Читать книгу Lebendige Seelsorge 2/2017 - Erich Garhammer - Страница 5
ОглавлениеSterben ohne Angst – wie geht das?
Was passiert in den letzten Stunden des Lebens? Wie kann ein friedliches und angstfreies Sterben ermöglicht werden angesichts einer immer technischer werdenden Medizin, in der Sterben scheinbar keinen Platz hat. Die Palliativmedizin und Hospizarbeit widmen sich besonders der Begleitung von Menschen in den letzten Lebensmonaten und -wochen. Claudia Bausewein
In Deutschland sterben jährlich über 850.000 Menschen, die meisten an chronischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankungen, nach einem Schlaganfall oder an Demenz (vgl. Destatis). Jeder Vierte stirbt an den Folgen einer Krebserkrankung. Der medizinische Fortschritt führt dazu, dass die Lebenserwartung weiter steigt, wobei das für viele Menschen bedeutet, dass sie im Lauf der Jahre unter mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden, die zu stärkeren Einschränkungen und Gebrechlichkeit führen. Der Wunsch der meisten Menschen ist es, zu Hause zu sterben. Tatsächlich verstirbt aber nahezu jeder zweite im Krankenhaus. Und immer mehr Menschen sterben in Alten- und Pflegeheimen. Diese Zahl wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen.
PALLIATIVMEDIZIN
Die Palliativmedizin hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland zunehmend als eigene medizinische Fachrichtung entwickelt. Ihre Aufgabe ist die ganzheitliche Begleitung von Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen und begrenzter Lebenserwartung mit dem Ziel, die Lebensqualität in der verbleibenden Lebenszeit zu verbessern, auch wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist. Dazu gehört die Beachtung der körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Aspekte des Patienten. Die Begleitung schließt die Angehörigen mit ein, da diese von der Erkrankung und dem nahenden Lebensende des Patienten genauso mitbetroffen sind (vgl. WHO). Palliativbetreuung sollte schon frühzeitig im Krankheitsverlauf ab der Diagnose der Unheilbarkeit einer Erkrankung angeboten werden, auch in Verbindung mit anderen krankheitsorientierten Therapien. Es konnte gezeigt werden, dass frühzeitige Palliativbetreuung einen positiven Verlauf auf die Grunderkrankung nehmen kann und sogar lebensverlängernd wirkt (vgl. Temel). Zur Grundhaltung in der Palliativbetreuung gehört es, das Leben zu bejahen und das Sterben als normalen Prozess zu sehen. Der Tod soll nicht hinausgezögert, aber auch nicht beschleunigt werden (vgl. WHO).
Claudia Bausewein
geb. 1965 in München, Prof. Dr. med., Internistin; seit über 30 Jahren in der Hospizbewegung und Palliativmedizin; wiederholte Aufenthalte in England, darunter fünf Jahre am Cicely Saunders Institute des King’s College London; seit 2012 Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München und Lehrstuhlinhaberin für Palliativmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Der englische Begriff „Palliative Care“ bringt noch besser zum Ausdruck, was hinter Palliativmedizin steckt. Das Wort „care“ – Fürsorge, Versorgung geht über die reine medizinische Betreuung hinaus und macht auch deutlich, dass es nicht nur um ärztliche Betreuung geht, sondern dass den vielfältigen und komplexen medizinischen, psychosozialen und spirituellen Problemen der Betroffenen oft nur durch ein multiprofessionelles und interdisziplinäres Team begegnet werden kann. Die Palliativmedizin und die Hospizbewegung sind eng miteinander verbunden, haben sie doch dieselben Wurzeln in Dame Cicely Saunders, die 1967 St. Christopher’s Hospice in London gründete.
Die Entwicklung der Hospizbewegung und Palliativmedizin in Deutschland in den letzten 30 Jahren ist beeindruckend. Aus einer Initiative Einzelner ist die Hospizbewegung mit über 80.000 ehrenamtlichen Helfern zu einer Bürgerbewegung geworden. Die Palliativmedizin hat sich als medizinisches Fachgebiet etabliert und durch die Einrichtung von Lehrstühlen Einzug in Universitäten gefunden.
Palliativmedizinische und hospizliche Betreuung wird in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens angeboten, abhängig von der Situation und den Bedürfnissen der Patienten. In den über 300 Palliativstationen werden Patienten mit komplexen Beschwerden betreut, die einer Krankenhausbehandlung bedürfen. Ziel ist aber eine Entlassung nach Hause oder in ein stationäres Hospiz. Dort können die Patienten auch über einen längeren Zeitraum bleiben, bis sie sterben. Im ambulanten Bereich gibt es in vielen Gegenden Deutschlands immer mehr multi-professionelle Teams in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), die Patienten zu Hause betreuen und häufig ermöglichen, dass sie auch zu Hause sterben können. Unterstützt werden die spezialisierten Palliativdienste durch ambulante Hospizvereine mit vielen ehrenamtlichen Helfern.
LINDERUNG VON BELASTENDEN SYMPTOMEN
Im Fokus der palliativmedizinischen Betreuung steht die Linderung von belastenden Symptomen, die durch die Erkrankung entstehen, und nicht die Behandlung der Grunderkrankung (z. B. eines Tumorleidens). Die am häufigsten beklagten Symptome sind Schmerzen, Schwäche, Gewichtsverlust, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen und Verstopfung. Die Behandlung dieser Beschwerden erfolgt überwiegend über Medikamente, unterstützt durch Gespräche, Atemtherapie und Physiotherapie. Zudem haben Patienten oft Ängste und Sorgen, wie es weitergeht, oder leiden unter einer Depression. Aber auch spirituell-existentielle Fragen beschäftigen Menschen am Lebensende. Solange Patienten unter unkontrollierten Beschwerden leiden, ist es schwer für sie, sich mit wichtigen Fragen, die am Lebensende auftauchen, auseinanderzusetzen.
KOMMUNIKATION
Die Kommunikation mit dem Patienten und seinen Angehörigen spielt eine große Rolle bei jeder medizinischen Behandlung. Am Lebensende bekommt sie aber noch einmal eine besondere Bedeutung, da es vielen Menschen schwerfällt, über Sterben und Tod zu sprechen. Es ist oft einfacher, über eine erneute Chemotherapie zu sprechen oder neue Untersuchungen anzuordnen, als über die Ernsthaftigkeit der Situation zu reden und, dass trotz aller medizinischen Bemühungen die Krankheit voranschreitet und das Leben vorzeitig beenden wird. Was Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen v. a. brauchen, ist ein wahrhaftes und einfühlsames Gespräch, in dem sie ihre Sorgen und Nöte äußern können. Sich als Mensch akzeptiert und verstanden zu fühlen, in seiner Ganzheit mit allen Freuden und Leiden, seien sie körperlicher, psychischer, sozialer oder spiritueller Natur. Die entscheidende Frage ist oft nicht, was dem Patienten gesagt wird, sondern wie der Kontakt gesucht wird. Durch einen wahrhaften Umgang mit all den Informationen, die der Patient braucht und möchte, bekommt der Patient die Möglichkeit, das zu regeln, was für ihn wichtig ist, und sich mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens und Sterbens auseinanderzusetzen. Dabei bestimmt der Betroffene in der Begleitung und in den Gesprächen die Inhalte und die Intensität.
Entscheidend ist oft nicht, was dem Patienten gesagt wird, sondern wie der Kontakt gesucht wird.
BETREUUNG IN DER STERBEPHASE
In den letzten Lebenstagen ist es Aufgabe der Palliativmedizin, ein würdevolles und friedliches Sterben zu ermöglichen. Um unnötiges Leiden zu vermeiden, müssen die körperlichen Beschwerden, sei es bereits bestehende oder neu dazugekommene, weiter therapiert werden. Das ist in der Regel gut möglich.
In dieser Zeit brauchen die Angehörigen häufig mehr Unterstützung als der Patient. Die Zeit des Abschieds ist besonders schwer und viele wissen nicht, was sie erwartet, wenn ein Mensch stirbt. Erklärung, was in der Sterbephase passiert und welche Veränderungen voraussichtlich auftreten werden, gibt ihnen Sicherheit. Es ist wichtig, den Angehörigen Raum für ihre Sorgen und Ängste zu geben und sie zu unterstützen, beim Patienten zu sein, aber auch auf sich selbst zu achten.
WAS BEWEGT MENSCHEN AM LEBENSENDE? WAS HILFT IHNEN?
Das Sterben wirkt wie ein Brennglas für das Leben, vieles wird noch einmal dicht und konzentriert.
Die Fragen und Themen, die Menschen am Lebensende beschäftigen, sind so vielfältig wie das Leben selbst. Und doch gibt es eine Reihe von existentiellen Fragen, die immer wieder auftauchen, vielleicht aber nicht immer ausgesprochen werden. Warum bin ich krank geworden? Warum muss ich (jetzt schon) sterben? Warum kann ich meine Kinder nicht groß werden sehen? Was habe ich in meinem Leben erreicht? Habe ich die Menschen um mich herum genug geliebt? Warum lässt Gott das zu? Viele dieser spirituellen und existentiellen Fragen sind grundsätzliche Fragen des Lebens, die eigentlich nicht erst am Lebensende gestellt werden sollten. Das Sterben wirkt aber wie ein Brennglas für das Leben, vieles wird noch einmal dicht und sehr konzentriert. Dann bekommen diese Fragen unter Umständen eine besondere Vehemenz.
Viele dieser existentiellen und spirituellen Fragen haben keine Antworten, zumindest keine einfachen. Patienten erwarten auf diese Fragen von den professionellen Betreuern, seien es Ärzte, Psychologen oder Seelsorger, auch keine Antworten. Diese Antworten kann, wenn überhaupt, nur der Betroffene selbst finden. Aufgabe der Betreuer und Begleiter ist es vielmehr, einen geschützten Raum und eine entsprechende Atmosphäre zu schaffen, damit die notwendigen Prozesse stattfinden können, um Antworten zu finden. Oder es mit auszuhalten, wenn es keine Antworten gibt. Damit Menschen ihren eigenen Weg am Lebensende gehen können, ist es wichtige Voraussetzung, unter möglichst wenig belastenden Krankheitsbeschwerden zu leiden, aber genauso ein offenes Ohr, Zeit und Absichtslosigkeit, den Patienten irgendwo hinführen zu wollen.
Häufig bewegen die Menschen auch Sorgen und Ängste: Was passiert beim Sterben? Werde ich starke Schmerzen haben? Gibt es einen Todeskampf? Viele fürchten die Zeit des Sterbens mehr, als tot zu sein. Für andere ist die Vorstellung des nicht mehr Seins äußerst beängstigend. Wichtig ist es zunächst, dass die Sorgen und Ängste ausgesprochen werden können. Oft hilft es schon, wenn sie abgeladen werden dürfen und ein anderer sie hört. Viele Ängste beruhen auf eigenen Vorstellungen, früheren Erfahrungen oder Erzählungen anderer, müssen aber nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen.
So ist Sterben selbst nicht automatisch ein schmerzhafter Prozess. Wenn Schmerzen auftauchen, hängen sie in der Regel mit der Grunderkrankung zusammen und waren vermutlich auch schon vorher da. Auch können wir eine Agonie im Sinn eines qualvollen Todeskampfs zumindest von außen nicht beobachten. Wenn ein Mensch unter Unruhe, rasselnder Atmung oder Verwirrtheit leidet, können diese Symptome in der Regel gut durch Medikamente gelindert werden. Oft hilft es den Patienten, wenn sie es wünschen, mit ihnen darüber zu sprechen, was erfahrungsgemäß in der Sterbephase passiert, dass sie immer schläfriger werden, die Wachphasen abnehmen, auch das Interesse an Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme abnimmt, und die meisten Menschen friedlich einschlafen. Das zu hören, beruhigt viele und so können manche Ängste genommen werden.
Aber es können natürlich Ängste bleiben, die nicht genommen werden können. Grundsätzlich sollte immer geprüft werden, ob der Patient unter einer Depression leidet, was bei fortgeschrittenen Erkrankungen nicht selten der Fall ist. Eine Depression kann sich durch schwer kontrollierbare körperliche Beschwerden, ausgeprägte Ängste oder tiefe Verzweiflung zeigen. Diese werden deutlich gelindert, wenn die Depression adäquat behandelt ist. Bei fortbestehenden Ängsten und Sorgen sind wiederholte Gesprächsangebote, fürsorgende Begleitung, die Zusage, den Menschen bis zum Schluss zu begleiten und nicht allein zu lassen, grundlegende Maßnahmen in der Betreuung. Manchmal ist es „einfach“ das Mitaushalten der Situation und das schweigende Dabeisein. Dies sind natürlich keine einfachen Aufgaben und fordern auch den Begleitern viel ab.
Viele Menschen haben eigene Kraftquellen und Ressourcen, die ihnen auch schon in früheren schweren Lebenssituationen Kraft gegeben haben. Dies kann emotionale und praktische Unterstützung durch Familie und Freunde sein, und durch das Gefühl der Zugehörigkeit. Aber auch der eigene Glaube, die Gottesbeziehung, die Natur, die Freude an kleinen, früher vielleicht selbstverständlichen Dingen können helfen. Manchmal brauchen Menschen Unterstützung, um diese Ressourcen wahrnehmen und nutzen zu können.
Viele wollen die Zeit des Sterbens bewusst erleben und gestalten, nutzen das Zugehen auf das Sterben um Rückschau auf das Leben zu halten oder eine Lebensbilanz zu ziehen. Andere können dem nahen Ende nicht so leicht entgegensehen und verdrängen die Situation eher. Die Verdrängung ist für manche zum Schutz der Seele notwendig, wenn die Situation zu bedrohlich wird. Dann ist es die Aufgabe der Begleitenden, behutsam zu prüfen, ob es möglich ist, den Patienten schrittweise an die Realität heranzuführen oder vielleicht auch in der Verdrängung zu lassen.
SCHLUSSBEMERKUNG
Palliativmedizinische Betreuung kann viel zur Linderung von Leiden bei fortgeschrittenen Erkrankungen beitragen. Sie wird aber immer
noch sehr mit dem Lebensende, also den letzten Lebenswochen und -tagen verbunden. Es herrscht insgesamt eine große Scheu, den Kontakt mit entsprechenden Diensten zu suchen, da befürchtet wird, dass dann das Sterben nahe ist. Dies wird aber zur selbsterfüllenden Prophezeiung, je länger gewartet wird.
Es gibt in der Zwischenzeit gute wissenschaftliche Daten, die den Benefit frühzeitiger Einbindung palliativmedizinischer Betreuung zeigen. Patienten, die durch die Betreuung eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität spüren und sagen, „ach wäre ich doch schon eher zu Ihnen gekommen“, sollten in Zukunft immer weniger werden. ■
LITERATUR
Statistisches Bundesamt (Destatis): www.destatis.de/DE/Zahlen-Fakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Todesursachen/Todesursachen.html (Zugriff: 29.01.2017).
Temel, Jennifer S./Greer, Joseph A./Muzikansky, Alona et al., Early Palliative Care for Patients with Metastatic Non-Small-Cell Lung Cancer, in: N Engl J Med. 2010 Aug 19;363(8):733–742. doi: 10.1056/ NEJMoa1000678.
World Health Organization (WHO), National Cancer Control Programmes. Policies and managerial guidelines, 2nd Edition, Geneva 2000.