Читать книгу Lebendige Seelsorge 2/2017 - Erich Garhammer - Страница 6
ОглавлениеDie Lebens- und Sterbenswirklichkeit wahrnehmen
Die Replik von Ernst Engelke auf Claudia Bausewein
Claudia Bausewein ist mir als kompetente Ärztin und Palliativmedizinerin bekannt. Seit vielen Jahren engagiert sie sich sehr erfolgreich in der Palliativmedizin. Vieles verbindet uns in diesem Engagement, in manchem unterscheiden wir uns. Diese Unterschiede sind vermutlich unseren professionellen Sozialisationen geschuldet: als Ärztin, als Psychologe und Pastoraltheologe.
Die moderne Palliativ- und Hospizbewegung zielt auch für mich darauf, die Lebensqualität von todkranken Patienten in der verbleibenden Lebenszeit zu verbessern, auch wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist. Dazu gehört die Beachtung der körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Ressourcen der Patienten und ihrer Angehörigen. Palliativmedizin und Hospizbewegung sind eng miteinander verbunden, ihre Wurzeln reichen nachweislich bis ins Mittelalter zurück (vgl. Stolberg).
Für Bausewein gehört es zur „Grundhaltung in der Palliativbetreuung, das Sterben als normalen Prozess zu sehen“. In der „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ heißt es in den Leitsätzen: „Sterben gehört […] zum Leben, es ist ein untrennbarer Teil des Lebens. Krank werden, älter werden und Abschied nehmen sowie damit verbundenes Leiden sind als Teil des Lebens zu akzeptieren“ (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin u. a., 8).
Zweifellos gehören auch nach meiner Auffassung Sterben und Tod zum Leben. Mit welchem Recht und auf welcher Basis kann jedoch behauptet werden, dass Krankwerden, Älterwerden und Abschiednehmen sowie damit verbundenes Leiden zu akzeptieren sind? Und es mag ja sein, dass für Ärzte und Pflegende das Sterben zu einem normalen Prozess wird – solange sie nicht selbst getroffen sind. Mit fast 1000 Ärzten habe ich deren palliativmedizinische Fälle besprochen. Fast alle Ärzte wollten erreichen, dass die Patienten ihre tödliche Situation realisieren und annehmen. Die Patienten haben sich dagegen gewehrt. Nach meiner Lebenserfahrung werden sich Ärzte, Pflegende, die Verfasser und Unterzeichner der Charta genauso verhalten, wenn sie selbst tödlich erkranken: Sie werden sich gegen den Tod wehren und ihr Sterben nicht akzeptieren. Denn Sterbenskranke wollen leben und Sterbende wollen heute noch nicht sterben, vielleicht morgen. Sie fügen sich erst ein, wenn sie keine Kraft zum Widerstand mehr haben und „nicht mehr können“.
Meines Erachtens müssen Patienten bei fortgeschrittener Erkrankung nicht schrittweise an die Realität herangeführt werden. Das ist meistens überflüssig, denn Sterbenskranke kennen ihre Realität; sie erleben sie ja, sind ihr ausgesetzt und müssen sich damit auseinandersetzen, ob sie es wollen oder nicht wollen. Sie wissen Bescheid und hoffen, dass es noch einen Ausweg gibt. Offen ist, wie sie darüber reden und mit wem sie darüber reden. Sterbenskranke und Sterbende haben keine freie Themenwahl: Ihre Lebensbedrohung ist ihr Thema. Auch wenn sie nur über eine erneute Chemotherapie oder neue Untersuchungen sprechen, sprechen sie ernsthaft über ihre Ängste und Hoffnungen, die sie mit der Therapie verbinden. Wenn sie reden, schwingen ihre Ängste und Hoffnungen immer mit. Fraglich ist, ob die Begleitenden das erkennen (als Beispiel Schlingensief).
Sterbenskranke stellen existentielle und spirituelle Fragen. Fast immer wird nach dem „Warum“ gefragt: „Warum muss ich sterben?“ Philosophische oder religiöse Exkurse dazu helfen selten. Eine zufriedenstellende Antwort wird gar nicht erwartet, weil es sie nicht gibt. Mit dem „Warum“ wird vielmehr gegen das Unbegreifbare protestiert. Das Fragezeichen ist ein Ausrufezeichen.
Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen brauchen wahrhafte und einfühlsame Gespräche, in denen sie sich akzeptiert und verstanden fühlen. Begleitende, nicht nur Ärzte, müssen allerdings akzeptieren, dass diese Menschen sich gegen ihre lebensbedrohende Krankheit wehren und gegen den sich unaufhaltsam nähernden Tod kämpfen. In diesem Kampf sind sie zu begleiten. Die Begleitung wütender, zorniger, klagender, protestierender Patienten fällt (fast) allen Menschen schwer, geht unter die Haut. Die Begleitung von Patienten, die ihr Schicksal klaglos annehmen, ist allemal leichter. Ängste bewegen die Patienten. Existentielle Ängste können nicht genommen, sondern nur begleitet werden. Die psychische Verfassung kann mit Psychopharmaka sediert werden. Der Preis dafür sind die Nebenwirkungen. Panische Ängste, tiefe Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit werden schnell als Zeichen einer Depression angesehen, sind aber Ausdruck einer tief gehenden, begründeten Trauer. Echte Depressionen kommen vor und sind psychiatrisch zu behandeln.
Sterben ohne Angst – geht das? Dagegen stehen meine Erfahrungen und meine Ängste vor dem Sterben. Ich weiß, dass – wie Claudia Bausewein – viele Ärzte, Pflegende, Psychologen, Sozialarbeiter und Seelsorger Sterbenskranke und Sterbende in Kliniken, Heimen, Hospizen und Wohnungen würdevoll betreuen und sie in ihren Ängsten und Hoffnungen begleiten. Dafür bin ich dankbar und darauf baue ich. ■
LITERATUR
Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V./Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V./Bundesärztekammer (Hg.), Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, Berlin 2010.
Schlingensief, Christoph, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung, München 2010.
Stolberg, Michael, Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute, Frankfurt a. M. 2011.