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Ein Paukenschlag:

Der Rücktritt von Papst Benedikt XVI.

Zunächst dachten viele an einen Faschingsscherz, als am 11. Februar 2013, also am Rosenmontag, gemeldet wurde, Papst Benedikt XVI. habe zum 28. Februar seinen Rücktritt erklärt. Aber der 11. Februar war nur zufällig in diesem Jahr Rosenmontag, er wird in der Kirche als „Welttag der Kranken“ gefeiert. Papst Benedikt wollte also zum Ausdruck bringen, dass ihm sein Gesundheitszustand die Leitung der Weltkirche nicht mehr erlaube.

Benedikt XVI. datiert allerdings nun im Rückblick seinen Rücktritt auf das Fest der Lourdes-Madonna. Da das Fest von Bernadette von Lourdes wiederum auf seinen Geburtstag fällt, so gibt es hier biographische Verbindungen, die ihm wichtig sind.

Der Weltjugendtag als Rücktrittsgrund

Interessant sind die Rücktrittsmotive: In dem Gesprächsband mit Peter Seewald wird der Rat eines Arztes als Grund genannt. Der nächste Weltjugendtag in Rio de Janeiro sollte turnusgemäß erst 2014 sein, wurde aber wegen der Fußballweltmeisterschaft um ein Jahr vorgezogen. Benedikt wusste: Das schaffe ich nicht mehr. Deshalb sein Rücktritt zu diesem Zeitpunkt, damit der neue Papst noch genügend Vorlauf für Rio hatte. Großer Respekt von allen Seiten wurde ihm für diesen Schritt entgegengebracht. Dieser Schritt veränderte von einem Moment zum anderen das Papstamt: Das seit dem 19. Jahrhundert sakral aufgeladene Amt bekam plötzlich wieder menschliche Züge.

Die große Frage war: Wer sollte Papst Benedikt nachfolgen? Fast alle wahlberechtigten Kardinäle waren von ihm oder seinem Vorgänger Johannes Paul II. ernannt worden. So wurde schnell vermutet, der Nachfolger könnte nur eine Kopie der Vorgängerpäpste sein. Umso größer war die Überraschung, als am 13. März Kardinal Jorge Mario Bergoglio von Buenos Aires auf die Segensloggia trat. Er war im 5. Wahlgang zum Papst gewählt worden und hatte sich den Namen Franziskus gegeben. Bereits sein erster Auftritt auf der Segensloggia machte deutlich, dass hier einer das Papstamt ganz neu interpretieren würde.

Der erste Auftritt des Neuen

Franziskus trat in einfachem weißen Talar auf und mit einfachem Brustkreuz. Die Stola legte er nur zum Segen um und dann sofort wieder ab. Bereits bei der Ankleideszene soll es zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, die er mit der Aussage „der Karneval ist vorbei“ quittiert haben soll. Dann seine ersten Sätze: „Brüder und Schwestern! Guten Abend!“ Er vermittelt Nähe, Vertrautheit, sein Gruß ist der Gruß eines Bekannten, den man auf der Straße trifft. Hier zeigt einer eine Haltung von Urbanität. Und er fährt fort: „Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen … Aber wir sind hier … Ich danke euch für diesen Empfang. Die Diözese Rom hat nun ihren Bischof. Danke. Zunächst möchte ich ein Gebet sprechen für unseren emeritierten Bischof Benedikt XVI. Beten wir alle gemeinsam für ihn, dass der Herr ihn segne und die Mutter Gottes ihn beschütze.“

Franziskus beschreibt die Papstwahl als Wahl des Bischofs von Rom. Diesen Bischof hat man allerdings nicht aus dem italienischen oder europäischen Episkopat ausgewählt, sondern man ist bis ans Ende der Welt gegangen, um den geeigneten Kandidaten zu finden. Der Lateinamerikaner bringt damit zum Ausdruck, dass sein Kontinent von Europa aus oft als Ende der Welt gesehen wird, als marginal. Dann betet er für seinen Vorgänger, den zurückgetretenen Papst Benedikt: auch das eine neue Situation, dass der Vorgänger noch lebt. Papst Franziskus hat seinen Vorgänger sogar am Telefon in Castel Gandolfo anzurufen versucht, um ihm seine Wahl persönlich mitzuteilen. Doch der saß vor dem Fernsehgerät, um die Nachricht dort zu erfahren. Der Papst em. wird sofort miteinbezogen, auch die versammelten Schaulustigen werden zu Gläubigen und einer Gebetsgemeinschaft. Die nächsten Sätze deuten ein neues Verständnis des Papstamtes an: „Und jetzt beginnen wir diesen Weg – Bischof und Volk –, den Weg der Kirche von Rom, die den Vorsitz in der Liebe führt gegenüber allen Kirchen; einen Weg der Brüderlichkeit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens. Beten wir immer füreinander. Beten wir für die ganze Welt, damit ein großes Miteinander herrsche. Ich wünsche euch, dass dieser Weg als Kirche, den wir heute beginnen und bei dem mir mein Kardinalvikar, der hier anwesend ist, helfen wird, fruchtbar sei für die Evangelisierung dieser schönen Stadt.“ Er beschreibt seinen Weg als gemeinsamen Weg von Bischof und Volk. Rom ist zunächst eine Diözese wie alle anderen, allerdings mit einer bestimmten Tradition, nämlich dem Vorsitz der Liebe, die sich in Brüderlichkeit und gegenseitigem Vertrauen ausdrückt. Die Evangelisierung beginnt in dieser Stadt, auch die „urbs Roma“ ist nicht Besitzerin des Evangeliums, sie bedarf der Evangelisierung bis hinein in die Kurie.

Nur der Gesegnete kann segnen

Und dann kommt es zu einer bewegenden Geste und Einladung: „Und nun möchte ich den Segen erteilen, aber zuvor bitte ich euch um einen Gefallen. Ehe der Bischof das Volk segnet, bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen für seinen Bischof bittet. In Stille wollen wir euer Gebet für mich halten.“ Der Papst beugt sich nieder, eine Gebetsstille erfüllt den Petersplatz und das Volk bestätigt in einer spirituellen acclamatio den neuen Papst. Erst dann spendet der neue Papst den Segen: Nur der Gesegnete kann segnen. Er singt den Segen nicht, sondern spricht ihn, so dass sofort das alte Sprichwort die Runde macht: Jesuita non cantat. Dieses Wort bezieht sich allerdings auf das Chorgebet der Jesuiten, zu dem sie nicht verpflichtet sind, nicht auf eine Vorschrift, nicht singen zu dürfen. Der neue Papst kann aufgrund einer Lungenoperation nicht singen.

Der Papst verabschiedet sich zum Schluss mit einem vertrauten „gute Nacht und angenehme Ruhe“. Das geistliche Zeremoniell ist hier eingebettet in eine Inszenierung von Alltag, unaufgeregt, aber herzlich. Wer ist dieser neue Papst?, so fragen sich nicht nur die Menschen auf dem Petersplatz.

Steckbrief

Am besten kann uns Franziskus selbst erklären, wer er ist. Hier ein Steckbrief in kurzen Sätzen, so wie er sich in einem Interview präsentiert hat:

– „Wie würden Sie sich einer Gruppe vorstellen, die Sie nicht kennt? – Ich bin Jorge Bergoglio, Seelsorger. Ich bin nämlich gerne Seelsorger.

– Welchen Ort auf der Welt würden Sie nennen? – Buenos Aires.

– Welche Person? – Meine Großmutter.

– Ihr bevorzugtes Informationsmedium? – Ich lese die Tageszeitungen. Das Radio schalte ich ein, um klassische Musik zu hören.

– Sie fahren viel mit der U-Bahn. Ist das Ihr bevorzugtes Transportmittel? – Ich nehme es fast immer wegen der Schnelligkeit, aber noch lieber fahre ich mit dem Autobus, weil ich da die Straße sehe.

– Hatten Sie eine Freundin? – Ja. Sie gehörte zu der Gruppe von Freunden, mit denen wir tanzen gingen.

– Warum haben sie die Beziehung beendet? – Ich entdeckte meine religiöse Berufung.

– Haben Sie irgendwelche Hobbys? – Als Junge habe ich Briefmarken gesammelt. Jetzt lese ich gerne und höre gern Musik.

– Ein literarisches Werk? – Die Dichtung von Hölderlin fasziniert mich. Aber auch viele Werke der italienischen Literatur.

– Was zum Beispiel? – Die Verlobten von Manzoni habe ich sicher viermal gelesen. Ebenso oft die Göttliche Komödie. Auch Dostojewskij und Maréchal sagen mir viel.

– Und Borges? Sie haben sich sehr mit ihm auseinandergesetzt. – Aber sicher! Außerdem hatte Borges die geniale Art, über fast alles zu erzählen, ohne sich selber in den Vordergrund zu rücken. Er war ein sehr weiser und tiefer Mensch. Das Bild, das ich von seiner Einstellung zum Leben habe, ist das eines Menschen, der die Dinge an ihren Platz stellt, der die Bücher in den Regalen ordnet wie der Bibliothekar, der er ja selber war.

– Borges war Agnostiker. – Ein Agnostiker, der jeden Abend das Vaterunser betete, weil er es seiner Mutter versprochen hatte, und der schließlich mit religiösem Beistand starb.

– Ein musikalisches Werk Ihrer Wahl? – Unter denen, die ich am meisten bewundere, ist die Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 von Beethoven in der Interpretation von Furtwängler, der nach meiner Auffassung der beste Dirigent einiger Symphonien Beethovens und der Werke Wagners ist.

– Mögen Sie Tango? – Und wie! Das ist Musik, die aus meinem Inneren kommt.

– Können Sie Tango tanzen? – Ja. Ich habe ihn als junger Mensch getanzt, obgleich ich die Milonga bevorzugte.

– Ein Werk der Malerei? – Die Weiße Kreuzigung von Marc Chagall.

– Welche Art Filme mögen Sie? – Die von Tita Merello natürlich und die des italienischen Neorealismus, in welchen meine Eltern mich und meine Geschwister eingeführt hatten. Sie ließen nicht einen Film von Anna Magnani und Aldo Fabrizi aus, die sie uns erklärt haben. Auch bei Opern haben sie das übrigens getan: Sie hoben dabei zwei oder drei Dinge hervor, um uns Orientierung zu geben; wir gingen in das Kino unseres Stadtteils, wo hintereinander drei Filme gezeigt wurden.

– Erinnern Sie sich an einen Film besonders? – Babettes Fest, ein dänischer Film neueren Datums, hat mich sehr berührt.

– Ihre bevorzugte Sportart? – Als Junge spielte ich Basketball, aber ich ging auch gerne auf den Fußballplatz zum Zuschauen. Die ganze Familie ging hin, auch meine Mutter, die uns bis 1946 begleitete, um San Lorenzo zu sehen, unsere absolute Lieblingsmannschaft; meine Eltern stammten aus Almagro, dem Viertel des Clubs.

– Erinnern Sie sich an ein besonderes Fußballereignis? – Das brillante Match, das die Mannschaft beim Kampf um die Meisterschaft 1946 spielte. Das Tor von Pontoni, das beinahe einen Nobelpreis verdient hätte. Das waren andre Zeiten. Das schlimmste Schimpfwort, das man einem Schiedsrichter zurief, lautete „fauler, unverschämter Kerl“, „Verräter“ etc. Das ist gar nichts im Vergleich zu den Zurufen von heute.

– Welche Sprachen sprechen Sie? – Ich radebreche ein wenig Italienisch [in Wirklichkeit konnten wir feststellen, dass er es perfekt spricht]. Und was andere Sprachen betrifft, so müsste ich präzisieren und wegen mangelnder Praxis sagen: „… die ich früher sprach“. Französisch zum Beispiel konnte ich ziemlich flüssig sprechen, und mit dem Deutschen kam ich auch zurecht. Mehr schon kostete mich das Englische, besonders die Phonetik, denn ich habe ein schlechtes Gehör. Und natürlich verstehe ich den Dialekt des Piemont, denn dies war der Klang meiner Kindheit.“1

Biographische Splitter: die Großmutter

Die im Interview angesprochene Großmutter hat eine besondere Bedeutung für Franziskus: Wenn er reist, hat er immer das Brevier im Handgepäck. Zwischen den Seiten bewahrt er das Testament seiner Großmutter und ihre Briefe auf. Es gibt einen, den er überaus schätzt und den sie ihm 1967 anlässlich seiner Priesterweihe schrieb, halb auf Italienisch und halb auf Spanisch: „An diesem wunderbaren Tag, an welchem Du Christus, den Erlöser, in Deinen geweihten Händen halten wirst und an dem sich Dir ein weiter Weg für das allertiefste Apostolat eröffnet, überreiche ich Dir dieses bescheidene Geschenk, das kaum materiellen Wert besitzt, aber von sehr großem geistlichen Wert ist.“ Und in ihrem Testament ist zu lesen: „Mögen diese meine Enkel, denen ich das Beste meines Herzens gewidmet habe, ein langes und glückliches Leben haben, aber wenn eines Tages der Schmerz, die Krankheit oder der Verlust eines lieben Menschen sie mit Betrübnis erfüllen, dann mögen sie sich daran erinnern, dass ein Seufzer vor dem Tabernakel, wo sich der größte und erhabenste Märtyrer befindet, und ein Blick auf die Muttergottes am Fuß des Kreuzes einen Tropfen Balsam auch auf die tiefsten und schmerzlichsten Wunden fallen lassen können.“

Text einer Milonga

Die im Gespräch erwähnte Milonga geht auf den afroamerikanischen Candombe zurück; ihre Liedtexte sind eine Weiterentwicklung der improvisierten Payadas der Gauchos, oftmals mit Wechselgesang. Hier ein Beispiel:

„Milonga sentimental“ (Komponist: Sebastián Piana; Textdichter: Homero Manzi, 1931).

Milonga, um dich zu erinnern,

Milonga der Gefühle.

Andere klagen mit Tränen,

ich singe, um nicht zu weinen.

Deine Liebe versiegte plötzlich,

niemals sagtest du warum.

Ich tröste mich mit dem Gedanken,

dass es Verrat der Frau war.

Manns genug, um dich sehr zu lieben,

Manns genug, um dir alles Gute zu wünschen,

Manns genug, um Beleidigungen zu vergessen,

weil ich dir schon verziehen habe.

Vielleicht wirst du es nie erfahren,

vielleicht kannst du es nicht glauben,

vielleicht lachst du darüber,

wenn du mich zu deinen Füßen liegen siehst.

Es ist leicht, mit dem Messer zu stechen,

um einen Verrat zu rächen,

oder mit dem Dolch um eine

Leidenschaft zu wetten.

Aber es ist nicht leicht, die Fesseln einer

leidenschaftlichen Liebe zu durchschneiden,

wenn sie fest um den

Pfahl des Herzens gebunden sind.

Manns genug, um Dich sehr zu lieben.

Milonga, die durch deine Abwesenheit entstand,

Milonga der Erinnerung

Milonga, damit man sie dir niemals

als Ständchen singt.

Damit du mit der Nacht zurückkommst

und mit der Sonne wieder fortgehst.

Um dir manchmal Ja zu sagen

oder Nein zu schreien.

Manns genug, um Dich sehr zu lieben …

Das Lied erzählt davon, dass es geschaffen wurde, um an eine gescheiterte Liebesbeziehung zu erinnern, ein steter Topos der Tango-Lyrik. Während in der Tango-Poesie das lyrische Ich in machistischem Selbstmitleid verharrt (und oft aus Kummer „stirbt“), findet es in der Milonga- Lyrik im beschwingten Rhythmus dieses musikalischen Genres Trost, um immer wieder über ein Scheitern hinwegzukommen: „Yo canto por no llorar (Ich singe, um nicht zu weinen).“

Insofern kann man die Milonga als die fröhlichere Schwester des Tangos bezeichnen. Es ist ein Lied einer verarbeiteten Krise, letztlich ein Lied der Auferstehung.

Der Mensch hinter dem Amtsträger wird in diesen wenigen Zeilen und Selbstaussagen spürbar. Was ist von einem solchen Papst zu erwarten? Er wurde sehr schnell zur Projektionsfläche von Hoffnungen für die einen und von Ängsten für die anderen. Was lässt sich nach den ersten Jahren sagen?

Keine kirchliche Nabelschau

Da ist zum einen seine Rede im Vorkonklave, die die Kardinäle wohl mächtig beeindruckt hat. Er liefert eine eigene Interpretation von Evangelisierung als Daseinsgrund der Kirche: „Evangelisierung setzt apostolischen Eifer voraus, Evangelisierung setzt in der Kirche den Freimut (parrhesia) voraus, aus sich selbst herauszugehen (salir de sí misma). Die Kirche ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und zu den Peripherien zu gehen, nicht nur an die geographischen, sondern auch an die existentiellen Peripherien. Die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, der religiösen Nichteinhaltung, die des Denkens, die jeglichen Elends.“2 Evangelisierung hat zunächst eine Voraussetzung: den Freimut zur Exzentrik. Das Zentrum liegt nicht in der Kirche, sondern an den Peripherien, sowohl geografisch als auch existentiell. Das Gegenteil der missionarischen Exzentrik ist die unfruchtbare Selbstbezüglichkeit und Selbstbespiegelung: „Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um zu evangelisieren, bleibt sie selbstbezüglich (autorreferencial) und wird dann krank (cf. die in sich verkrümmte Frau des Evangeliums). Die Übel, die sich im Lauf der Zeit in den kirchlichen Institutionen entwickeln, haben ihre Wurzel in der Selbstbezüglichkeit (autorreferencialidad), eine Art (surte) theologischer Narzissmus.“ Franziskus bezieht sich hier auf die Stelle Lk 13,10–17. Von der gekrümmten Frau wird gesagt, dass sie sich nicht mehr aufrichten und nicht mehr auf das Ganze blicken kann. Die Kirche wird zu einer solchen Frau, wenn sie sich nur auf sich selbst bezieht und nicht aufs Ganze blickt. Franziskus erweitert diese Sicht noch mit einer Referenz auf die Johannes-Apokalypse: „In der Apokalypse sagt Jesus, dass er an der Tür steht und anklopft. Offensichtlich bezieht sich der Text darauf, dass er von außen klopft um einzutreten … Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, daran, damit wir ihn herausgehen lassen. Die selbstbezügliche (autorreferencial) Kirche beansprucht (pretende) Jesus Christus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten.“ Die Anrede an die Gemeinde von Laodizea, die als lau beschrieben wird, weder heiß noch kalt (Offb 3,14–22), wendet Franziskus auf die Kirche an und dreht das Bild um: Sie hat Jesus eingesperrt, er klopft nicht von außen, sondern von innen, und möchte zu den Menschen gehen. Die Kirche beansprucht ihn nur für sich selbst.

Kirche ist relativ

Eine solche selbstbezügliche Kirche kreist nur um sich selbst und verfehlt sich dadurch, denn ihr Auftrag ist ihre Relativität, ihre Bezogenheit auf Christus und die Menschen und nicht ihre Selbstverabsolutierung. In dieser Passage des Textes hat sich allerdings ein gravierender Übersetzungsfehler der Rede eingeschlichen. Es ist vom „Geheimnis des Lichtes“ die Rede, es muss jedoch heißen „Geheimnis des Mondes“: „Wenn die Kirche selbstbezüglich (autorreferencial) ist, ohne es zu merken, glaubt sie, dass sie ihr eigenes Licht hat; sie hört auf, das „mysterium lunae“ (Geheimnis des Mondes) zu sein, und gibt jenem schwerwiegenden Übel der geistlichen Mundanität Raum (nach de Lubac das schlimmste Übel, das über die Kirche hereinbrechen kann), die dann lebt, damit man sich wechselseitig wichtig nimmt.“ Franziskus knüpft hier an die lunare Ekklesiologie der Kirchenväter an: Kirche ist nicht die Sonne, sondern der Mond, sie bezieht ihr Licht nicht von sich selbst, sondern von der Sonne Christus: „Vereinfacht gesagt, gibt es zwei Bilder von Kirche: die evangelisierende Kirche, die aus sich heraustritt (sale de sí); die das Wort Gottes ehrfürchtig hört und es treu verkündet (Dei verbum religiose audiens et fidenter proclamans); oder die mundane Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt.“ Die Metapher der „Ent- und Verweltlichung“ bekommt hier eine ganz neue Konnotation: Kirche ist dann verweltlicht, wenn sie Jesus für sich behält, ihn der Welt vorenthält. Entweltlichung ist ihre Zentrierung in Jesus und ihre Verausgabung für die Menschen. Von hier aus kann und muss über „Entweltlichung“ ganz neu nachgedacht werden.

Auch der angesprochene Henri de Lubac sollte neu in die Diskussion gebracht werden; er hat in seiner Betrachtung über die Kirche unterschieden zwischen zwei Glaubensformen: den Glauben an Gott und den Glauben der Kirche.3 „Credo ecclesiam“ macht deutlich, dass wir nicht an die Kirche glauben, sondern die Kirche glauben als Konsequenz des Gottesglaubens. Diese geglaubte Kirche aber bleibt immer reformabel und vorläufig. Oder wie es Bischof Kamphaus einmal klassisch formuliert hat: „Die Kirche vergeht, das Reich Gottes kommt – Gott sei Dank!“ Jeglichem Ekklesiozentrismus ist damit ein Riegel vorgeschoben.

Eine neue Konzilsdeutung

Das Pontifikat von Papst Benedikt war geprägt von seiner Sorge um die richtige Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils. Immer wieder betonte er, dass vor allem der „Geist des Konzils“ oder „das Ereignis Konzil“ in den Vordergrund gerückt werde, aber nicht die Texte des Konzils. Er hat zwischen einer Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruchs („die Kirche nach dem II. Vatikanum sei eine andere als die vor dem II. Vatikanum“) und einer Hermeneutik der Reform („die Kirche nach dem II. Vatikanum sei keine neue, sondern nur eine erneuerte Kirche“) unterschieden. In seiner letzten Ansprache vor dem Klerus der römischen Diözese hat er das wahre Konzil vom Konzil der Medien abgehoben. Das wahre Konzil werde sich immer mehr durchsetzen. Papst Franziskus hat nicht von ungefähr am Geburtstag von Papst em. Benedikt XVI. am 16. April in seinem Morgengottesdienst das Thema des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgegriffen: „Der Heilige Geist drängt zum Wandel, und wir sind bequem.“ Papst Franziskus hat in seiner Predigt deutlich Stellung bezogen und die mangelhafte Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils beklagt. Das sei vor allem ein geistliches Problem: „Um es klar zu sagen: Der Heilige Geist ist für uns eine Belästigung. Er bewegt uns, er lässt uns unterwegs sein, er drängt die Kirche, weiter zu gehen. Aber wir sind wie Petrus bei der Verklärung, ‚Ah, wie schön ist es doch, gemeinsam hier zu sein.‘ Das fordert uns aber nicht heraus. Wir wollen, dass der Heilige Geist sich beruhigt, wir wollen ihn zähmen. Aber das geht nicht. Denn er ist Gott und ist wie der Wind, der weht, wo er will. Er ist die Kraft Gottes, der uns Trost gibt und auch die Kraft, vorwärts zu gehen. Es ist dieses ‚vorwärts gehen‘, das für uns so anstrengend ist. Die Bequemlichkeit gefällt uns viel besser.“

Den Heiligen Geist nicht zähmen

Wir seien heute viel zu zufrieden mit der angeblichen Anwesenheit des Heiligen Geistes in seiner Kirche, und diese Zufriedenheit sei eine Versuchung: „Das Konzil war ein großartiges Werk des Heiligen Geistes. Denkt an Papst Johannes: Er schien ein guter Pfarrer zu sein, aber er war dem Heiligen Geist gehorsam und hat dieses Konzil begonnen. Aber heute, 50 Jahre danach, müssen wir uns fragen: Haben wir all das getan, was uns der Heilige Geist im Konzil gesagt hat? In der Kontinuität und im Wachstum der Kirche, ist da das Konzil zu spüren gewesen? Nein, im Gegenteil: Wir feiern dieses Jubiläum und es scheint, dass wir dem Konzil ein Denkmal bauen, aber eines, das nicht unbequem ist, das uns nicht stört. Wir wollen uns nicht verändern und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen. So bekommt man törichte und lahme Herzen.“

Hier kommt eine deutliche Kritik am Stil des Konzilsjubiläums zum Ausdruck: es werde memorialisiert, aber sein Geist werde nicht weitergeschrieben. Es gebe sogar Kräfte, die hinter das Konzil zurück wollten. Diese wenigen Andeutungen machen klar, wo sich Franziskus positioniert. Dazu passt auch sein persönlicher Stil: Er setzt bewusste Zeichen der Bescheidenheit, der Kommunikation, der Nähe und der Menschlichkeit. Sein persönlicher Stil zeigt Wirkung. Kardinal Ravasi erzählt, dass ihm ein Taxifahrer gesagt habe: „Ich bleibe weiter Agnostiker, aber ich glaube jetzt an den Heiligen Geist. Dass die Kardinäle diesen Mann zum Papst wählen konnten, grenzt für mich an ein Wunder.“

Erinnerungen an Papst Johannes XXIII.

Eine im Geistlichen Tagebuch von Papst Johannes XXIII. immer wieder beschriebene Haltung ist seine Einfachheit. „Je älter ich werde, desto mehr konstatiere ich die Würde und die überwältigende Schönheit der Einfachheit, sowohl im Denken wie im Tun und Reden. Es läutert sich die Tendenz heraus, alles zu vereinfachen, das verwickelt ist: alles auf die höchstmögliche Ursprünglichkeit und Klarheit zurückzuführen, ohne mich von Lappalien und künstlichen Winkelzügen in Gedanken und Worten gefangen nehmen zu lassen.“4

Wohl am besten begriffen hat diese Hintergründe ein einfaches römisches Zimmermädchen. Die Politologin Hannah Arendt hat in ihrer Rezension zum geistlichen Tagebuch Folgendes berichtet: Beim Tod Johannes’ XXIII. sei sie in einem Hotel in Rom gewesen. Als die Nachricht über den Fernsehschirm lief, rief ein römisches Mädchen, das gerade beim Saubermachen ihres Zimmers war, aus: „Gnädige Frau, dieser Papst war wirklich ein Christ. Wie ist das möglich und wie konnte ein wirklicher Christ auf dem Heiligen Stuhl zu sitzen kommen? Musste er denn nicht zuerst zum Bischof und zum Erzbischof und Kardinal ernannt werden, bevor er schließlich zum Papst gewählt wurde? Hatte denn keiner eine Ahnung, wer er war?“5 Dieses Mädchen spürte das Geheimnis von Johannes XXIII. sehr genau: Es war seine Furchtlosigkeit vor dem Tod, seine Einfachheit, seine Gelassenheit, sein unverstelltes, von keinem Karrieregedanken angekränkeltes Christsein. Ihr Problem war nur: Wie konnte so einer Papst werden? Die Kardinäle haben diese Frage für den jetzigen Papst beantwortet: Sie wollten genau so einen zum Papst. Aber wussten sie wirklich, wer er ist?

Bereits am 3. Juni 2013, dem 50. Todestag von Johannes, empfing Papst Franziskus Gläubige aus der Diözese Bergamo, aus der Johannes XXIII. stammt. Franziskus schildert nicht nur lebhaft seine Erinnerung an diesen Tag, er gibt vor allem eine ganz persönliche Charakteristik seines Vorgängers: „Wer wie ich ein gewisses Alter erreicht hat, erinnert sich noch lebhaft an die Betroffenheit, die in jenen Tagen überall zu spüren war: Der Petersplatz war zu einem Wallfahrtsort unter freiem Himmel geworden, der Tag und Nacht Gläubige jeden Alters und Standes in Sorge und Gebet für die Gesundheit des Papstes aufnahm. Die ganze Welt betrachtete Papst Johannes als einen Hirten und einen Vater. Einen Hirten, weil er Vater war. Was hatte ihn dazu gemacht? Wie hat er es geschafft, die Herzen so unterschiedlicher Menschen zu erreichen, selbst diejenigen vieler Nicht-Christen? Um diese Frage zu beantworten, können wir uns auf seinen bischöflichen Wahlspruch berufen: oboedientia et pax, Gehorsam und Frieden. Ich möchte beim Frieden beginnen, denn das ist der offenkundigste Aspekt, derjenige, den die Menschen an Papst Johannes wahrgenommen haben: Angelo Roncalli war ein Mann, der die Fähigkeit besaß, den Frieden zu vermitteln; einen ganz natürlichen Frieden, gelassen und herzlich; einen Frieden, der sich nach seiner Wahl zum Papst der ganzen Welt zeigte und dem der Name der Güte verliehen wurde. Es ist sehr schön, einen Priester zu finden, einen guten Priester, der gütig ist …

Und das ist das Wesentliche. Er ist ein Vater. Ein Priester, der gütig ist. Es steht ganz außer Zweifel, dass das ein ganz charakteristischer Zug seiner Persönlichkeit war, der es ihm gestattete, überall dauerhafte Freundschaften zu schließen, und der vor allem in seinem Amt als Päpstlicher Nuntius zutage trat, einem Amt, das er fast 30 Jahre lang ausübte und bei dem er oft mit Kreisen und Realitäten in Kontakt kam, die unendlich weit von jenem katholischen Universum entfernt waren, in dem er geboren und aufgewachsen war. Er erwies sich gerade in diesen Milieus als höchst erfolgreich darin, Verbindungen zu knüpfen und Einheit zu schaffen, innerhalb und auch außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft, offen auch für den Dialog mit Christen anderer Kirchen, mit Vertretern des Judentums und des Islam und mit vielen anderen Menschen guten Willens. In Wirklichkeit übermittelte Papst Johannes Frieden, weil sein Gemüt zutiefst im Frieden war: Er hatte sich vom Heiligen Geist befrieden lassen. Und dieses friedvolle Gemüt war das Ergebnis einer langen, anspruchsvollen Arbeit an sich selbst, einer Arbeit, von der sich reichlich Spuren im Geistlichen Tagebuch finden. Wir können dort den Seminaristen, den Priester, den Bischof Roncalli dabei sehen, wie er sich auf dem Weg der allmählichen Läuterung des Herzens abmüht. Wir sehen ihn Tag für Tag, wie er Acht gibt, die dem Egoismus entsprungenen Wünsche zu erkennen und abzutöten; wie er sich bemüht, die Inspirationen des Herrn zu erkennen, sich leiten zu lassen von weisen geistlichen Leitern und sich inspirieren zu lassen von Meistern wie dem hl. Franz von Sales und dem hl. Karl Borromeo. Wenn wir diese Schriften lesen, sehen wir, wie diese Seele vor unseren Augen Gestalt annimmt unter der Anleitung des Heiligen Geistes, der in seiner Kirche, in den Seelen wirkt: genau er war es, der ihm unter diesen guten Voraussetzungen den Frieden der Seele geschenkt hat.

Und hier kommen wir zum zweiten und entscheidenden Wort: ‚Gehorsam‘. Wenn der Frieden seine äußere Charakteristik war, so stellte der Gehorsam für Roncalli die innere Haltung dar: Der Gehorsam war in Wirklichkeit das Werkzeug, um den Frieden zu erlangen. Er hatte zunächst eine ganz einfache und konkrete Bedeutung: in der Kirche die Aufgaben erfüllen, die die Vorgesetzten ihm aufgetragen hatten, ohne dabei eigene Interessen zu verfolgen, sich vor nichts von dem zu drücken, was von ihm verlangt wurde, auch wenn das bedeutete, dass er seine Heimat verlassen und sich mit ihm völlig fremden Welten auseinandersetzen musste und jahrelang an Orten zu leben, wo es kaum Katholiken gab. Diese Bereitschaft, sich wie ein Kind führen zu lassen, prägte den Weg, den er als Priester durchlief und den ihr bestens kennt, vom Sekretär von Bischof Radini Tedeschi und gleichzeitigen Dozenten und geistlichen Vater im Diözesanseminar angefangen bis hin zum Päpstlichen Nuntius in Bulgarien, in der Türkei und Griechenland, in Frankreich, als Hirte der Kirche von Venedig und schließlich als Bischof von Rom. Durch diesen Gehorsam hat der Priester und Bischof Roncalli allerdings auch eine noch tiefere Treue gelebt, die wir, wie er es ausgedrückt hätte, als Hingabe an die göttliche Vorsehung bezeichnen könnten. Er hat im Glauben immer erkannt, dass durch diesen Lebensweg – der allem Augenschein nach von anderen und nicht von seinen eigenen Vorlieben oder ausgehend von seiner persönlichen spirituellen Sensibilität gelenkt wurde – Gott seinen eigenen Plan verwirklichte. Er war ein Mann der Leitung, eine Führernatur. Aber ein Führer, der selbst im Gehorsam vom Heiligen Geist geführt wurde …

Und das ist eine Lehre für einen jeden von uns, ebenso aber auch für die Kirche unserer Zeit: Wenn wir es verstehen, uns vom Heiligen Geist führen zu lassen, wenn wir es verstehen, unseren Egoismus abzutöten, um Raum zu schaffen für die Liebe des Herrn und für seinen Willen, dann finden wir den Frieden, dann werden wir Werkzeuge des Frieden sein können und Frieden um uns verbreiten. 50 Jahre nach seinem Tod sind die weise und väterliche Führung durch Papst Johannes, seine Liebe zur Tradition der Kirche und das Wissen um die unablässige Notwendigkeit des ‚Aggiornamento‘, die prophetische Intuition der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils und das Opfer seines eigenen Lebens für dessen gutes Gelingen weiterhin Meilensteine in der Geschichte der Kirche des 20. Jahrhunderts und ein klarer Orientierungspunkt für den Weg, der vor uns liegt.“

Eine Liebeserklärung an Papst Johannes ist diese Ansprache an seine Diözesanen. Aber mehr als das: Es ist ein deutlicher Hinweis, dass er selber in der Spur dieses Vorgängerpapstes gehen will.

Und er bewegt sie doch

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