Читать книгу P=NP - Erich Rast - Страница 7
***
ОглавлениеEine Woche lang verschwendete Veronica keinen Gedanken mehr auf den Beweisversuch, da klingelte am Dienstagmorgen der folgenden Woche ihr NSA-Telefon, derjenige der beiden Apparate auf ihrem Schreibtisch, der für Gespräche über das streng gesicherte hauseigene Telefonnetz gedacht war. Woanders konnte man mit dem Gerät auch nicht hintelefonieren; man benutzte die interne Verbindung, um kurz mal bei einem Kollegen in einer anderen Abteilung nachzufragen, ohne gleich eine Email schreiben zu müssen. Ihr Telefon klingelte ziemlich selten; außerdem war es stumm geschaltet, bloß ein roter Knopf blinkte, und sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie den Anruf nur durch Zufall bemerkte, weil sich das Blinklicht in ihrer Tasse reflektierte.
»Black, Forschungsabteilung«, antwortete sie routiniert. Ihre Namen waren prinzipiell öffentlich, doch sie waren angehalten, weder ihre genau Dienststelle noch ihren Rang oder ihre Tätigkeit auf Anhieb am Telefon zu verraten. Man fürchtete, ein Angreifer könne ins Netz eindringen und durch wiederholte Testanrufe, sogenanntes ›Wardialing‹, eine Karte aller Mitarbeiter und ihrer Aufgabenbereiche zu erstellen. Als ob es da nicht einfachere Methoden gäbe!
Colonel Lewis meldete sich, was ziemlich selten vorkam. Sein Büro lag nämlich nur ein paar Gänge weiter. »Frau Black, wir haben auf 1100 eine Dringlichkeitssitzung anberaumt und bräuchten sie dabei. Abteilung für spezielle Operationen, S412, einer von den kleinen sicheren Konferenzräumen neben dem NSOC. Die Polizisten wissen Bescheid und zeigen ihnen den Weg.«
»Oh... okay«, stotterte sie. Fast fünfzehn Jahre arbeitete sie im Puzzlepalast und hatte noch nie einen solchen Anruf bekommen. Sie sah auf die Uhr. Das Treffen fand schon bald statt. »Worum geht es denn?«
»Den ›P gleich NP‹ Beweis, an dem sie arbeiten. Wie ich höre, haben sie eine Akte angelegt. Bringen sie die bitte mit, Kopien sind nicht nötig.«
Der Kugelschreiber fiel ihr aus der Hand, sie hob ihn hastig auf und legte sich ein Blatt zurecht. »In einer Viertelstunde ... Entschuldigung, wie war noch gleich die Raumnummer?«
»Spezialeinsätze, S412, den Korridor rechts vorm NSOC. Die Wachleute sind informiert.«
Sie wiederholte die Angaben und wollte schon auflegen, da fügte Colonel noch hinzu: »Ach, übrigens. Das Treffen ist streng geheim mit strikter ›Need to know‹-Klassifikation. Das gilt auch für die Kollegen in ihrer Abteilung.«
»Alles klar«, bestätigte sie und der Colonel legte auf. Ein so kurzfristig anberaumtes Treffen mochte selten sein, aber das war nun wirklich ungewöhnlich. Natürlich erzählte man von besonderen Besprechungen nichts herum, aber eine explizite Einstufung war etwas anderes. Ihr Chef hatte ihr gerade strikt verboten, das Treffen ihren Kollegen gegenüber zu erwähnen, und wer eine solche Dienstanweisung missachtete, bekam ernsthafte Probleme, ja sogar Gefängnisstrafen waren möglich. Das war wirklich ungewöhnlich, denn die Kolleggen in ihrer Abteilung besaßen ausnahmslos schon die höchste Sicherheitseinstufung. Die zusätzliche Geheimhaltung konnte nur eins bedeuten: Jemand war aus irgendeinem Grund zu dem Schluss gekommen, dass an dem Beweis doch was dran war, und nun sollte sie einem hastig anberaumten Komitee erklären, ob das möglich war und welche Folgen es hätte. Na toll! Aber warum sie, und nicht Chris Harris? Wahrscheinlich wurde ihr diese Ehre zuteil, weil sie die NSA-interne Arbeitsgruppe zur Komplexitätstheorie geleitet hatte, mit der sie fast vier Jahre ihres Lebens vergeudet hatte, ohne zu irgendeinem nennenswerten Ergebnis zu kommen. Da hatte sie nun den Schlamassel, das war die Revanche für ihre Neugier und den Eifer, den sie als frischgebackene Mathematikerin an den Tag gelegt hatte, nachdem Chris ihr das Problem mit dem Hinweis vorgelegt hatte, vielleicht helfen ja ein paar frische Ideen, dem Thema neues Leben einzuhauchen. Er hatte sie jedoch auch ausdrücklich gewarnt, nicht zu viel Zeit auf das Thema zu verschwenden, falls ihr an einer Karriere in der Agentur gelegen sei. Damals hatte sie nicht kapiert, dass der damalige Abteilungsleiter, der Vorgänger von Colonel Lewis, ihr nur deshalb die Arbeitsgruppe zugeteilt hatte, weil er sie nicht hatte leiden können. Um so erstaunter war dieser dann gewesen, als sie und ihre Kollegen sogar ein paar Fortschritte gemacht hatten, wenn sie auch dem eigentlichen Beweis, dass P ungleich NP war, kaum nähergekommen waren. Jetzt holte sie diese Vergangenheit wieder ein.
Eilig studierte sie die spärliche Akte mit den Emails und handschriftlichen Notizen von ihr selbst, die sie vor einer Woche auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte, legte sich ein paar Standardantworten zurecht, skizzierte vier Stichworte, falls man sie um ihre Expertise in der Art eines Kurzvortrags bat, und stellte fest, dass sie schon zu spät dran war. Sie verfrachtete alles in den Umschlag und hastete aus ihrem Büro, vor dem sie beinahe mit Chris Harris zusammengestoßen wäre, der es ebenfalls eilig zu haben schien.
»S412?«, erkundigte er sich, wie üblich leicht ironisch und ohne sich um die extrastrikte Geheimhaltungsstufe zu kümmern.
Sie lachte. »Wenn ich dir das verraten würde, müsste ich dich umbringen.«
Sie war froh, ihn dabeizuhaben, und hatte sich schon gewundert, warum er als stellvertretender Abteilungsleiter und am besten informierter ziviler Angestellter übergangen worden war. Natürlich war er auch dabei, man hatte sie nur eben miteingeladen, weil sie das Thema ebenfalls gut kannte. Mit etwas Glück übernahm er das Reden und sie durfte als seine Assistentin danebensitzen und an geeigneter Stelle Nicken. Diese Rolle gefiel ihr bei offiziellen Treffen am besten, besonders wenn Laien oder Politiker kamen, was sie glücklicherweise selbst noch nicht erlebt hatte. Journalisten mit Spezialgenehmigung, den Präsidenten, seine Berater oder die Senatoren aus dem Sicherheitsrat führte man ins NSOC, dem nationalen Sicherheitseinsatzzentrum, in dem ausgesuchte Offiziere und Zivilisten so taten, als arbeiteten sie hochbeschäftigt an aktuellen Lageberichten, während die Techniker entweder falsche Tabellen einspielten oder die Bildschirme bloß das NSA-Logo zeigten, bis die Gäste wieder weg waren.
Als sie in den kleinen Konferenzraum traten, der besonders abhörsicher eingerichtet war, erwies sich ihre Vermutung als richtig. Nein, der Präsident lümmelte nicht auf einem der Sessel, die sich um einen schlichten, lang gezogenen Bürotisch in der Mitte des Raums reihten, sondern der ihnen bestens vertraute Colonel Lewis, der sich mit einem anderen höherrangigen Offizier aus dem Puzzlepalast unterhielt, den Veronica schon einmal gesehen hatte, wobei sie ihn keiner bestimmten Abteilung zuordnen konnte. Die üblichen Umschläge mit Akten lagen vor ihnen auf dem Tisch. Außer ihnen waren noch zwei Gäste da, wie man unzweifelhaft an ihren Ausweiskarten erkannte. Sie waren weiß-orange gestreift und trugen das Kürzel ›PV‹, das für ›privilegierter Besucher‹ stand. Sie waren also keine gewöhnlichen Gäste, die auch normalerweise nicht ohne Wacheskorte in den Sicherheitsbereich um das NSOC gekommen wären, sondern für das Treffen von höchster Ebene freigegeben.
Lewis grüßte Veronica, bat sie und Chris, Platz zu nehmen, und wandte sich wieder den Unterlagen zu, die er mit seinem Kollegen studierte. Sie setzte sich neben Chris an der langen Seite des Tischs und musterte die beiden Außenstehenden, die sie ebenfalls auszuloten schienen, oder jedenfalls an ihr mehr Interesse als an ihren Mitarbeitern zeigten.
Sie trugen die üblichen schwarzen Anzüge mit roten, dezent gemusterten Krawatten, wie sie die Vertreter fast jeder Behörde für ein offizielles Treffen wählten. Veronica war sich sicher, dass die beiden von der CIA kamen, und Chris bestätigte ihr mit einem kaum merklichen Augenrollen, dass er denselben Verdacht hegte. Der eine war braun gebrannt, kräftig, hochgewachsen und sportlich. Trotz seines weltmännischen Erscheinungsbildes hatte er etwas Provinzielles an sich, erinnerte an den Quarterback im Footballteam der örtlichen Highschool, der nie ganz erwachsen geworden war und noch immer der Schwarm aller hübschen, weißen Mädels vom Land war. Der andere schien seinen Kollegen sogar zu überragen, war jedoch etwas schmächtiger und weniger massiv gebaut, Mitte oder Ende dreißig und machte insgesamt einen etwas weltmännischeren Eindruck. Sein Gesicht war schmaler, die Nase vielleicht ein Quäntchen zu lang, und ein paar Sommersprossen und rotblonde Haare deuteten auf irische Vorfahren hin. ›Der eine aus dem Süden, der andere aus dem Norden‹, dachte sie sich und schalt sich dann selbst über ihre Vorurteile. Beide sahen eigentlich ganz vernünftig aus, und schienen auch ernsthaft bei der Sache zu sein. Nur der ältere hatte Akten vor sich liegen, der jüngere sah sich gelangweilt um, Veronica spürte seine abschätzenden Blicke auf ihr, als sie ihre Notizen aus dem Umschlag zog. Er lächelte leicht ironisch und blinzelte ihr mit einem Auge zu. Schnell sah sie weg.
Sie dachte, dass sie noch auf jemanden warteten, als Colonel Lewis sich plötzlich räusperte, die Anwesenden durch seine Nickelbrille nacheinander musterte, als sei er überrascht, sie in diesem Raum anzutreffen, und die Sitzung eröffnete: »Meine Damen und Herren, wir haben da eine Situation, die mit einer Anfrage unserer Kunden zusammenhängt und aufgrund externer Ereignisse dringenden Handlungsbedarf hat. Es geht, wie sie sicher schon erraten haben, um den Beweis, dass P=NP ist.«
Chris Harris starrte seinen Chef an, als habe er ihm erklärt, vor dem Weißen Haus sei eben ein UFO gelandet, aus dem Elvis Presley gestiegen sei. Lewis war kein Mathematiker, aber er war ausgebildeter Kryptanalytiker, wenn auch kein praktizierender. Er war durch die Kryptologieschulen des Geheimdienstes der Navy und der NSA gegangen und wusste sehr wohl, was er angedeutet hatte. Normalerweise pflegte man sich in ihrer Zunft vorsichtiger auszudrücken, schließlich bestand ein Großteil ihrer Arbeit darin, Vermutungen und Fakten voneinander zu unterscheiden, statt sie miteinander zu vermischen.
»Vielmehr gibt es Hinweise darauf, dass der Ansatz von diesem Alexei Lehmann stimmiger als andere sein könnte und wir der Sache nachgehen sollten«, ergänzte Colonel Lewis, um den ›Aufhänger‹ für das Treffen wieder zu relativieren. Er wies auf Veronica, der die neugierigen Blicke der Besucher unangenehm waren. »Doktor Black hat ja diesbezüglich auch schon ihr Interesse bekundet.«
Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, sagte dann aber doch nichts. Bevor sie wusste, um was es eigentlich ging, war es wohl besser, sich aufs Zuhören zu beschränken. Sie hoffte außerdem, dass Chris für sie einsprang.
Lewis stellte seine Tischnachbarn vor. »Das ist Colonel Wilbur Jones von der Abteilung für spezielle Zieloperationen und diese beiden Herren kommen von der CIA, Chief Special Agent Simmons und Special Agent Price. Sie sind gewissermaßen unsere ›Kunden‹ und haben in dieser Angelegenheit weitere Informationen aus ihren eigenen Quellen, die auch den Grund für diese Dringlichkeitssitzung liefern.«
Die beiden nickten ihnen geschäftsmännisch zu, und Lewis stellte Chris Harris förmlich als Leiter der Abteilung R12 vor. Dann holte er aus einem separaten Umschlag sechs frisch ausgedruckte Dokumente und ließ sie auf routinierte Weise den Anwesenden über den Tisch zugleiten. Sie trugen das Siegel der NSA und waren mit dem Kürzel ›TS‹ für ›streng geheim‹ sowie mit dem Codewort ›MURMELTIER‹ versehen. Das war die höchste Geheimhaltungsstufe, bei der die Informationen streng voneinander getrennt wurden. Eine Sicherheitszulassung allein bedeutete nicht, dass sie die Dokumente einsehen durften – dazu musste noch kommen, dass sie für den Vorgang MURMELTIER zugelassen waren, was nun offensichtlich der Fall war. Unüblicherweise stand darunter ein als weiterer Name ›Operation ALPINER SONNENUNTERGANG‹, ein Spitzname, der von der CIA stammen musste, bei der Bezeichnungen aus zwei Wörtern üblich waren. Veronica überflog das Dokument, das aus zwölf Seiten und einigen angehängten Bildern und Exzerpten bestand.
»Am besten, ich überlasse Special Agent Simmons das Wort, der die Aktion bei seiner Behörde leitet.«
Veronica fiel auf, dass weder Simmons noch sein Kollege Price der Akte besonderes Interesse schenkten. Sie kannten ihren Inhalt schon.
»Danke, Colonel. Nun, ich will mich kurzfassen, weil die Zeit drängt. Wir haben Grund zu der Annahme, dass ein gegnerischer Geheimdienst zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Beweis von diesem Alexei Lehmann echt ist.«
»Was meinen sie mit ›echt‹?«, warf Veronica dazwischen und biss sich auf die Lippe. Sowohl Lewis als auch sein Kollege von den speziellen Zieloperationen wirkten über den Einwurf wenig erfreut.
Simmons hingegen lächelte ihr freundlich zu, wohingegen seinen rotblonden Kollegen die berechtigte Nachfrage eher zu amüsieren schien. »Sie haben recht, Frau Doktor Black, ich habe mich flapsig ausgedrückt. Wie sie wissen, haben auch wir eine Abteilung für Kryptologie, und unsere Analytiker sind der Meinung, dass der Beweis, wie sagt man, schlüssig sein könnte. Wichtiger noch, unsere Gegner scheinen diese Meinung zu teilen. Aber das ist nicht alles. Alexei Lehmann ist vor zwei Tagen plötzlich von unserem Radar verschwunden, was an sich schon Grund zur Beunruhigung ist, und heute Morgen haben wir mithilfe ihrer Behörde erfahren, dass bei einem guten Freund von Lehmann, einem weiteren deutschen Staatsbürger namens ›Moritz Blau‹, eingebrochen worden ist. Wir sind uns ziemlich sicher, dass die Einbrecher Profis von der GRU gewesen sind. Sie haben seine Wohnung in München auf den Kopf gestellt und seine Computer eingepackt.«
»Woher wissen sie das?«, erkundigte sich Colonel Lewis.
»Die Vorgehensweise spricht dafür, und außerdem haben wir Quellen, die uns auf entsprechende Aktivitäten im Raum München sehr eindeutig hingewiesen haben. Das ist ungewöhnlich, in Berlin spielt sich heutzutage viel mehr ab, wenn man mal von gezielten Angriffen auf die deutscheuropäische Rüstungsindustrie absieht. Die übrigen Informationen stammen von ihnen selbst.«
»Richtig«, ergriff Colonel Jones das Wort. »TAO hat Zugriff auf das deutsche POLIS-System, so viel darf ich ihnen verraten, das wissen sie ja sowieso schon alle. Die örtliche Kriminalpolizei hat eine Liste der verschwundenen Gegenstände eingegeben. Sie vermuten Versicherungsbetrug, weil das Schloss nicht aufgebrochen war. Wir sind uns außerdem ziemlich sicher, dass die deutsche Spionageabwehr, das Bundesamt für Verfassungsschutz, sich der möglichen Bedeutung von Lehmanns Arbeit bewusst ist und möglicherweise ebenfalls in Richtung dieses ...« Er las den Namen mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck vom Papier. »... ›Moritz Blau‹ ermittelt. Natürlich arbeiten sie nicht mit der Polizei zusammen.«
Wie auch Chris Harris studierte Veronica angesichts dieser neuen Informationen die Akten, die viel umfangreicher als ihre eigenen Recherchen waren. Sie enthielt Bilder und angehängte Lebensläufe von den Zielpersonen, die beide sehr ausführlich und offenbar schon von einem Analytiker gekürzt worden waren. Die Genauigkeit der Angaben deutete darauf hin, dass TAO sich Zugriff auf die Personalakten ihrer Arbeitgeber, auf persönlichen Telefonate und ihre Computer verschafft hatte. Sie standen also nicht erst seit gestern unter Überwachung. Die Anhänge enthielten ebenfalls verkürzt wiedergegebene Listen von Suchbegriffen und Webseiten, die Lehmann und Blau in den letzten Wochen aufgerufen hatten, sowie einige zusätzliche Chatlogs von Lehmann, die sie bei ihrer ersten Anfrage nicht gesehen hatte.
Simmons erging sich unterdessen in weiteren Details, warum mit hoher Sicherheit die Russen von Lehmanns privater Forschungsarbeit mitbekommen hatten, und beklagte sich darüber, wie wenig Mitarbeiter ihm zur Verfügung standen und wie ungewöhnlich München selbst als Einsatzort seit dem Kalten Krieg geworden war. Früher, legte er dar, habe die bayerische Regierung so viele dubiose Geschäfte mit Ländern im Ostblock und vor allem der damaligen Deutschen Demokratischen Republik betrieben, dass die CIA-Station München eine der größten von Westeuropa gewesen war. Heute konnten sie sich dort nicht einmal mehr eine feste Station leisten. Nach dieser kurzen Abschweifung kam er aufs Thema zurück. »Nun, das ist lange her. Der Grund für dieses Treffen ist ganz einfach. Erst mal bräuchten wir von ihnen eine Einschätzung, wie brisant die Lage ist, und dann müssen wir das weitere Vorgehen besprechen.«
Lewis nickte, er hatte in der Akte mitgelesen, offenbar vorher keine Zeit gehabt, ihren Inhalt zu studieren, was bei solchen Treffen eher selten war. Schließlich brachte es nichts, sich zu treffen, wenn man die Datenlage nicht kannte. In diesem Fall schien alles schrecklich eilig und improvisiert zu sein.
»Chris?«
Dieser sah überrascht von den Papieren auf, rückte sich die Brille zurecht, und Veronica konnte ihm ansehen, wie unangenehm ihm die Angelegenheit war. »Wie brisant? Also, wie sie alle wissen, sind wir offiziell der Meinung, dass P=NP nicht beweisbar ist, weil das Gegenteil der Fall ist. Aber natürlich können auch missglückte Beweisversuche für uns durchaus interessante Ansätze bringen. Wenn P ungleich NP ist, wie wir genau wie die meisten zivilen Kollegen annehmen, dann bedeutet das nicht, dass wir bei den für uns wichtigen Verfahren wie beispielsweise der Faktorisierung großer Primzahlen keine Fortschritte machen können. Bei P versus NP und ähnlichen Fragen geht es um theoretische Komplexitätsklassen, in der Praxis helfen uns aber oft auch kleine Verbesserungen bestehender Algorithmen eine Menge weiter.«
Er hatte diese Rede schon oft gehalten, und Veronica lächelte zufrieden in sich hinein. Nicht nur hätte sie das besser nicht ausdrücken können, sie freute sich vor allem, dass Lewis sich an ihn statt an sie gewandt hatte.
Agent Simmons von der CIA schien die Antwort jedoch nicht zufriedenzustellen. Er schürzte die Lippen. »Sicher, Herr Harris, so viel wissen wir über das Problem auch. Ist ein verdammt schwieriges Problem, nicht wahr? Aber das war nicht meine Frage. Die lautet: Wenn nun dieser Typ, dieser Lehmann, der übrigens ursprünglich aus Russland stammt, tatsächlich einen Beweis gefunden hat. Wie schlimm wäre das für uns?«
Sein Kollege Price hakte nach, bevor Chris antworten konnte. »Da wären doch alle Bankencodes geknackt, die ganze Internetverschlüsselung, alles, was mit öffentlichem und privatem Schlüssel funktioniert, oder?«
Chris Harris seufzte, was man durchaus als abfällig werten konnte. Er hatte sich noch nie besonders darum gekümmert, wie er bei anderen ankam, das mochte Veronica an ihm, mal ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er ein brillanter Mathematiker war, dem an der Universität eine glänzende Karriere sicher gewesen wäre.
»Nicht notwendigerweise. Donald Knuth beispielsweise, den kennen sie doch sicher –« Er hielt inne, und als er aus den Gesichtern der CIA-Agenten nichts als Unkenntnis las, beschloss er, die eigene Bemerkung zu ignorieren. »Falls P=NP ist, was fast niemand glaubt, dann wäre es gut möglich, dass die Erkenntnis erst einmal keine praktische Konsequenzen hätte. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass wir die meisten Bankencodes sowieso schon knacken können.«
»Codes zu knacken ist unser Job«, pflichtete ihm Colonel Jones bei.
»... und wir sind verdammt gut drin«, ergänzte Colonel Lewis den üblichen Werbespruch der NSA, den die Besucher im NSOC oft zu hören bekamen, und die beiden übertrieben nicht. Selbst professionellen zivilen Kryptologen war nicht bewusst, mit welchem Aufwand und welcher Expertise der Puzzlepalast Chiffren und vor allem ihre Implementierungen angriff. Sie speisten jedes neue Verschlüsselungsverfahren in ein System ein, das aufwendige Analysen auf gigantischen Großrechnern durchführte, Experten übersetzten existierende Programme aus dem Maschinencode in den Algorithmus zurück, den sie ausführten, und analysierten jede Befehlszeile auf Schwachstellen und Fehler. Jede nur erdenkliche Angriffsmethode wurde ausgenutzt. Meistens war dabei das Chiffre selbst ziemlich unwichtig, nicht das Chiffre allein, sondern das System als Ganzes zählte, man identifizierte das schwächste Glied in der Kette, oft waren das die Maschinen, auf denen die Daten verschlüsselt wurden, und griff an. Nicht umsonst hieß das inoffizielle Motto der Abteilung TAO für den zugeschnittenen Zugang zu Systemen ›You name it, we game it‹ – ›Du sagst uns was, und wir tricksen’s aus‹.
Simmons ließ sich von dem rundlichen Mathematiker nicht beirren. Überhaupt schien er ihm nicht viel Respekt entgegenzubringen, was vermutlich daran lag, dass er selbst keine Ahnung von Mathematik hatte. »Aber wenn dieser Lehmann P=NP bewiesen hätte, und die Russen den Beweis in die Hände bekämen und wir nicht, dann wäre das verdammt schlecht, oder, Herr Harris? Dem stimmen wir doch alle zu, nehme ich an?«
Die Kryptologieabteilung der CIA war nach Meinung von Veronica und ihrer Kollegen gerade mal gut, ein Caesar-Chiffre zu entschlüsseln, und es gehörte zur allgemeinen Einstellung im Puzzlepalast, sich über entsprechende Versuche anderer Behörden lustig zu machen, wobei an oberster Stelle natürlich immer das FBI stand und erst dann die übrigen Geheimdienste wie die CIA oder die DIA, die ja zur regelmäßigen Kundschaft zählten.
Chris Harris fühlte sich nicht angegriffen, er war, wie Veronica glaubte, unfähig, sachliche Aussagen auf irgendeine persönliche Weise zu deuten, und war auch gegen Ironie und Sarkasmus weitgehend immun. »Selbstverständlich. Falls an dem Beweisversuch was dran ist, sollten wir ihn unbedingt studieren.«
»Und ihre Kollegin Frau Black hat festgestellt, das an dem Papier was dran sein könnte, richtig?«
Chris wandte sich an sie, und sie fluchte innerlich. Sie fühlte sich, als habe ihr Chef gerade für irgendeinen Lausbubenstreich eine Ausrede erfunden und den Ball an sie weitergespielt, dabei hatte er doch vollkommen recht. Sie räusperte sich und erklärte den beiden Gästen, was sie eigentlich schon hätten wissen sollen, dass sie zu wenig Informationen bekommen hatte, dass Alexei Lehmann nicht an diesem Thema an der Uni arbeitete, sondern für eine unbedeutende Stelle in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, dass er jedoch zumindest den theoretischen Hintergrund besaß, um ernsthaft an dem Thema zu forschen, dass es aber alles in allem äußerst unwahrscheinlich war, dass ausgerechnet er, noch dazu fast auf sich gestellt, in seiner Freizeit an einem Beweis besondere Fortschritte gemacht hätte, dass die wenigen Angaben, die sie bekommen hatte, dies allerdings nicht mit hundertprozentiger Bestimmtheit ausschlossen.
Als sie fertig war, lehnte sich Agent Simmons zufrieden zurück, faltete die Hände über seinen Akten und ließ die Katze aus dem Sack: »Richtig, es besteht zumindest die Möglichkeit, dass wir einen echten Beweis vor uns haben, und den dürfen wir auf keinen Fall in die Hände der Russen oder irgendeines anderen Dienstes geraten lassen, mit dem wir nicht eng befreundet sind. Diese Meinung teilt auch der Direktor unserer Firma, sowie der Vizedirektor ihrer Behörde – höhere Stellen sind nicht eingeweiht worden, weil das Sicherheitsrisiko zu hoch wäre.«
Damit spielte er auf ein mächtiges Problem der amerikanischen Geheimdienste an, das schon immer bestanden hatte, in den letzten Jahren jedoch an Bedeutung drastisch zugenommen hatte. Was nutzte die ganze Geheimniskrämerei, wenn der oberste Chef, der an der Spitze saß und die Informationen eigentlich bekommen sollte, um bessere Entscheidungen zu treffen, selbst nicht einmal einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden war? Der Präsident und einige seiner Berater galten als die größten nationalen Sicherheitsrisiken, und er hatte doch rein theoretisch vollständigen Zugang zu ausnahmslos allen Staatsgeheimnissen. Praktisch gesehen verschwiegen die Chefs der Geheimdienste ihm und seinem bunt zusammengewürfelten Stab ein paar Kleinigkeiten, denn sonst hätten sie die Startcodes für das Atomwaffenarsenal der Vereinigten Staaten auch gleich per Twitter veröffentlichen können.
»Wir haben daher beschlossen, sofort eine Aktion in die Wege zu leiten, um diesen Beweis in unsere Hände zu bringen – idealerweise, ohne den Russen eine Kopie zu überlassen, aber im Notfall wollen wir zumindest bekommen, was sie sich geschnappt haben. Das ist das Ziel von ALPINER SONNENUNTERGANG. Außerdem haben wir uns mit ihnen verlinkt, genauer gesagt mit dem Direktor spezielle Zieloperationen Colonel Jones, und beschlossen, die Aktion als gemeinsamen Einsatz beider Geheimdienste unter Leitung der CIA durchzuführen. Aus Sicherheitsgründen ist entschieden worden, keine Legalen einzusetzen, also keine Leute von uns, die im Konsulat in München oder in der amerikanischen Botschaft in Berlin stationiert sind. Außerdem halten wir die Operation so klein wie möglich, nur die Abteilung spezielle Operationen und ein winziger Teil des Direktorats für Westeuropa in unserer Behörde sind eingeweiht. Wir möchten auf keinen Fall noch weitere Dienste auf diese Fährte locken. Ein besonderes Einsatzteam ist bereits in München vor Ort, die zweite Hälfte fliegt heute Abend von Washington D.C. los. Außerdem schlagen wir vor, dass Dr. Black als Sachverständige mitkommt, um falls nötig zu prüfen, ob wir ein authentisches Dokument vor uns haben oder ob man uns einen Fakebeweis zugespielt hat.«
Die beiden CIA Agenten beobachteten erwartungsfroh ihre Reaktion, die in etwa genau wie die von Chris Harris ausfiel und darin bestand, ihre Gesprächspartner entgeistert anzustarren.
»Nur freiwillig, versteht sich, absolut freiwillig«, unterbrach Colonel Lewis das peinliche Schweigen, während Veronica um Worte rang. Sie hatte einen Augenblick lang geglaubt, sich verhört zu haben.
Chris rückte sich die Brille zurecht, er wirkte sogar noch verblüffter, als das erste Mal, als sie ihn mit ihren Fähigkeiten beeindruckt hatte, bevor er sie besser kennengelernt hatte. Mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen murmelte er, eher zu sich selbst als zu den übrigen Anwesenden: »Die NSA hat keine Agenten. Wir schicken keine Agenten in die Welt, wir machen SIGINT.[Fußnote 1] Wir sind eine reine Serviceagentur ...«
»Richtig, richtig«, beschwichtigte ihn Colonel Jones. »Der Vorschlag ist in der Tat sehr ungewöhnlich, aber er macht in diesem Fall Sinn. Überlegen sie sich’s: Es könnte sein, in der Tat nehmen das die Analytiker von der CIA an, dass Lehmann den Beweis verkaufen will und mit diesem Blau zusammenarbeitet. Möglicherweise haben ihn die Russen kontaktiert, und da ist ihm vielleicht die Idee gekommen, aus seinem Talent Kapital zu schlagen. Er ist untergetaucht, sein Freund leitet die Verhandlungen. Das ist ein mögliches Szenario, eines von vielen. Falls es also zu einem Handel käme, müssten wir – die NSA – das Dokument prüfen, unter Umständen vor Ort.«
»Das ist Wahnsinn ...«, murmelte Harris.
Veronica hingegen fand den Vorschlag gar nicht so schlimm. Ein bisschen ungewöhnlich, aber die Erklärung leuchtete ihr ein. Nur gab es dabei einen Haken. »Also, ich fürchte, das kann nicht funktionieren«, meldete sie sich zu Wort. »Niemand kann einen solchen Beweis einfach so kurz prüfen. Es würde Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, um festzustellen, ob er durchgeht oder nicht.«
»Das ist uns klar«, erwiderte Simmons, der diesen Einwand wohl erwartet hatte. Offenbar hatte man die Sache längst beschlossen. »Es geht darum, aus der kurzen Zeit, die man uns das Dokument bei einem Geschäft möglicherweise sehen ließe, möglichst viel Nutzen zu ziehen. Vielleicht reicht ja schon ein Blick, um festzustellen, dass der Beweis Schrott ist. Natürlich packen wir auch Mikrokameras und all den Krempel ein, aber wie sie wissen übertrifft doch nichts die persönliche Expertise, und über die verfügen sie ja zur Genüge, Frau Dr. Black. Sie haben an dem Thema gearbeitet, nicht wahr?«
»... und sie spricht Deutsch«, fügte Duncan Price hinzu. Man hatte ihnen offenbar ihre Personalakte gegeben, die sie nicht einmal selbst lesen durfte. Die Hintergrundprüfungen waren exzessiv, und sie fragte sich, was alles die beiden über sie wussten. Wahrscheinlich hatten sie nicht alles gesehen, denn sonst nähmen sie nicht an, dass der Deutschkurs, den sie freiwillig in ihrer Freizeit besucht hatte, sie in die Lage versetzte, Deutsch zu sprechen. Fortbildung wurde in der NSA immens gefördert, es gab alle möglichen Angebote, die alle kostenlos waren und bequem nach Arbeitsschluss stattfanden, und sie hatte sich im Lauf der Jahre für den einen oder anderen Kurs eingetragen – aus Spaß, sie war ja keine Linguistin oder Analytikerin.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf, während Chris vor sich hingrinste und für sie deutlich sichtbar das Wort ›nuts‹ – durchgeknallt – auf seine Kopie schrieb. »Deshalb wollt ihr mich dabeihaben? Weil ich mal ein bisschen Deutsch gelernt habe und das Thema kenne? Hat die CIA keine Experten, die für die höchste Geheimhaltungsstufe zugelassen sind?«
»Keine, die so gut wie sie sind«, wandte Simmons ein. »Außerdem waren sie bei der Navy, was wir als zusätzlichen Pluspunkt ansehen. Und es gibt ... noch andere Gründe.«
Sein Kollege Price grinste breit, als habe sich sein Chef einen Scherz erlaubt, und Veronica fand, dass dieses Treffen allmählich surreale Züge annahm. Jedenfalls war der Vorschlag ein Novum, zumindest, soweit sie wusste. Die NSA verstand sich in der Tat als reine Serviceagentur, die prinzipiell keine Feldarbeit betrieb, und natürlich war sie dafür auch nicht ausgebildet.
»Und die wären?«, erkundigte sie sich genervt.
»Nun, der erste Kontakt wäre mit diesem Moritz Blau, der selbst Informatiker ist, und wir haben Grund zu der Annahme, dass er ihnen gegenüber positiv eingestellt ist. Sehen sie, das ist sehr wichtig, besonders für die erste Kontaktaufnahme. Wir stehen unter Zeitdruck und brauchen jemanden, der das Vertrauen von diesem Deutschen gewinnen kann. Jemanden, der gleichzeitig kompetent genug ist, den Beweisversuch zu bewerten und mit einem frischgebackenen Informatiker klarzukommen. Unsere eigenen Leute sind in dieser Hinsicht weniger als sie geeignet.«
Dieser Plan kam ihr selbst für die CIA erstaunlich ad hoc und unausgegoren vor. »Wieso soll er ausgerechnet mir vertrauen? Um ehrlich zu sein, mein Deutsch ist miserabel, und überhaupt, meinen sie nicht, dass ich in Deutschland ein wenig aus dem Rahmen fallen könnte?«
»Anhang C.2«, warf Duncan Price dazwischen. »Schauen sie sich mal seine Suchbegriffe an. Wir glauben, er wird sie schnell ins Herz fassen.«
Er grinste auf eine irritierende Art, wie ein Schuljunge, der sich einen Streich erlaubt hatte. Die Papiere raschelten, als alle gleichzeitig zu der Stelle am Ende blätterten. Veronica fand sie, eine sehr klein gedruckte Liste der Suchbegriffe von Moritz Blau auf Google, die ein Analytiker teilweise verkürzt und wo nötig auch übersetzt hatte. Sie hatte ein solches Dokument noch nie gesehen, in der Forschungsabteilung hatten sie mit dieser Art von direkten Daten nichts am Hut. Es war ihr unangenehm, Zeile für Zeile von privaten Suchanfragen durchzugehen, obwohl die meisten von ihnen ziemlich harmlos wirkten. Was meinten die beiden? Die Einbauanleitung für ein Ikea-Sofa? Befehlsreferenzen aus einer Programmierumgebung? Fragen zum Mietrecht? Offenbar war er vor kurzem umgezogen, wozu die Analytiker sicher mehr angehängt hätten, wenn sie den Vorgang als besonders relevant eingestuft hätten. Dann fiel ihr eine Reihe von Anfragen bei der Bildsuche von Google auf und ihre Mine verfinsterte sich. Die meisten waren auf Englisch geschrieben, was dieser Blau anscheinend ziemlich gut beherrschte, und gleich unter ›scharfe MILFs‹, was ihr nichts sagte, und einigen Eingaben zu ›sexy Arsch Titten‹, und ›Playboy Playmate‹ sowie ›Cumshots‹ fanden sich die Einträge ›schwarze Schönheit‹, ›schwarze Frauen sexy Arsch Titten‹, ›geile schwarze Schlampen‹, und ›schwarze Arsch Ebony MILF‹.
Das war es also. Sie hatte vier Jahre bei der Navy geschuftet, davon zwei als Spezialistin im Nachrichtenkorps, danach mit dem speziellen Stipendium für ehemalige Militärangehörige jahrelang tag und nacht Mathematik gebüffelt, war der NSA beigetreten, weil sie sich als Patriotin verstand und die Arbeitsbedingungen sie angesprochen hatten, und hatte sich dreizehn Jahre lang im Puzzlepalast hochgearbeitet, mit sexistischen Kollegen gekämpft, und zusammen mit anderen Mitarbeitern bahnbrechende Methoden aus der Komplexitätstheorie und algebraischen Topologie weiterentwickelt, und das war nun also der eigentliche Grund, weshalb man ihre Expertise haben wollte: ›schwarze Arsch Ebony MILF‹ Was auch sonst?
»Das kann ja wohl nicht ihr Ernst sein ...«
Simmons schien die Sache peinlich zu sein, wahrscheinlich hatte er sich den Anhang davor gar nicht durchgelesen. Price hingegen hatte offensichtlich seinen Spaß und grinste süffisant vor sich hin, wenn auch eifrig darauf bedacht, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Nun gut, als Navy-Veteranin hielt sie nicht viel von politischer Korrektheit, und wenn sie ehrlich sein sollte, gefiel ihm seine Reaktion besser als die seines Chefs, der auf verklemmte Weise in die Akten starrte und so tat, als habe er die Stelle immer noch nicht gefunden.
Colonel Lewis sprang für ihn ein, er war ja offiziell ihr Vorgesetzter und fühlte sich daher wohl in die Pflicht gerufen: »Frau Black, ich weiß, wie sie denken. Wir sind nun mal ein Geheimdienst, und das ist mitunter ein schmutziges Business, aber ich möchte betont darauf hinweisen, dass es hier in keinster Weise darum geht, diese ... äh ... Interessen dieses Deutschen auszunutzen. Er hat übrigens, wie sie den Akten entnehmen können, eine feste Freundin, und ich bitte natürlich diese Ausdrücke, die er verwendet, zu entschuldigen. Die Einschätzung der Analytiker ist nur eben, dass sich aus den sexuellen Präferenzen der Zielperson schließen lässt, dass er zumindest kein Rassist oder Nazi ist und –«
Sie unterbrach ihn, um ihm weitere peinliche Erklärungen zu ersparen. »Schon verstanden, das ist kein Problem. Schließlich hat er ja auch nicht gewusst, dass wir alle seine Suchanfragen aufnehmen, oder?«
Colonel Jones kam seinem Kollegen zur Hilfe. »Falls sie das beruhigt, kann ich ihnen versichern, dass Blaus Vorlieben vollkommen im normalen Rahmen und vergleichsweise harmlos sind. Ich will ihnen gar nicht verraten, was wir mitunter sonst so zu sehen bekommen, wenn wir eine Zielperson unter die Lupe nehmen ...«
»Schlimme, schlimme Jungs gibt’s da draußen«, pflichtete ihm Duncan Price mit einem ironischen Grinsen auf dem Gesicht bei, und Veronica war sich sicher, dass er bestens Bescheid wusste, wofür das Kürzel ›MILF‹ stand.
Colonel Lewis räusperte sich verlegen. Für einen Militär war er erstaunlich verhalten, er pflegte mit leiser und etwas monotoner Stimme zu sprechen, was seine Beliebtheit bei seinen Untergebenen im Lauf der Jahre gesteigert hatte. Vor allem verstand er sich darauf, die Bürokratie von der Abteilung fernzuhalten, und sorgte für eine ruhige und konzentrierte Arbeitsatmosphäre, was bei den ständigen Reformen und Veränderungen in der Behörde nicht selbstverständlich war. »Nun, wie dem auch sein mag, sowohl der Direktor der NSA und der Direktor der CIA sind der Meinung, dass in diesem Fall eine gemeinsame Aktion Sinn macht und haben sie genehmigt. Aber unsere Leute sind für solche Operationen nicht ausgebildet, Frau Dr. Black käme nur als externe Beraterin mit und sie ist eine zivile Angestellte. Selbstverständlich ist die Teilnahme freiwillig.«
Chris warf ihr einen Blick zu, aus dem sich leicht lesen ließ, was er von der Idee hielt. Gar nichts. Veronica hingegen war sich nicht so sicher. NSA-Leute waren angehalten, auf Reisen ins Ausland zu verzichten, für viele Länder brauchte man sogar eine Spezialgenehmigung von der Personalabteilung, die ebenfalls für die interne Sicherheit zuständig war. Sie hatte verdammt wenig von der Welt gesehen, war noch nie in Europa oder Asien gewesen, und sie hatte immerhin diesen Deutschkurs belegt, wenn das auch schon ein paar Jahre her war. Eine kostenlose Reise, die nicht länger als ein paar Tage dauerte, kam ihr da gar nicht so übel vor. Und natürlich ging es um eine wichtige Angelegenheit, eine Frage der nationalen Sicherheit. Selbst wenn der Beweis sich als falsch herausstellte, worin sie mit Chris einer Meinung war, konnte es nicht schaden, auf die neue Beweismethode einen Blick zu werfen. Warum sollte sie ihren Kollegen also nicht aushelfen?
»Wann würden wir denn fliegen?«
Simmons zog eine unglückliche Grimasse und gab widerwillig zu: »Heute Abend.«
»Heute Abend schon?«
Chris kicherte in seinen ergrauten Bart und es hätte sie nicht gewundert, wenn er dem Kollegen von der CIA einen Vogel gezeigt hätte.
»Sie holen das Gepäck von zuhause, wenn sie wollen können wir einen Fahrer vom Sicherheitsdienst mitschicken, und ein Hubschrauber bringt sie um 1630 von der Landeplattform zum Dulles International Flughafen. Dort startet um 1740 eine Linienmaschine von United Airlines nach München. Der Flug dauert 8 Stunden, wir buchen erste Klasse. Morgen geben wir ihnen Zeit, sich auszuruhen, und dann treffen sie sich mit den restlichen Teammitgliedern, die bis dahin längst eingetroffen sind. In zwei, maximal drei Tagen sind sie wieder zurück, und keine Sorge, Agent Price begleitet sie. Er übernimmt die örtliche Leitung und ist in solchen Einsätzen ausgesprochen erfahren. Abgesehen davon geht die Reise ja nach München und nicht nach Kabul. Falls sie zusagen ...«
»Das ist sehr knapp«, murmelte sie unentschlossen.
»Frau Dr. Black, uns ist klar, wie ungewöhnlich diese Zusammenarbeit ist, aber die Zeit drängt. Wie ich bereits erwähnt habe, es besteht die Gefahr, dass die Russen Alexei Lehmann gekidnappt haben und jetzt bei seinem Freund eingebrochen sind, um eine Kopie des Plans zu bekommen. Falls sie die schon gefunden haben, dann sind wir sowieso zu spät dran, und sie können wieder nach Hause fliegen. Aber wir sollten auf jeden Fall versuchen, so schnell wie möglich mit diesem Blau oder mit Alexei Lehmann selbst Kontakt aufzunehmen und wären um ihre Hilfe wirklich sehr dankbar.« Special Agent Simmons warf einen Blick auf die Uhr an der Wand des Konferenzraums, die wie eine klassische Bahnhofsuhr aussah und präzise nach einer Atomuhr lief. Dafür sorgten die Wartungstechniker rund um die Uhr, schließlich wollte man nicht, dass eine Planung schiefging, weil eine Batterie leer war.
»Die Sache eilt, aber sie müssen sich nicht gleich entscheiden. Wir ziehen uns zurück, sie beraten sich, und sagen uns innerhalb der nächsten Stunde Bescheid. Von uns aus ist schon alles vorbereitet.«
Die beiden CIA-Leute packten ihre Dokumente ein, verabschiedeten sich, und verließen den Raum. Vor der Tür wartete eine Begleiteskorte, weil sie selbst mit Extragenehmigung nicht allein durch die Gänge des Hauptgebäudes strolchen durften.
Als sie weg waren, wollte Chris etwas einwenden, doch Colonel Lewis unterbrach ihn mit einer Handgeste. »Frau Dr. Black, sie müssen nicht mitkommen, die Teilnahme ist wirklich rein freiwillig, und keiner nimmt es ihnen übel, wenn sie nicht zusagen. Diese Operation scheint mir ja auch sehr improvisiert zu sein.«
Chris Harris schüttelte den Kopf und pfefferte demonstrativ die schmale Akte auf den Tisch, die er bisher konzentriert studiert hatte, wie jedes Dokument, das man ihm in die Hand drückte. »Frank, das ist doch Wahnsinn! Wir sind Mathematiker von der Forschungsabteilung. Wir brauchen Veronica in der Komplexitätsgruppe und haben bei der Algebraisierung von ›Kuznyechik‹ hervorragende Fortschritte gemacht.[Fußnote 2] Frank, wir sind dabei, endgültig ihre zivilen Chiffren zu knacken!«
Der Colonel wischte den Einwand mit einer Handbewegung zur Seite. »Es geht ja nur um ein paar Tage ... was wäre, wenn dieser Typ tatsächlich einen Beweis gefunden hat?«
Chris rückte sich die Brille zurecht, deren dicke Gläser wie immer beschlagen waren. »Das wäre natürlich eine Katastrophe, vor allem, wenn ihn nur die Russen besäßen. Aber das ist in etwa so wahrscheinlich, wie –«
»Ich komme mit«, unterbrach Veronica ihren Freund und Kollegen und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Wollte schon immer mal München sehen.«
»Sind sie sich sicher?«, hakte Colonel Lewis nach.
Sie lächelte. »Wohin die Pflicht ruft ...«
Lewis nickte zufrieden und schloss seinen Aktenordner. »Prima, ich habe nichts anderes erwartet, schließlich waren sie mal bei der Navy. Ich wollte sie bloß nicht unter Druck setzen. Ich bin erleichtert, denn der Vizedirektor hat mich in dieser Sache ein wenig gelöchert. Ich gebe zu, dass es auch darum geht, unser Image beim Präsidenten und seinem Beraterstab ein bisschen aufzupolieren.« Er grinste breit und wies auf die Wände um sie. »Im abhörsicheren Raum kann ich das ja sagen: Wir sind nun mal der intelligenteste Geheimdienst, und wir wissen ja alle, was der POTUS und seine Freunde von Intelligenz halten ...«[Fußnote 3]
Auch Chris lachte mit, obwohl er prinzipiell in der politischen Streitfrage um ihren Präsidenten eher ins Lager der Zwiegespaltenen fiel. Aber wo der Colonel recht hatte, hatte er recht. Damit war der Entschluss besiegelt. Veronica würde noch am selben Tag als erste festangestellte zivile Mitarbeiterin in der Geschichte des Puzzlepalastes als Agentin an einem Feldeinsatz teilnehmen.