossen.«
Der Hotelmanager eilte durchs Zimmer und kniete sich neben den Koffer. »Er ist noch immer verschlossen«, meldete er mit einem Seufzer der Erleichterung.
Graham suchte in seiner Tasche. »Hier sind die Schlüssel. Machen Sie lieber auf.«
Der Mann gehorchte. Graham warf einen Blick auf den Inhalt. »Er hat nichts angerührt.«
»Gott sei Dank!« Er zögerte. Er dachte offensichtlich schnell nach. »Sie sagen, Ihre Hand ist nicht ernsthaft verletzt, Monsieur?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Das ist ein großes Glück. Als die Schüsse fielen, Monsieur, glaubten wir schon, dass etwas furchtbar Schlimmes passiert war. Sie können sich denken … Aber es ist schlimm genug.« Er trat ans Fenster und sah hinaus. »Das Schwein! Er muss durch den Garten entkommen sein. Es hat keinen Sinn, nach ihm zu suchen.« Er zuckte mit den Schultern. »Er ist verschwunden, da kann man nichts machen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Monsieur, wie sehr wir bedauern, dass Ihnen dies ausgerechnet im Adler Palace passiert ist. So etwas ist hier noch nie vorgekommen.« Er zögerte wieder und fuhr dann rasch fort: »Selbstverständlich werden wir unser Möglichstes tun, Ihnen in dieser unangenehmen Situation zu helfen. Ich habe den Portier gebeten, Ihnen eine Flasche Whisky zu bringen, sobald er den Arzt verständigt hat. Englischen Whisky! Wir haben einen besonderen Vorrat davon. Zum Glück ist Ihnen ja nichts gestohlen worden. Mit einem solchen Zwischenfall konnte wirklich niemand rechnen, aber wir werden dafür sorgen, dass Sie ärztlich versorgt werden. Und natürlich werden Ihnen für die Zeit Ihres Aufenthalts hier keinerlei Kosten entstehen, ganz klar. Aber …«
»Aber Sie wollen keine Polizei, kein Aufsehen, nicht wahr?«
Der Hotelmanager lächelte nervös. »Was würde es schon nützen, Monsieur. Die Polizisten würden bloß Fragen stellen und uns allen Ungelegenheiten bereiten.« Er schien eine Idee zu haben. »Uns allen, Monsieur«, wiederholte er mit Nachdruck. »Sie sind Geschäftsmann. Sie wollen am Vormittag abreisen. Wenn die Polizei hier erschiene, könnte das etwas schwierig werden. Es würde zwangsläufig zu Verzögerungen kommen. Und wozu?«
»Vielleicht würde man ja denjenigen schnappen, der auf mich geschossen hat.«
»Aber wie, Monsieur? Sie haben sein Gesicht nicht gesehen. Sie können ihn nicht beschreiben. Es ist nichts gestohlen worden, was auf seine Spur führen könnte.«
Graham zögerte. »Und dieser Arzt, den Sie gerufen haben? Angenommen, er meldet der Polizei, dass hier jemand mit einer Schussverletzung ist?«
»Die Direktion wird sich für seine Dienste in großzügiger Weise erkenntlich zeigen.«
An der Tür wurde geklopft. Der Portier trat mit einer Flasche Whisky, Sodawasser und Gläsern ein, die er auf den Tisch stellte. Er sagte etwas zum Stellvertreter, der daraufhin nickte und ihn mit einer Kopfbewegung hinausschickte.
»Der Arzt ist schon unterwegs, Monsieur.«
»Na schön. Danke, ich möchte keinen Whisky. Aber trinken Sie ruhig! Sie sehen aus, als könnten Sie einen vertragen. Ich würde gern mal telefonieren. Sagen Sie dem Portier, er soll mich mit den Crystal Apartments in der Rue d’Italie verbinden. Die Nummer ist 44 907. Ich möchte mit Monsieur Kopejkin sprechen.«
»Sehr wohl, Monsieur. Wie Sie wünschen.« Er ging zur Tür und rief nach dem Portier. Wieder gab es einen unverständlichen Wortwechsel. Der Hotelmanager kam zurück und schenkte sich großzügig Whisky ein.
»Ich glaube«, sagte er, Grahams Vorwurf aufgreifend, »dass es nicht klug wäre, die Polizei einzuschalten. Es ist nichts gestohlen worden. Ihre Verletzung ist unerheblich. Niemand wird sich aufregen. So ist das nun einmal mit der Polizei bei uns, verstehen Sie.«
»Ich bin mir noch nicht sicher, was ich tun werde«, fauchte Graham. Der Kopf tat ihm weh, in der Hand machte sich ein unangenehmes Pochen bemerkbar. Der Hotelmanager ging ihm allmählich auf die Nerven.
Das Telefon klingelte. Er streckte die Hand aus und griff nach dem Hörer.
»Sind Sie’s Kopejkin?«
Er hörte einen verwirrten Grunzer: »Graham? Was ist? Ich bin in diesem Moment nach Hause gekommen. Wo stecken Sie?«
»Ich sitze auf meinem Bett. Hören Sie, etwas Dummes ist passiert. In meinem Zimmer war ein Einbrecher, als ich hereinkam. Er hat auf mich geschossen, bevor er durchs Fenster entwischen konnte. Eine Kugel hat mich an der rechten Hand getroffen.«
»Großer Gott! Sind Sie schlimm verletzt?«
»Nein. Es war nur ein Streifschuss. Aber ich fühle mich nicht sehr wohl. Es war ein ziemlicher Schock.«
»Mein Bester! Erzählen Sie mir genau, was passiert ist.«
Graham erzählte es ihm. »Mein Koffer war abgeschlossen«, fuhr er fort. »Es fehlt nichts. Ich muss einen Augenblick zu früh gekommen sein. Aber es gibt Komplikationen. Der Lärm scheint das halbe Hotel aufgeweckt zu haben, auch den Stellvertreter des Direktors, der jetzt neben mir steht und Whisky trinkt. Sie haben einen Arzt gerufen, der mich verbinden soll, das ist alles. Man hat nicht versucht, den Kerl zu erwischen. Vermutlich hätte es auch nicht viel genützt, aber vielleicht hätten sie ihn ja zumindest gesehen. Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen. Sie meinen, er sei durch den Garten entkommen. Der Punkt ist, dass sie die Polizei nicht rufen wollen, ich müsste schon unangenehm werden und darauf bestehen. Natürlich wollen sie nicht, dass überall Polizisten herumtrampeln und der gute Ruf des Hotels Schaden nimmt. Sie sagen, wenn ich offiziell Anzeige erstatte, würde die Polizei mich daran hindern, morgen mit dem Elf-Uhr-Zug abzureisen. Wahrscheinlich haben sie recht. Aber ich kenne die türkischen Gesetze nicht. Und ich will mir keine Unannehmlichkeiten einhandeln, indem ich keine Anzeige erstatte. Den Arzt will man offenbar mit Geld kaufen. Aber das ist ihre Sache. Was soll ich tun?«
Es entstand ein kurzes Schweigen. Dann sagte Kopejkin langsam: »Ich denke, dass Sie im Moment nichts unternehmen sollten. Überlassen Sie die Sache mir. Ich werde mit einem Freund sprechen, der gute Beziehungen zur Polizei und großen Einfluss hat. Sobald ich mit ihm gesprochen habe, komme ich zu Ihnen ins Hotel.«
»Aber das ist doch nicht notwendig, Kopejkin, ich …«
»Verzeihen Sie, mein Freund, es ist sehr wohl notwendig. Lassen Sie sich von dem Arzt versorgen und bleiben Sie in Ihrem Zimmer, bis ich komme.«
»Ich hatte eigentlich nicht vor, noch auszugehen«, sagte Graham bissig, doch Kopejkin hatte bereits aufgelegt.
In dem Moment erschien der Arzt, ein dünner ruhiger Mann mit blassem Gesicht, der einen Mantel mit schwarzem Lammfellkragen über dem Pyjama trug. Hinter ihm trat der Hoteldirektor ein, ein dicker, unangenehm aussehender Mann, der offensichtlich davon ausging, dass das Ganze nur ein Scherz war, den sich jemand ausgedacht hatte, um ihn zu ärgern.
Er schenkte Graham einen feindseligen Blick, aber noch ehe er den Mund aufmachen konnte, berichtete ihm sein Stellvertreter unter viel Gestikulieren und Augenrollen von dem Vorfall. Der Direktor stieß dabei laute Rufe aus und sah Graham etwas weniger feindselig, dafür etwas besorgter an. Schließlich hielt der Manager inne und sagte dann mit vielsagender Miene auf Französisch:
»Monsieur verlässt Istanbul mit dem Elf-Uhr-Zug und möchte sich daher die Unannehmlichkeit ersparen, die Sache der Polizei zu melden. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass das eine kluge Einstellung ist.«
»Sehr klug«, pflichtete ihm der Hoteldirektor würdevoll bei, »und äußerst diskret.« Er straffte die Schultern. »Monsieur, wir bedauern unendlich, dass Sie diese unwürdige und peinliche Situation erleben mussten. Aber nicht einmal die vornehmsten Hotels der Welt können sich vor Dieben schützen, die durchs Fenster einsteigen. Gleichwohl ist sich das Hotel Adler Palace seiner Verantwortung gegenüber den Gästen bewusst. Wir werden alles Menschenmögliche tun, um die Angelegenheit zu bereinigen.«
»Wenn es menschenmöglich wäre, den Arzt zu bitten, sich einmal meine Hand anzusehen, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
»Ach ja, der Doktor. Bitte tausendmal um Entschuldigung.«
Der Arzt, der sich mit düsterer Miene im Hintergrund gehalten hatte, trat nun vor und begann, auf Türkisch Anweisungen zu erteilen. Die Fenster wurden geschlossen, die Heizung wurde aufgedreht, und der Manager musste eine Emailschüssel besorgen. Er kam sehr bald wieder, die Schüssel wurde mit heißem Wasser aus dem Badezimmer gefüllt. Der Arzt entfernte das Handtuch von Grahams Hand, tupfte das Blut ab und untersuchte die Wunde. Dann sah er auf und sagte etwas zum Hoteldirektor.
»Monsieur«, berichtete der Hoteldirektor in klagendem Tonfall, »er sagt, dass es nichts Ernstes ist – nur eine kleine Hautschürfung.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht. Wenn Sie wieder ins Bett gehen wollen, bitte. Aber ich hätte gern etwas heißen Kaffee. Mir ist kalt.«
»Sofort, Monsieur.« Er schnipste mit den Fingern in Richtung Manager, der daraufhin hinausschlurfte. »Sonst noch etwas, Monsieur?«
»Danke, nein. Nichts. Gute Nacht.«
»Stets zu Diensten, Monsieur. Das Ganze ist sehr bedauerlich. Gute Nacht.«
Er ging hinaus. Der Arzt reinigte sorgfältig die Wunde und verband sie. Graham wünschte, er hätte nicht mit Kopejkin telefoniert. Die Sache hatte sich erledigt. Es war schon kurz vor vier Uhr. Wenn Kopejkin nicht versprochen hätte vorbeizukommen, hätte er noch vier Stunden schlafen können. Immer wieder gähnte er. Der Arzt war fertig, tätschelte beruhigend den Verband und sah auf. Seine Lippen bewegten sich.
»Maintenant«, brachte er hervor, »il faut dormir.«
Graham nickte. Der Arzt stand auf und packte seine Tasche mit der Miene eines Mannes, der sein Möglichstes für einen schwierigen Patienten getan hatte. Dann sah er auf seine Uhr und seufzte. »Très tard«, sagte er. »Gideceğim. Adiyo efendi.«
Graham bemühte seine Türkischkenntnisse. »Adiyo, hekim efendi. Çok teşekkür ederim.«
»Birşey değil. Adiyo.« Er verbeugte sich und ging hinaus.
Kurz darauf kam der Manager mit dem Kaffee und einer geschäftsmäßigen Miene, die offensichtlich besagen sollte, dass auch er wieder ins Bett gehen würde, und griff nach der Whiskyflasche.
»Die können Sie stehen lassen«, sagte Graham. »Ein Freund von mir wird gleich kommen. Vielleicht sagen Sie dem Portier …«
Doch da klingelte schon das Telefon. Der Nachtportier meldete Kopejkin. Der Manager ging hinaus.
Kopejkin kam mit übertrieben ernstem Gesicht ins Zimmer.
»Mein lieber Freund!«, rief er und sah sich um. »Wo ist denn der Arzt?«
»Er ist gerade gegangen. Nur ein Streifschuss. Nichts Ernstes. Ich fühlte mich ein bisschen schwach auf den Beinen, aber abgesehen davon, geht es mir gut. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Die Hoteldirektion hat mir eine Flasche Whisky spendiert. Setzen Sie sich und trinken Sie! Ich selbst trinke Kaffee.«
Kopejkin sank in den Sessel. »Erklären Sie mir genau, wie es passiert ist.«
Graham erklärte es ihm. Kopejkin stemmte sich hoch und ging hinüber zum Fenster. Plötzlich bückte er sich, hob etwas auf und hielt es in die Höhe: Es war eine kleine Patronenhülse.
»Eine automatische Pistole, Kaliber neun Millimeter«, sagte er. »Unangenehme Sache!« Er ließ die Patrone wieder fallen, öffnete das Fenster und sah hinaus.
Graham stöhnte. »Ich glaube, es hat wirklich keinen Sinn, hier den Detektiv zu spielen, Kopejkin. Der Mann war im Zimmer, ich habe ihn überrascht, deshalb hat er auf mich geschossen. Los, machen Sie das Fenster wieder zu und genehmigen Sie sich einen Whisky!«
»Gern, mein Lieber, gern. Entschuldigen Sie meine Neugier.«
Graham wusste, dass er ein wenig dankbarer sein sollte. »Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, Kopejkin, dass Sie sich so viel Mühe geben. Ich habe wegen einer Lappalie ein großes Theater gemacht.«
»Das war auch gut so.« Er runzelte die Stirn. »Leider muss noch sehr viel mehr Theater gemacht werden.«
»Sie meinen, wir sollten die Polizei verständigen? Ich wüsste nicht, was uns das nützen sollte. Außerdem, mein Zug geht um elf. Ich möchte ihn nicht verpassen.«
Kopejkin trank etwas Whisky und stellte das Glas heftig auf den Tisch. »Mein Freund, Sie können keinesfalls mit dem Elf-Uhr-Zug abreisen.«
»Was zum Teufel soll das heißen. Natürlich kann ich. Es geht mir bestens.«
Kopejkin sah ihn neugierig an. »Zum Glück. Aber das ändert nichts an den Fakten.«
»Fakten?«
»Haben Sie bemerkt, dass sowohl Ihr Fenster als auch die Fensterläden von außen aufgebrochen wurden?«
»Nein. Ich habe nicht nachgesehen. Na und?«
»Wenn Sie aus dem Fenster schauen, werden Sie feststellen, dass sich darunter eine Veranda befindet, die zum Garten hin liegt. Über der Veranda ist ein Stahlgerüst, das fast bis zu den Balkonen des zweiten Stockwerks reicht. Im Sommer ist dieses Gerüst mit Strohmatten bedeckt, sodass man auf der Terrasse sitzen und im Schatten essen und trinken kann. Der Kerl ist offensichtlich am Gerüst hochgeklettert. Eine kinderleichte Sache. Sogar ich würde das vielleicht schaffen. Er könnte auf diesem Weg alle Zimmer dieses Stockwerks erreichen. Aber können Sie mir verraten, warum er ausgerechnet in eines der wenigen Zimmer eingebrochen ist, deren Läden und Fenster fest verschlossen waren?«
»Natürlich nicht. Es heißt doch immer, dass Verbrecher nicht besonders klug sind.«
»Sie sagen, dass nichts gestohlen wurde. Ihr Koffer wurde nicht einmal geöffnet. Zufällig kamen Sie genau in dem Moment zurück, als er es probieren wollte.«
»Ein glücklicher Zufall. Meine Güte, Kopejkin, lassen Sie uns über etwas anderes sprechen. Der Mann ist entkommen, und damit basta.«
Kopejkin schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein, mein Freund. Finden Sie das Ganze nicht sehr kurios? Der Mann verhält sich nicht wie andere Hoteldiebe. Er bricht ein, sogar durch ein geschlossenes Fenster. Wenn Sie im Bett gelegen hätten, wären Sie mit Sicherheit aufgewacht. Er muss also gewusst haben, dass Sie nicht im Zimmer waren. Er muss auch Ihre Zimmernummer herausgefunden haben. Besitzen Sie irgendwelche Dinge, die so offensichtlich wertvoll sind, dass ein Dieb diese Vorbereitungen für lohnend halten muss? Nein. Ein merkwürdiger Dieb! Außerdem hat er eine Pistole dabei, die mindestens ein Kilo wiegt und mit der er drei Schüsse auf Sie abgibt.«
»Na und?«
Kopejkin sprang erregt hoch. »Mein lieber Freund, ist Ihnen noch nicht aufgegangen, dass dieser Mann gezielt auf Sie geschossen hat und aus keinem anderen Grund hier war?«
Graham lachte. »Dann kann ich nur sagen, dass er ein miserabler Schütze war. Und jetzt passen Sie mal gut auf, Kopejkin. Kennen Sie die Legende von den Amerikanern und Engländern? Sie hält sich überall dort auf der Welt, wo kein Englisch gesprochen wird. Die Legende besagt, dass alle Amerikaner und Engländer Millionäre sind und dass sie immer viel Bargeld herumliegen lassen. Und jetzt, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Es war sehr nett von Ihnen herüberzukommen, Kopejkin, und ich bin Ihnen wirklich dankbar, aber jetzt …«
»Haben Sie schon mal versucht, mit einer schweren Pistole in einem dunklen Zimmer auf einen Mann zu schießen, der gerade zur Tür hereinkommt?«, entgegnete Kopejkin. »Im Korridor ist kein direktes Licht, nur ein schwacher Schein. Haben Sie es schon mal probiert? Nein. Sie würden den Mann vielleicht sehen, aber ihn zu treffen, das steht auf einem ganz anderen Blatt. In dieser Situation würde selbst ein guter Schütze beim ersten Mal danebenschießen, wie dieser Mann auch. Das macht ihn nervös. Sie könnten ja das Feuer erwidern. Er weiß vielleicht nicht, dass Engländer gewöhnlich keine Waffen tragen. Er schießt rasch ein zweites Mal und trifft Ihren Handrücken. Sie schreien wahrscheinlich vor Schmerzen auf. Er nimmt wahrscheinlich an, dass er Sie schwer verwundet hat. Er schießt noch einmal aufs Geratewohl und verschwindet dann.«
»Unsinn, Kopejkin! Sie sind ja nicht ganz bei Trost. Aus welchem Grund sollte irgendjemand mich umbringen wollen? Ich bin der harmloseste Mensch von der ganzen Welt.«
Kopejkin funkelte ihn mit unbewegter Miene an. »Wirklich?«
»Was soll jetzt das heißen?«
Doch Kopejkin ignorierte die Frage und trank seinen Whisky aus. »Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass ich einen Freund von mir anrufen wollte. Ich habe mit ihm gesprochen.« Betont langsam knöpfte er sich den Mantel zu. »Ich muss Ihnen leider sagen, mein Freund, dass wir jetzt sofort zu ihm fahren. Ich habe versucht, es Ihnen schonend beizubringen, aber jetzt muss ich ganz offen sein. Jemand hat heute Nacht versucht, Sie umzubringen. Es muss sofort etwas geschehen.«
Graham erhob sich. »Sind Sie verrückt?«
»Nein, mein lieber Freund, keineswegs. Sie fragen, weshalb irgendjemand Sie umbringen sollte. Ich wüsste einen ausgezeichneten Grund. Leider kann ich nicht deutlich werden. Ich habe meine Anweisungen.«
Graham setzte sich wieder. »Kopejkin, noch eine Minute, und ich drehe durch. Würden Sie mir freundlicherweise erklären, was Sie da alles zusammenfaseln. Ihr Freund? Mord? Anweisungen? Was soll der ganze Quatsch?«
Kopejkin schien sehr verlegen. »Es tut mir leid, mein Freund. Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist. Ich will nur so viel sagen. Dieser Freund ist eigentlich kein Freund von mir. Tatsächlich finde ich ihn sehr unsympathisch. Sein Name ist Oberst Hakki, er ist der Chef der türkischen Geheimpolizei. Sein Büro liegt in Galata, er erwartet uns dort, um mit uns über den Vorfall zu sprechen. Übrigens habe ich schon geahnt, dass Sie nicht mitkommen würden, und ihm davon erzählt. Daraufhin meinte er – mit Verlaub – wenn Sie nicht freiwillig kämen, würde er Sie holen lassen. Mein Freund, es ist sinnlos, sich aufzuregen. Die Verhältnisse sind außergewöhnlich. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es in Ihrem und in meinem Interesse notwendig ist, ihn zu verständigen, hätte ich es nicht getan. Also, mein Bester, draußen wartet ein Taxi auf uns. Gehen wir.«
Graham stand langsam auf. »Na gut. Ich muss schon sagen, Kopejkin, Sie überraschen mich. Freundliche Besorgnis, das kann ich verstehen und würdigen. Aber das … Hysterie hätte ich bei Ihnen am allerwenigsten erwartet. Den Chef der Geheimpolizei um diese Uhrzeit aus dem Bett zu holen, kommt mir ziemlich verrückt vor. Ich kann nur hoffen, dass es ihm nichts ausmacht, wenn man ihn zum Narren hält.«
Kopejkin lief rot an. »Ich bin weder hysterisch noch verrückt, mein Freund. Ich habe etwas Unangenehmes zu tun, und ich werde es tun. Verzeihen Sie, aber ich finde, Sie …«
»Ich kann fast alles verzeihen. Nur Dummheit nicht«, fuhr Graham ihn an. »Na gut, es ist Ihre Sache. Helfen Sie mir bitte in den Mantel.«
In verbissenem Schweigen fuhren sie nach Galata. Kopejkin war beleidigt. Graham saß in seiner Ecke und starrte missmutig auf die kalten, dunklen Straßen und wünschte, er hätte Kopejkin nicht angerufen. Es war absurd genug, sagte er sich immer wieder, von einem Hoteldieb beschossen zu werden. Zu nachtschlafender Zeit zum Chef der Geheimpolizei verfrachtet zu werden, um darüber zu berichten, war mehr als absurd – es war lächerlich. Er machte sich aber auch Sorgen. Kopejkin mochte sich ruhig wie ein Idiot benehmen, doch die Vorstellung, sich vor einem Mann zu blamieren, der durchaus imstande war, ihm geschäftlich zu schaden, war nicht sehr angenehm. Außerdem war er, Graham, unhöflich zu ihm gewesen.
Er wandte den Kopf zur Seite. »Was für ein Typ ist dieser Oberst Hakki eigentlich?«
Kopejkin brummte. »Sehr elegant und kultiviert – ein Typ, auf den die Frauen fliegen. Soll zwei Flaschen Whisky austrinken können, ohne dass man ihm etwas anmerkt. Vielleicht stimmt das Gerücht. Er war einer von Atatürks Männern und Abgeordneter der Provisorischen Nationalversammlung von 1919. Es gibt noch ein zweites Gerücht – dass er Gefangene paarweise gefesselt und in einen Fluss geworfen haben soll, um Lebensmittel und Munition zu sparen. Ich glaube nicht alles, was ich höre, und bin selbst auch kein Tugendbold, aber wie gesagt, ich mag ihn nicht. Er ist aber sehr clever. Sie werden schon sehen. Sie können französisch mit ihm sprechen.«
»Ich begreife noch immer nicht …«
»Warten Sie nur ab.«
Bald darauf hielten sie hinter einer großen amerikanischen Limousine, die die schmale Straße, in die sie eingebogen waren, fast versperrte. Sie stiegen aus. Graham fand sich vor einer Doppeltür wieder, die wie der Eingang eines billigen Hotels aussah. Kopejkin drückte auf eine Klingel.
Fast im selben Moment erschien ein verschlafener Hausmeister in der Tür, den sie offensichtlich aus dem Bett gerissen hatten.
»Hakki efendi evde midir?«, fragte Kopejkin.
»Evet. Yukarı.« Der Mann zeigte zur Treppe.
Sie gingen hoch.
Oberst Hakkis Büro war ein großes Zimmer am Ende eines Flurs im obersten Stockwerk. Der Oberst, ein hochgewachsener Mann mit einem straffen Gesicht, einem kleinem Mund und kurzgeschorenen grauen Haaren, kam ihnen schon entgegen. Die schmale Stirn, die lange gekrümmte Nase und die leicht vornübergebeugte Haltung gaben ihm etwas Raubvogelhaftes. Er trug eine gut geschnittene Uniformjacke, Reithose und enge blitzblanke Kavalleriestiefel. Er hatte den stolzen Gang eines Mannes, der viel reitet. Abgesehen von der auffallenden Blässe seines Gesichts und den Bartstoppeln deutete nichts an ihm darauf hin, dass er eben noch geschlafen hatte. Seine grauen Augen waren hellwach und musterten Graham lebhaft.
»Ah! Nasılsınız? Fransizca konuşabilirmisin? Vous parlez français, eh? Sehr erfreut, Monsieur Graham. Natürlich, Ihre Wunde!« Lange, geschmeidige Finger packten Grahams unversehrte Hand und drückten sie kräftig. »Ich hoffe, Sie haben keine allzu großen Schmerzen. Dieser Gangster, der Sie umbringen wollte – wir müssen unbedingt etwas unternehmen.«
»Ich fürchte, wir haben Sie unnötigerweise in Ihrer Ruhe gestört, Herr Oberst«, sagte Graham. »Der Mann hat nichts gestohlen.«
Oberst Hakki warf Kopejkin einen raschen Blick zu.
»Ich habe ihm nichts gesagt«, erklärte Kopejkin seelenruhig. »Es war Ihr Vorschlag, wie Sie sich vielleicht erinnern. Leider glaubt er, dass ich entweder hysterisch oder verrückt bin.«
Oberst Hakki lachte. »Das ist das Schicksal von euch Russen, dass man euch immer missversteht. Kommen Sie, gehen wir in mein Büro, dort können wir weiter über die Sache reden.«
Sie folgten ihm – Graham mit der wachsenden Überzeugung, dass er sich in einem Albtraum befand und bald in einem Zahnarztstuhl aufwachen würde. Der Flur war tatsächlich so kahl und gesichtslos wie Flure in einem Traum. Allerdings roch es nach kaltem Rauch.
Es war kühl in Oberst Hakkis großem Büro. Sie setzten sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Er schob ihnen eine Zigarettenschachtel zu, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Sie müssen begreifen, Monsieur Graham«, sagte er unvermittelt, »dass heute Nacht ein Anschlag auf Sie verübt wurde.«
»Wirklich?«, erwiderte Graham gereizt. »Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht ganz. Bei der Rückkehr in mein Zimmer stellte ich fest, dass ein Mann durch das Fenster eingestiegen war. Offensichtlich war es irgendein Dieb. Ich habe ihn gestört. Er hat auf mich geschossen und ist dann entflohen. Das ist alles.«
»Soweit ich informiert bin, haben Sie den Vorfall nicht angezeigt.«
»Ich dachte nicht, dass eine Anzeige etwas nützen würde. Ich habe das Gesicht des Mannes nicht erkennen können. Außerdem fahre ich heute Vormittag mit dem Elf-Uhr-Zug nach England zurück. Ich wollte nicht, dass etwas dazwischenkommt. Tut mir leid, wenn ich gegen irgendwelche Gesetze verstoßen habe.«
»Zarar yok! Macht nichts!« Der Oberst zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch an die Decke. »Ich habe nur meine Pflicht zu tun, Monsieur Graham, und die besteht darin, Sie zu schützen. Leider kann ich Sie mit dem Elf-Uhr-Zug nicht fahren lassen.«
»Wovor wollen Sie mich denn schützen?«
»Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, das ist einfacher. Sie arbeiten für den englischen Rüstungsbetrieb Cator & Bliss Ltd.?«
»Ja. Kopejkin ist unser Repräsentant in der Türkei.«
»Richtig. Sie sind Experte für Schiffsgeschütze, Mr. Graham?«
Graham zögerte. Wie alle Ingenieure mochte er die Bezeichnung »Experte« nicht besonders. Sein Chef nannte ihn manchmal so, wenn er an ausländische Behörden schrieb. Er konnte sich aber damit trösten, dass sein Chef ihn als ausgewachsenen Zulu bezeichnen würde, wenn das einen Kunden beeindruckte. Ansonsten ärgerte er sich maßlos, wenn dieser Begriff verwendet wurde.
»Nun, Mr. Graham?«
»Ich bin Ingenieur und befasse mich zufällig mit Schiffsgeschützen.«
»Wie Sie wollen. Der Punkt ist, dass die türkische Regierung mit Cator & Bliss einen Vertrag geschlossen hat. Gut. Ich weiß zwar nicht genau, worum es bei diesem Vertrag geht, Mr. Graham« – er machte eine vage Handbewegung – »das ist Sache des Marineministeriums. Aber mir sind doch ein paar Dinge zu Ohren gekommen. Ich weiß, dass einige unserer Kriegsschiffe mit neuen Geschützen und Torpedorohren ausgestattet werden sollen und dass Sie hierhergeschickt wurden, um die Angelegenheit mit unseren Spezialisten zu besprechen. Weiterhin weiß ich, dass die neue Ausrüstung bis spätestens Frühjahr geliefert sein soll. Ihre Firma hat diese Klausel akzeptiert. Ist Ihnen dieser Umstand bewusst?«
»Seit zwei Monaten denke ich an nichts anderes mehr.«
»Iyi! Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass der Grund für diese Klausel nicht einfach eine Laune unseres Marineministeriums war. Angesichts der politischen Situation ist es unbedingt erforderlich, dass wir spätestens zum besagten Zeitpunkt über die neue Ausrüstung verfügen.«
»Das weiß ich auch.«
»Ausgezeichnet. Dann werden Sie verstehen, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Die Deutschen, Italiener und Russen wissen natürlich, dass diese Schiffe neu bestückt werden sollen. Sobald das geschehen ist, vielleicht auch schon früher, werden ihre Agenten die Einzelheiten, die momentan nur einigen wenigen Personen bekannt sind, darunter auch Ihnen, herausgefunden haben. Das ist nicht weiter tragisch. Keine Kriegsmarine kann Geheimnisse dieser Art verbergen und auch nicht erwarten, sie sei dazu imstande. Wir können es sogar aus verschiedenen Gründen für ratsam halten, die Einzelheiten selber an die Öffentlichkeit zu bringen. Doch im Moment« – er hob einen langen manikürten Finger – »im Moment sind Sie es, der sich in einer eigentümlichen Lage befindet, Mr. Graham.«
»Den Eindruck habe ich allerdings auch.«
Oberst Hakkis kleine grauen Augen ruhten kalt auf ihm. »Ich bin nicht hier, um Witze zu machen, Mr. Graham.«
»Pardon.«
»Schon gut. Noch eine Zigarette? Also, wie ich gerade erklärt habe, sind Sie im Moment in einer eigentümlichen Lage. Sagen Sie, haben Sie sich schon mal überlegt, dass Sie in Ihrem Beruf unersetzlich sein könnten, Mr. Graham?«
Graham lachte. »Überhaupt nicht. Ich könnte Ihnen die Namen von Dutzenden anderer Männer nennen, die fachlich genauso kompetent sind wie ich.«
»Dann gestatten Sie mir den Hinweis, Mr. Graham, dass Sie dieses Mal in Ihrem Leben tatsächlich unersetzlich sind. Nehmen wir nur mal an, der Dieb hätte etwas genauer geschossen und Sie säßen in diesem Augenblick nicht bei mir, sondern lägen mit einem Lungenschuss auf einem Operationstisch. Welche Konsequenzen würde das für Ihre Arbeit haben?«
»Meine Firma würde natürlich jemand anderes auf den Weg schicken.«
»So?« Oberst Hakki tat erstaunt. »Fabelhaft! Typisch englisch! Sehr sportlich! Ein Mann wird beseitigt, und sofort nimmt ein anderer unerschrocken seine Stelle ein. Aber warten Sie!« Der Oberst hob abwehrend den Arm. »Muss das denn sein? Mr. Kopejkin könnte Ihre Unterlagen doch bestimmt nach England schaffen. Ihre Kollegen dort könnten aus Ihren Aufzeichnungen, Skizzen und Zeichnungen vermutlich genau ersehen, was sie wissen wollen, auch wenn die betreffenden Schiffe nicht von Ihrer Firma gebaut wurden.«
Graham wurde rot. »Ihr Tonfall verrät mir, dass Sie ganz genau wissen, dass die Sache nicht so einfach wäre. Jedenfalls durfte ich über bestimmte Dinge keine Notizen anfertigen.«
Oberst Hakki kippte auf seinem Stuhl weit zurück. »Ja, Mr. Graham, das weiß ich.« Er schmunzelte breit. »Ein anderer Experte müsste herkommen und Ihre Arbeit teilweise noch einmal machen.« Er kippte laut nach vorn. »Bis dahin ist Frühling«, sagte er durch die Zähne, »und die Schiffe würden in den Werften von Izmir und Gallipoli liegen und noch immer auf ihre neuen Geschütze und Torpedorohre warten. Hören Sie, Mr. Graham. Die Türkei und England sind Verbündete. Die Feinde Englands haben ein Interesse daran, dass die türkische Kriegsmarine in ein paar Monaten, wenn der Schnee schmilzt und der Regen aufhört, nicht stärker ist als jetzt. Nicht stärker als jetzt. Sie werden alles tun, um das zu erreichen. Alles, Mr. Graham. Haben Sie verstanden?«
Graham hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ein bisschen melodramatisch, finden Sie nicht? Es gibt keine Beweise für die Richtigkeit Ihrer Behauptungen. Und wir sind schließlich im wirklichen Leben, nicht …« Er zögerte.
»Nicht was, Mr. Graham?« Der Oberst beobachtete ihn wie eine Katze, die im Begriff ist, eine Maus zu fangen.
»Ich wollte sagen, nicht im Kino, aber das erschien mir doch ein bisschen unhöflich.«
Oberst Hakki sprang auf. »Melodramatisch! Beweise! Wirkliches Leben! Kino! Unhöflich!« Er verzog den Mund, als wären es obszöne Ausdrücke. »Mir ist vollkommen gleichgültig, was Sie sagen, Mr. Graham. Mich interessiert nur Ihr Körper. Solange Leben in ihm ist, stellt er für die Türkische Republik einen großen Wert dar. Ich werde dafür sorgen, dass er am Leben bleibt, solange das in meiner Macht steht. Es ist Krieg in Europa. Ist Ihnen das klar?«
Graham schwieg.
Der Oberst starrte ihn eine Weile an und fuhr dann ruhig fort. »Vor gut einer Woche, Sie waren noch in Gallipoli, haben wir, das heißt meine Agenten, herausgefunden, dass dort ein Anschlag auf Sie verübt werden sollte. Die ganze Sache war sehr plump und dilettantisch. Sie sollten entführt und erstochen werden. Zum Glück sind wir nicht dumm. Wenn uns irgendetwas nicht gefällt, tun wir es jedenfalls nicht als melodramatisch ab. Immerhin konnten wir aus den verhafteten Leuten so viel herausholen, dass sie von einem deutschen Agenten in Sofia – einem gewissen Möller, der uns seit einiger Zeit bekannt ist – bezahlt worden waren. Er hat sich früher als Amerikaner ausgegeben, bis die amerikanische Gesandtschaft protestierte. Von da an nannte er sich Fielding. Ich vermute, er wechselt Namen und Staatsangehörigkeiten ganz nach Belieben. Ich habe Monsieur Kopejkin zu mir bestellt und ihm empfohlen, Ihnen nichts von der Sache zu erzählen. Je weniger über solche Dinge geredet wird, desto besser, und außerdem wäre nichts gewonnen, wenn wir Sie in Angst und Schrecken gestürzt hätten, solange Sie noch bei der Arbeit waren. Das war vermutlich ein Fehler. Ich hatte Grund zu der Annahme, dass dieser Möller andere Gelegenheiten suchen würde. Als Monsieur Kopejkin mich dankenswerterweise unmittelbar nach diesem neuen Anschlag anrief, war mir sofort klar, dass ich die Entschlossenheit dieses Herrn in Sofia unterschätzt hatte. Er hat es ein zweites Mal versucht. Ich bin überzeugt, dass er es ein drittes Mal probieren wird, wenn wir ihm die Gelegenheit dazu bieten.« Er lehnte sich zurück. »Verstehen Sie jetzt, Monsieur Graham? Hat Ihr kluger Kopf begriffen, worauf ich hinauswill? Es ist ganz einfach. Jemand will Sie umbringen.«