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Die drei Lästerschwestern können’s nicht lassen.
ОглавлениеMaria saß auf dem Oberdeck der Fähre Friesia II, die auf dem Weg von Emden nach Borkum war, und fragte sich gerade, ob sie es wirklich sei: Sie, Maria Stürmer aus Augsburg, die mit zwei großen Koffern unterwegs war zur Insel ihrer Träume. Aber nicht um dort Urlaub zu machen, sondern um dort zu wohnen, zumindest vorerst. Es war so etwas Ähnliches wie ein Umzug, zwar erst einmal nur zur Probe für ein paar Wochen oder vielleicht Monate, aber sie hatte sich ihr Rückzugsrefugium in Augsburg erhalten, ihre Wohnung im dritten Stockwerk des Mehrfamilienhauses mit Blick auf den Dom und die Altstadt. Dorthin könnte sie jederzeit wieder zurückkehren, wenn …
Verließ sie jetzt der Mut so kurz vor dem Ziel? Es war ja keine Schnapsidee gewesen. Alles war von langer Hand geplant und vorbereitet. Aber jetzt …
Sie blickte zurück und als das Festland am Horizont verschwunden war, drehte sie sich um und blickte nach vorn. Ja, sagte sie zu sich selbst, ich wollte es so und nun mache ich es auch so. Sie wendete ihr Gesicht der Sonne zu, schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie es zu dieser Entscheidung gekommen war.
Angefangen hatte das Ganze auf Rebekkas Hochzeit, die Hochzeit ihrer Freundin, die vor einem Jahr ihren Traumprinzen, den Meeresbiologen Enno Reemtsma heiratete. Da er aus Leer stammte, hatte die Trauung auch in Leer stattgefunden, die Feier aber auf Borkum und zwar im Restaurant „Heimliche Liebe“, das sie aus ihrer Kur vom Vorjahr her kannten. Damals hatte Rebekka schon gesagt, als die drei „Lästerschwestern“ dort auf der Terrasse beim Kaffee gesessen hatten: „Wenn ich einmal heiraten sollte, dann findet die Feier hier in der „Heimlichen Liebe“ statt, und nicht heimlich, sondern öffentlich und für alle sichtbar.“ Und so hatten die zwei es dann auch gemacht. Es war eine herrliche Feier gewesen, zum Weinen schön.
Und dann war etwas Eigenartiges geschehen. Maria war auf die Terrasse gegangen, um in der Ecke „heimlich“ eine Zigarette zu rauchen, als sie plötzlich angesprochen wurde. Eine tiefe, sympathische Männerstimme hatte zu ihr gesagt: „Sie müssen hier nicht im Eckchen stehen, wenn Sie rauchen wollen. Sehen Sie, da drüben ist eine Bank, die Sie gerne benutzen dürfen. Das ist doch gemütlicher, oder?“ Sie hatte den Mann angesehen und in das Gesicht eines etwa Sechzigjährigen geblickt, in dessen gegerbter Haut zwei hellblaue Augen leuchteten. „Rauchen Sie auch?“ hatte sie ihn gefragt und sich schon auf den Weg zu der Gartenbank gemacht, so dass der Mann sie zur Beantwortung ihrer Frage zwangsläufig begleiten musste. „Nein, nein“, hatte er geantwortet, „schon lange nicht mehr. Früher einmal, mehr meiner Frau zuliebe, denn sie mochte beim Rauchen nicht gerne allein auf der Bank sitzen. Aber als sie vor fast zehn Jahren starb, habe ich das Rauchen wieder aufgegeben. Meine Frau hat sowieso immer gesagt, dass ich im Grunde nur ein Gelegenheitsraucher sei.“ Als wir bei der Bank angekommen waren, hatte er gesagt „Bitte“ und mir die Platzwahl überlassen. Damals habe ich schon gedacht, dass er ein Kavalier der alten Schule sei, und das ist er auch. Er hatte sich einfach neben mich gesetzt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und auf das Meer geblickt. Ich hatte ihn eine Zeitlang angeschaut und er war mir immer sympathischer geworden. Endlich hatte ich gefragt „Wohnen Sie hier?“
Er hatte kurz gelacht und dann gesagt „Ja, so kann man das auch nennen. Mir gehört der ganze Laden. Ich bin, wie man so schön sagt, der Seniorchef der `Heimlichen Liebe´.“ Und ohne weitere Aufforderung hatte er weitererzählt:
„Meine Frau und ich haben die Heimliche Liebe vor mehr als 30 Jahren gepachtet. Der Laden war ziemlich heruntergekommen. Aber unserer Meinung nach war es eine gute Lage. Man musste nur etwas daraus machen. Und dann haben wir die Ärmel hochgekrempelt und losgelegt. Ich habe Koch gelernt und meine Frau war praktisch in einem Haus wie diesem aufgewachsen, denn ihre Eltern hatten selbst ein Restaurant. Wir waren also beide vom Fach und haben deshalb auch den Kahn wieder ziemlich schnell flottgekriegt. Heute läuft das Restaurant und der Hotelbereich hervorragend, das Terrassencafe ist tagsüber gut besucht und in der Saison ist das Hotel fast immer ausgebucht…..“
Maria schreckte hoch und öffnete die Augen. Das Motorengeräusch der Fähre hatte sich verändert und sie aus ihren Tagträumen gerissen. Sie steuerten schon den Borkumer Hafen an. Marias Herz schlug ein bisschen schneller und es steigerte sich noch, als sie Christian - so hieß der Seniorchef der „Heimlichen Liebe“ nämlich - winkend auf dem Anleger ausmachte. Und, wie sie überraschend feststellte, holte er sie nicht mit dem Auto ab, sondern mit einer Pferdekutsche. Die Begrüßung war eher einseitig, denn Maria umarmte ihn und deutete rechts und links einen Kuss auf die Wange an, Christin dagegen legte lediglich einen Arm um sie. Ja, so sind sie nun mal, die Ostfriesen, dachte sie. Zurückhaltend, fast schüchtern – sagt man, aber wenn man erst einmal mit ihnen warm geworden ist, dann sind sie die besten Kumpel – sagt man. Daran werden wir wohl noch arbeiten müssen.
Normalerweise fährt man vom Fähranleger mit der historischen `Bimmelbahn´ zum Borkumer `Bahnhof´. Die Bahn mit ihrer Lokomotive und drei bis vier Waggons sieht eher aus wie eine vergrößerte Spielzeugeisenbahn. Und man braucht Geduld, wenn man mit ihr fährt, denn man lässt sich hier Zeit. Und das ist auch gut so. Damit beginnt nämlich schon die `Entschleunigung´, die man für einen richtigen Urlaub unbedingt braucht. Am Bahnhof werden die meisten Gäste von den Gastgebern oder Freunden abgeholt. So war es auch damals, als Maria zum ersten Mal auf Borkum war. Und in dem Kleinbus, der die Gäste für das `Dünenhaus II´ abholte, hatte sie Rebekka und Erika – die zwei `Leidensgenossinnen´ - kennengelernt, mit denen sie seitdem eng befreundet war. In der sechswöchigen Kur hatten sie sich dann auch den Namen `Lästerschwestern´ zugelegt und seitdem beibehalten.
Christian benutzte nur ein Stück weit den Plattenweg neben den Schienen der Kleinbahn. Dann bog er ab und fuhr einen Feldweg entlang, auf dem es durch die Dünen ging.
„Das ist doch schöner, als auf der Betonpiste“, sagte er, „da rasen nämlich die Taxis und die Autos der Feriengäste an uns vorbei. Meine Pferde mögen das ganz und gar nicht, und ich übrigens auch nicht“, sagte er lachend, „und außerdem siehst du jetzt auch gleich ein schönes Stück unserer Insel.“
„Ja“, antwortete Maria, „ es ist sehr schön hier. Diese Ecke der Insel kenne ich nämlich noch gar nicht.“
Die Pferde trabten gemütlich vor sich hin, der Wind strich ihr durchs Haar und vom fernen Strand hörte man schon das Rauschen der Wellen.
Das soll also nun mein neues `zu Hause´´ werden, dachte sie und war sich nach dem ersten Eindruck sicher, dass ihre Entscheidung richtig gewesen sei.
Sie blickte aus dem Augenwinkel auf den Mann an ihrer Seite, der sicher und mit ruhiger Hand die Pferde dirigierte. Und auch in der Hinsicht war sie der Meinung, die richtige Wahl getroffen zu haben.
„Sind das deine Pferde?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete er, „das ist das einzige Hobby, das ich mir leiste. Wir hatten zu Hause immer Pferde und ich habe sie als Junge schon geliebt. Und darum hab ich mir vor ein paar Jahren diese Pferde zugelegt, so quasi als Altersbeschäftigung. Es sind Friesen, eine sehr kräftige und trotzdem gemütliche Rasse. Und unsere Gäste sind begeistert, wenn ich sie mit einer Pferdekutsche von der Fähre abhole“, sagte er ein wenig stolz und ließ die Pferde in den Schritt fallen. „Aber das mache ich natürlich nur für besondere Gäste“, fuhr er fort und blickte Maria von der Seite an.
Maria hatte den `Wink mit dem Zaunpfahl´ verstanden. Sie nickte und sagte „Is scho recht.“
Der Weg wand sich durch die Dünenlandschaft, zwischen wilden Rosen und Sanddornbüschen hindurch, vorbei an Ferienhäusern und kleinen Pensionen mit gepflegten Vorgärten, bis sie schließlich die `Heimliche Liebe´ erreichten. Maria erinnerte sich noch genau an dieses imposante Gebäude nahe am Strand und sie sah auch gleich im Vorbeifahren die Bank, auf der sie und Christian sich damals kennengelernt hatten.
Vor dem Eingang der „Heimlichen Liebe“ war das Personal zur Begrüßung angetreten. Auch der Juniorchef und seine Frau waren dabei. Es war Maria fast ein bisschen peinlich. Schließlich war sie ja nur ein Gast und nicht die neue Seniorchefin. Trotzdem machte es sie ein bisschen stolz, als alle ihr die Hand gaben und sagten „Herzlich willkommen auf Borkum!“ oder „Wir hoffen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen werden.“ Für Christian war es wohl eher so etwas wie eine Selbstverständlichkeit. Am Ende sagte er kurz und trocken „So, und nun zurück an die Arbeit.“
Maria wohnte nicht in der „Heimlichen Liebe“. Sie hatte es nicht gewollt. Christian hatte auf ihre Bitte hin ein kleines Appartement in der Nähe für sie angemietet und gesagt „Es gibt bei uns im Plattdeutschen ein Sprichwort, das heißt `Visavi ist beter, as dicht dorbi.´ Wir können uns ja treffen, wann immer wir wollen oder wenn uns danach zumute ist.“ Und genau so hatte Maria es sich auch vorgestellt.
Nach der Begrüßungszeremonie brachte Christian sie in ihr neues „Zuhause“. Es war ein kleiner roter Klinkerbau, keine drei Minuten von der „Heimlichen Liebe“ entfernt. An der Haustür wurden sie von den Hausbesitzern, dem Ehepaar Behrends begrüßt. Sie waren Rentner und nachdem ihre Tochter geheiratet hatte und mit ihrem Mann auf das Festland gezogen war, stand die kleine Wohnung im oberen Stockwerk leer. „Herzlich willkommen“, hatten die Behrends gesagt, und „wir hoffen, dass Sie sich auf Borkum wohlfühlen werden.“
Maria stieg die Treppe hinauf, schloss die Tür auf, betrat ihre neue Wohnung und war sofort begeistert, denn es erinnerte sie alles ein wenig an ihr bisheriges Heim in Augsburg. Auch dort besaß sie eine Dachwohnung mit schrägen Wänden und Dachgauben zum Hinausschauen. Die Begeisterung war vollkommen, als sie auf den Balkon trat und das Meer erblickte. Sie umarmte Christian und sagte „Danke, das ist wirklich wunderschön.“
„Das Einzige, was mir fehlen würde“, sagte er und lachte, „ist, dass man von hier aus nicht die `Heimliche Liebe´ sehen kann.“
Dann lachten sie beide und Maria sagte „Ich weiß ja, wo du zu finden bist.“
Christian verabschiedete sich aber gleich wieder, weil er meinte, in der „Heimlichen Liebe“ gebraucht zu werden. Maria packte ein paar Sachen aus, entschied sich dann aber doch erst einmal auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Und als sie das Meer rauschen hörte, schloss sie die Augen und genoss es in vollen Zügen. Wie heißt es so schön in der Werbung? „Wohnen, wo andere Urlaub machen.“ Genau so fühlte sie sich jetzt. Und sie räkelte sich genussvoll in ihrem Liegestuhl.