Читать книгу Lebendige Seelsorge 3/2018 - Erich Garhammer - Страница 7
ОглавлениеNoch ziemlich rücksichtsvoll
Die Replik von Rainer Bucher auf Judith Hahn
Judith Hahns informativer Beitrag will Wege aufzeigen, wie das Verhältnis von Pastoral und Kirchenrecht jenseits von banaler Harmonie und destruktivem Kontrast kreativ werden könnte. Darin treffen sich unsere Optionen. Dass jedes Recht, auch das Kirchenrecht, kulturell kontext- und seine Geltung rezeptionsabhängig ist, dass eine spezifische Differenz zwischen Recht und Kultur tendenziell immer besteht, freilich in einem dynamischen Prozess stets klein gehalten werden muss, dass in einer globalisierten Zivilisation komplexe, wechselseitige Prozesse des Kulturaustausches notwendig sind, ja eigentlich immer stattfinden: aus pastoraltheologischer Perspektive sind dies kulturwissenschaftliche Kontextualisierungen und Relativierungen des Kirchenrechts, die lange vermisst wurden. Ganz besonders zustimmungsfähig aber ist die Feststellung, dass ein „Gesetzgeber, der ein Bemühen, den kulturellen Rückstand des Rechts zu schließen, als ‚Relativismus‘ deutet […] das Recht an seine Relevanzgrenzen [bringt].“ Wie wahr!
Drei kritische Rückfragen scheinen mir freilich mit Blick auf das Ganze des Textes von Kollegin Hahn und spezifische Leerstellen sowie die grundsätzliche Problematik eines bereits an seine Relevanzgrenzen gestoßenen real existierenden Kirchenrechts möglich und naheliegend.
„Der kulturelle Rückstand kirchlicher Normen ist […] nicht als solcher ein Problem. Problematisch wird die Distanz zwischen Recht und Kultur aber dann, wenn das Recht sich nicht bemüht, die Kultur einzuholen“, schreibt Judith Hahn. Letzteres ist natürlich richtig, der erste Teil der Feststellung aber problematisch. Denn der kulturelle Rückstand kirchlicher Normen wird auch als solcher zum Problem, wenn er so eklatant ist, dass er Recht – wie in dessen Folge leider dann auch die Pastoral – massiv entplausibilisiert. Und umgekehrt: Aufholbemühungen, die weit hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre, um die plausibilitätsund legitimitätsdestruktiven Effekte dieses Rückstandes abzubauen, wirken selbst eher kontraproduktiv. Aktuell sehe ich kaum Ansätze zur Änderung dieser fatalen Konstellation.
Es scheint mir generell nicht wirklich möglich, auf der Basis korrekter allgemeiner Feststellungen – etwa, dass das Recht „immer knapp an dem vorbeiläuft, was Menschen meinen und tun“ – dem konkreten Kirchenrecht in seinen realen Defiziten eine relative Entschuldigung zu gewähren oder mit der Feststellung, das Kirchenrecht sei „nicht ausnahmslos gut, wie es ist, aber es ist gut, dass es ist“, seine gravierenden Mängel zu überspielen. Quantitative Defizite können in kategoriales Versagen umschlagen.
Exakt 50 Jahre nach 1968 sei zweitens an eine schöne alte Formulierung erinnert: Kollegin Hahn umgeht die Machtfrage. Recht basiert auf Machtbeziehungen und konstituiert sie. Das festzustellen ist nicht weiter originell. Es ist aber schwierig und braucht viel Originalität und Kreativität, und es stellt eben die Machtfrage, will man die Rechtsordnung weiterentwickeln. Die von Judith Hahn erhofften Prozesse eines kulturell induzierten Fortschritts des Kirchenrechts geschehen nicht automatisch, sondern sind zuletzt eben doch das Resultat von machtgestützten Entscheidungen. Die Machtfrage stellen heißt also zu fragen:
Wer ist für das Kirchenrecht verantwortlich? Wer hat die Macht, es zu ändern? Und wer tut es warum (nicht)?
Drittens: Das Spezifische des Kirchenrechts als eines Rechts der Kirche als Volk Gottes finde ich in Kollegin Hahns Text nicht wirklich benannt. Judith Hahn diskutiert das Kirchenrecht und seine mögliche Weiterentwicklung im Kontext aktueller kulturwissenschaftlicher Fragestellungen des Rechts überhaupt – ein großer Fortschritt gegenüber traditionellen Positionen, die das Kirchenrecht gegen solche „Relativierungen“ theologisch immunisieren. „Göttliches Recht“ könnte aber eben nicht nur bedeuten, dass es ein von Gott gesetztes und daher von Menschen nicht veränderbares Recht gibt, sondern auch, dass in ihm der Kontrast von Gerechtigkeit und Liebe grundsätzlich anders gestaltet wird als im säkularen Recht.
Anders gesagt: Ein Kirchenrecht unter dem Anspruch des Evangeliums des gnädigen Gottes hätte nicht nur Defizite gegenüber dem säkularen Recht und den kulturellen Standards der Gegenwart aufzuholen, sondern kreative Vorsprünge ihm gegenüber zu präsentieren. Vielleicht war dies ja rechtsgeschichtlich hin und wieder sogar der Fall, diakoniegeschichtlich etwa hat es solche Vorsprünge ohne Zweifel gegeben. Aber gegenwärtig ist von solch einem evangeliumsinduzierten Kreativitätsvorsprung des Kirchenrechts vor dem säkularen Recht nun wirklich nichts zu sehen.
Das Kirchenrecht hätte nicht nur Defizite gegenüber dem säkularen Recht aufzuholen, sondern kreative Vorsprünge zu präsentieren.
Niemand wird ernsthaft annehmen, dass Rechtsfreiheit die Qualität von Pastoral erhöhe. Es stimmt natürlich: Recht „schränkt Machtasymmetrien zum Zweck der Freiheitssicherung ein. Es erzeugt Erwartungssicherheit. Es stabilisiert Austauschbeziehungen und stellt ihr Gelingen in Aussicht. Im Fall ihres Misslingens bietet es Instrumente zur geordneten Bereinigung von Konflikten an.“ Das sind vornehmste Aufgaben des Rechts, ohne die ein Sozialwesen keine Chancen hat zu bestehen.
Niemand wird auch behaupten, dass das gegenwärtige Kirchenrecht diese Aufgabe völlig verfehlt. Es wird ihr aber auch nicht wirklich gerecht. Judith Hahns Beitrag schließt mit dem Satz: „Ich meine aber, die benannten Punkte bilden einen Anfang, um über ein Kirchenrecht nachzudenken, mit dem man auch jenseits von Rom etwas anfangen kann.“ Genau genommen ist meine Kritik am herrschenden Kirchenrecht dagegen noch ziemlich rücksichtsvoll.